Rosen, Tulpen, Nelken / Ullstein eBooks (ePub)
Roman
Die Physikerin Sophie Lensing staunt, als sie plötzlich das Poesiealbum ihrer früh verstorbenen Mutter in den Händen hält. Jahrzehntelang hatte es unbemerkt im Keller gelegen. Als Sophie neugierig darin blättert, stellt sie fest, dass sie keinen der Namen...
Leider schon ausverkauft
eBook (ePub)
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenloser tolino webreader
Produktdetails
Produktinformationen zu „Rosen, Tulpen, Nelken / Ullstein eBooks (ePub)“
Die Physikerin Sophie Lensing staunt, als sie plötzlich das Poesiealbum ihrer früh verstorbenen Mutter in den Händen hält. Jahrzehntelang hatte es unbemerkt im Keller gelegen. Als Sophie neugierig darin blättert, stellt sie fest, dass sie keinen der Namen darin kennt. Wieso hatte ihre Mutter offenbar alle Kontakte abgebrochen? Mit ihren besten Freundinnen Vanessa und Sandra macht Sophie sich im Wohnmobil auf eine Spurensuche quer durch Deutschland. Sie ahnt nicht, wie sehr die Reise ihr eigenes Leben verändern wird ... Ein hinreißender Roman über Mütter und Töchter und die Geheimnisse, die sie bewahren.
Lese-Probe zu „Rosen, Tulpen, Nelken / Ullstein eBooks (ePub)“
Rosen, Tulpen, Nelken von Heike Wanner1
Es war höchste Zeit, ins Bett zu gehen. Der altmodische blaue Metallwecker, der auf der Fensterbank neben den Kakteen stand und leise vor sich hin tickte, zeigte bereits weit nach Mitternacht. Das Wohnzimmer lag fast völlig im Dunkeln, bis auf einen kleinen Lichtschein über dem Schreibtisch.
Dort, inmitten eines Durcheinanders aus Büchern, Heften, alten Zeitungen, Bonbonpapieren und einer leeren Kaffeetasse, saß Sophie Lensing und korrigierte Physikklausuren. Doch seit mehreren Minuten starrte sie nun schon auf dasselbe Blatt, ohne einen vernünftigen Gedanken fassen zu können. Es reichte für heute! Müde zog sie ihre Lesebrille von der Nase und rieb sich die Augen. Dann streckte sie vorsichtig die Beine aus und massierte ihren schmerzenden Nacken. Bei der Korrektur von Klausurbögen vergaß sie regelmäßig Zeit, Umgebung und leider auch alle Empfehlungen für eine gesunde Körperhaltung.
Sie schob Hefte und Rotstift beiseite, erhob sich und knipste die alte Stehlampe neben dem Sofa an. Augenblicklich wurde das Zimmer in warmes, gemütliches Licht getaucht, das sich in den Regentropfen widerspiegelte, die unablässig an die dunkle Fensterscheibe prasselten. Sophie öffnete das Fenster einen Spaltbreit und sog die frische Nachtluft ein. Beim Blick auf die schwarzglänzende Straße schauderte sie. Dieser Mai war eindeutig zu nass!
... mehr
Dennoch liebte sie gerade die nächtliche, verregnete Stimmung, bei der kaum ein Geräusch die Stille durchbrach. »Mairegen macht schön«, hatte ihre Großmutter immer behauptet. Mit dieser Bemerkung hatte die alte Dame einst große Erwartungen bei ihrer Enkelin geweckt. Die zehnjährige Sophie war danach nämlich bei jedem Schauer vor die Tür gelaufen und hatte ihr Gesicht in den Regen gehalten. Natürlich waren ihre Hoffnungen vergeblich gewesen. Die roten Haare und die blasse Haut mit den vielen Sommersprossen ließen sich durch den Mairegen nicht vertreiben und waren auch im Juni noch vorhanden.
Schließlich hatte sie aufgegeben und akzeptiert, dass sich ihre Haare weiterhin kupferrot lockten und die Sommersprossen im Laufe der Jahre sogar noch kräftiger hervortraten. Wenigstens bildeten ihre blassblauen Augen einen interessanten Kontrast zu den Rottönen. Mit der richtigen Frisur, ein wenig Make-up und einem eleganten Kleid ginge sie vielleicht sogar als irische Prinzessin durch ...
Sophie schüttelte amüsiert den Kopf über sich selbst und ihre seltsamen Gedankengänge zu später Stunde. Es war wirklich höchste Zeit, ins Bett zu gehen.
Aber vorher musste sie noch etwas erledigen - etwas, das sie immer vor dem Schlafengehen tat. Es gehörte inzwischen genauso zu ihrem abendlichen Ritual wie das Waschen und Zähneputzen, war aber wesentlich unterhaltsamer: Sophie schaltete den Computer ein und öffnete ihren Facebook-Account.
Fünfzehn neue Postings auf der Startseite.
Zwei Freundschaftsanfragen.
Eine persönliche Nachricht.
Und leider niemand Vertrautes mehr online.
Sophie seufzte enttäuscht und klickte sich zuerst durch die Freundschaftsanfragen, die von zwei Studentinnen ihres Fachbereiches stammten. Sie zählte mittlerweile ungefähr zweihundert solcher »Freunde«, die an der Universität ihre Kurse besuchten und vermutlich stolz darauf waren, dass sie ihre Physikdozentin bei Facebook mit »du« ansprechen durften. Sophie bestätigte diese Anfragen regelmäßig, obwohl sie die meisten Gesichter in ihren Vorlesungen nicht einmal wiedererkennen würde. Auch jetzt drückte sie zweimal auf »Annehmen« und wandte sich dann den neuen Beiträgen auf ihrer Startseite zu.
Die ersten sechs Postings waren erst wenige Minuten alt und stammten von einer Gruppe von Studentinnen, die sich noch in dieser Nacht in einer angesagten Club-Lounge treffen wollten. Stirnrunzelnd warf Sophie einen Blick auf ihren Wecker. Es war halb eins. Wann schliefen diese Mädchen eigentlich? Obwohl sie selbst in wenigen Wochen erst ihren dreißigsten Geburtstag feiern würde, kam sie sich mit einem Mal furchtbar alt und behäbig vor.
Den nächsten Eintrag hatte ihre Cousine verfasst, eine begeisterte Handballerin, die sich über den Sieg ihrer Mannschaft bei einem Regionalturnier freute. Sophie tippte ein höfl iches »Glückwunsch!« unter den Text und las weiter.
»Neue Regenfälle angekündigt! Deshalb ab morgen früh zwanzig Prozent auf alle Designer-Gummistiefel«, lautete die Ankündigung eines örtlichen Schuhgeschäfts, in dem Sophie regelmäßig einkaufte. Dieser Beitrag hatte bereits vierunddreißig »Gefällt mir«-Angaben.
Danach kam ein Posting von Sophies Freundin Sandra.
»In jedem Winter steckt ein zitternder Frühling, und hinter dem Schleier jeder Nacht verbirgt sich ein lächelnder Morgen (Khalil Gibran)«, hatte sie geschrieben.
Typisch Sandra!
Sie war Deutschlehrerin an einer internationalen Schule in Frankfurt und ließ keine Gelegenheit aus, ihren Mitmen schen ein Stück Literatur näherzubringen. Jeden Abend verabschiedete sie sich aus Facebook mit einem geistreichen Spruch oder einem berühmten Zitat.
Sophie schmunzelte, als sie unter Sandras Beitrag den Kommentar ihrer gemeinsamen Freundin Vanessa entdeckte.
»Dass dieser Frühling zittert, glaube ich gern. Sch... Wetter! Wer ist eigentlich Khalil Gibran?« Nach kurzem Überlegen setzte Sophie die Feststellung »Bei mir lächelt der Morgen nie« hinzu.
Dann überflog sie die nächsten drei Einträge. Das Schwarzweißfoto einer niedlichen kleinen Katze ignorierte sie ebenso wie die Urlaubsankündigung eines ehemaligen Mitschülers und das Kuchenrezept einer Bekannten. Erst die letzten beiden Mitteilungen waren wieder interessant.
»Eine halbe Stunde auf dem Laufband und dann noch fünfzehn Minuten intensives Stretching. Fühle mich wie neugeboren, werde jetzt ein Bad nehmen und dann ins Bett gehen. Ich wünsche allen eine gute Nacht!«, hatte Vanessa geschrieben und einen Link auf die Homepage ihres eigenen Fitnessstudios hinzugefügt.
Sofort bekam Sophie ein schlechtes Gewissen. Während Vanessa schon aus beruflichen Gründen jeden Tag Sport treiben musste, schaffte Sophie es nur sehr unregelmäßig zu einem der Sportkurse, die Vanessa in ihrem Studio anbot. Aber wenigstens teilte die Dritte im Bunde, Sandra, ihre Abneigung gegen übermäßig viel Bewegung.
»Ein gutes Buch, ein Glas Rotwein und klassische Musik haben den gleichen Effekt«, hatte Sandra Vanessas Beitrag kommentiert.
Sophie fügte einen Smiley hinzu und las dann das letzte Posting auf ihrer Startseite. Es stammte von ihren Eltern und lautete knapp: »Fertig gepackt!«
Ihr Vater und ihre Stiefmutter waren erst seit kurzem unter dem Namen »Mark & Klößchen« bei Facebook aktiv, eine humorvolle Kombination des Vornamens ihres Vaters mit dem Kosenamen ihrer Stiefmutter Rosi. Diese war wegen ihrer rundlichen Figur schon als Kind von allen Klößchen gerufen worden.
Sophie hatte ihre leibliche Mutter früh verloren und war bei ihrem Vater und dessen Frau aufgewachsen. Sie liebte ihre Stiefmutter über alles, aber sie war dankbar dafür, dass sich Rosis Figur nicht auf sie selbst vererben konnte. Rosis Sinn für Humor hingegen hatte sie nur zu gern übernommen, ebenso wie die Herzlichkeit ihrer Stiefmutter.
»Fertig gepackt« waren wohl die letzten Umzugskisten oder vielleicht auch die beiden neuen Hartschalenkoffer.
Mark & Klößchen würden nämlich in wenigen Tagen zu einer sechsmonatigen Tour quer durch Australien aufbrechen. Diese Reise war immer schon ein Traum der beiden gewesen. Jetzt, nach ihrer Pensionierung, konnten sie sich den Wunsch endlich erfüllen. Sorgfältig hatten sie in den letzten Monaten jede Einzelheit geplant. Aus praktischen Erwägungen hatten sie sogar ihr Reihenhaus verkauft und waren in eine Dreizimmerwohnung am Stadtrand von Frankfurt gezogen. »Eine Wohnung macht viel weniger Arbeit, und da muss auch nicht dauernd jemand nach dem Rechten sehen«, hatte Rosi ihrer Stieftochter erklärt.
Sophie gönnte ihren Eltern das bevorstehende Abenteuer, doch sie fürchtete sich auch ein wenig vor der neuen Situation. Bislang war sie jeden Sonntag ein gerngesehener Gast in ihrem Elternhaus gewesen. Zukünftig würde sie diesen Tag wohl allein verbringen müssen, denn ihre beiden besten Freundinnen hatten am Wochenende kaum Zeit für gemeinsame Aktivitäten. In Vanessas Fitnessstudio herrschte ausgerechnet sonntags der größte Andrang, und die frischverheiratete Sandra genoss jede freie Minute des Wochenendes am liebsten ungestört mit ihrem Ehemann.
Sophie kannte nur noch einen einzigen anderen Menschen, mit dem sie den Sonntag gern verbracht hätte. Aber dieser Wunsch war derzeit leider völlig deplaciert.
Und damit war sie gedanklich bei dem Thema angelangt, das ihr immer wieder Kopfzerbrechen bereitete: ihre Liebesbeziehung zu ihrem Kollegen Professor Dr. Martin Krüger. Von ihm stammte die neue Mail, die sie jetzt erwartungsvoll anklickte. Erfahrungsgemäß schrieb er nicht besonders viel, und schon gar nicht besonders zärtlich, aber er versäumte es trotzdem nie, ihr eine gute Nacht zu wünschen.
»Wochenende war okay, freue mich aber schon auf morgen. Sehe dich mittags in der Mensa. Gute Nacht, M.«
»Gute Nacht zurück!«, flüsterte Sophie sehnsuchtsvoll.
Wenn man sie vor ein paar Monaten gefragt hätte, ob sie es sich vorstellen könnte, eine Affäre mit einem Arbeitskollegen zu beginnen, hätte sie diesen Gedanken entschieden von sich gewiesen. Doch dann war Martin in ihr Leben getreten, und alle Vernunft war vergessen.
Schlimmer noch, ihr Denkvermögen setzte aus, sobald sie in Martins Nähe war. Denn nur so konnte sie es sich erklären, dass sie sogar die Tatsache akzeptiert hatte, dass er verheiratet war. Sie war, ohne zu zögern, in die typische Rolle einer heimlichen Geliebten gerutscht, für die jeder gemeinsame Moment kostbar war und die bereitwillig an das glauben wollte, was er erzählte.
»Ich muss den richtigen Zeitpunkt abwarten, um es meiner Frau zu sagen«, hatte Martin Krüger Sophie zum Beispiel erklärt. »Unsere Ehe funktioniert schon lange nicht mehr. Wir leben nur noch wie Bruder und Schwester, wenn du verstehst, was ich meine.« Dann hatte er sie tröstend in die Arme genommen. »Ich weiß, wie schwierig das alles für dich ist.«
»Schwierig« war gar kein Ausdruck!
Sie hasste die ständige Heimlichtuerei und hatte genug von den viel zu kurzen, versteckten Berührungen während des Tages und den sorgfältig arrangierten Treffen in irgendeinem Hotelzimmer. Außerdem wuchs ihr schlechtes Gewissen mit jedem Tag, an dem sie Martins Frau hinterging. Die Arme hatte bislang tatsächlich keinen Verdacht geschöpft und war sogar vor drei Wochen ihre Facebook- Freundin geworden. Jetzt musste Sophie nicht nur die Sonntage allein totschlagen, sondern konnte zusätzlich auch noch bei Facebook lesen, wie Martins Ehefrau begeistert von ihren Wochenenden mit Martin berichtete. Missgelaunt runzelte Sophie die Stirn. Armseliger ging es kaum noch. Sie sollte dringend eine Lösung für diese Situation fi nden!
Allerdings war das schwierig, solange sie jeden Tag in Martins Nähe war. Wenn er vor ihr stand, vergaß sie ihren Ärger und das schlechte Gewissen. Vielleicht sollte sie ein paar Tage freinehmen, um ein wenig Abstand zu gewinnen? Dann könnte sie in Ruhe über die Situation nachdenken und ...
In diesem Moment wurde die Haustür mit einem lauten Knall geschlossen. Sophie zuckte zusammen. Gleich darauf waren die knatternden Motorengeräusche eines Mopeds zu hören, die sich langsam entfernten. Vermutlich war der neue Nachbar mal wieder auf dem Weg zur Arbeit. Er fuhr oft zu den merkwürdigsten Zeiten fort und kam erst viele Stunden später zurück. Aber musste er dabei unbedingt einen solchen Lärm machen? Sophie nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit mit ihm zu reden.
Doch der Krach hatte sie zumindest vom Grübeln abgelenkt. Sie schaltete den Computer aus, schloss das Fenster und löschte alle Lichter.
Jetzt war es wirklich Zeit, ins Bett zu gehen.
Copyright © Ullstein Verlag.
Dennoch liebte sie gerade die nächtliche, verregnete Stimmung, bei der kaum ein Geräusch die Stille durchbrach. »Mairegen macht schön«, hatte ihre Großmutter immer behauptet. Mit dieser Bemerkung hatte die alte Dame einst große Erwartungen bei ihrer Enkelin geweckt. Die zehnjährige Sophie war danach nämlich bei jedem Schauer vor die Tür gelaufen und hatte ihr Gesicht in den Regen gehalten. Natürlich waren ihre Hoffnungen vergeblich gewesen. Die roten Haare und die blasse Haut mit den vielen Sommersprossen ließen sich durch den Mairegen nicht vertreiben und waren auch im Juni noch vorhanden.
Schließlich hatte sie aufgegeben und akzeptiert, dass sich ihre Haare weiterhin kupferrot lockten und die Sommersprossen im Laufe der Jahre sogar noch kräftiger hervortraten. Wenigstens bildeten ihre blassblauen Augen einen interessanten Kontrast zu den Rottönen. Mit der richtigen Frisur, ein wenig Make-up und einem eleganten Kleid ginge sie vielleicht sogar als irische Prinzessin durch ...
Sophie schüttelte amüsiert den Kopf über sich selbst und ihre seltsamen Gedankengänge zu später Stunde. Es war wirklich höchste Zeit, ins Bett zu gehen.
Aber vorher musste sie noch etwas erledigen - etwas, das sie immer vor dem Schlafengehen tat. Es gehörte inzwischen genauso zu ihrem abendlichen Ritual wie das Waschen und Zähneputzen, war aber wesentlich unterhaltsamer: Sophie schaltete den Computer ein und öffnete ihren Facebook-Account.
Fünfzehn neue Postings auf der Startseite.
Zwei Freundschaftsanfragen.
Eine persönliche Nachricht.
Und leider niemand Vertrautes mehr online.
Sophie seufzte enttäuscht und klickte sich zuerst durch die Freundschaftsanfragen, die von zwei Studentinnen ihres Fachbereiches stammten. Sie zählte mittlerweile ungefähr zweihundert solcher »Freunde«, die an der Universität ihre Kurse besuchten und vermutlich stolz darauf waren, dass sie ihre Physikdozentin bei Facebook mit »du« ansprechen durften. Sophie bestätigte diese Anfragen regelmäßig, obwohl sie die meisten Gesichter in ihren Vorlesungen nicht einmal wiedererkennen würde. Auch jetzt drückte sie zweimal auf »Annehmen« und wandte sich dann den neuen Beiträgen auf ihrer Startseite zu.
Die ersten sechs Postings waren erst wenige Minuten alt und stammten von einer Gruppe von Studentinnen, die sich noch in dieser Nacht in einer angesagten Club-Lounge treffen wollten. Stirnrunzelnd warf Sophie einen Blick auf ihren Wecker. Es war halb eins. Wann schliefen diese Mädchen eigentlich? Obwohl sie selbst in wenigen Wochen erst ihren dreißigsten Geburtstag feiern würde, kam sie sich mit einem Mal furchtbar alt und behäbig vor.
Den nächsten Eintrag hatte ihre Cousine verfasst, eine begeisterte Handballerin, die sich über den Sieg ihrer Mannschaft bei einem Regionalturnier freute. Sophie tippte ein höfl iches »Glückwunsch!« unter den Text und las weiter.
»Neue Regenfälle angekündigt! Deshalb ab morgen früh zwanzig Prozent auf alle Designer-Gummistiefel«, lautete die Ankündigung eines örtlichen Schuhgeschäfts, in dem Sophie regelmäßig einkaufte. Dieser Beitrag hatte bereits vierunddreißig »Gefällt mir«-Angaben.
Danach kam ein Posting von Sophies Freundin Sandra.
»In jedem Winter steckt ein zitternder Frühling, und hinter dem Schleier jeder Nacht verbirgt sich ein lächelnder Morgen (Khalil Gibran)«, hatte sie geschrieben.
Typisch Sandra!
Sie war Deutschlehrerin an einer internationalen Schule in Frankfurt und ließ keine Gelegenheit aus, ihren Mitmen schen ein Stück Literatur näherzubringen. Jeden Abend verabschiedete sie sich aus Facebook mit einem geistreichen Spruch oder einem berühmten Zitat.
Sophie schmunzelte, als sie unter Sandras Beitrag den Kommentar ihrer gemeinsamen Freundin Vanessa entdeckte.
»Dass dieser Frühling zittert, glaube ich gern. Sch... Wetter! Wer ist eigentlich Khalil Gibran?« Nach kurzem Überlegen setzte Sophie die Feststellung »Bei mir lächelt der Morgen nie« hinzu.
Dann überflog sie die nächsten drei Einträge. Das Schwarzweißfoto einer niedlichen kleinen Katze ignorierte sie ebenso wie die Urlaubsankündigung eines ehemaligen Mitschülers und das Kuchenrezept einer Bekannten. Erst die letzten beiden Mitteilungen waren wieder interessant.
»Eine halbe Stunde auf dem Laufband und dann noch fünfzehn Minuten intensives Stretching. Fühle mich wie neugeboren, werde jetzt ein Bad nehmen und dann ins Bett gehen. Ich wünsche allen eine gute Nacht!«, hatte Vanessa geschrieben und einen Link auf die Homepage ihres eigenen Fitnessstudios hinzugefügt.
Sofort bekam Sophie ein schlechtes Gewissen. Während Vanessa schon aus beruflichen Gründen jeden Tag Sport treiben musste, schaffte Sophie es nur sehr unregelmäßig zu einem der Sportkurse, die Vanessa in ihrem Studio anbot. Aber wenigstens teilte die Dritte im Bunde, Sandra, ihre Abneigung gegen übermäßig viel Bewegung.
»Ein gutes Buch, ein Glas Rotwein und klassische Musik haben den gleichen Effekt«, hatte Sandra Vanessas Beitrag kommentiert.
Sophie fügte einen Smiley hinzu und las dann das letzte Posting auf ihrer Startseite. Es stammte von ihren Eltern und lautete knapp: »Fertig gepackt!«
Ihr Vater und ihre Stiefmutter waren erst seit kurzem unter dem Namen »Mark & Klößchen« bei Facebook aktiv, eine humorvolle Kombination des Vornamens ihres Vaters mit dem Kosenamen ihrer Stiefmutter Rosi. Diese war wegen ihrer rundlichen Figur schon als Kind von allen Klößchen gerufen worden.
Sophie hatte ihre leibliche Mutter früh verloren und war bei ihrem Vater und dessen Frau aufgewachsen. Sie liebte ihre Stiefmutter über alles, aber sie war dankbar dafür, dass sich Rosis Figur nicht auf sie selbst vererben konnte. Rosis Sinn für Humor hingegen hatte sie nur zu gern übernommen, ebenso wie die Herzlichkeit ihrer Stiefmutter.
»Fertig gepackt« waren wohl die letzten Umzugskisten oder vielleicht auch die beiden neuen Hartschalenkoffer.
Mark & Klößchen würden nämlich in wenigen Tagen zu einer sechsmonatigen Tour quer durch Australien aufbrechen. Diese Reise war immer schon ein Traum der beiden gewesen. Jetzt, nach ihrer Pensionierung, konnten sie sich den Wunsch endlich erfüllen. Sorgfältig hatten sie in den letzten Monaten jede Einzelheit geplant. Aus praktischen Erwägungen hatten sie sogar ihr Reihenhaus verkauft und waren in eine Dreizimmerwohnung am Stadtrand von Frankfurt gezogen. »Eine Wohnung macht viel weniger Arbeit, und da muss auch nicht dauernd jemand nach dem Rechten sehen«, hatte Rosi ihrer Stieftochter erklärt.
Sophie gönnte ihren Eltern das bevorstehende Abenteuer, doch sie fürchtete sich auch ein wenig vor der neuen Situation. Bislang war sie jeden Sonntag ein gerngesehener Gast in ihrem Elternhaus gewesen. Zukünftig würde sie diesen Tag wohl allein verbringen müssen, denn ihre beiden besten Freundinnen hatten am Wochenende kaum Zeit für gemeinsame Aktivitäten. In Vanessas Fitnessstudio herrschte ausgerechnet sonntags der größte Andrang, und die frischverheiratete Sandra genoss jede freie Minute des Wochenendes am liebsten ungestört mit ihrem Ehemann.
Sophie kannte nur noch einen einzigen anderen Menschen, mit dem sie den Sonntag gern verbracht hätte. Aber dieser Wunsch war derzeit leider völlig deplaciert.
Und damit war sie gedanklich bei dem Thema angelangt, das ihr immer wieder Kopfzerbrechen bereitete: ihre Liebesbeziehung zu ihrem Kollegen Professor Dr. Martin Krüger. Von ihm stammte die neue Mail, die sie jetzt erwartungsvoll anklickte. Erfahrungsgemäß schrieb er nicht besonders viel, und schon gar nicht besonders zärtlich, aber er versäumte es trotzdem nie, ihr eine gute Nacht zu wünschen.
»Wochenende war okay, freue mich aber schon auf morgen. Sehe dich mittags in der Mensa. Gute Nacht, M.«
»Gute Nacht zurück!«, flüsterte Sophie sehnsuchtsvoll.
Wenn man sie vor ein paar Monaten gefragt hätte, ob sie es sich vorstellen könnte, eine Affäre mit einem Arbeitskollegen zu beginnen, hätte sie diesen Gedanken entschieden von sich gewiesen. Doch dann war Martin in ihr Leben getreten, und alle Vernunft war vergessen.
Schlimmer noch, ihr Denkvermögen setzte aus, sobald sie in Martins Nähe war. Denn nur so konnte sie es sich erklären, dass sie sogar die Tatsache akzeptiert hatte, dass er verheiratet war. Sie war, ohne zu zögern, in die typische Rolle einer heimlichen Geliebten gerutscht, für die jeder gemeinsame Moment kostbar war und die bereitwillig an das glauben wollte, was er erzählte.
»Ich muss den richtigen Zeitpunkt abwarten, um es meiner Frau zu sagen«, hatte Martin Krüger Sophie zum Beispiel erklärt. »Unsere Ehe funktioniert schon lange nicht mehr. Wir leben nur noch wie Bruder und Schwester, wenn du verstehst, was ich meine.« Dann hatte er sie tröstend in die Arme genommen. »Ich weiß, wie schwierig das alles für dich ist.«
»Schwierig« war gar kein Ausdruck!
Sie hasste die ständige Heimlichtuerei und hatte genug von den viel zu kurzen, versteckten Berührungen während des Tages und den sorgfältig arrangierten Treffen in irgendeinem Hotelzimmer. Außerdem wuchs ihr schlechtes Gewissen mit jedem Tag, an dem sie Martins Frau hinterging. Die Arme hatte bislang tatsächlich keinen Verdacht geschöpft und war sogar vor drei Wochen ihre Facebook- Freundin geworden. Jetzt musste Sophie nicht nur die Sonntage allein totschlagen, sondern konnte zusätzlich auch noch bei Facebook lesen, wie Martins Ehefrau begeistert von ihren Wochenenden mit Martin berichtete. Missgelaunt runzelte Sophie die Stirn. Armseliger ging es kaum noch. Sie sollte dringend eine Lösung für diese Situation fi nden!
Allerdings war das schwierig, solange sie jeden Tag in Martins Nähe war. Wenn er vor ihr stand, vergaß sie ihren Ärger und das schlechte Gewissen. Vielleicht sollte sie ein paar Tage freinehmen, um ein wenig Abstand zu gewinnen? Dann könnte sie in Ruhe über die Situation nachdenken und ...
In diesem Moment wurde die Haustür mit einem lauten Knall geschlossen. Sophie zuckte zusammen. Gleich darauf waren die knatternden Motorengeräusche eines Mopeds zu hören, die sich langsam entfernten. Vermutlich war der neue Nachbar mal wieder auf dem Weg zur Arbeit. Er fuhr oft zu den merkwürdigsten Zeiten fort und kam erst viele Stunden später zurück. Aber musste er dabei unbedingt einen solchen Lärm machen? Sophie nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit mit ihm zu reden.
Doch der Krach hatte sie zumindest vom Grübeln abgelenkt. Sie schaltete den Computer aus, schloss das Fenster und löschte alle Lichter.
Jetzt war es wirklich Zeit, ins Bett zu gehen.
Copyright © Ullstein Verlag.
... weniger
Autoren-Porträt von Heike Wanner
Heike Wanner arbeitet als Angestellte bei einer Fluggesellschaft und lebt in der Nähe von Wiesbaden. Sie ist verheiratet und hat einen Sohn.heike-wanner.de
Bibliographische Angaben
- Autor: Heike Wanner
- 2013, 1. Auflage, 320 Seiten, Deutsch
- Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
- ISBN-10: 3843706484
- ISBN-13: 9783843706483
- Erscheinungsdatum: 11.10.2013
Abhängig von Bildschirmgröße und eingestellter Schriftgröße kann die Seitenzahl auf Ihrem Lesegerät variieren.
eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Größe: 1.26 MB
- Ohne Kopierschutz
Family Sharing
eBooks und Audiobooks (Hörbuch-Downloads) mit der Familie teilen und gemeinsam genießen. Mehr Infos hier.
Kommentare zu "Rosen, Tulpen, Nelken / Ullstein eBooks"
4 von 5 Sternen
5 Sterne 3Schreiben Sie einen Kommentar zu "Rosen, Tulpen, Nelken / Ullstein eBooks".
Kommentar verfassen