Schmusekatze, jung, ledig, sucht... (ePub)
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Schmusekatze, jung, ledig, sucht von Julia Sander1
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Und der Pfannkuchen à la Bonaparte?«
Chrissy kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Nur ohne Camembert«, antwortete sie dann und sah den Mann am Tisch vor ihr fragend an. »Ich könnte ihn stattdessen mit geriebenem Gouda belegen ... «
»Geriebener Gouda ?« Der Grauhaarige kniff die Augen ein wenig zusammen. »Camembert und geriebener Gouda sind demnach für Sie zwei Zutaten, die man nach Belieben austauschen kann?«
Sie zuckte flüchtig mit den Schultern. »Na ja, es ist beides Käse, nicht wahr?« Innerlich schüttelte sie den Kopf über diesen Gast. Zugegeben, Gouda war natürlich kein Camembert, aber es war nun mal Käse, und sie hatte ihm ja schließlich nicht vorgeschlagen, stattdessen heiße Vanillesoße zu nehmen. Das wäre nun wirklich was ganz anderes gewesen.
»Mineralwasser und Wodka sind beides Getränke«, hielt der ältere Mann dagegen und schaute Chrissy skeptisch an. »Würden Sie die auch gegeneinander austauschen?«
»Sie haben einen Rotwein bestellt«, sagte sie etwas irritiert, weil sie nicht so recht wusste, was sie mit dieser Bemerkung ihres Gegenübers anfangen sollte. »Oder ?« Sie sah auf den Notizblock. Doch, genau. Da stand »Rotwein«, gleich über den notierten und im nächsten Moment wieder durchgestrichenen Zahlen der Gerichte, die der Mann zunächst nacheinander bestellt hatte, nur um es sich nach kurzer Diskussion doch anders zu überlegen.
Ihr Gast stieß einen ziemlich übertrieben klingenden Seufzer aus und fragte: »Und was ist mit der Nummer dreiunddreißig? Pfannkuchen à la Babuschka?«
Chrissy sah überlegend zur Decke, wobei ihr auffiel, dass eine der Deckenleuchten ausgefallen war. Na großartig, jetzt durfte sie auch noch den Hausmeister anrufen, diesen ach so coolen alten Kerl, der immer so aussah wie gerade eben aus dem Solarium gehüpft und der zu allem seine Meinung sagen musste - ob es jemanden interessierte oder nicht. Eigentlich hätte sie sofort den Elektriker rufen sollen, weil die ganze Leuchte herausgenommen werden musste, um die Birne auszutauschen, aber das Center-Handbuch für Mieter schrieb vor, dass man immer erst den Hausmeister verständigen musste, obwohl der nichts anderes tat, als den Elektriker anzufordern, damit der die eigentliche Arbeit erledigte. Bis heute hatte sie nicht verstanden, welchen Sinn dieser Hausmeisterposten eigentlich hatte, den sie mit ihrer Umlage auch noch mitfinanzierte. Bestimmt war er ein guter Kumpel von einem der Manager, der ihm diese Faulenzerstelle verschafft hatte.
»Babuschka«, holte eine Stimme sie aus ihren Überlegungen. »Junge Frau ? Babuschka?«
»Nein, Chrissy«, murmelte sie, dann stutzte sie und bemerkte den verwunderten Blick des mürrischen Grauhaarigen. Der fragte schon wieder: »Babuschka?«
»Oh ... ja, die dreiunddreißig«, sagte sie. »Ähm ... ich glaube, die Preiselbeeren sind aus.«
Der Mann schnaubte ungehalten. »Gibt es irgendein Gericht, das ich exakt so bekomme, wie es auf der Karte steht?«
»Die ersten acht immer«, antwortete sie und schränkte sofort ein. »Nur nicht die Nummer sechs. Die Orangenmarmelade ist aus.«
»Ist das alles?«
»Nein, nein«, versicherte sie ihm. »Von den anderen kommen noch mal sicher zehn oder fünfzehn zusammen. Sie müssen nur ... «
»Ich muss nur das große Los ziehen und die richtige Nummer bestellen, wollen Sie sagen?«, unterbrach der Grauhaarige sie und legte den Kopf schräg. »Was halten Sie denn davon, eine Lotterie zu veranstalten, bei der jeder Gast sechs Zahlen aus diesen neunundneunzig aufschreibt, und wenn er auf ein Gericht tippt, das Sie auch tatsächlich zusammenstellen können, dann bekommt er das auch ? Wäre das nicht einfacher?«
»Entschuldigung«, murrte sie. »Ich kann ja nichts dafür, wenn Sie nicht das Richtige finden.«
»Nicht das Richtige finden?«, wiederholte er aufbrausend und stand auf. »Ich habe dreimal versucht, das Richtige zu finden, nur können Sie mir nichts davon auf den Tisch bringen. So sieht es doch nun mal aus.« Er kam um den Tisch herum und nahm seine Jacke vom Haken an der Garderobe, dabei wirkte er einen Moment lang so bedrohlich, dass sie unwillkürlich vor ihm zurückzuckte. »Aber vielleicht ist das auch nur Ihre Methode, um lästige Gäste abzuwimmeln. Ich würde sagen ... « Er ließ seinen Blick über die leeren Tische in ihrem Lokal wandern. »... Ihre Taktik funktioniert. Jetzt sind Sie auch noch den Letzten losgeworden, der so dumm war, sich für Ihr Pfannkuchenrestaurant zu interessieren.«
Wütend kniff sie die Augen zusammen und fuhr den Grauhaarigen an: »Ist Ihnen zufällig schon mal der Gedanke gekommen, dass um halb drei sehr wenige Leute noch zu Mittag oder schon zu Abend essen? Sehen Sie da drüben den Italiener oder das Fischlokal da links? Schlagen sich da die Gäste etwa um einen Tisch?«
»Es ist ...«, begann er zu protestieren.
»Es ist halb drei«, unterbrach sie ihn sofort. »Andere Restaurants, die nicht in einem Einkaufscenter untergebracht sind, haben um diese Zeit sogar geschlossen!«
»Ich wollte ... «, versuchte der ältere Mann einen erneuten Anlauf.
»Ja, Sie wollten mal richtig irgendjemanden zur Schnecke machen, und da kam ich Ihnen wohl gerade gelegen, wie?« Chrissys Augen funkelten zornig, sie presste die Lippen energisch zusammen. »Tja, aber da müssen Sie sich leider ein anderes Opfer suchen. Auf Wiedersehen.«
Der Mann zog seine Jacke an und betrachtete Chrissy verwundert.
»Auf Wiedersehen«, wiederholte sie und deutete mit einer trotzigen Kopfbewegung in Richtung Ausgang.
Mit einem Schulterzucken machte ihr Beinahe-Gast kehrt und verließ das Lokal. Im gleichen Moment kam Valerie herein, Chrissys beste Freundin, bei deren Anblick sie immer ein klein bisschen neidisch wurde. Valerie war mit ihren einunddreißig zwei Jahre älter als sie, aber sie wirkte immer noch wie höchstens fünfundzwanzig. Wahrscheinlich lag das an ihren fast schwarzen Haaren, die sie vorzugsweise kurz geschnitten trug, während Chrissy sich nicht von ihrer blonden Mähne trennen wollte - auch wenn Valerie sie ab und zu damit aufzog und ihr erzählte, sie sehe aus, als sei sie soeben aus dem Jahr 1978 in die Gegenwart gereist. Vorzugsweise verglich sie sie mit Farrah Fawcett, die damals in der Fernsehserie Drei Engel für Charlie mitgespielt hatte. Aber auch wenn das nichts anderes heißen sollte, als dass ihre Frisur sie alt aussehen ließ, war sie mit ihren Haaren durchaus zufrieden. Außerdem wiederholte sich die Mode von Zeit zu Zeit, und vielleicht würde sie ja schon in einem halben Jahr genau im Trend liegen. Dann hätte Valerie das Nachsehen, weil ihre Haare bis dahin nicht lang genug sein würden.
»Hallo, Chrissy«, begrüßte sie sie mit einem Wangenkuss und einer Umarmung. »War das gerade ...?«
»... ja, einer von diesen besonders reizenden Gästen, die nicht wissen, was sie wollen«, antwortete sie etwas genervt. »Erst will er die sechsundzwanzig, und nur weil ich heute keine Shiitake-Pilze und kein Wasabi habe, bestellt er stattdessen die Nummer siebenundsechzig ... «
Valerie zog ihre blutrote Jacke aus und hängte sie über einen der Hocker an der Theke, dann griff sie nach der Speisekarte. »Die sechsundzwanzig. Pfannkuchen à la Sumo«, las sie vor. »Shiitake-Pilze auf einer Frischkäsezubereitung mit einem Hauch Wasabi - auf Wunsch auch mit einem kräftigeren Hauch.« Sie sah zu Chrissy, die hinter die Theke gegangen war und damit begonnen hatte, die Spülmaschine auszuräumen. »Und wieso hast du keine Shiitake-Pilze und kein Wasabi?«
»Weil mir beides ausgegangen ist.« Sie stellte die Teller zurück auf den Tresen.
»Und das hast du wann festgestellt?«
Chrissy hob die Schultern. »Na, heute Mittag, nachdem ich noch einen Sumo fertig bekommen hatte. So gerade eben. Der Hauch Wasabi war mehr ein ... Häuchlein? Sagt man das?«
»Keine Ahnung.« Valerie schüttelte den Kopf. »Wann hast du das Glas zum letzten Mal in der Hand gehabt? Vor heute Mittag, meine ich.«
»Weiß nicht.« Sie atmete schnaubend aus. »Vorgestern. Ja, am Mittwoch.«
»Und da ist dir nicht aufgefallen, dass der Rest höchstens noch für eine Portion reicht?«
Wieder reagierte sie mit einem Schulterzucken. »Da war zu viel los.«
»Du hättest bestimmt zehn Sekunden übrig gehabt, um die Worte >Wasabi< und >Shiitake< auf einem Zettel zu notieren, um später am Tag oder wenigstens gestern Nachschub zu kaufen.«
»Das ist doch nicht so wild«, wehrte Chrissy ab, die ihrer Freundin den Rücken zuwandte und die Augen verdrehte, weil sie wusste, was nun wieder kommen würde.
»Auch wenn ich es nicht sehen kann, weiß ich, dass du gerade mit den Augen rollst, weil jetzt die alte Leier wieder losgeht«, sagte Valerie ihr auf den Kopf zu.
Chrissy stöhnte frustriert auf. »Dir entgeht auch gar nichts.«
»Wir kennen uns seit der Grundschule, Chrissy«, hielt sie ihr vor. »So, wie du weißt, welches Thema ich jetzt wieder anschneide, weiß ich, wie du darauf reagierst, junge Dame.« »Ja, ja, ich weiß ... Mutter.«
»Ich habe dir bestimmt schon hundertmal gesagt, du kannst nicht bei einem Gericht >mit Hackfleisch< auf die Speisekarte schreiben und den Pfannkuchen dann einfach mit Schinken belegen, weil das Hackfleisch noch gar nicht gebraten ist oder weil du vergessen hast, es zu kaufen. Auf deiner Karte prahlst du damit, dass man hier neunundneunzig verschiedene Arten von Pfannkuchen essen kann, aber ich würde mal sagen, dass du mit viel Glück zehn oder zwölf Variationen exakt so zubereiten kannst, wie sie hier aufgelistet sind. Du hast vermutlich keine Schokoladenstreusel ... keine Pfifferlinge ... keinen süßen Senf ... «
»Von wegen!«, unterbrach Chrissy die Aufzählung, während sie für ihre Freundin ein Glas Limo einschenkte. »Ich kann mindestens zwanzig Variationen zusammenstellen!«
»Zwanzig ? Wow, ich bin ja richtig beeindruckt«, meinte Valerie lachend. »Das würde bei McDonald's bedeuten, dass ich zwei oder drei Hamburger so bekomme, wie sie angeboten werden, während beim Rest der Ketchup oder das Fleisch oder das Brötchen fehlt. Wirklich toll, Chrissy. So macht man sich bei den Kunden einen guten Namen.«
»Es hat sich noch keiner beschwert«, beharrte sie, auch wenn das nicht so ganz stimmte. Aber das musste Valerie nicht wissen. Die hatte auch so schon recht, da musste sie ihr nicht auch noch einen Beleg liefern, der ihren Standpunkt untermauerte.
»Mag sein, aber es gibt auch Gäste, die sich nicht beschweren, obwohl sie eigentlich nicht zufrieden waren, und das sind die Leute, die nach dem ersten Besuch einfach nicht wiederkommen.« Sie beugte sich über die Theke und griff nach Chrissys Hand, um sie zurückzuhalten. »Süße, ich will dir keine Predigten halten, du bist alt genug, um zu wissen, was du tust. Aber manche Sachen nimmst du einfach zu locker. Du erinnerst dich doch an die Frau von schräg gegenüber, die mit den Sandwiches. Die war auch immer ganz locker, vor allem wenn sie ihre Zigarettenpause machen konnte. Und jetzt ? Jetzt gibt's da drüben diesen ekligen Bubble Tea.«
»Die hat ja auch lieber vor dem Laden gestanden und geraucht«, wandte Chrissy ein, »anstatt hinter der Theke zu stehen und zu arbeiten. Oder willst du behaupten, ich bin faul?«
»Natürlich bist du nicht faul, Chrissy. Das würde ich auch nie behaupten. Aber du wurstelst dich immer nur so gerade eben durch, weil's immer noch irgendwie gut geht. Anstatt dir einen Plan zu machen, was du brauchst ...«
»Woher soll ich wissen, was ich brauche? Heute Mittag haben acht Leute den Bananenpfannkuchen genommen, und ich hatte noch sieben Bananen - alle von letzter Woche, als kein Schwein die Variation nehmen wollte!«
»Chrissy, von deinen neunundneunzig Variationen solltest du mindestens drei Viertel auch liefern können, wenn sie bestellt werden, und wenn du siehst, dass irgendeine Zutat zur Neige geht, dann kaufst du Nachschub, bevor nichts mehr da ist.« Sie hielt abrupt inne. »Eigenartig, ich muss in so was wie eine Zeitschleife geraten sein. Ich bin mir absolut sicher, dass ich das alles schon mal gesagt habe - und zwar nicht nur einmal. Seit du vor zwei Jahren dieses Lokal aufgemacht hast, predige ich dir in regelmäßigen Abständen, dass du besser planen musst.«
»Ach komm, der Laden läuft doch ganz gut.«
Valerie verzog den Mund. »Das kann man so oder so sehen. Immerhin jobbst du nebenbei noch jeden Morgen von acht bis elf bei Metzener als Mädchen für alles, und dann hetzt du quer durchs Center, um den Laden hier aufzumachen, damit bis um halb zwölf alles fertig ist, wenn die ersten Kunden kommen.« Sie schüttelte den Kopf. »So gut läuft der Laden dann ja wohl doch nicht.«
»Himmel, Valerie«, stöhnte sie. »Ich habe drei Pfannen und zwei Hände und dazu fünfzehn Tische. Mehr als arbeiten kann ich nicht, und die Gewinnspanne ist nun mal nicht so groß, dass ich allein von meinem Lokal leben kann.«
»Das ist einerseits richtig«, räumte ihre Freundin ein, »andererseits aber auch völliger Unsinn.«
»Was soll denn das heißen?«
»Na, deine Gewinnspanne ist so niedrig, weil deine wenigen vorhandenen Zutaten gerade ausreichen, um Pfannkuchen in der unteren Preisklasse auf den Tisch zu zaubern. Wenn deine Gäste die extravaganteren Gerichte bestellen könnten, die zehn oder zwölf Euro kosten, dann wäre deine Gewinnspanne auch höher. Damit würde der Laden mehr abwerfen, und du könntest dir diesen Nebenjob sparen und dich morgens um acht hinsetzen, um dir deine Bestände anzusehen und dann einkaufen zu gehen. Dann könntest du um elf Uhr aufmachen, und deine Gäste könnten tatsächlich jeden beliebigen Pfannkuchen bestellen und würden ihn auch genau mit den Zutaten bekommen, die auf der Speisekarte stehen.«
Chrissy stand da und schürzte die Lippen. »Ich müsste aber erst mal mehr verdienen, um den Job bei Metzener überhaupt kündigen zu können.«
Valerie zog die Augenbrauen hoch. »Dann musst du dich eben mal eine Weile morgens um sechs hinsetzen und eine Bestandsaufnahme machen, und wenn am Mittag der größte Trubel vorbei ist - also so wie jetzt -, gehst du einkaufen, damit für den Abend alles vorrätig ist, was du deinen Gästen laut Speisekarte versprichst.«
Chrissy schnaubte frustriert. »Ich kann den Laden nicht tagsüber für zwei Stunden zumachen und einkaufen gehen, das weißt du ganz genau. Diese Center-Verwaltung achtet ganz penibel darauf, dass sich jeder an seinen Vertrag hält. Ich kann ja schon froh sein, dass die Lokale, die nicht zu einer Kette gehören, erst um elf aufmachen dürfen, nicht schon um zehn.«
»Du kannst deine Aushilfe einkaufen schicken«, schlug Valerie vor - ebenfalls nicht zum ersten Mal.
»Magdalena ist jeden Tag von fünf bis acht da, wenn der größte Trubel herrscht. Dann muss sie hier helfen, da kann sie nicht gleichzeitig für mich einkaufen gehen.«
»Dann lass sie eben eine halbe Stunde früher herkommen, damit sie solche Einkäufe erledigt. Oder sag ihr, sie soll auf dem Weg hierher einkaufen.«
Kopfschüttelnd drehte sich Chrissy weg und öffnete den Kühlschrank, um einen Blick auf ihre Vorräte zu werfen. »Dann muss ich ihr eine halbe Stunde mehr bezahlen.«
»Daran wirst du nicht zugrunde gehen«, meinte Valerie und winkte ab. »Aber an deiner Schusseligkeit vielleicht schon.« Sie duckte sich. »Ich sehe ja sogar von hier aus, dass in dem Glas da vorne nur noch eine kleine Balsamico-Zwiebel schwimmt. Das wird denjenigen aber nicht freuen, der die zweiundfünfzig bestellen möchte.«
»Die Balsamico-Zwiebeln ?«, wiederholte sie verwundert und entdeckte das besagte Glas erst im dritten Anlauf. Sie hielt es gegen das Licht und stellte es dann zurück in den Kühlschrank. »Davon brauche ich unbedingt neue«, sagte sie, ließ die Tür zufallen und kehrte zu ihrer Freundin zurück.
Die sah Chrissy sekundenlang abwartend an, dann sagte sie : »Ich habe auf dem Weg hierher ein tolles Paar Schuhe entdeckt.«
»Ehrlich? Wo?«
»Vorne an der Rolltreppe, bei diesem südkoreanischen Italiener.«
Chrissy legte die Stirn in Falten. »Bei welchem südkoreanischen Italiener ?«
»Na, der sich so uritalienisch ›Celentano‹ nennt, aber eigentlich Soon-Tek heißt«, erklärte sie, dann beschrieb sie die Schuhe, und als sie merkte, wie interessiert ihr Chrissy zuhörte, fragte sie plötzlich : »Musstest du nicht noch was besorgen ?«
»Ähm ... «, machte Chrissy und verzog das Gesicht, während sie sichtlich angestrengt überlegte. »Ja, da war doch irgendwas gewesen, aber ... «
»Mensch, Chrissy !«, fuhr Valerie sie an und gab ihr einen Klaps auf die Stirn. »Du hast die Aufmerksamkeitsspanne einer Dreijährigen, die durch einen Spielzeugladen läuft und nicht weiß, wo sie zuerst hinsehen soll. Balsamico-Zwiebeln !«
»Ach ja, genau. Das war's.«
Wieder ließ Valerie einige Sekunden verstreichen, und als nichts geschah, knurrte sie : »Schreib - es - dir - auf!« Sie griff über die Theke, schnappte sich den Quittungsblock und warf ihn Chrissy hin. »Jetzt - sofort!«
»Schon gut, du musst nicht gleich zum Terminator werden«, wehrte Chrissy ab. »Mir wär das schon noch eingefallen.«
»Ja, bei der nächsten Bestellung.« Ihre Freundin schüttelte den Kopf. »Und wenn du dadurch mehr Leute wie deinen Gast gerade eben vergraulst, dann kann deine Lockerheit ganz böse nach hinten losgehen.«
»Wieso ? Was war mit dem?«
»Weißt du nicht, wer das war?«
Chrissy zuckte mit den Schultern. »Er hat sich mir nicht vorgestellt.«
»Das hat er auch nicht nötig, dafür ist er bekannt genug.« »Sag schon, wer er war«, stöhnte sie.
»Claudio Ulrichshauser.«
Chrissy sah sie abwartend an. »Und?«, fragte sie schließlich. »Wer ist das?«
»Den kennst du nicht?« Valerie schüttelte ungläubig den Kopf. »Das ist der Restaurantkritiker aus dem Regionalfernsehen, der bestimmt schon seit einem Jahr jeden Mittwoch und jeden Samstag zwei Lokale vorstellt - samstags den Tipp der Woche und mittwochs den Flop der Woche.«
»Na ja, er war nicht mit 'nem Kamerateam hier, da muss ich mir keine Gedanken machen.«
»Irrtum, meine Liebe. Der redet ein paar Minuten über das Lokal, in dem er war, aber er fi lmt nichts mit. Dafür ist im Hintergrund die ganze Zeit über ein Foto von dem Laden zu sehen, den er gerade lobt oder vernichtet.«
»Ein Restaurantkritiker. Wenn ich so was schon höre!«, schimpfte sie los. »Ist das etwa ein Ausbildungsberuf? Gibt's irgendwo eine Berufsschule für Restaurantkritiker? Haben diese Typen ein Kritikerdiplom? Haben die eine Lizenz, jemanden schlechtzumachen?«
»Ich weiß, ich weiß, Chrissy«, sagte sie beschwichtigend.
»Eigentlich braucht kein Mensch so was. Ich muss mir jedenfalls nicht sagen lassen, ob mir was schmeckt oder nicht. Das kann ich immer noch selbst entscheiden. Aber du weißt, die Leute wollen so was sehen, und viele von denen interessiert es dabei überhaupt nicht, wo sie gut essen können. Die wollen vor allem wissen, wen er als Nächstes in der Luft zerreißt und was er an einem Lokal auszusetzen hat.«
»Ich möchte wetten, der kriegt nicht mal ein Ei gekocht, wenn er nicht vorher das Rezept aus dem Internet runterlädt.«
»Das mag sein, aber es ändert nichts daran, dass er möglicherweise nächsten Mittwoch deinen Laden in die Mangel nimmt«, warnte Valerie sie. »Siehst du dir so was eigentlich nie an, dass du jemanden wie diesen Ulrichshauser nicht kennst?«
»Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, ich arbeite um diese Zeit üblicherweise.«
»Da in der Ecke hängt ein Fernseher, der den ganzen Tag läuft.«
»Die Klimaanlage läuft auch den ganzen Tag, trotzdem stelle ich mich nicht davor und sehe mir die an«, konterte sie bissig. »Und wenn ich nach Hause komme, dann lasse ich den Fernseher einfach nur laufen, um berieselt zu werden.«
»Ja, ich weiß, auch wenn ich nicht verstehen kann, wie man das Gelaber auf diesen Verkaufssendern ertragen kann.«
»Ich höre ja nicht hin«, sagte Chrissy. »Es ist so ein Hintergrundgeblubber, das einfach beruhigend wirkt.« Sie verzog den Mund. »Bin ich jetzt in Schwierigkeiten?«
»Keine Ahnung«, räumte Valerie ein. »Wenn er gar nichts gegessen hat, lässt er dich vielleicht ungeschoren davonkommen, weil er ja nichts über die Gerichte sagen kann. Aber wenn du Pech hast, macht er genau das zum Thema und lästert darüber, dass er nicht mal etwas probieren konnte, weil es nichts gab.«
»Wenn er Lügen verbreitet, gehe ich zum Anwalt«, versprach Chrissy ihr fest entschlossen. »Der kann so bekannt sein, wie er will, aber der soll sich nicht mit mir anlegen.«
Valerie lächelte sie aufmunternd an. »Das ist die richtige Einstellung«, lobte sie. »Und jetzt müssen wir dich nur noch dazu bringen, dass du mit dem gleichen Eifer deine Bestände überwachst und einkaufst, bevor alles aufgebraucht ist. Könnte ja sein, dass Ulrichshauser noch mal herkommt, um herauszufinden, ob das immer so läuft oder ob er dich nur auf dem falschen Fuß erwischt hat. Und wir wollen doch nicht, dass er den schlechten Eindruck bestätigt bekommt, den du auf ihn gemacht hast.«
»Dann beruht das eben auf Gegenseitigkeit«, grummelte Chrissy. »Der Kerl war auch nicht gerade die Freundlichkeit in Person.«
Ihre Freundin trank einen Schluck und stellte das Glas zurück auf den Tresen. »Das kann er sich auch leisten, schließlich wollen die Leute ja was von ihm.«
»Ich nicht«, widersprach Chrissy. »Ich habe ihn schließlich nicht gebeten, herzukommen und den Leuten was über mein Lokal zu erzählen. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke ... ich sollte mal einen Anwalt fragen, ob man so was eigentlich verbieten lassen kann.«
»Was willst du verbieten lassen?«
»Na, dass der Typ hingeht und meinen Laden schlechtmacht. Ich meine, er müsste sich ja wenigstens vorstellen und sagen, was er vorhat. Dann kann ich ja immer noch entscheiden, ob ich das will oder nicht. Was meinst du?«
»Puh, da fragst du mich zu viel. Ich bin nur eine kleine Personalsachbearbeiterin, die sich mit so was nicht auskennt.«
Chrissy musste von Herzen lachen. »Das ist wieder typisch für dich, immer schön tiefstapeln, wie ? Eine kleine Personalsachbearbeiterin ! Das ist ja ein guter Witz. Soweit ich mich erinnern kann, schmeißt du ganz allein die Personalabteilung, seit euer Abteilungsleiter in Bangkok verschollen ist.«
»Richtig verschollen ist er ja nicht ... «
»Ja, ich weiß, er hat sich auf irgendeinen Selbstfindungstrip gemacht, und keiner weiß, wie lange der dauern soll. Aber ich wette mit dir, wenn er nicht bald auftaucht, wirst du seine Nachfolgerin werden. Schließlich hast du ja bewiesen, dass du das Ganze auch ohne ihn kannst.«
Valerie hob abwehrend die Hände. »So einfach ist das nicht. Die Voraussetzungen an den Posten erfülle ich eigentlich gar nicht. Da sind zig Lehrgänge erforderlich, und wie du weißt, habe ich auch kein Hochschulstudium ...«
»Ach komm, Valerie. Du hast in der Firma deine Ausbildung gemacht, du hast dich Ebene für Ebene hochgearbeitet, du kennst dich aus. Wenn dein Chef einen Funken Verstand hat, dann weiß er, dass dein Wissen mehr wert ist als jedes Hochschulstudium. Frag doch endlich mal nach, was nun los ist.«
»Ich kann doch nicht einfach fragen, ob ich Wüllners Posten haben kann!«, protestierte sie.
»Wieso nicht?«, hielt Chrissy dagegen. »Mir machst du ständig Vorhaltungen, was ich alles anders machen soll, damit mein Lokal mehr Geld einbringt, aber bei dir selbst willst du nicht die Initiative ergreifen?« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Ist das nicht ein bisschen widersinnig?«
Unschlüssig hob Valerie die Schultern. »Na ja, ich komme mir irgendwie so vor, als würde ich Wüllner in den Rücken fallen und ... «
»Du fällst ihm nicht in den Rücken. Was er da veranstaltet, ist egoistisch und sonst gar nichts. Nein, stimmt nicht. Es ist auch noch völlig verantwortungslos. Einfach abtauchen und eine Mail schicken, dass er sich selbst suchen muss, weil er nicht mehr weiß, wer er ist. Dass euer Chef das überhaupt mitmacht! Ich finde wirklich, du solltest ihm sagen, was dir nicht passt, und du solltest dich als Wüllners Nachfolgerin ins Gespräch bringen, anstatt die Vertretung zu spielen, bis er vielleicht doch wieder aufkreuzt. Dein Chef muss wissen, dass du an der Stelle interessiert bist, sonst stellt er dich irgendwann vor vollendete Tatsachen und setzt dir einen neuen Abteilungsleiter vor die Nase, und dann hast du deine Chance verpasst. Willst du das wirklich?«
Valerie verzog missmutig den Mund. »Irgendwie hast du ja recht. Vielleicht ... vielleicht fürchte ich mich bloß davor, die Verantwortung zu übernehmen.«
»Die hast du längst übernommen, als du dich bereit erklärt hast, Wüllner zu vertreten. Willst du ernsthaft die Verantwortung wieder abgeben?«
Eine Weile sah ihre Freundin sie nachdenklich an, dann setzte sie ein paarmal unschlüssig zum Reden an, bis sie schließlich sagte: »Weißt du was? Ich besorge dir jetzt erst mal neue Balsamico-Zwiebeln. Danach kümmern wir uns gemeinsam um deine übrigen Bestände. Waren das die süßlichen oder die herben Zwiebeln?«
»Ist egal, ich kann beide gebrauchen. Bei Dragovic gleich neben dem Supermarkt im Basement gibt's die besten. Ach, wenn du schon da bist, dann bring mir auch noch was von dieser ... Teufelspaste mit oder wie das Zeug heißt. Er weiß Bescheid. Nimm von der scharfen und der milden Paste. Oh, und so zehn bis zwölf gefüllte Champignons. Und diese Bärlauchcreme. Und ... «
»Warte, warte, warte!«, rief Valerie so oft, bis Chrissy endlich aufgehört hatte zu reden. »Ich nehme einfach von allem etwas, okay? Dann muss ich mir nichts merken.« Sie stand auf und zog ihre Jacke an. »Brauchst du noch von woanders was?«
»Ich glaub nicht«, sagte Chrissy und schüttelte den Kopf, wodurch ihre ganze Frisur in Bewegung geriet, dann schnippte sie mit den Fingern. »Doch, warte. Du könntest mir meine andere Jeans aus dem Wagen holen. Ich hatte heute Mittag einen kleinen Teigunfall, und auch wenn die Schürze alles verdeckt, klebt der Stoff an meinen Oberschenkeln.«
»Okay, das werde ich sicher noch hinkriegen«, meinte ihre Freundin mit einem gespielt gequälten Lächeln. »Aber das ist dann alles? Oder soll ich dir vielleicht auch noch deinen Kopf mitbringen? Ich nehme ja an, den hast du auch wieder irgendwo vergessen.«
»Ha, ha, ha«, konterte sie und drückte ihr den Wagenschlüssel in die Hand, dann fügte sie ernst hinzu : »Vielen Dank, du bist eine gute Freundin.«
»Na, ich weiß nicht. Wenn ich eine so gute Freundin wäre, würde ich dir vermutlich noch viel mehr in deinen Hintern treten, damit du in die Gänge kommst.«
»Danke, du trittst schon genug.«
»Hm, dann musst du an deinem Hintern wahrscheinlich eine ziemlich dicke Hornhaut entwickelt haben, wenn ich dich so viel trete und du trotzdem nicht auf mich hörst.«
Chrissy fuchtelte ihr mit den Fingern vor dem Gesicht herum. »Husch, husch, verschwinde jetzt«, sagte sie und deutete mit einem Nicken auf einen der Tische. »Ich habe Kundschaft, ich muss arbeiten.«
Nach einem Blick über die Schulter raunte Valerie ihr zu: »Vielleicht kannst du das Pärchen ja eine Weile hinhalten, bis ich zurück bin, dann musst du bei nicht ganz so vielen Pfannkuchen erklären, dass du sie nicht alle hast ... alle Zutaten, wollte ich sagen.«
Sie kniff giftig die Augen zusammen und zog dabei die Nase kraus. »Wenn ... «, begann sie, dann verstummte sie abrupt. »Was ist?«, wunderte sich Valerie.
»Hmmm«, machte sie genießerisch. »Da kommt noch mehr Kundschaft.«
Ohne sich diesmal auch nur umzudrehen, sagte ihre Freundin : »Und diese Kundschaft ist männlich, um die dreißig, schlank, aber nicht mager, markantes Gesicht, und du musst Besteck nur für eine Person an den Tisch bringen, richtig ?«
Chrissy nickte gedankenverloren und murmelte: »O ja, ganz genau.« Dann seufzte sie und setzte eine betrübte Miene auf. »Aber was hab ich davon? Ich könnte mich ja sowieso nicht mit ihm verabreden, außer er will ein Date mit mir hier im Pfannkuchenparadies verbringen - während ich arbeite.« Sie schüttelte betrübt den Kopf. »Weißt du, dass ich keinen Sex mehr hatte, seit ich diesen Laden aufgemacht habe?«
»Du meinst, keinen Sex mehr außer mit deinem Vibrator«, korrigierte Valerie sie im Flüsterton und grinste sie dabei breit an.
»Ich ...«, setzte sie zu einer Erwiderung an, obwohl sie gar nicht wusste, was sie darauf erwidern sollte. Plötzlich merkte sie, dass sie einen roten Kopf bekam, obwohl sie wusste, dass es keinen Grund dafür gab - allein schon deshalb nicht, weil Valerie ihr den besagten Vibrator höchstpersönlich geschenkt hatte, als sie sich vor gut zwei Jahren darüber beklagt hatte, wegen ihrer Arbeitszeiten in ihrem eigenen Lokal überhaupt keine Gelegenheit mehr zu haben, Männer kennenzulernen.
»Ooh, sieh dir das an«, zog ihre Freundin sie amüsiert auf. »Du wirst ja vor Verlegenheit ganz rot. Wie süß.«
Wortlos griff Chrissy nach ihrem Notizblock und kam hinter der Theke hervor, um sich um ihre Gäste zu kümmern.
...
Copyright © 2012 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Und der Pfannkuchen à la Bonaparte?«
Chrissy kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Nur ohne Camembert«, antwortete sie dann und sah den Mann am Tisch vor ihr fragend an. »Ich könnte ihn stattdessen mit geriebenem Gouda belegen ... «
»Geriebener Gouda ?« Der Grauhaarige kniff die Augen ein wenig zusammen. »Camembert und geriebener Gouda sind demnach für Sie zwei Zutaten, die man nach Belieben austauschen kann?«
Sie zuckte flüchtig mit den Schultern. »Na ja, es ist beides Käse, nicht wahr?« Innerlich schüttelte sie den Kopf über diesen Gast. Zugegeben, Gouda war natürlich kein Camembert, aber es war nun mal Käse, und sie hatte ihm ja schließlich nicht vorgeschlagen, stattdessen heiße Vanillesoße zu nehmen. Das wäre nun wirklich was ganz anderes gewesen.
»Mineralwasser und Wodka sind beides Getränke«, hielt der ältere Mann dagegen und schaute Chrissy skeptisch an. »Würden Sie die auch gegeneinander austauschen?«
»Sie haben einen Rotwein bestellt«, sagte sie etwas irritiert, weil sie nicht so recht wusste, was sie mit dieser Bemerkung ihres Gegenübers anfangen sollte. »Oder ?« Sie sah auf den Notizblock. Doch, genau. Da stand »Rotwein«, gleich über den notierten und im nächsten Moment wieder durchgestrichenen Zahlen der Gerichte, die der Mann zunächst nacheinander bestellt hatte, nur um es sich nach kurzer Diskussion doch anders zu überlegen.
Ihr Gast stieß einen ziemlich übertrieben klingenden Seufzer aus und fragte: »Und was ist mit der Nummer dreiunddreißig? Pfannkuchen à la Babuschka?«
Chrissy sah überlegend zur Decke, wobei ihr auffiel, dass eine der Deckenleuchten ausgefallen war. Na großartig, jetzt durfte sie auch noch den Hausmeister anrufen, diesen ach so coolen alten Kerl, der immer so aussah wie gerade eben aus dem Solarium gehüpft und der zu allem seine Meinung sagen musste - ob es jemanden interessierte oder nicht. Eigentlich hätte sie sofort den Elektriker rufen sollen, weil die ganze Leuchte herausgenommen werden musste, um die Birne auszutauschen, aber das Center-Handbuch für Mieter schrieb vor, dass man immer erst den Hausmeister verständigen musste, obwohl der nichts anderes tat, als den Elektriker anzufordern, damit der die eigentliche Arbeit erledigte. Bis heute hatte sie nicht verstanden, welchen Sinn dieser Hausmeisterposten eigentlich hatte, den sie mit ihrer Umlage auch noch mitfinanzierte. Bestimmt war er ein guter Kumpel von einem der Manager, der ihm diese Faulenzerstelle verschafft hatte.
»Babuschka«, holte eine Stimme sie aus ihren Überlegungen. »Junge Frau ? Babuschka?«
»Nein, Chrissy«, murmelte sie, dann stutzte sie und bemerkte den verwunderten Blick des mürrischen Grauhaarigen. Der fragte schon wieder: »Babuschka?«
»Oh ... ja, die dreiunddreißig«, sagte sie. »Ähm ... ich glaube, die Preiselbeeren sind aus.«
Der Mann schnaubte ungehalten. »Gibt es irgendein Gericht, das ich exakt so bekomme, wie es auf der Karte steht?«
»Die ersten acht immer«, antwortete sie und schränkte sofort ein. »Nur nicht die Nummer sechs. Die Orangenmarmelade ist aus.«
»Ist das alles?«
»Nein, nein«, versicherte sie ihm. »Von den anderen kommen noch mal sicher zehn oder fünfzehn zusammen. Sie müssen nur ... «
»Ich muss nur das große Los ziehen und die richtige Nummer bestellen, wollen Sie sagen?«, unterbrach der Grauhaarige sie und legte den Kopf schräg. »Was halten Sie denn davon, eine Lotterie zu veranstalten, bei der jeder Gast sechs Zahlen aus diesen neunundneunzig aufschreibt, und wenn er auf ein Gericht tippt, das Sie auch tatsächlich zusammenstellen können, dann bekommt er das auch ? Wäre das nicht einfacher?«
»Entschuldigung«, murrte sie. »Ich kann ja nichts dafür, wenn Sie nicht das Richtige finden.«
»Nicht das Richtige finden?«, wiederholte er aufbrausend und stand auf. »Ich habe dreimal versucht, das Richtige zu finden, nur können Sie mir nichts davon auf den Tisch bringen. So sieht es doch nun mal aus.« Er kam um den Tisch herum und nahm seine Jacke vom Haken an der Garderobe, dabei wirkte er einen Moment lang so bedrohlich, dass sie unwillkürlich vor ihm zurückzuckte. »Aber vielleicht ist das auch nur Ihre Methode, um lästige Gäste abzuwimmeln. Ich würde sagen ... « Er ließ seinen Blick über die leeren Tische in ihrem Lokal wandern. »... Ihre Taktik funktioniert. Jetzt sind Sie auch noch den Letzten losgeworden, der so dumm war, sich für Ihr Pfannkuchenrestaurant zu interessieren.«
Wütend kniff sie die Augen zusammen und fuhr den Grauhaarigen an: »Ist Ihnen zufällig schon mal der Gedanke gekommen, dass um halb drei sehr wenige Leute noch zu Mittag oder schon zu Abend essen? Sehen Sie da drüben den Italiener oder das Fischlokal da links? Schlagen sich da die Gäste etwa um einen Tisch?«
»Es ist ...«, begann er zu protestieren.
»Es ist halb drei«, unterbrach sie ihn sofort. »Andere Restaurants, die nicht in einem Einkaufscenter untergebracht sind, haben um diese Zeit sogar geschlossen!«
»Ich wollte ... «, versuchte der ältere Mann einen erneuten Anlauf.
»Ja, Sie wollten mal richtig irgendjemanden zur Schnecke machen, und da kam ich Ihnen wohl gerade gelegen, wie?« Chrissys Augen funkelten zornig, sie presste die Lippen energisch zusammen. »Tja, aber da müssen Sie sich leider ein anderes Opfer suchen. Auf Wiedersehen.«
Der Mann zog seine Jacke an und betrachtete Chrissy verwundert.
»Auf Wiedersehen«, wiederholte sie und deutete mit einer trotzigen Kopfbewegung in Richtung Ausgang.
Mit einem Schulterzucken machte ihr Beinahe-Gast kehrt und verließ das Lokal. Im gleichen Moment kam Valerie herein, Chrissys beste Freundin, bei deren Anblick sie immer ein klein bisschen neidisch wurde. Valerie war mit ihren einunddreißig zwei Jahre älter als sie, aber sie wirkte immer noch wie höchstens fünfundzwanzig. Wahrscheinlich lag das an ihren fast schwarzen Haaren, die sie vorzugsweise kurz geschnitten trug, während Chrissy sich nicht von ihrer blonden Mähne trennen wollte - auch wenn Valerie sie ab und zu damit aufzog und ihr erzählte, sie sehe aus, als sei sie soeben aus dem Jahr 1978 in die Gegenwart gereist. Vorzugsweise verglich sie sie mit Farrah Fawcett, die damals in der Fernsehserie Drei Engel für Charlie mitgespielt hatte. Aber auch wenn das nichts anderes heißen sollte, als dass ihre Frisur sie alt aussehen ließ, war sie mit ihren Haaren durchaus zufrieden. Außerdem wiederholte sich die Mode von Zeit zu Zeit, und vielleicht würde sie ja schon in einem halben Jahr genau im Trend liegen. Dann hätte Valerie das Nachsehen, weil ihre Haare bis dahin nicht lang genug sein würden.
»Hallo, Chrissy«, begrüßte sie sie mit einem Wangenkuss und einer Umarmung. »War das gerade ...?«
»... ja, einer von diesen besonders reizenden Gästen, die nicht wissen, was sie wollen«, antwortete sie etwas genervt. »Erst will er die sechsundzwanzig, und nur weil ich heute keine Shiitake-Pilze und kein Wasabi habe, bestellt er stattdessen die Nummer siebenundsechzig ... «
Valerie zog ihre blutrote Jacke aus und hängte sie über einen der Hocker an der Theke, dann griff sie nach der Speisekarte. »Die sechsundzwanzig. Pfannkuchen à la Sumo«, las sie vor. »Shiitake-Pilze auf einer Frischkäsezubereitung mit einem Hauch Wasabi - auf Wunsch auch mit einem kräftigeren Hauch.« Sie sah zu Chrissy, die hinter die Theke gegangen war und damit begonnen hatte, die Spülmaschine auszuräumen. »Und wieso hast du keine Shiitake-Pilze und kein Wasabi?«
»Weil mir beides ausgegangen ist.« Sie stellte die Teller zurück auf den Tresen.
»Und das hast du wann festgestellt?«
Chrissy hob die Schultern. »Na, heute Mittag, nachdem ich noch einen Sumo fertig bekommen hatte. So gerade eben. Der Hauch Wasabi war mehr ein ... Häuchlein? Sagt man das?«
»Keine Ahnung.« Valerie schüttelte den Kopf. »Wann hast du das Glas zum letzten Mal in der Hand gehabt? Vor heute Mittag, meine ich.«
»Weiß nicht.« Sie atmete schnaubend aus. »Vorgestern. Ja, am Mittwoch.«
»Und da ist dir nicht aufgefallen, dass der Rest höchstens noch für eine Portion reicht?«
Wieder reagierte sie mit einem Schulterzucken. »Da war zu viel los.«
»Du hättest bestimmt zehn Sekunden übrig gehabt, um die Worte >Wasabi< und >Shiitake< auf einem Zettel zu notieren, um später am Tag oder wenigstens gestern Nachschub zu kaufen.«
»Das ist doch nicht so wild«, wehrte Chrissy ab, die ihrer Freundin den Rücken zuwandte und die Augen verdrehte, weil sie wusste, was nun wieder kommen würde.
»Auch wenn ich es nicht sehen kann, weiß ich, dass du gerade mit den Augen rollst, weil jetzt die alte Leier wieder losgeht«, sagte Valerie ihr auf den Kopf zu.
Chrissy stöhnte frustriert auf. »Dir entgeht auch gar nichts.«
»Wir kennen uns seit der Grundschule, Chrissy«, hielt sie ihr vor. »So, wie du weißt, welches Thema ich jetzt wieder anschneide, weiß ich, wie du darauf reagierst, junge Dame.« »Ja, ja, ich weiß ... Mutter.«
»Ich habe dir bestimmt schon hundertmal gesagt, du kannst nicht bei einem Gericht >mit Hackfleisch< auf die Speisekarte schreiben und den Pfannkuchen dann einfach mit Schinken belegen, weil das Hackfleisch noch gar nicht gebraten ist oder weil du vergessen hast, es zu kaufen. Auf deiner Karte prahlst du damit, dass man hier neunundneunzig verschiedene Arten von Pfannkuchen essen kann, aber ich würde mal sagen, dass du mit viel Glück zehn oder zwölf Variationen exakt so zubereiten kannst, wie sie hier aufgelistet sind. Du hast vermutlich keine Schokoladenstreusel ... keine Pfifferlinge ... keinen süßen Senf ... «
»Von wegen!«, unterbrach Chrissy die Aufzählung, während sie für ihre Freundin ein Glas Limo einschenkte. »Ich kann mindestens zwanzig Variationen zusammenstellen!«
»Zwanzig ? Wow, ich bin ja richtig beeindruckt«, meinte Valerie lachend. »Das würde bei McDonald's bedeuten, dass ich zwei oder drei Hamburger so bekomme, wie sie angeboten werden, während beim Rest der Ketchup oder das Fleisch oder das Brötchen fehlt. Wirklich toll, Chrissy. So macht man sich bei den Kunden einen guten Namen.«
»Es hat sich noch keiner beschwert«, beharrte sie, auch wenn das nicht so ganz stimmte. Aber das musste Valerie nicht wissen. Die hatte auch so schon recht, da musste sie ihr nicht auch noch einen Beleg liefern, der ihren Standpunkt untermauerte.
»Mag sein, aber es gibt auch Gäste, die sich nicht beschweren, obwohl sie eigentlich nicht zufrieden waren, und das sind die Leute, die nach dem ersten Besuch einfach nicht wiederkommen.« Sie beugte sich über die Theke und griff nach Chrissys Hand, um sie zurückzuhalten. »Süße, ich will dir keine Predigten halten, du bist alt genug, um zu wissen, was du tust. Aber manche Sachen nimmst du einfach zu locker. Du erinnerst dich doch an die Frau von schräg gegenüber, die mit den Sandwiches. Die war auch immer ganz locker, vor allem wenn sie ihre Zigarettenpause machen konnte. Und jetzt ? Jetzt gibt's da drüben diesen ekligen Bubble Tea.«
»Die hat ja auch lieber vor dem Laden gestanden und geraucht«, wandte Chrissy ein, »anstatt hinter der Theke zu stehen und zu arbeiten. Oder willst du behaupten, ich bin faul?«
»Natürlich bist du nicht faul, Chrissy. Das würde ich auch nie behaupten. Aber du wurstelst dich immer nur so gerade eben durch, weil's immer noch irgendwie gut geht. Anstatt dir einen Plan zu machen, was du brauchst ...«
»Woher soll ich wissen, was ich brauche? Heute Mittag haben acht Leute den Bananenpfannkuchen genommen, und ich hatte noch sieben Bananen - alle von letzter Woche, als kein Schwein die Variation nehmen wollte!«
»Chrissy, von deinen neunundneunzig Variationen solltest du mindestens drei Viertel auch liefern können, wenn sie bestellt werden, und wenn du siehst, dass irgendeine Zutat zur Neige geht, dann kaufst du Nachschub, bevor nichts mehr da ist.« Sie hielt abrupt inne. »Eigenartig, ich muss in so was wie eine Zeitschleife geraten sein. Ich bin mir absolut sicher, dass ich das alles schon mal gesagt habe - und zwar nicht nur einmal. Seit du vor zwei Jahren dieses Lokal aufgemacht hast, predige ich dir in regelmäßigen Abständen, dass du besser planen musst.«
»Ach komm, der Laden läuft doch ganz gut.«
Valerie verzog den Mund. »Das kann man so oder so sehen. Immerhin jobbst du nebenbei noch jeden Morgen von acht bis elf bei Metzener als Mädchen für alles, und dann hetzt du quer durchs Center, um den Laden hier aufzumachen, damit bis um halb zwölf alles fertig ist, wenn die ersten Kunden kommen.« Sie schüttelte den Kopf. »So gut läuft der Laden dann ja wohl doch nicht.«
»Himmel, Valerie«, stöhnte sie. »Ich habe drei Pfannen und zwei Hände und dazu fünfzehn Tische. Mehr als arbeiten kann ich nicht, und die Gewinnspanne ist nun mal nicht so groß, dass ich allein von meinem Lokal leben kann.«
»Das ist einerseits richtig«, räumte ihre Freundin ein, »andererseits aber auch völliger Unsinn.«
»Was soll denn das heißen?«
»Na, deine Gewinnspanne ist so niedrig, weil deine wenigen vorhandenen Zutaten gerade ausreichen, um Pfannkuchen in der unteren Preisklasse auf den Tisch zu zaubern. Wenn deine Gäste die extravaganteren Gerichte bestellen könnten, die zehn oder zwölf Euro kosten, dann wäre deine Gewinnspanne auch höher. Damit würde der Laden mehr abwerfen, und du könntest dir diesen Nebenjob sparen und dich morgens um acht hinsetzen, um dir deine Bestände anzusehen und dann einkaufen zu gehen. Dann könntest du um elf Uhr aufmachen, und deine Gäste könnten tatsächlich jeden beliebigen Pfannkuchen bestellen und würden ihn auch genau mit den Zutaten bekommen, die auf der Speisekarte stehen.«
Chrissy stand da und schürzte die Lippen. »Ich müsste aber erst mal mehr verdienen, um den Job bei Metzener überhaupt kündigen zu können.«
Valerie zog die Augenbrauen hoch. »Dann musst du dich eben mal eine Weile morgens um sechs hinsetzen und eine Bestandsaufnahme machen, und wenn am Mittag der größte Trubel vorbei ist - also so wie jetzt -, gehst du einkaufen, damit für den Abend alles vorrätig ist, was du deinen Gästen laut Speisekarte versprichst.«
Chrissy schnaubte frustriert. »Ich kann den Laden nicht tagsüber für zwei Stunden zumachen und einkaufen gehen, das weißt du ganz genau. Diese Center-Verwaltung achtet ganz penibel darauf, dass sich jeder an seinen Vertrag hält. Ich kann ja schon froh sein, dass die Lokale, die nicht zu einer Kette gehören, erst um elf aufmachen dürfen, nicht schon um zehn.«
»Du kannst deine Aushilfe einkaufen schicken«, schlug Valerie vor - ebenfalls nicht zum ersten Mal.
»Magdalena ist jeden Tag von fünf bis acht da, wenn der größte Trubel herrscht. Dann muss sie hier helfen, da kann sie nicht gleichzeitig für mich einkaufen gehen.«
»Dann lass sie eben eine halbe Stunde früher herkommen, damit sie solche Einkäufe erledigt. Oder sag ihr, sie soll auf dem Weg hierher einkaufen.«
Kopfschüttelnd drehte sich Chrissy weg und öffnete den Kühlschrank, um einen Blick auf ihre Vorräte zu werfen. »Dann muss ich ihr eine halbe Stunde mehr bezahlen.«
»Daran wirst du nicht zugrunde gehen«, meinte Valerie und winkte ab. »Aber an deiner Schusseligkeit vielleicht schon.« Sie duckte sich. »Ich sehe ja sogar von hier aus, dass in dem Glas da vorne nur noch eine kleine Balsamico-Zwiebel schwimmt. Das wird denjenigen aber nicht freuen, der die zweiundfünfzig bestellen möchte.«
»Die Balsamico-Zwiebeln ?«, wiederholte sie verwundert und entdeckte das besagte Glas erst im dritten Anlauf. Sie hielt es gegen das Licht und stellte es dann zurück in den Kühlschrank. »Davon brauche ich unbedingt neue«, sagte sie, ließ die Tür zufallen und kehrte zu ihrer Freundin zurück.
Die sah Chrissy sekundenlang abwartend an, dann sagte sie : »Ich habe auf dem Weg hierher ein tolles Paar Schuhe entdeckt.«
»Ehrlich? Wo?«
»Vorne an der Rolltreppe, bei diesem südkoreanischen Italiener.«
Chrissy legte die Stirn in Falten. »Bei welchem südkoreanischen Italiener ?«
»Na, der sich so uritalienisch ›Celentano‹ nennt, aber eigentlich Soon-Tek heißt«, erklärte sie, dann beschrieb sie die Schuhe, und als sie merkte, wie interessiert ihr Chrissy zuhörte, fragte sie plötzlich : »Musstest du nicht noch was besorgen ?«
»Ähm ... «, machte Chrissy und verzog das Gesicht, während sie sichtlich angestrengt überlegte. »Ja, da war doch irgendwas gewesen, aber ... «
»Mensch, Chrissy !«, fuhr Valerie sie an und gab ihr einen Klaps auf die Stirn. »Du hast die Aufmerksamkeitsspanne einer Dreijährigen, die durch einen Spielzeugladen läuft und nicht weiß, wo sie zuerst hinsehen soll. Balsamico-Zwiebeln !«
»Ach ja, genau. Das war's.«
Wieder ließ Valerie einige Sekunden verstreichen, und als nichts geschah, knurrte sie : »Schreib - es - dir - auf!« Sie griff über die Theke, schnappte sich den Quittungsblock und warf ihn Chrissy hin. »Jetzt - sofort!«
»Schon gut, du musst nicht gleich zum Terminator werden«, wehrte Chrissy ab. »Mir wär das schon noch eingefallen.«
»Ja, bei der nächsten Bestellung.« Ihre Freundin schüttelte den Kopf. »Und wenn du dadurch mehr Leute wie deinen Gast gerade eben vergraulst, dann kann deine Lockerheit ganz böse nach hinten losgehen.«
»Wieso ? Was war mit dem?«
»Weißt du nicht, wer das war?«
Chrissy zuckte mit den Schultern. »Er hat sich mir nicht vorgestellt.«
»Das hat er auch nicht nötig, dafür ist er bekannt genug.« »Sag schon, wer er war«, stöhnte sie.
»Claudio Ulrichshauser.«
Chrissy sah sie abwartend an. »Und?«, fragte sie schließlich. »Wer ist das?«
»Den kennst du nicht?« Valerie schüttelte ungläubig den Kopf. »Das ist der Restaurantkritiker aus dem Regionalfernsehen, der bestimmt schon seit einem Jahr jeden Mittwoch und jeden Samstag zwei Lokale vorstellt - samstags den Tipp der Woche und mittwochs den Flop der Woche.«
»Na ja, er war nicht mit 'nem Kamerateam hier, da muss ich mir keine Gedanken machen.«
»Irrtum, meine Liebe. Der redet ein paar Minuten über das Lokal, in dem er war, aber er fi lmt nichts mit. Dafür ist im Hintergrund die ganze Zeit über ein Foto von dem Laden zu sehen, den er gerade lobt oder vernichtet.«
»Ein Restaurantkritiker. Wenn ich so was schon höre!«, schimpfte sie los. »Ist das etwa ein Ausbildungsberuf? Gibt's irgendwo eine Berufsschule für Restaurantkritiker? Haben diese Typen ein Kritikerdiplom? Haben die eine Lizenz, jemanden schlechtzumachen?«
»Ich weiß, ich weiß, Chrissy«, sagte sie beschwichtigend.
»Eigentlich braucht kein Mensch so was. Ich muss mir jedenfalls nicht sagen lassen, ob mir was schmeckt oder nicht. Das kann ich immer noch selbst entscheiden. Aber du weißt, die Leute wollen so was sehen, und viele von denen interessiert es dabei überhaupt nicht, wo sie gut essen können. Die wollen vor allem wissen, wen er als Nächstes in der Luft zerreißt und was er an einem Lokal auszusetzen hat.«
»Ich möchte wetten, der kriegt nicht mal ein Ei gekocht, wenn er nicht vorher das Rezept aus dem Internet runterlädt.«
»Das mag sein, aber es ändert nichts daran, dass er möglicherweise nächsten Mittwoch deinen Laden in die Mangel nimmt«, warnte Valerie sie. »Siehst du dir so was eigentlich nie an, dass du jemanden wie diesen Ulrichshauser nicht kennst?«
»Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, ich arbeite um diese Zeit üblicherweise.«
»Da in der Ecke hängt ein Fernseher, der den ganzen Tag läuft.«
»Die Klimaanlage läuft auch den ganzen Tag, trotzdem stelle ich mich nicht davor und sehe mir die an«, konterte sie bissig. »Und wenn ich nach Hause komme, dann lasse ich den Fernseher einfach nur laufen, um berieselt zu werden.«
»Ja, ich weiß, auch wenn ich nicht verstehen kann, wie man das Gelaber auf diesen Verkaufssendern ertragen kann.«
»Ich höre ja nicht hin«, sagte Chrissy. »Es ist so ein Hintergrundgeblubber, das einfach beruhigend wirkt.« Sie verzog den Mund. »Bin ich jetzt in Schwierigkeiten?«
»Keine Ahnung«, räumte Valerie ein. »Wenn er gar nichts gegessen hat, lässt er dich vielleicht ungeschoren davonkommen, weil er ja nichts über die Gerichte sagen kann. Aber wenn du Pech hast, macht er genau das zum Thema und lästert darüber, dass er nicht mal etwas probieren konnte, weil es nichts gab.«
»Wenn er Lügen verbreitet, gehe ich zum Anwalt«, versprach Chrissy ihr fest entschlossen. »Der kann so bekannt sein, wie er will, aber der soll sich nicht mit mir anlegen.«
Valerie lächelte sie aufmunternd an. »Das ist die richtige Einstellung«, lobte sie. »Und jetzt müssen wir dich nur noch dazu bringen, dass du mit dem gleichen Eifer deine Bestände überwachst und einkaufst, bevor alles aufgebraucht ist. Könnte ja sein, dass Ulrichshauser noch mal herkommt, um herauszufinden, ob das immer so läuft oder ob er dich nur auf dem falschen Fuß erwischt hat. Und wir wollen doch nicht, dass er den schlechten Eindruck bestätigt bekommt, den du auf ihn gemacht hast.«
»Dann beruht das eben auf Gegenseitigkeit«, grummelte Chrissy. »Der Kerl war auch nicht gerade die Freundlichkeit in Person.«
Ihre Freundin trank einen Schluck und stellte das Glas zurück auf den Tresen. »Das kann er sich auch leisten, schließlich wollen die Leute ja was von ihm.«
»Ich nicht«, widersprach Chrissy. »Ich habe ihn schließlich nicht gebeten, herzukommen und den Leuten was über mein Lokal zu erzählen. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke ... ich sollte mal einen Anwalt fragen, ob man so was eigentlich verbieten lassen kann.«
»Was willst du verbieten lassen?«
»Na, dass der Typ hingeht und meinen Laden schlechtmacht. Ich meine, er müsste sich ja wenigstens vorstellen und sagen, was er vorhat. Dann kann ich ja immer noch entscheiden, ob ich das will oder nicht. Was meinst du?«
»Puh, da fragst du mich zu viel. Ich bin nur eine kleine Personalsachbearbeiterin, die sich mit so was nicht auskennt.«
Chrissy musste von Herzen lachen. »Das ist wieder typisch für dich, immer schön tiefstapeln, wie ? Eine kleine Personalsachbearbeiterin ! Das ist ja ein guter Witz. Soweit ich mich erinnern kann, schmeißt du ganz allein die Personalabteilung, seit euer Abteilungsleiter in Bangkok verschollen ist.«
»Richtig verschollen ist er ja nicht ... «
»Ja, ich weiß, er hat sich auf irgendeinen Selbstfindungstrip gemacht, und keiner weiß, wie lange der dauern soll. Aber ich wette mit dir, wenn er nicht bald auftaucht, wirst du seine Nachfolgerin werden. Schließlich hast du ja bewiesen, dass du das Ganze auch ohne ihn kannst.«
Valerie hob abwehrend die Hände. »So einfach ist das nicht. Die Voraussetzungen an den Posten erfülle ich eigentlich gar nicht. Da sind zig Lehrgänge erforderlich, und wie du weißt, habe ich auch kein Hochschulstudium ...«
»Ach komm, Valerie. Du hast in der Firma deine Ausbildung gemacht, du hast dich Ebene für Ebene hochgearbeitet, du kennst dich aus. Wenn dein Chef einen Funken Verstand hat, dann weiß er, dass dein Wissen mehr wert ist als jedes Hochschulstudium. Frag doch endlich mal nach, was nun los ist.«
»Ich kann doch nicht einfach fragen, ob ich Wüllners Posten haben kann!«, protestierte sie.
»Wieso nicht?«, hielt Chrissy dagegen. »Mir machst du ständig Vorhaltungen, was ich alles anders machen soll, damit mein Lokal mehr Geld einbringt, aber bei dir selbst willst du nicht die Initiative ergreifen?« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Ist das nicht ein bisschen widersinnig?«
Unschlüssig hob Valerie die Schultern. »Na ja, ich komme mir irgendwie so vor, als würde ich Wüllner in den Rücken fallen und ... «
»Du fällst ihm nicht in den Rücken. Was er da veranstaltet, ist egoistisch und sonst gar nichts. Nein, stimmt nicht. Es ist auch noch völlig verantwortungslos. Einfach abtauchen und eine Mail schicken, dass er sich selbst suchen muss, weil er nicht mehr weiß, wer er ist. Dass euer Chef das überhaupt mitmacht! Ich finde wirklich, du solltest ihm sagen, was dir nicht passt, und du solltest dich als Wüllners Nachfolgerin ins Gespräch bringen, anstatt die Vertretung zu spielen, bis er vielleicht doch wieder aufkreuzt. Dein Chef muss wissen, dass du an der Stelle interessiert bist, sonst stellt er dich irgendwann vor vollendete Tatsachen und setzt dir einen neuen Abteilungsleiter vor die Nase, und dann hast du deine Chance verpasst. Willst du das wirklich?«
Valerie verzog missmutig den Mund. »Irgendwie hast du ja recht. Vielleicht ... vielleicht fürchte ich mich bloß davor, die Verantwortung zu übernehmen.«
»Die hast du längst übernommen, als du dich bereit erklärt hast, Wüllner zu vertreten. Willst du ernsthaft die Verantwortung wieder abgeben?«
Eine Weile sah ihre Freundin sie nachdenklich an, dann setzte sie ein paarmal unschlüssig zum Reden an, bis sie schließlich sagte: »Weißt du was? Ich besorge dir jetzt erst mal neue Balsamico-Zwiebeln. Danach kümmern wir uns gemeinsam um deine übrigen Bestände. Waren das die süßlichen oder die herben Zwiebeln?«
»Ist egal, ich kann beide gebrauchen. Bei Dragovic gleich neben dem Supermarkt im Basement gibt's die besten. Ach, wenn du schon da bist, dann bring mir auch noch was von dieser ... Teufelspaste mit oder wie das Zeug heißt. Er weiß Bescheid. Nimm von der scharfen und der milden Paste. Oh, und so zehn bis zwölf gefüllte Champignons. Und diese Bärlauchcreme. Und ... «
»Warte, warte, warte!«, rief Valerie so oft, bis Chrissy endlich aufgehört hatte zu reden. »Ich nehme einfach von allem etwas, okay? Dann muss ich mir nichts merken.« Sie stand auf und zog ihre Jacke an. »Brauchst du noch von woanders was?«
»Ich glaub nicht«, sagte Chrissy und schüttelte den Kopf, wodurch ihre ganze Frisur in Bewegung geriet, dann schnippte sie mit den Fingern. »Doch, warte. Du könntest mir meine andere Jeans aus dem Wagen holen. Ich hatte heute Mittag einen kleinen Teigunfall, und auch wenn die Schürze alles verdeckt, klebt der Stoff an meinen Oberschenkeln.«
»Okay, das werde ich sicher noch hinkriegen«, meinte ihre Freundin mit einem gespielt gequälten Lächeln. »Aber das ist dann alles? Oder soll ich dir vielleicht auch noch deinen Kopf mitbringen? Ich nehme ja an, den hast du auch wieder irgendwo vergessen.«
»Ha, ha, ha«, konterte sie und drückte ihr den Wagenschlüssel in die Hand, dann fügte sie ernst hinzu : »Vielen Dank, du bist eine gute Freundin.«
»Na, ich weiß nicht. Wenn ich eine so gute Freundin wäre, würde ich dir vermutlich noch viel mehr in deinen Hintern treten, damit du in die Gänge kommst.«
»Danke, du trittst schon genug.«
»Hm, dann musst du an deinem Hintern wahrscheinlich eine ziemlich dicke Hornhaut entwickelt haben, wenn ich dich so viel trete und du trotzdem nicht auf mich hörst.«
Chrissy fuchtelte ihr mit den Fingern vor dem Gesicht herum. »Husch, husch, verschwinde jetzt«, sagte sie und deutete mit einem Nicken auf einen der Tische. »Ich habe Kundschaft, ich muss arbeiten.«
Nach einem Blick über die Schulter raunte Valerie ihr zu: »Vielleicht kannst du das Pärchen ja eine Weile hinhalten, bis ich zurück bin, dann musst du bei nicht ganz so vielen Pfannkuchen erklären, dass du sie nicht alle hast ... alle Zutaten, wollte ich sagen.«
Sie kniff giftig die Augen zusammen und zog dabei die Nase kraus. »Wenn ... «, begann sie, dann verstummte sie abrupt. »Was ist?«, wunderte sich Valerie.
»Hmmm«, machte sie genießerisch. »Da kommt noch mehr Kundschaft.«
Ohne sich diesmal auch nur umzudrehen, sagte ihre Freundin : »Und diese Kundschaft ist männlich, um die dreißig, schlank, aber nicht mager, markantes Gesicht, und du musst Besteck nur für eine Person an den Tisch bringen, richtig ?«
Chrissy nickte gedankenverloren und murmelte: »O ja, ganz genau.« Dann seufzte sie und setzte eine betrübte Miene auf. »Aber was hab ich davon? Ich könnte mich ja sowieso nicht mit ihm verabreden, außer er will ein Date mit mir hier im Pfannkuchenparadies verbringen - während ich arbeite.« Sie schüttelte betrübt den Kopf. »Weißt du, dass ich keinen Sex mehr hatte, seit ich diesen Laden aufgemacht habe?«
»Du meinst, keinen Sex mehr außer mit deinem Vibrator«, korrigierte Valerie sie im Flüsterton und grinste sie dabei breit an.
»Ich ...«, setzte sie zu einer Erwiderung an, obwohl sie gar nicht wusste, was sie darauf erwidern sollte. Plötzlich merkte sie, dass sie einen roten Kopf bekam, obwohl sie wusste, dass es keinen Grund dafür gab - allein schon deshalb nicht, weil Valerie ihr den besagten Vibrator höchstpersönlich geschenkt hatte, als sie sich vor gut zwei Jahren darüber beklagt hatte, wegen ihrer Arbeitszeiten in ihrem eigenen Lokal überhaupt keine Gelegenheit mehr zu haben, Männer kennenzulernen.
»Ooh, sieh dir das an«, zog ihre Freundin sie amüsiert auf. »Du wirst ja vor Verlegenheit ganz rot. Wie süß.«
Wortlos griff Chrissy nach ihrem Notizblock und kam hinter der Theke hervor, um sich um ihre Gäste zu kümmern.
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Autoren-Porträt von Julia Sander
Julia Sander lebt mit Mann und Kind in der Nähe von Neuss und liest leidenschaftlich gern Liebesromane. Als sie sich vor einiger Zeit gefragt hat: „Warum schreibe ich nicht mal selbst einen Liebesroman?", war das der Beginn ihrer Schriftsteller-Karriere. Mit Schmusekatze, ledig, jung, sucht legte sie ihren erster Roman vor. Mit (K)ein Mann für Mutti wendet sie sich nun dem heiteren Fach zu. Bibliographische Angaben
- Autor: Julia Sander
- 2012, 368 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild Deutschland
- ISBN-10: 3863655621
- ISBN-13: 9783863655624
- Erscheinungsdatum: 01.10.2012
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