Tochter der Steppe (ePub)
Ein dramatischer bewegender Roman aus der Welt der Skythen um 700 vor Christus.
Die junge Manja lebt mit ihrer Mutter in einem Bauerndorf und träumt davon, später den Nachbarsjungen Vilufar zu heiraten. Nicht weit vom Dorf jedoch beginnt die Wildnis der...
Die junge Manja lebt mit ihrer Mutter in einem Bauerndorf und träumt davon, später den Nachbarsjungen Vilufar zu heiraten. Nicht weit vom Dorf jedoch beginnt die Wildnis der...
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Produktinformationen zu „Tochter der Steppe (ePub)“
Ein dramatischer bewegender Roman aus der Welt der Skythen um 700 vor Christus.
Die junge Manja lebt mit ihrer Mutter in einem Bauerndorf und träumt davon, später den Nachbarsjungen Vilufar zu heiraten. Nicht weit vom Dorf jedoch beginnt die Wildnis der Steppe, die von den Skythen beherrscht wird, grausamen Reiterkriegern und Skalpjägern. Noch ahnt Manja nicht, dass ein Überfall der gefürchteten Nomaden sie von Vilufar trennen wird, während es sie selbst zu den Sarmaten verschlägt, bei denen die Frauen die Geschicke des Stammes lenken. Begleitet von einer Wölfin, kehrt sie als Kriegerin zurück und muss sich zwischen ihrer Jugendliebe und ihrem neuen Leben entscheiden.
Die junge Manja lebt mit ihrer Mutter in einem Bauerndorf und träumt davon, später den Nachbarsjungen Vilufar zu heiraten. Nicht weit vom Dorf jedoch beginnt die Wildnis der Steppe, die von den Skythen beherrscht wird, grausamen Reiterkriegern und Skalpjägern. Noch ahnt Manja nicht, dass ein Überfall der gefürchteten Nomaden sie von Vilufar trennen wird, während es sie selbst zu den Sarmaten verschlägt, bei denen die Frauen die Geschicke des Stammes lenken. Begleitet von einer Wölfin, kehrt sie als Kriegerin zurück und muss sich zwischen ihrer Jugendliebe und ihrem neuen Leben entscheiden.
Lese-Probe zu „Tochter der Steppe (ePub)“
Tochter der Steppe von Wolfgang Jaedtke Russland, um 700 vor Christus
Erster Teil: Die Wölfin
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Auf der Weide »Sei artig, sonst holt dich der Wolfsmann!«, sagte Tante Durka. Diese Drohung hörte Manja nur selten, und sie erlaubte Rückschlüsse auf die Schwere ihres Vergehens. Gewöhnlich drohte Tante Durka, die in Wahrheit gar nicht ihre Tante war, nur mit den Dorfältesten. Vor den Ältesten hatte Manja keine Angst, denn sie wusste, dass ihre Mutter sie beschützen würde. Außerdem hatte Durka diese Drohung noch nie wahr gemacht. Dass ein zwölfjähriges Mädchen beim Ziegenhüten auf der Weide eingeschlafen war oder einen Tonkrug zerbrochen hatte, war nicht wichtig genug, um die weisen Männer zu behelligen. Der Wolfsmann war erst an der Reihe, wenn Manja ungehorsam war - zum Beispiel, wenn sie im Garten stand und den Himmel betrachtete, statt sich im Haus nützlich zu machen. Diese Drohung empfand Manja als besonders schlimm, auch wenn sie nicht recht glauben wollte, dass sich ein behaartes Untier aus den Wäldern, halb Mensch, halb Wolf, um die Sünden von Kindern kümmerte. »Zieh deinen Kittel an!«, wiederholte Tante Durka, die Manja soeben auf dem Weg zur Weide angehalten hatte, wo sie die Ziege melken wollte. »Sonst holt dich der Wolfsmann. « Manja zögerte und forschte in Durkas strengem Gesicht, denn sie verstand den Sinn dieser Anordnung nicht. Wenn sie Milch verschüttete oder das Feuer ausgehen ließ, konnte sie verstehen, dass sie getadelt wurde, denn die Milch wollten sie trinken, und das Feuer hielt warm. Warum aber sollte ein zwölfjähriges Mädchen nicht mit nacktem Oberkörper vor die Tür gehen, wenn draußen die Sonne schien? Schließlich war es ein schöner Frühlingsnachmittag und warm für die Jahreszeit. »Mir ist nicht kalt«, sagte sie trotzig. Tante Durka starrte mit unbewegtem Gesicht auf sie herab. Dann, so plötzlich, dass Manja nicht zurückweichen konnte, holte sie blitzschnell aus und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. Manja weinte nicht. Gegenüber Tante Durka zeigte man besser keine Schwäche. So biss sie nur die Zähne zusammen, während ihr das Blut ins Gesicht schoss. »Du bist kein Kind mehr«, sagte Tante Durka scharf. »Also los jetzt!« Manja gehorchte, innerlich zornbebend, doch ruhig. Langsam zog sie den leinenen Leibrock an, den sie wie einen Schurz um ihre Hüften geknotet hatte. Folgsam steckte sie die Hände in die Ärmel, zog den Kragen über die Schultern und schloss den dreieckigen Ausschnitt. Als der Stoff sie vom Hals bis zu den Knöcheln bedeckte, drehte sie sich um, nahm den tönernen Melkkübel wieder auf und ging in Richtung der Ziegenweide davon. Der Weg führte über eine kleine Anhöhe, von der aus man das gesamte Dorf überblicken konnte. Es lag auf einer weiten Lichtung inmitten der umgebenden Wälder und bestand aus niedrigen, fensterlosen Häusern, deren schwere Binsendächer fast bis zum Boden reichten. Die aus Bruchsteinen und Lehm getürmten Kamine sandten schmale Rauchsäulen in den wolkenlosen Himmel. Jedes Haus war von einem Gemüsegarten mit hüfthohen Weidenzäunen umgeben. Rund um die bebaute Fläche verlief ein Erdwall, der das kleine Dorf vollständig umschloss. Draußen vor dem Wall lagen die Ackerfelder, gerodete Flächen, auf denen Gerste, Hirse und Weizen wuchsen. Dahinter begann der Wald, eine dunkle Wand aus Tannen und Fichten, die sich bis zum Horizont erstreckte. Manja ahnte, dass Tante Durka ihr nachblickte, und hielt sich bewusst aufrecht. Sie war froh, als sie die Anhöhe überquert hatte und die sandige Terrasse zu den Weiden hinabstieg, denn nun war sie sicher, aus Durkas Gesichtsfeld verschwunden zu sein. Sie ist eine Plage, dachte Manja, während sie verdrossen weiterstapfte. Eine Heimsuchung. Eine Strafe der Götter. Natürlich hätte sie nie gewagt, eine derartige Lästerung laut auszusprechen. »Tante« Durka war die Ehefrau ihres Nachbarn Korzak, der Manjas Mutter oft bei schweren Arbeiten zur Hand ging: Er hackte Holz für sie, hielt die Zäune instand und nahm, wenn es notwendig war, Ausbesserungen am Haus vor. Korzak war ruhig und freundlich, sowohl zu Manja als auch zu ihrer Mutter. Durka allerdings beäugte die vielen Hilfsdienste ihres Gatten für die verwitwete Nachbarin mit Argwohn. Vielleicht hatte sie nicht einmal ganz unrecht, wenn sie sich selbst - eine schwergewichtige, von Pockennarben entstellte Bäuerin in vorgerücktem Alter - mit Manjas Mutter verglich, die trotz ihrer achtunddreißig Jahre eine schöne Frau war. Es gab noch einen anderen Grund, warum Durka Manjas Mutter nicht mochte: Sie war vor Jahren als Fremde ins Dorf gekommen, und niemand wusste genau, wo sie vorher gelebt hatte. Die Ältesten hatten der jungen Mutter ein Haus ganz am Rand des Dorfes zur Verfügung gestellt, das früher einmal ein Stall gewesen war. Korzak hatte tatkräftig mitgeholfen, es bewohnbar zu machen, die Wände auszubessern, das Dach zu decken und sogar einen Verschlag für die Gänse zu zimmern. Für Manja lagen diese Dinge in einer so weit entfernten Vergangenheit, dass sie nur selten daran dachte. Sie lebte hier, solange sie denken konnte, und nur, wenn sie zum Dorfplatz ging, um Wasser vom Brunnen zu holen, erinnerten sie die Blicke der anderen Kinder zuweilen daran, dass ihre Familie nicht alteingesessen war. Doch die anderen Kinder waren ihr gleichgültig - solange nur Vilufar zu ihr hielt, Durkas jüngster Sohn, mit dem sie schon vor Jahren Freundschaft geschlossen hatte. Vilufar erwartete sie am Rand der kleinen Weide, die sich Manjas Mutter mit ihren Nachbarn teilte. Er saß wie üblich auf dem Zaun, eine Gerte in der Hand, und winkte schon von Weitem. Manja vergaß Tante Durka, als sie sah, wie er sich ins Gras herabgleiten ließ und auf sie zu kam. »Gruß, Schwester.« Er küsste sie auf die Wange. Manja lächelte und stellte ihren Melkkübel ab. Sie liebte es, wenn er sie »Schwester« nannte - ebenso sehr wie sie es verabscheute, seine Mutter mit »Tante« anzureden. »Was hast du denn eben so grimmig geschaut?« Manja verzog den Mund. »Deine Mutter«, sagte sie. »Sie hat mich getadelt, weil ich meinen Kittel nicht angezogen hatte.« Vilufar grinste. Ihm gegenüber konnte Manja ehrlich sein; das wusste sie. Auch er stand mit seiner Mutter nicht auf bestem Fuße und mied sie, so oft seine Pflichten es ihm erlaubten. »Wo es doch so warm ist ...« Manja ging hinüber zu der Ziege, die ihrer Mutter gehörte, und klopfte ihr den Hals. Das Tier meckerte leise und erwiderte die Zärtlichkeit mit einem Stubser seines bärtigen Mauls. »Hier sieht sie dich ja nicht«, sagte Vilufar, der ihr gefolgt war und müßig die Gerte über das Gras fahren ließ. Manja blickte ihn an und bemerkte sein schelmisches Lächeln. »Stimmt«, sagte sie, fasste ihren Leibrock beim Kragen, zog ihn von den Schultern und warf ihn ins Gras. Dann schob sie den Kübel unter die Zitzen der Ziege und begann sie mit sparsamen, geübten Bewegungen zu melken. Vilufar sah ihr zu - und wenn Manja sich nicht sehr irrte, lagen seine Augen eher auf ihrem nackten Rücken als auf dem Tier. Vilufar war dreizehn Jahre alt und ein Ebenbild seines Vaters, kräftig und groß für sein Alter. Für Manja, die ein Jahr jünger war, hatte er immer ein wenig die Rolle des großen Bruders verkörpert. Schon als kleine Kinder hatten sie zusammen gespielt und fast jede freie Stunde gemeinsam verbracht. Seit beide alt genug waren, um ihren Eltern zur Hand zu gehen, richteten sie es gewöhnlich so ein, dass sie sich auf der Weide oder beim Brunnen trafen. Zur Zeit hatte Vilufar nicht viel mehr zu tun, als die fünf Ziegen seines Vaters zu beaufsichtigen, denn das Korn war noch nicht reif zum Ernten, und um die Gemüsebeete kümmerte sich Durka selbst, da sie der Meinung war, ihr Junge habe kein Gefühl für den Umgang mit Schwarzwurzeln, Rüben und Feldsalat. Manja war dies nur recht, denn es bedeutete, dass sie sich täglich trafen. »So. Das genügt.« Sie stellte den gefüllten Milchkübel beiseite und sah, dass Vilufar es sich auf ihrem Leibrock bequem gemacht hatte, der ausgebreitet wie eine Decke im Gras lag. »Komm, Schwester! Leg dich zu mir.« Sie zögerte. Früher hatte sie oft an seiner Seite im Gras gelegen und in den Himmel geschaut, doch seit sich beide dem Erwachsenenalter näherten, war diese kindliche Unbefangenheit in eine gewisse Scheu umgeschlagen. »Na gut«, sagte Vilufar grinsend. »Dann bekommst du eben ein eigenes Lager.« Umstandslos zog er seinen eigenen Leibrock über den Kopf, breitete ihn im Gras neben sich aus und klopfte mit der flachen Hand darauf. Manja musste lächeln, und angesichts seiner Offenherzigkeit nahm sie das Angebot an und ließ sich rücklings an seiner Seite nieder. »Was gibt es Neues im Dorf?«, fragte sie wie üblich. Da sie ganz am Rand der Siedlung wohnte und ihre Mutter außer den nächsten Nachbarn keine Freunde hatte, bezog sie ihre Neuigkeiten zumeist von ihm: Seine Familie war alteingesessen, und er kannte viele gleichaltrige Jungen, darunter auch Söhne der Dorfältesten. »Ach, nicht viel Neues«, sagte Vilufar, der gleich ihr in den wolkenlosen Himmel hinaufblickte. »Das Korn gedeiht, und die Ältesten sind zufrieden. Das Wetter ist gut, und weit und breit hat niemand Pferdemenschen gesehen.« Manja schauderte. Die wilden Pferdemenschen waren eine Bedrohung, die sie mehr ängstigte als der Wolfsmann. Jenes Ungeheuer aus den Wäldern hatte noch kein lebender Mensch zu Gesicht bekommen; dass jedoch grausame Menschen die Länder im Westen verheerten, war allgemein bekannt. Es hieß, dass sie Verstoßene seien, die einst in die Weiten der Steppe hinausgezogen waren, um sich mit wilden Pferden zu paaren. Manja wusste, dass ihre eigene Mutter auf der Flucht vor den Pferdemenschen hierhergelangt war, auch wenn sie nie darüber sprach und Manja klug genug war, nicht zu fragen. Lediglich Gerüchte waren ihr zu Ohren gekommen, manchmal von Vilufar, manchmal aus Bemerkungen seiner Eltern. »Stimmt es, dass sie mit ihren Pferden zusammengewachsen sind?«, fragte sie beklommen. »Mein Onkel Balba sagt Nein«, meinte Vilufar. »Er hat Verwandte in einem Dorf im Westen, und die haben einmal von Weitem Pferdemenschen gesehen, wie sie durch die Steppe zogen. Sie reiten auf ihren Pferden und steigen niemals von ihnen ab, nur um zu schlafen und zu essen.« Dies beruhigte Manja ein wenig, denn sie hatte bereits begonnen, sich die Fremden in derselben Art vorzustellen wie den Wolfsmann: als schaurige Halbwesen, aus deren menschlichen Körpern Pferdehufe wuchsen. Freilich war die Vorstellung, dass diese Menschen auf Pferden ritten, kaum weniger erschreckend. Im Dorf gab es nur kleine, gedrungene Tarpane, die zum Ziehen von Wagen und als Milchtiere dienten, und niemand hatte je den Rücken eines Pferdes erstiegen, um sich von ihm tragen zu lassen.
»Aber es stimmt, dass sie Bauerndörfer überfallen«, fuhr Vilufar fort. »Das sagt jedenfalls Balba. Sie töten alle Menschen, auch die Frauen und sogar das Vieh, und die Häuser und Kornfelder stecken sie in Brand. Es heißt auch, dass sie ihren Feinden die Kopfhäute samt dem Haar abschneiden und sie an ihren Pferden aufhängen. Die Kinder nehmen sie als Sklaven. Einige opfern sie ihren Göttern; andere lassen sie leben, damit sie ihnen das Essen zubereiten und ihre Kleider nähen.« Erneut schauderte Manja - falls er es darauf anlegte, sie zu gruseln, hatte er gute Arbeit geleistet. »Sich selbst nennen sie Skythen. Unsere Ältesten sagen, dass sie eine Plage sind, die von den Göttern gesandt wurde«, erzählte Vilufar. »Wie die Heuschrecken oder die Stechmücken im Herbst.« Er wandte sich Manja zu und bemerkte ihren unbehaglichen Gesichtsausdruck. »Aber unser Dorf liegt gut geschützt im Wald«, sagte er schließlich, offenbar in dem Bedürfnis, etwas Tröstliches zu äußern. »Und wenn sie doch einmal kommen ...« - er hieb mit seiner Gerte in die Luft - »dann bringe ich sie alle um!« Manja lachte, dankbar für die Auflockerung. »Im Moment reden die Ältesten von ganz anderen Dingen «, wechselte Vilufar das Thema. »Sie sagen, dass in vier Wochen der Ritus stattfinden soll, wenn der Mond wieder voll ist.« Er sprach leichthin, doch Manja wusste, dass das Thema ihn sehr beschäftigte. Vilufar würde in diesem Sommer an den Initiationsriten teilnehmen, bei denen die jungen Männer des Dorfes in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen wurden. Worin der Ritus bestand, war ein Geheimnis, und kein Eingeweihter durfte darüber sprechen. Gewiss war Vilufar viel aufgeregter, als er zugab, denn dieses einmalige Ereignis in seinem Leben würde von einem Tag zum nächsten einen vollwertigen Mann aus ihm machen. Manja verstand ihn gut, denn sie verband auch mit ihrer eigenen Initiation gemischte Gefühle - mit dem Unterschied, dass sie keine gleichaltrigen Mädchen kannte, mit denen sie ihre Hoffnungen und Ängste hätte teilen können. Sie wusste nicht, wann man das geheime Ritual an ihr vollziehen würde, denn es oblag den Dorfältesten, über die Reife der Anwärter zu entscheiden. Immerhin hatte sie gehört, dass bei der Einweihung eines Mädchens nur Frauen anwesend sein durften, ebenso wie die Initiation der Jungen von den Männern durchgeführt wurde. »Du bist sicher auch bald an der Reihe«, sagte Vilufar, drehte sich auf die Seite und sah sie an. »Woher willst du das wissen?«, fragte sie, während sie mit einer unvertrauten Scheu seine Blicke auf ihrem Körper spürte. »Du bekommst schon Brüste«, sagte er lächelnd. Manja blickte an sich hinab. Es stimmte; ihre Brustwarzen waren in den letzten Monaten größer und voller geworden, und das Fleisch im Umkreis begann sich leicht zu wölben. Ihr war ein wenig unbehaglich bei dem Gedanken, wie genau er sie betrachtete. »Und du bekommst Haare!«, sagte sie in dem Bedürfnis, von sich abzulenken, und deutete in Richtung jenes Gliedes, das die Männer Balboi nannten. Nun war es Vilufar, der an sich herabsah - mit einem so verdutzten Ausdruck, dass Manja lachen musste. Offenbar war ihm der zarte Flaum, der seit Kurzem an seinen Lenden spross, noch gar nicht aufgefallen. »Du wirst sicher ein großer, starker Mann«, sagte Manja scherzhaft und drehte sich wieder auf den Rücken. »Und ob ich das werde!« Vilufar lehnte sich seinerseits zurück und blickte wieder zum Himmel. »Ich werde der reichste Bauer meiner Sippe. Ich werde vier Dutzend Ziegen und zwei Dutzend Schweine haben und doppelt ...« »... doppelt so viel Land wie dein Vater«, beendete Manja grinsend den Satz, den sie schon oft von ihm gehört hatte.
17 Sie schwiegen eine Weile. »Und ich ...«, sagte Manja mehr zu sich selbst. »Was werde ich sein?« »Die Frau eines Bauern«, sagte Vilufar leichthin. Dann warf er ihr einen raschen Seitenblick zu. »Die Frau eines reichen Bauern, wenn du willst.« Manja schwieg. Sie war sich nicht sicher, ob sie den Hintersinn seiner Worte zutreffend erfasst hatte. »Wie könnte ich einen der hiesigen Bauern heiraten«, sagte sie ablenkend. »Ich bin doch eine Fremde.« »Bist du nicht«, widersprach Vilufar. »Die Ältesten werden einer Heirat zustimmen, wenn die Eltern nichts einzuwenden haben. Und deine Mutter wäre glücklich, wenn du einen guten Mann bekommst.« Manja nickte still. Ja, vermutlich wäre ihre Mutter glücklich. Ob sie selbst zufrieden wäre, ihr Leben lang die Ziegen zu melken, das Essen zu bereiten und das Korn auszulesen, bezweifelte sie. Sie hatte nie mit jemandem darüber gesprochen - nicht einmal mit Vilufar -, doch der Gedanke, ein Leben wie Tante Durka zu führen und am Ende vielleicht eine ebenso grässliche Alte zu werden wie sie, erfüllte Manja mit Abscheu. Seit jeher war sie ein stilles, nachdenkliches Kind gewesen, das mehr Augen für die Wunder seiner Umwelt als für die tägliche Arbeit hatte. Sie konnte stundenlang dasitzen und dem Kreisen eines Raubvogels am Himmel zusehen, das Strömen des Wassers im Bach beobachten oder dem Wind lauschen. Selbstverständlich ging sie ihrer Mutter zur Hand und half ausdauernd beim Reinigen des Geschirrs, beim Schüren des Feuers, bei der Versorgung der Tiere und selbst beim Holzhacken, doch vieles davon tat sie innerlich abwesend, denn ihre Gedanken weilten bei anderen Dingen. Sie fragte sich, warum die Sonne immer über der gleichen Bergkette im Osten aufging, warum ein Frosch sowohl im Wasser als auch an Land atmen konnte, warum ein Kalb nicht mit Hörnern geboren wurde - und warum es der Wille der Götter war, dass die Menschen von Getreidekörnern lebten, die sie unter größten Mühen säten, ernteten und horteten. Schon oft war ihr der Gedanke gekommen, dass sie sich insgeheim nach etwas anderem sehnte - doch was es war, wusste sie nicht. Irgendwo tief in ihrer Seele schien es einen verborgenen Ort zu geben, an dem fremdartige Bilder lebten, die sie zuweilen im Traum zu sehen glaubte: Bilder von fernen Ländern, von hohen Bergen und weiten Ebenen, vom Flug der Falken über unbekannter Erde. Manchmal, wenn sie nachts wach gelegen hatte und der Ostwind über dem Rauchloch des Hauses hinwegpfiff, war es ihr vorgekommen, als flüsterten Stimmen in der Dunkelheit - Stimmen, die sie fürchtete, und die sie dennoch magisch anzogen, wie Geister aus einer Vergangenheit, die weit länger zurücklag als das erste Erwachen ihres Bewusstseins. »Dein Vater wäre sicher auch glücklich«, nahm Vilufar den Faden wieder auf. »Jeder Bauer wünscht sich, dass seine Tochter eine Bäuerin wird.« Manja schwieg betreten. »Oder war er vielleicht kein Bauer?«, fragte Vilufar. »Was dann? Korbmacher? Gerber? Schmied?« »Ich weiß es nicht«, sagte Manja leise. »Hat deine Mutter denn nie etwas über ihn erzählt?« »Nein.« Das war die Wahrheit: Sie wusste nichts von ihrem Vater. Ihre Mutter hatte lediglich gesagt, er sei vor ihrer Geburt gestorben. »Was hast du, Schwester?« Vilufar wandte sich ihr zu und strich ihr flüchtig über die Wange. »Nichts«, sagte sie betont forsch. »Es ist nur ... es ist wohl doch noch ein bisschen zu kühl ohne Rock.« Sie setzte sich auf und sah ihn bittend an. Vilufar zuckte die Achseln, wälzte sich von ihrem Leibrock und sah mit einem gewissen Bedauern zu, wie sie ihn anzog. Manjas Mutter stand in den Beeten hinter ihrem Haus und sammelte Kohlköpfe in einem Korb, als sie ihre Tochter von fern den Weg heraufkommen sah. Mit schmerzendem Rücken richtete sie sich auf, legte eine Hand auf den niedrigen Zaun und beobachtete die schlaksige Gestalt, die, den vollen Melkkübel in der Hand, mit nachdenklich gesenktem Blick dahinschritt. Mein kleines Mädchen, dachte sie mit einer Mischung aus Rührung und jener leisen Unsicherheit, die sie gelegentlich befiel, seit ihre Tochter das zwölfte Lebensjahr erreicht hatte. Manjas Mutter war eine Fremde unter den ansässigen Bauern. Als sie mit dem gerade geborenen Säugling ins Dorf gekommen war und um Aufnahme gebeten hatte, war sie sechsundzwanzig Jahre alt gewesen. Die Dorfherrin, wie die älteste und weiseste Frau der Sippe genannt wurde, hatte ihr viele Fragen gestellt, und sie hatte ruhig und knapp geantwortet. Der Vater des Kindes, so gab sie an, sei bei einem Überfall der Skythen auf ihr Heimatdorf getötet worden; sie selbst sei seitdem auf der Flucht. Das hatte den Ausschlag gegeben: Alle Menschen, die in den nördlichen Wäldern lebten, fürchteten die grausamen Pferdereiter, und so hatte die Dorfherrin Mitleid mit der jungen Mutter gezeigt und ihr ein Haus zur Verfügung gestellt. Seitdem kümmerte sich Korzak, ihr nächster Nachbar, um die Alleinstehende, sorgte für grobe Arbeiten im Haus und überließ ihr bei jeder Ernte einige Körbe voll Getreide, da sie ohne Ehemann und Söhne nicht in der Lage war, selbst ein Feld zu bewirtschaften. Darüber hinaus lebte sie von selbstgezogenem Gemüse, einigen zahmen Gänsen und dem Flechten von Bastkörben, die sie auf dem Markt eines Nachbardorfes gegen Lebensmittel tauschte. Den Marktplatz ihres eigenen Dorfes suchte sie nur ungern auf. Obwohl Arinai - denn so lautete ihr Name - die Sprache der Einheimischen teilte und zu einem verwandten Stamm gehört hatte, war sie stets eine Außenseiterin geblieben. Dafür hatte nicht zuletzt Durka gesorgt, die keine Gelegenheit ausließ, sie bei den Alteingesessenen anzuschwärzen. Arinai wusste dies sehr wohl, da sie über einen scharfen Verstand und wache Sinne verfügte. Dass sie die Ehemänner anderer Frauen verführte, war jedoch zum Glück eine derart plumpe Lüge, dass Durkas Beteuerungen keinen ernsthaften Glauben fanden. Vermutlich durchschauten selbst die einfältigsten Dorfgenossen, dass Durka lediglich um ihren Gatten besorgt war, der sich allzu willig um die Belange der Nachbarin bemühte - und was Arinais Lebenswandel betraf, so konnte jeder leicht erkennen, dass sie ihre Tage mit harter Arbeit verbrachte und weder Lust noch Muße hatte, sich mit Männern einzulassen. Das galt auch für Korzak, dem sie wohl Freundschaft entgegenbrachte, aber zugleich bei jeder Gelegenheit zu verstehen gab, dass die Götter sie unwiderruflich zum Witwenstand bestimmt hatten. Ein Umstand allerdings sorgte dafür, dass die Gerüchte nicht verstummten: Arinai war schön. Sie näherte sich dem vierzigsten Lebensjahr und hatte damit ein Alter erreicht, in dem andere Frauen - falls sie nicht vorher im Kindbett starben - bucklig und runzlig waren. Arinai hatte nur ein einziges Kind zur Welt gebracht, und obwohl die Schwangerschaft schwer und die Geburt von kritischen Momenten begleitet gewesen war, hatte sie ihren Körper kaum gezeichnet. Lediglich ihr dichtes schwarzes Lockenhaar zeigte ergraute Strähnen, die ihr jedoch eher Würde verliehen, als sie alt wirken zu lassen. Insofern war es kein Wunder, dass Frauen wie Durka - die neun Kinder geboren und bis zum Auszug aus dem elterlichen Haus erzogen hatte - mit einer gewissen Missgunst auf Arinai blickten. Würde auch ihre Tochter zeitlebens eine Außenseiterin bleiben? Dies fragte sich Arinai, als sie Manja beobachtete, die eben auf den Fußweg zum Haus einbog und das aus Zweigen geflochtene Gatter öffnete. Auch sie unterschied sich deutlich von den übrigen Mädchen im Dorf, schon durch ihren hohen Wuchs und ihr üppiges, pechschwarzes Haar. Außerdem, so schien es Arinai, teilten sie einen gemeinsamen Wesenszug: Beide sprachen nicht viel und hingen oft, jede für sich, ihren Gedanken nach. »Gruß, Mutter«, sagte Manja, stellte den Kübel ab und küsste ihre Mutter auf die Wange. Arinai blickte auf die Milch, deren Oberfläche bereits stockig war. »Aber Kind«, sagte sie mit mildem Bedauern. »Hast du sie etwa in der Sonne stehen lassen?« Manja folgte ihrem Blick, sah die Bescherung und biss sich auf die Unterlippe. Sie ist keine Bäuerin, dachte Arinai. Nachsichtig strich sie ihrer Tochter durchs Haar. »Komm. Dann mache ich uns stattdessen einen Hirsebrei.« Als sie wenig später am Boden vor dem Herdfeuer saßen und ihren Brei verzehrten, waren beide schweigsam. Manja hatte die Augen gesenkt und starrte in ihre Schüssel. Sie kaute abwesend; ihre blassen Lippen bewegten sich kaum. Das pechschwarze Haar hing über ihr Gesicht herab wie ein Vorhang. Sie hat mein Haar, dachte Arinai, die ihre Tochter nachdenklich beobachtete. Aber sie hat seine Augen. Es war unabweisbar. Arinai hatte große, hellbraune Augen; die ihrer Tochter dagegen waren schmal und von einem kühlen Grau wie ein stürmischer Himmel. Nichts an ihr erinnerte Arinai so sehr an jenen Mann, den sie seit zwölf Jahren zu vergessen versuchte. In manchen Momenten war es fast, als wäre er noch immer da: Er blickte sie aus den Augen ihrer Tochter an, manchmal vertraut, manchmal fragend, manchmal - und diese Blicke weckten eine bange Beklemmung in ihr - mit einem Ausdruck der Fremdheit. »Mutter?«, fragte Manja, schob ihre Schüssel von sich und blickte zu ihr auf. »Warum schimpft Tante Durka mit mir, wenn ich meinen Kittel um den Bauch knote?«
»Ach - tut sie das?«, fragte Arinai, die angesichts des finsteren Ausdrucks ihrer Tochter schon etwas Ernsteres erwartet hatte. »Ja«, sagte Manja ärgerlich. »Dabei ist es doch so warm draußen. Was ist denn schlimm daran?« Arinai betrachtete ihre Tochter. Wie immer, wenn sie zornig war, tanzte eine einzelne Haarsträhne zitternd über ihrer Stirn, und die zarte Nase krauste sich. Jäh wurde ihr bewusst, wie sehr sie dieses Kind liebte, und sie musste sich einen Moment besinnen, um auf Manjas Frage zurückzukommen. »Nun ... du wirst langsam eine junge Frau«, sagte sie sanft. »Ich nehme an, du weißt, was das bedeutet.« Manja dachte nach. Es stimmte: Nur Kinder liefen im Dorf ohne Kleider umher; Erwachsene dagegen verhüllten ihren Körper. Sie erinnerte sich des seltsamen Gefühls, als Vilufar auf der Weide neben ihr gelegen und auf ihre knospenden Brüste gedeutet hatte. »Es bedeutet, dass du in absehbarer Zeit alt genug sein wirst, um Kinder zu bekommen«, fuhr Arinai fort. Manja starrte ihre Mutter befremdet an, und Arinai glaubte ihre Gedanken erraten zu können: Sie, selbst noch ein Kind, würde schwanger werden können? »Wann?«, fragte sie beklommen. »So schnell, wie du wächst, kann es nicht mehr lange dauern «, sagte Arinai lächelnd. »Du wirst es an der Blutung merken, von der ich dir erzählt habe. Mach dir keine Sorgen, wenn das geschieht; die Götter haben es so eingerichtet. - Weißt du, wie man schwanger wird?« Manja nickte. Die meisten Kinder kannten die Tatsachen aus eigener Anschauung, denn in den Häusern des Dorfes wohnten vielköpfige Familien Tag und Nacht im selben Raum. Manja lebte nur mit ihrer verwitweten Mutter zusammen, doch ging sie mit wachen Sinnen durch die Welt und war eine aufmerksame Beobachterin. Darüber hinaus gaben die Tiere ihr ein Beispiel, denn sie hatte oft gesehen, wie der Bock auf der Weide die Ziegen besprang. »Ich weiß, dass die Männer das Glied dafür benutzen, dass man Balboi nennt«, sagte sie, nicht ohne Scham über ihre Altklugheit. »Aber ich weiß nicht, wie sie damit ein Kind machen. « »Dann will ich dir ein Geheimnis verraten«, sagte Arinai. »Du weißt sicher, warum wir die Große Hochzeit feiern.« »Natürlich«, sagte Manja. »Das Fest ist immer beim ersten Sommerregen. Der Regen fällt auf die Erde, lässt die Saat keimen und das Getreide wachsen. Es heißt, dass der Himmel sich dabei mit der Erde vermählt.« »So ist es«, sagte Arinai ernst. »Die Große Mutter Erde, die unsere höchste Gottheit ist, gebiert das Getreide. Doch sie kann nicht schwanger werden, wenn der Himmel sie nicht zuvor durch den Regen befruchtet hat. Das nennen wir die Große Hochzeit - und die kleine Hochzeit, die zwischen Mann und Frau, ist ihr Abbild. Auch der Mann bewässert eine Saat, wenn er in den Leib der Frau eindringt.« »Mit seinem Balboi?« »Ja.« »Ist es das Wasser, das er lässt?« »Nein, kein Wasser. Wir nennen es den Samen. Und daraus entsteht ein Kind.« Manja schwieg eine Weile, und wie immer, wenn sie angestrengt nachdachte, strich sie sich die vorwitzige Haarsträhne aus der Stirn. »Wenn ich einmal heirate und Kinder bekomme ...«, sagte sie langsam, »... werde ich dann so wie Tante Durka?« Arinai lachte herzlich. »Wie kommst du denn darauf?« »Ich weiß nicht«, sagte Manja, die todernst geblieben war. »Durka hat neun Kinder, und sie sieht immer so ... so missmutig aus. Sie lächelt niemals - so wie du.« »Du hast recht«, sagte Arinai nachdenklich. »Durka hat schon ein langes Leben gelebt und viele Sorgen und Mühen gehabt. Das ist schwer zu verstehen, wenn man so jung ist wie du. Es ist nicht leicht, neun Kinder zur Welt zu bringen, die Felder zu bewirtschaften, um die vielen Mäuler zu stopfen, und sie alle großzuziehen.« »Aber du hast nur ein Kind«, sagte Manja. »Und du bist immer noch glücklich - und schön.« Gerührt blickte Arinai ihre Tochter an. Es war das erste Mal, dass sie ihr etwas Derartiges sagte. »Ich bin nicht so glücklich, wie es vielleicht den Anschein hat«, erwiderte sie ernst. »Ich habe schlimme Dinge erlebt, über die ich nicht sprechen möchte - nicht einmal mit dir. Und dass ich nur ein Kind habe, ist eine Fügung der Götter, deren Sinn mir verborgen geblieben ist. Ich hätte gern eine große Familie und so viele Kinder gehabt wie Durka.« »Wirklich?«, fragte Manja mit echtem Erstaunen. »Obwohl man bei der Geburt sterben kann?« »Ja, wirklich«, nickte Arinai. »Kinder zu haben, ist etwas Wundervolles. Auch du solltest keine Angst davor haben.« Manja biss sich auf die Lippen. Eine Weile schwiegen beide, und Arinai vermochte nicht zu erraten, woran ihre Tochter dachte. »Vilufar hat gefragt, wer mein Vater war«, sagte Manja schließlich scheinbar beiläufig. Arinai senkte den Blick. Sie hatte stets gewusst, dass ihre Tochter ihr diese Frage einmal stellen würde, hatte Pläne entworfen, was sie antworten würde - und am Ende alles wieder verworfen. Nun war er da, der gefürchtete Moment. Es hätte sie erleichtert, dem Schmerz Ausdruck zu verleihen, der in ihr emporstieg, doch stattdessen verschlossen sich ihre Züge zu einer Maske der Erstarrung. »Iss deinen Brei auf«, sagte sie kalt und bemerkte, dass ihre Stimme bebte.
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Auf der Weide »Sei artig, sonst holt dich der Wolfsmann!«, sagte Tante Durka. Diese Drohung hörte Manja nur selten, und sie erlaubte Rückschlüsse auf die Schwere ihres Vergehens. Gewöhnlich drohte Tante Durka, die in Wahrheit gar nicht ihre Tante war, nur mit den Dorfältesten. Vor den Ältesten hatte Manja keine Angst, denn sie wusste, dass ihre Mutter sie beschützen würde. Außerdem hatte Durka diese Drohung noch nie wahr gemacht. Dass ein zwölfjähriges Mädchen beim Ziegenhüten auf der Weide eingeschlafen war oder einen Tonkrug zerbrochen hatte, war nicht wichtig genug, um die weisen Männer zu behelligen. Der Wolfsmann war erst an der Reihe, wenn Manja ungehorsam war - zum Beispiel, wenn sie im Garten stand und den Himmel betrachtete, statt sich im Haus nützlich zu machen. Diese Drohung empfand Manja als besonders schlimm, auch wenn sie nicht recht glauben wollte, dass sich ein behaartes Untier aus den Wäldern, halb Mensch, halb Wolf, um die Sünden von Kindern kümmerte. »Zieh deinen Kittel an!«, wiederholte Tante Durka, die Manja soeben auf dem Weg zur Weide angehalten hatte, wo sie die Ziege melken wollte. »Sonst holt dich der Wolfsmann. « Manja zögerte und forschte in Durkas strengem Gesicht, denn sie verstand den Sinn dieser Anordnung nicht. Wenn sie Milch verschüttete oder das Feuer ausgehen ließ, konnte sie verstehen, dass sie getadelt wurde, denn die Milch wollten sie trinken, und das Feuer hielt warm. Warum aber sollte ein zwölfjähriges Mädchen nicht mit nacktem Oberkörper vor die Tür gehen, wenn draußen die Sonne schien? Schließlich war es ein schöner Frühlingsnachmittag und warm für die Jahreszeit. »Mir ist nicht kalt«, sagte sie trotzig. Tante Durka starrte mit unbewegtem Gesicht auf sie herab. Dann, so plötzlich, dass Manja nicht zurückweichen konnte, holte sie blitzschnell aus und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. Manja weinte nicht. Gegenüber Tante Durka zeigte man besser keine Schwäche. So biss sie nur die Zähne zusammen, während ihr das Blut ins Gesicht schoss. »Du bist kein Kind mehr«, sagte Tante Durka scharf. »Also los jetzt!« Manja gehorchte, innerlich zornbebend, doch ruhig. Langsam zog sie den leinenen Leibrock an, den sie wie einen Schurz um ihre Hüften geknotet hatte. Folgsam steckte sie die Hände in die Ärmel, zog den Kragen über die Schultern und schloss den dreieckigen Ausschnitt. Als der Stoff sie vom Hals bis zu den Knöcheln bedeckte, drehte sie sich um, nahm den tönernen Melkkübel wieder auf und ging in Richtung der Ziegenweide davon. Der Weg führte über eine kleine Anhöhe, von der aus man das gesamte Dorf überblicken konnte. Es lag auf einer weiten Lichtung inmitten der umgebenden Wälder und bestand aus niedrigen, fensterlosen Häusern, deren schwere Binsendächer fast bis zum Boden reichten. Die aus Bruchsteinen und Lehm getürmten Kamine sandten schmale Rauchsäulen in den wolkenlosen Himmel. Jedes Haus war von einem Gemüsegarten mit hüfthohen Weidenzäunen umgeben. Rund um die bebaute Fläche verlief ein Erdwall, der das kleine Dorf vollständig umschloss. Draußen vor dem Wall lagen die Ackerfelder, gerodete Flächen, auf denen Gerste, Hirse und Weizen wuchsen. Dahinter begann der Wald, eine dunkle Wand aus Tannen und Fichten, die sich bis zum Horizont erstreckte. Manja ahnte, dass Tante Durka ihr nachblickte, und hielt sich bewusst aufrecht. Sie war froh, als sie die Anhöhe überquert hatte und die sandige Terrasse zu den Weiden hinabstieg, denn nun war sie sicher, aus Durkas Gesichtsfeld verschwunden zu sein. Sie ist eine Plage, dachte Manja, während sie verdrossen weiterstapfte. Eine Heimsuchung. Eine Strafe der Götter. Natürlich hätte sie nie gewagt, eine derartige Lästerung laut auszusprechen. »Tante« Durka war die Ehefrau ihres Nachbarn Korzak, der Manjas Mutter oft bei schweren Arbeiten zur Hand ging: Er hackte Holz für sie, hielt die Zäune instand und nahm, wenn es notwendig war, Ausbesserungen am Haus vor. Korzak war ruhig und freundlich, sowohl zu Manja als auch zu ihrer Mutter. Durka allerdings beäugte die vielen Hilfsdienste ihres Gatten für die verwitwete Nachbarin mit Argwohn. Vielleicht hatte sie nicht einmal ganz unrecht, wenn sie sich selbst - eine schwergewichtige, von Pockennarben entstellte Bäuerin in vorgerücktem Alter - mit Manjas Mutter verglich, die trotz ihrer achtunddreißig Jahre eine schöne Frau war. Es gab noch einen anderen Grund, warum Durka Manjas Mutter nicht mochte: Sie war vor Jahren als Fremde ins Dorf gekommen, und niemand wusste genau, wo sie vorher gelebt hatte. Die Ältesten hatten der jungen Mutter ein Haus ganz am Rand des Dorfes zur Verfügung gestellt, das früher einmal ein Stall gewesen war. Korzak hatte tatkräftig mitgeholfen, es bewohnbar zu machen, die Wände auszubessern, das Dach zu decken und sogar einen Verschlag für die Gänse zu zimmern. Für Manja lagen diese Dinge in einer so weit entfernten Vergangenheit, dass sie nur selten daran dachte. Sie lebte hier, solange sie denken konnte, und nur, wenn sie zum Dorfplatz ging, um Wasser vom Brunnen zu holen, erinnerten sie die Blicke der anderen Kinder zuweilen daran, dass ihre Familie nicht alteingesessen war. Doch die anderen Kinder waren ihr gleichgültig - solange nur Vilufar zu ihr hielt, Durkas jüngster Sohn, mit dem sie schon vor Jahren Freundschaft geschlossen hatte. Vilufar erwartete sie am Rand der kleinen Weide, die sich Manjas Mutter mit ihren Nachbarn teilte. Er saß wie üblich auf dem Zaun, eine Gerte in der Hand, und winkte schon von Weitem. Manja vergaß Tante Durka, als sie sah, wie er sich ins Gras herabgleiten ließ und auf sie zu kam. »Gruß, Schwester.« Er küsste sie auf die Wange. Manja lächelte und stellte ihren Melkkübel ab. Sie liebte es, wenn er sie »Schwester« nannte - ebenso sehr wie sie es verabscheute, seine Mutter mit »Tante« anzureden. »Was hast du denn eben so grimmig geschaut?« Manja verzog den Mund. »Deine Mutter«, sagte sie. »Sie hat mich getadelt, weil ich meinen Kittel nicht angezogen hatte.« Vilufar grinste. Ihm gegenüber konnte Manja ehrlich sein; das wusste sie. Auch er stand mit seiner Mutter nicht auf bestem Fuße und mied sie, so oft seine Pflichten es ihm erlaubten. »Wo es doch so warm ist ...« Manja ging hinüber zu der Ziege, die ihrer Mutter gehörte, und klopfte ihr den Hals. Das Tier meckerte leise und erwiderte die Zärtlichkeit mit einem Stubser seines bärtigen Mauls. »Hier sieht sie dich ja nicht«, sagte Vilufar, der ihr gefolgt war und müßig die Gerte über das Gras fahren ließ. Manja blickte ihn an und bemerkte sein schelmisches Lächeln. »Stimmt«, sagte sie, fasste ihren Leibrock beim Kragen, zog ihn von den Schultern und warf ihn ins Gras. Dann schob sie den Kübel unter die Zitzen der Ziege und begann sie mit sparsamen, geübten Bewegungen zu melken. Vilufar sah ihr zu - und wenn Manja sich nicht sehr irrte, lagen seine Augen eher auf ihrem nackten Rücken als auf dem Tier. Vilufar war dreizehn Jahre alt und ein Ebenbild seines Vaters, kräftig und groß für sein Alter. Für Manja, die ein Jahr jünger war, hatte er immer ein wenig die Rolle des großen Bruders verkörpert. Schon als kleine Kinder hatten sie zusammen gespielt und fast jede freie Stunde gemeinsam verbracht. Seit beide alt genug waren, um ihren Eltern zur Hand zu gehen, richteten sie es gewöhnlich so ein, dass sie sich auf der Weide oder beim Brunnen trafen. Zur Zeit hatte Vilufar nicht viel mehr zu tun, als die fünf Ziegen seines Vaters zu beaufsichtigen, denn das Korn war noch nicht reif zum Ernten, und um die Gemüsebeete kümmerte sich Durka selbst, da sie der Meinung war, ihr Junge habe kein Gefühl für den Umgang mit Schwarzwurzeln, Rüben und Feldsalat. Manja war dies nur recht, denn es bedeutete, dass sie sich täglich trafen. »So. Das genügt.« Sie stellte den gefüllten Milchkübel beiseite und sah, dass Vilufar es sich auf ihrem Leibrock bequem gemacht hatte, der ausgebreitet wie eine Decke im Gras lag. »Komm, Schwester! Leg dich zu mir.« Sie zögerte. Früher hatte sie oft an seiner Seite im Gras gelegen und in den Himmel geschaut, doch seit sich beide dem Erwachsenenalter näherten, war diese kindliche Unbefangenheit in eine gewisse Scheu umgeschlagen. »Na gut«, sagte Vilufar grinsend. »Dann bekommst du eben ein eigenes Lager.« Umstandslos zog er seinen eigenen Leibrock über den Kopf, breitete ihn im Gras neben sich aus und klopfte mit der flachen Hand darauf. Manja musste lächeln, und angesichts seiner Offenherzigkeit nahm sie das Angebot an und ließ sich rücklings an seiner Seite nieder. »Was gibt es Neues im Dorf?«, fragte sie wie üblich. Da sie ganz am Rand der Siedlung wohnte und ihre Mutter außer den nächsten Nachbarn keine Freunde hatte, bezog sie ihre Neuigkeiten zumeist von ihm: Seine Familie war alteingesessen, und er kannte viele gleichaltrige Jungen, darunter auch Söhne der Dorfältesten. »Ach, nicht viel Neues«, sagte Vilufar, der gleich ihr in den wolkenlosen Himmel hinaufblickte. »Das Korn gedeiht, und die Ältesten sind zufrieden. Das Wetter ist gut, und weit und breit hat niemand Pferdemenschen gesehen.« Manja schauderte. Die wilden Pferdemenschen waren eine Bedrohung, die sie mehr ängstigte als der Wolfsmann. Jenes Ungeheuer aus den Wäldern hatte noch kein lebender Mensch zu Gesicht bekommen; dass jedoch grausame Menschen die Länder im Westen verheerten, war allgemein bekannt. Es hieß, dass sie Verstoßene seien, die einst in die Weiten der Steppe hinausgezogen waren, um sich mit wilden Pferden zu paaren. Manja wusste, dass ihre eigene Mutter auf der Flucht vor den Pferdemenschen hierhergelangt war, auch wenn sie nie darüber sprach und Manja klug genug war, nicht zu fragen. Lediglich Gerüchte waren ihr zu Ohren gekommen, manchmal von Vilufar, manchmal aus Bemerkungen seiner Eltern. »Stimmt es, dass sie mit ihren Pferden zusammengewachsen sind?«, fragte sie beklommen. »Mein Onkel Balba sagt Nein«, meinte Vilufar. »Er hat Verwandte in einem Dorf im Westen, und die haben einmal von Weitem Pferdemenschen gesehen, wie sie durch die Steppe zogen. Sie reiten auf ihren Pferden und steigen niemals von ihnen ab, nur um zu schlafen und zu essen.« Dies beruhigte Manja ein wenig, denn sie hatte bereits begonnen, sich die Fremden in derselben Art vorzustellen wie den Wolfsmann: als schaurige Halbwesen, aus deren menschlichen Körpern Pferdehufe wuchsen. Freilich war die Vorstellung, dass diese Menschen auf Pferden ritten, kaum weniger erschreckend. Im Dorf gab es nur kleine, gedrungene Tarpane, die zum Ziehen von Wagen und als Milchtiere dienten, und niemand hatte je den Rücken eines Pferdes erstiegen, um sich von ihm tragen zu lassen.
»Aber es stimmt, dass sie Bauerndörfer überfallen«, fuhr Vilufar fort. »Das sagt jedenfalls Balba. Sie töten alle Menschen, auch die Frauen und sogar das Vieh, und die Häuser und Kornfelder stecken sie in Brand. Es heißt auch, dass sie ihren Feinden die Kopfhäute samt dem Haar abschneiden und sie an ihren Pferden aufhängen. Die Kinder nehmen sie als Sklaven. Einige opfern sie ihren Göttern; andere lassen sie leben, damit sie ihnen das Essen zubereiten und ihre Kleider nähen.« Erneut schauderte Manja - falls er es darauf anlegte, sie zu gruseln, hatte er gute Arbeit geleistet. »Sich selbst nennen sie Skythen. Unsere Ältesten sagen, dass sie eine Plage sind, die von den Göttern gesandt wurde«, erzählte Vilufar. »Wie die Heuschrecken oder die Stechmücken im Herbst.« Er wandte sich Manja zu und bemerkte ihren unbehaglichen Gesichtsausdruck. »Aber unser Dorf liegt gut geschützt im Wald«, sagte er schließlich, offenbar in dem Bedürfnis, etwas Tröstliches zu äußern. »Und wenn sie doch einmal kommen ...« - er hieb mit seiner Gerte in die Luft - »dann bringe ich sie alle um!« Manja lachte, dankbar für die Auflockerung. »Im Moment reden die Ältesten von ganz anderen Dingen «, wechselte Vilufar das Thema. »Sie sagen, dass in vier Wochen der Ritus stattfinden soll, wenn der Mond wieder voll ist.« Er sprach leichthin, doch Manja wusste, dass das Thema ihn sehr beschäftigte. Vilufar würde in diesem Sommer an den Initiationsriten teilnehmen, bei denen die jungen Männer des Dorfes in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen wurden. Worin der Ritus bestand, war ein Geheimnis, und kein Eingeweihter durfte darüber sprechen. Gewiss war Vilufar viel aufgeregter, als er zugab, denn dieses einmalige Ereignis in seinem Leben würde von einem Tag zum nächsten einen vollwertigen Mann aus ihm machen. Manja verstand ihn gut, denn sie verband auch mit ihrer eigenen Initiation gemischte Gefühle - mit dem Unterschied, dass sie keine gleichaltrigen Mädchen kannte, mit denen sie ihre Hoffnungen und Ängste hätte teilen können. Sie wusste nicht, wann man das geheime Ritual an ihr vollziehen würde, denn es oblag den Dorfältesten, über die Reife der Anwärter zu entscheiden. Immerhin hatte sie gehört, dass bei der Einweihung eines Mädchens nur Frauen anwesend sein durften, ebenso wie die Initiation der Jungen von den Männern durchgeführt wurde. »Du bist sicher auch bald an der Reihe«, sagte Vilufar, drehte sich auf die Seite und sah sie an. »Woher willst du das wissen?«, fragte sie, während sie mit einer unvertrauten Scheu seine Blicke auf ihrem Körper spürte. »Du bekommst schon Brüste«, sagte er lächelnd. Manja blickte an sich hinab. Es stimmte; ihre Brustwarzen waren in den letzten Monaten größer und voller geworden, und das Fleisch im Umkreis begann sich leicht zu wölben. Ihr war ein wenig unbehaglich bei dem Gedanken, wie genau er sie betrachtete. »Und du bekommst Haare!«, sagte sie in dem Bedürfnis, von sich abzulenken, und deutete in Richtung jenes Gliedes, das die Männer Balboi nannten. Nun war es Vilufar, der an sich herabsah - mit einem so verdutzten Ausdruck, dass Manja lachen musste. Offenbar war ihm der zarte Flaum, der seit Kurzem an seinen Lenden spross, noch gar nicht aufgefallen. »Du wirst sicher ein großer, starker Mann«, sagte Manja scherzhaft und drehte sich wieder auf den Rücken. »Und ob ich das werde!« Vilufar lehnte sich seinerseits zurück und blickte wieder zum Himmel. »Ich werde der reichste Bauer meiner Sippe. Ich werde vier Dutzend Ziegen und zwei Dutzend Schweine haben und doppelt ...« »... doppelt so viel Land wie dein Vater«, beendete Manja grinsend den Satz, den sie schon oft von ihm gehört hatte.
17 Sie schwiegen eine Weile. »Und ich ...«, sagte Manja mehr zu sich selbst. »Was werde ich sein?« »Die Frau eines Bauern«, sagte Vilufar leichthin. Dann warf er ihr einen raschen Seitenblick zu. »Die Frau eines reichen Bauern, wenn du willst.« Manja schwieg. Sie war sich nicht sicher, ob sie den Hintersinn seiner Worte zutreffend erfasst hatte. »Wie könnte ich einen der hiesigen Bauern heiraten«, sagte sie ablenkend. »Ich bin doch eine Fremde.« »Bist du nicht«, widersprach Vilufar. »Die Ältesten werden einer Heirat zustimmen, wenn die Eltern nichts einzuwenden haben. Und deine Mutter wäre glücklich, wenn du einen guten Mann bekommst.« Manja nickte still. Ja, vermutlich wäre ihre Mutter glücklich. Ob sie selbst zufrieden wäre, ihr Leben lang die Ziegen zu melken, das Essen zu bereiten und das Korn auszulesen, bezweifelte sie. Sie hatte nie mit jemandem darüber gesprochen - nicht einmal mit Vilufar -, doch der Gedanke, ein Leben wie Tante Durka zu führen und am Ende vielleicht eine ebenso grässliche Alte zu werden wie sie, erfüllte Manja mit Abscheu. Seit jeher war sie ein stilles, nachdenkliches Kind gewesen, das mehr Augen für die Wunder seiner Umwelt als für die tägliche Arbeit hatte. Sie konnte stundenlang dasitzen und dem Kreisen eines Raubvogels am Himmel zusehen, das Strömen des Wassers im Bach beobachten oder dem Wind lauschen. Selbstverständlich ging sie ihrer Mutter zur Hand und half ausdauernd beim Reinigen des Geschirrs, beim Schüren des Feuers, bei der Versorgung der Tiere und selbst beim Holzhacken, doch vieles davon tat sie innerlich abwesend, denn ihre Gedanken weilten bei anderen Dingen. Sie fragte sich, warum die Sonne immer über der gleichen Bergkette im Osten aufging, warum ein Frosch sowohl im Wasser als auch an Land atmen konnte, warum ein Kalb nicht mit Hörnern geboren wurde - und warum es der Wille der Götter war, dass die Menschen von Getreidekörnern lebten, die sie unter größten Mühen säten, ernteten und horteten. Schon oft war ihr der Gedanke gekommen, dass sie sich insgeheim nach etwas anderem sehnte - doch was es war, wusste sie nicht. Irgendwo tief in ihrer Seele schien es einen verborgenen Ort zu geben, an dem fremdartige Bilder lebten, die sie zuweilen im Traum zu sehen glaubte: Bilder von fernen Ländern, von hohen Bergen und weiten Ebenen, vom Flug der Falken über unbekannter Erde. Manchmal, wenn sie nachts wach gelegen hatte und der Ostwind über dem Rauchloch des Hauses hinwegpfiff, war es ihr vorgekommen, als flüsterten Stimmen in der Dunkelheit - Stimmen, die sie fürchtete, und die sie dennoch magisch anzogen, wie Geister aus einer Vergangenheit, die weit länger zurücklag als das erste Erwachen ihres Bewusstseins. »Dein Vater wäre sicher auch glücklich«, nahm Vilufar den Faden wieder auf. »Jeder Bauer wünscht sich, dass seine Tochter eine Bäuerin wird.« Manja schwieg betreten. »Oder war er vielleicht kein Bauer?«, fragte Vilufar. »Was dann? Korbmacher? Gerber? Schmied?« »Ich weiß es nicht«, sagte Manja leise. »Hat deine Mutter denn nie etwas über ihn erzählt?« »Nein.« Das war die Wahrheit: Sie wusste nichts von ihrem Vater. Ihre Mutter hatte lediglich gesagt, er sei vor ihrer Geburt gestorben. »Was hast du, Schwester?« Vilufar wandte sich ihr zu und strich ihr flüchtig über die Wange. »Nichts«, sagte sie betont forsch. »Es ist nur ... es ist wohl doch noch ein bisschen zu kühl ohne Rock.« Sie setzte sich auf und sah ihn bittend an. Vilufar zuckte die Achseln, wälzte sich von ihrem Leibrock und sah mit einem gewissen Bedauern zu, wie sie ihn anzog. Manjas Mutter stand in den Beeten hinter ihrem Haus und sammelte Kohlköpfe in einem Korb, als sie ihre Tochter von fern den Weg heraufkommen sah. Mit schmerzendem Rücken richtete sie sich auf, legte eine Hand auf den niedrigen Zaun und beobachtete die schlaksige Gestalt, die, den vollen Melkkübel in der Hand, mit nachdenklich gesenktem Blick dahinschritt. Mein kleines Mädchen, dachte sie mit einer Mischung aus Rührung und jener leisen Unsicherheit, die sie gelegentlich befiel, seit ihre Tochter das zwölfte Lebensjahr erreicht hatte. Manjas Mutter war eine Fremde unter den ansässigen Bauern. Als sie mit dem gerade geborenen Säugling ins Dorf gekommen war und um Aufnahme gebeten hatte, war sie sechsundzwanzig Jahre alt gewesen. Die Dorfherrin, wie die älteste und weiseste Frau der Sippe genannt wurde, hatte ihr viele Fragen gestellt, und sie hatte ruhig und knapp geantwortet. Der Vater des Kindes, so gab sie an, sei bei einem Überfall der Skythen auf ihr Heimatdorf getötet worden; sie selbst sei seitdem auf der Flucht. Das hatte den Ausschlag gegeben: Alle Menschen, die in den nördlichen Wäldern lebten, fürchteten die grausamen Pferdereiter, und so hatte die Dorfherrin Mitleid mit der jungen Mutter gezeigt und ihr ein Haus zur Verfügung gestellt. Seitdem kümmerte sich Korzak, ihr nächster Nachbar, um die Alleinstehende, sorgte für grobe Arbeiten im Haus und überließ ihr bei jeder Ernte einige Körbe voll Getreide, da sie ohne Ehemann und Söhne nicht in der Lage war, selbst ein Feld zu bewirtschaften. Darüber hinaus lebte sie von selbstgezogenem Gemüse, einigen zahmen Gänsen und dem Flechten von Bastkörben, die sie auf dem Markt eines Nachbardorfes gegen Lebensmittel tauschte. Den Marktplatz ihres eigenen Dorfes suchte sie nur ungern auf. Obwohl Arinai - denn so lautete ihr Name - die Sprache der Einheimischen teilte und zu einem verwandten Stamm gehört hatte, war sie stets eine Außenseiterin geblieben. Dafür hatte nicht zuletzt Durka gesorgt, die keine Gelegenheit ausließ, sie bei den Alteingesessenen anzuschwärzen. Arinai wusste dies sehr wohl, da sie über einen scharfen Verstand und wache Sinne verfügte. Dass sie die Ehemänner anderer Frauen verführte, war jedoch zum Glück eine derart plumpe Lüge, dass Durkas Beteuerungen keinen ernsthaften Glauben fanden. Vermutlich durchschauten selbst die einfältigsten Dorfgenossen, dass Durka lediglich um ihren Gatten besorgt war, der sich allzu willig um die Belange der Nachbarin bemühte - und was Arinais Lebenswandel betraf, so konnte jeder leicht erkennen, dass sie ihre Tage mit harter Arbeit verbrachte und weder Lust noch Muße hatte, sich mit Männern einzulassen. Das galt auch für Korzak, dem sie wohl Freundschaft entgegenbrachte, aber zugleich bei jeder Gelegenheit zu verstehen gab, dass die Götter sie unwiderruflich zum Witwenstand bestimmt hatten. Ein Umstand allerdings sorgte dafür, dass die Gerüchte nicht verstummten: Arinai war schön. Sie näherte sich dem vierzigsten Lebensjahr und hatte damit ein Alter erreicht, in dem andere Frauen - falls sie nicht vorher im Kindbett starben - bucklig und runzlig waren. Arinai hatte nur ein einziges Kind zur Welt gebracht, und obwohl die Schwangerschaft schwer und die Geburt von kritischen Momenten begleitet gewesen war, hatte sie ihren Körper kaum gezeichnet. Lediglich ihr dichtes schwarzes Lockenhaar zeigte ergraute Strähnen, die ihr jedoch eher Würde verliehen, als sie alt wirken zu lassen. Insofern war es kein Wunder, dass Frauen wie Durka - die neun Kinder geboren und bis zum Auszug aus dem elterlichen Haus erzogen hatte - mit einer gewissen Missgunst auf Arinai blickten. Würde auch ihre Tochter zeitlebens eine Außenseiterin bleiben? Dies fragte sich Arinai, als sie Manja beobachtete, die eben auf den Fußweg zum Haus einbog und das aus Zweigen geflochtene Gatter öffnete. Auch sie unterschied sich deutlich von den übrigen Mädchen im Dorf, schon durch ihren hohen Wuchs und ihr üppiges, pechschwarzes Haar. Außerdem, so schien es Arinai, teilten sie einen gemeinsamen Wesenszug: Beide sprachen nicht viel und hingen oft, jede für sich, ihren Gedanken nach. »Gruß, Mutter«, sagte Manja, stellte den Kübel ab und küsste ihre Mutter auf die Wange. Arinai blickte auf die Milch, deren Oberfläche bereits stockig war. »Aber Kind«, sagte sie mit mildem Bedauern. »Hast du sie etwa in der Sonne stehen lassen?« Manja folgte ihrem Blick, sah die Bescherung und biss sich auf die Unterlippe. Sie ist keine Bäuerin, dachte Arinai. Nachsichtig strich sie ihrer Tochter durchs Haar. »Komm. Dann mache ich uns stattdessen einen Hirsebrei.« Als sie wenig später am Boden vor dem Herdfeuer saßen und ihren Brei verzehrten, waren beide schweigsam. Manja hatte die Augen gesenkt und starrte in ihre Schüssel. Sie kaute abwesend; ihre blassen Lippen bewegten sich kaum. Das pechschwarze Haar hing über ihr Gesicht herab wie ein Vorhang. Sie hat mein Haar, dachte Arinai, die ihre Tochter nachdenklich beobachtete. Aber sie hat seine Augen. Es war unabweisbar. Arinai hatte große, hellbraune Augen; die ihrer Tochter dagegen waren schmal und von einem kühlen Grau wie ein stürmischer Himmel. Nichts an ihr erinnerte Arinai so sehr an jenen Mann, den sie seit zwölf Jahren zu vergessen versuchte. In manchen Momenten war es fast, als wäre er noch immer da: Er blickte sie aus den Augen ihrer Tochter an, manchmal vertraut, manchmal fragend, manchmal - und diese Blicke weckten eine bange Beklemmung in ihr - mit einem Ausdruck der Fremdheit. »Mutter?«, fragte Manja, schob ihre Schüssel von sich und blickte zu ihr auf. »Warum schimpft Tante Durka mit mir, wenn ich meinen Kittel um den Bauch knote?«
»Ach - tut sie das?«, fragte Arinai, die angesichts des finsteren Ausdrucks ihrer Tochter schon etwas Ernsteres erwartet hatte. »Ja«, sagte Manja ärgerlich. »Dabei ist es doch so warm draußen. Was ist denn schlimm daran?« Arinai betrachtete ihre Tochter. Wie immer, wenn sie zornig war, tanzte eine einzelne Haarsträhne zitternd über ihrer Stirn, und die zarte Nase krauste sich. Jäh wurde ihr bewusst, wie sehr sie dieses Kind liebte, und sie musste sich einen Moment besinnen, um auf Manjas Frage zurückzukommen. »Nun ... du wirst langsam eine junge Frau«, sagte sie sanft. »Ich nehme an, du weißt, was das bedeutet.« Manja dachte nach. Es stimmte: Nur Kinder liefen im Dorf ohne Kleider umher; Erwachsene dagegen verhüllten ihren Körper. Sie erinnerte sich des seltsamen Gefühls, als Vilufar auf der Weide neben ihr gelegen und auf ihre knospenden Brüste gedeutet hatte. »Es bedeutet, dass du in absehbarer Zeit alt genug sein wirst, um Kinder zu bekommen«, fuhr Arinai fort. Manja starrte ihre Mutter befremdet an, und Arinai glaubte ihre Gedanken erraten zu können: Sie, selbst noch ein Kind, würde schwanger werden können? »Wann?«, fragte sie beklommen. »So schnell, wie du wächst, kann es nicht mehr lange dauern «, sagte Arinai lächelnd. »Du wirst es an der Blutung merken, von der ich dir erzählt habe. Mach dir keine Sorgen, wenn das geschieht; die Götter haben es so eingerichtet. - Weißt du, wie man schwanger wird?« Manja nickte. Die meisten Kinder kannten die Tatsachen aus eigener Anschauung, denn in den Häusern des Dorfes wohnten vielköpfige Familien Tag und Nacht im selben Raum. Manja lebte nur mit ihrer verwitweten Mutter zusammen, doch ging sie mit wachen Sinnen durch die Welt und war eine aufmerksame Beobachterin. Darüber hinaus gaben die Tiere ihr ein Beispiel, denn sie hatte oft gesehen, wie der Bock auf der Weide die Ziegen besprang. »Ich weiß, dass die Männer das Glied dafür benutzen, dass man Balboi nennt«, sagte sie, nicht ohne Scham über ihre Altklugheit. »Aber ich weiß nicht, wie sie damit ein Kind machen. « »Dann will ich dir ein Geheimnis verraten«, sagte Arinai. »Du weißt sicher, warum wir die Große Hochzeit feiern.« »Natürlich«, sagte Manja. »Das Fest ist immer beim ersten Sommerregen. Der Regen fällt auf die Erde, lässt die Saat keimen und das Getreide wachsen. Es heißt, dass der Himmel sich dabei mit der Erde vermählt.« »So ist es«, sagte Arinai ernst. »Die Große Mutter Erde, die unsere höchste Gottheit ist, gebiert das Getreide. Doch sie kann nicht schwanger werden, wenn der Himmel sie nicht zuvor durch den Regen befruchtet hat. Das nennen wir die Große Hochzeit - und die kleine Hochzeit, die zwischen Mann und Frau, ist ihr Abbild. Auch der Mann bewässert eine Saat, wenn er in den Leib der Frau eindringt.« »Mit seinem Balboi?« »Ja.« »Ist es das Wasser, das er lässt?« »Nein, kein Wasser. Wir nennen es den Samen. Und daraus entsteht ein Kind.« Manja schwieg eine Weile, und wie immer, wenn sie angestrengt nachdachte, strich sie sich die vorwitzige Haarsträhne aus der Stirn. »Wenn ich einmal heirate und Kinder bekomme ...«, sagte sie langsam, »... werde ich dann so wie Tante Durka?« Arinai lachte herzlich. »Wie kommst du denn darauf?« »Ich weiß nicht«, sagte Manja, die todernst geblieben war. »Durka hat neun Kinder, und sie sieht immer so ... so missmutig aus. Sie lächelt niemals - so wie du.« »Du hast recht«, sagte Arinai nachdenklich. »Durka hat schon ein langes Leben gelebt und viele Sorgen und Mühen gehabt. Das ist schwer zu verstehen, wenn man so jung ist wie du. Es ist nicht leicht, neun Kinder zur Welt zu bringen, die Felder zu bewirtschaften, um die vielen Mäuler zu stopfen, und sie alle großzuziehen.« »Aber du hast nur ein Kind«, sagte Manja. »Und du bist immer noch glücklich - und schön.« Gerührt blickte Arinai ihre Tochter an. Es war das erste Mal, dass sie ihr etwas Derartiges sagte. »Ich bin nicht so glücklich, wie es vielleicht den Anschein hat«, erwiderte sie ernst. »Ich habe schlimme Dinge erlebt, über die ich nicht sprechen möchte - nicht einmal mit dir. Und dass ich nur ein Kind habe, ist eine Fügung der Götter, deren Sinn mir verborgen geblieben ist. Ich hätte gern eine große Familie und so viele Kinder gehabt wie Durka.« »Wirklich?«, fragte Manja mit echtem Erstaunen. »Obwohl man bei der Geburt sterben kann?« »Ja, wirklich«, nickte Arinai. »Kinder zu haben, ist etwas Wundervolles. Auch du solltest keine Angst davor haben.« Manja biss sich auf die Lippen. Eine Weile schwiegen beide, und Arinai vermochte nicht zu erraten, woran ihre Tochter dachte. »Vilufar hat gefragt, wer mein Vater war«, sagte Manja schließlich scheinbar beiläufig. Arinai senkte den Blick. Sie hatte stets gewusst, dass ihre Tochter ihr diese Frage einmal stellen würde, hatte Pläne entworfen, was sie antworten würde - und am Ende alles wieder verworfen. Nun war er da, der gefürchtete Moment. Es hätte sie erleichtert, dem Schmerz Ausdruck zu verleihen, der in ihr emporstieg, doch stattdessen verschlossen sich ihre Züge zu einer Maske der Erstarrung. »Iss deinen Brei auf«, sagte sie kalt und bemerkte, dass ihre Stimme bebte.
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Autoren-Porträt von Wolfgang Jaedtke
Wolfgang Jaedtke, geboren 1967 in Lüneburg, ist promovierter Musikwissenschaftler und freier Autor und lebt im niedersächsischen Stelle. Sein besonderes Interesse gilt der Vor- und Frühgeschichte. Er veröffentlichte die Skythen-Romane "Steppenkind" und "Tochter der Steppe".
Bibliographische Angaben
- Autor: Wolfgang Jaedtke
- 2012, 416 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild Deutschland
- ISBN-10: 3863656385
- ISBN-13: 9783863656386
- Erscheinungsdatum: 01.10.2012
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