Victim (ePub)
... und keiner hört dein Schreien Die Polizistin Darby McCormick soll ein grauenhaftes Verbrechen aufklären. Man hat die 16jährige Carol entführt, dabei ihren Freund erschossen. Die Wände sind mit Blut beschmiert. Die Spur führt nach Boston. Bald zeigt...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Victim (ePub)“
... und keiner hört dein Schreien Die Polizistin Darby McCormick soll ein grauenhaftes Verbrechen aufklären. Man hat die 16jährige Carol entführt, dabei ihren Freund erschossen. Die Wände sind mit Blut beschmiert. Die Spur führt nach Boston. Bald zeigt sich, dass Carol bei weitem nicht das erste Opfer des Täters war. Keines ist je wieder aufgetaucht. Bis auf Rachel - die Frau, die man am Tatort fand. Was hat die halbverhungerte, vollkommen verstörte Frau erlebt? Was ist Realität, was Wahnvorstellung? Darby versucht, ihr das Geheimnis zu entlocken. Doch Rachel schweigt. "Erschreckende Story. Erschreckendes Talent. Ich liebe dieses Buch." (Lee Child)
Lese-Probe zu „Victim (ePub)“
TEIL IDer Mann aus dem Wald (1984)
Erstes Kapitel
Darby McCormick nahm ihre Freundin Melanie beim Arm und zog sie mit sich in den dichten Wald hinein. Melanie wunderte sich, denn die eigentliche Attraktion lag hinter ihnen, jenseits der Route 86: die Fahrrad- und Wanderwege, die am Salmon Brook Pond entlangführten.
»Was habt ihr vor?«, fragte sie.
»Wie ich schon sagte«, antwortete Darby geheimnistuerisch. »Lass dich überraschen.«
»Keine Sorge«, sagte Stacey Stephens. »Wir bringen dich rechtzeitig ins Kloster zurück.«
Zwanzig Minuten später setzte Darby ihren Rucksack ab, da, wo sie schon häufig mit Stacey herumgelungert und geraucht hatte – an einem kleinen lehmigen Abhang, übersät mit leeren Bierdosen und Zigarettenstummeln.
Um ihre neuen, teuren Jeans zu schonen, suchte Darby erst nach einer trockenen Stelle, bevor sie sich auf den Boden setzte. Stacey dagegen ließ sich achtlos in den Dreck fallen. Sie wirkte überhaupt ziemlich schlampig mit ihrem dick aufgetragenen Lidstrich, den abgetragenen Jeans und den viel zu großen T-Shirts, die sie immer trug. Sie machte nicht gerade einen glücklichen Eindruck und schien – wie Pig Pen bei den Peanuts von einer Staubwolke – ständig von einer Aura der Unzufriedenheit umgeben zu sein.
Darby kannte Melanie schon ewig; die beiden waren in derselben Straße aufgewachsen. Sie konnte sich an vieles, was sie gemeinsam mit Mel unternommen oder erlebt hatte, erinnern. Unter welchen Umständen sie jedoch Stacey kennengelernt hatte oder wie es zu der engen Freundschaft zwischen ihnen dreien gekommen war, wusste sie nicht mehr. Es schien fast, als wäre Stacey irgendwann einfach aufgetaucht und seitdem nicht mehr von ihrer Seite gewichen, ob in der Schule, bei Footballspielen oder auf Partys. Stacey sorgte
... mehr
immer für Stimmung. Sie erzählte zotige Witze, kannte die beliebtesten Jungs und schaffte es beim Baseball bis zur dritten Base. Mel war dagegen wie eine der Porzellanfigürchen, die Darbys Mutter sammelte und die so kostbar und zerbrechlich waren, dass sie an einem sicheren Platz aufbewahrt werden mussten.
Darby öffnete ihren Rucksack und verteilte Bierdosen.
»Was soll das?«, fragte Mel.
»Ich mache dich mit Mr Budweiser bekannt«, antwortete Darby.
Mel befingerte die Glücksbringer an ihrem Armband. Das tat sie immer, wenn sie nervös oder ängstlich war.
»Na los, Mel, hab dich nicht so. Er wird nicht beißen.«
»Ich will ja nur wissen, warum ihr so was macht.«
»Wir feiern deinen Geburtstag, du Trottel«, sagte Stacey und öffnete ihre Dose.
»Und deinen Führerschein«, ergänzte Darby.
»Jetzt haben wir endlich jemanden, der uns in die Mall fährt.«
»Merkt dein Dad denn nicht, dass das Bier fehlt?«, fragte Mel Stacey erstaunt. »Unser Kühlschrank im Keller ist voll davon. Da fallen sechs Dosen mehr oder weniger nicht auf.« Stacey steckte sich eine Zigarette an und warf dann Darby die Packung zu. »Aber wenn er oder meine Mom uns beim Trinken erwischten, würde ich eine Woche lang nicht mehr gerade sitzen können.«
Darby hob ihre Bierdose. »Happy Birthday, Mel, und alles Gute.«
Stacey trank in wenigen Zügen ihre Dose halb leer. Auch Darby nahm einen tiefen Schluck. Melanie dagegen schnüffelte an ihrem Bier. Das tat sie immer, bevor sie etwas Neues probierte.
»Riecht wie feuchter Toast«, sagte sie naserümpfend.
»Trink, und du wirst sehen, es schmeckt mit jedem Schluck besser. Und vor allem fühlt man sich immer besser.«
Stacey zeigte auf ein Auto, das in der Ferne über die gewundene Route 86 kroch; es sah nach einem Mercedes aus. »So eins werde ich eines Tages auch fahren«, sagte sie.
»Ja, du gibst bestimmt mal eine gute Chauffeurin ab«, erwiderte Darby ironisch.
Stacey zeigte ihr den Mittelfinger. »Von wegen, du blöde Kuh, ich lasse mich kutschieren, weil ich nämlich mal einen stinkreichen Typen heiraten werde.«
»Ich sag’s dir nur ungern«, entgegnete Darby, »aber in Belham gibt es keine reichen Typen.«
»Darum will ich ja auch nach New York City. Und der Mann, den ich heirate, wird nicht nur super aussehen, sondern mich auch nach Strich und Faden verwöhnen. Ich spreche von Dinnern in schicken Restaurants, tollen Klamotten und heißen Autos. Er wird auch sein eigenes Flugzeug haben, mit dem wir dann zu unserem phantastischen Strandhaus in der Karibik fliegen. Und was ist mit dir, Mel? Wie stellst du dir deinen Zukünftigen vor? Oder bist du immer noch entschlossen, Nonne zu werden?«
»Ich werde keine Nonne«, antwortete Mel empört und nahm, wie um ihre Aussage zu bekräftigen, einen tiefen Schluck aus der Dose.
»Soll das heißen, du hast deine Unschuld an Michael Anka verloren?«
Darby verschluckte sich fast an ihrem Bier. »An diesen Nasenpopler?«
»Das tut er schon lange nicht mehr«, verteidigte ihn Mel. »Ich meine, popeln.«
»Dann gratuliere ich dir gleich nochmal«, sagte Darby. Stacey brüllte vor Lachen.
»Hört auf«, protestierte Mel. »Er ist nett.«
»Natürlich ist er das«, sagte Stacey. »Zu Anfang sind alle Jungs nett. Aber wenn sie dann kriegen, was sie von dir wollen, behandeln sie dich wie Dreck.«
»Das ist nicht wahr«, erwiderte Darby, die an ihren Vater denken musste, den alle nur Big Red genannt hatten – wie das Kaugummi. Zu seinen Lebzeiten hatte er ihrer Mutter immer die Tür aufgehalten. Wenn ihre Eltern freitagnachts ausgegangen waren, hatte Big Red nachher zu Hause immer eine seiner Frank-Sinatra-Platten aufgelegt und manchmal mit ihrer Mutter getanzt – cheek-to-cheek, wie es in dem Lied »Heaven« heißt.
»Das ist alles pure Berechnung, Mel, glaub mir«, sagte Stacey. »Darum solltest du aufhören, dich wie ein Mäuschen zu verhalten. Wenn du so weitermachst, wird man dich immer nur ausnutzen.«
Stacey ging nun wieder dazu über, einen ihrer Vorträge über Jungs und deren hinterhältige Tricks zu halten, mit denen sie bei Mädchen zu landen versuchten. Darby verdrehte die Augen, lehnte sich an einen Baum zurück und schaute auf das große Neonkreuz, das am Horizont über der Route 1 leuchtete.
Sie nippte an ihrem Bier, beobachtete den Verkehr, der sich in beiden Fahrtrichtungen über die Route 1 wälzte, und stellte sich vor, was für interessante Leute in diesen Wagen sitzen mochten; womöglich fuhren sie an interessante Orte, um dort interessante Dinge zu unternehmen. Wie konnte man es wohl schaffen, auf andere interessant zu wirken? Oder musste einem diese Eigenschaft von Natur aus gegeben sein wie die Haarfarbe oder Körpergröße? Vielleicht, dachte sie, hatte Gott bei der Geburt schon entschieden, ob man interessant war oder nicht, und man musste lernen, mit dem Gegebenen zu leben.
Je mehr Darby trank, desto deutlicher machte sich eine innere Stimme bemerkbar, die ihr mit Nachdruck versicherte, dass sie, Darby Alexandra McCormick, zu Höherem geboren war. Vielleicht nicht gerade zu einem Filmstar, aber ganz gewiss doch zu etwas sehr viel Besserem als der Palmolive-Welt ihrer Mutter, die aus Putzen, Kochen und Einkaufscoupons bestand. Für Sheila McCormick gab es nichts Größeres, als auf Wühltischen nach Sonderangeboten zu kramen – für sie selbst sehr wohl.
»Hört ihr das?«, flüsterte Stacey plötzlich.
Es knisterte und raschelte im Gebüsch hinter ihnen.
»Vielleicht ein Waschbär oder so was Ähnliches«, antwortete Darby.
»Ich meine nicht das Rascheln«, sagte Stacey. »Da heult doch jemand.«
Darby setzte ihre Bierdose ab und reckte den Hals, um einen Blick über den Rand der Böschung zu werfen. Die Sonne war schon vor einer Weile untergegangen, und außer den Umrissen der Bäume war nichts zu erkennen. Das Knistern und Knacken im Wald schien lauter zu werden. War da jemand?
Plötzlich brachen die Geräusche ab. Stattdessen war eine Frauenstimme zu hören, leise, aber deutlich:
»Lassen Sie mich bitte gehen. Ich werde auch niemandem sagen, was Sie getan haben, ehrlich.«
Zweites Kapitel
»Nehmen Sie mein Portemonnaie«, flehte die Frauenstimme. »Es sind dreihundert Dollar darin. Ich kann Ihnen auch mehr Geld geben, wenn es das ist, was Sie wollen.«
Darby packte Stacey hart beim Arm und zog sie in Deckung. Melanie kauerte sich neben die beiden.
»Es ist anscheinend ein Überfall, aber wahrscheinlich hat er ein Messer dabei, vielleicht sogar eine Pistole«, flüsterte Darby. »Wenn sie ihm das Portemonnaie gibt, lässt er sie bestimmt laufen, und alles ist vorbei. Also halten wir uns lieber raus.«
Mel und Stacey nickten.
»Tun Sie das nicht«, bettelte die Frau.
Darby wusste, dass sie einen Blick riskieren und sich die Situation einprägen musste, auch wenn ihr noch so mulmig dabei war. Wenn die Polizei Fragen stellte, wollte sie sich an alle Details erinnern können, an jedes Wort und jedes Geräusch.
Mit wildpochendem Herzen hob sie den Kopf und spähte über den Rand der Böschung in den dunklen Wald. Grashalme und Laub streiften ihre Nasenspitze.
Die Frau fing wieder an zu weinen. »Bitte. Bitte nicht.«
Der Mann murmelte etwas, das Darby nicht verstehen konnte. Aber es erschreckte sie zu sehen, wie nahe die beiden waren.
Auch Stacey riskierte jetzt einen Blick und rückte dicht an Darby heran.
»Was geht da vor?«, flüsterte Stacey.
»Ich weiß nicht«, antwortete Darby leise.
Auf der Route 86 näherte sich ein Auto. Die Scheinwerfer warfen zwei gespenstische Lichtkegel, die nun über die Baumstämme und den Abhang huschten, der voller Felsbrocken, Blätter und heruntergefallener Zweige war. Darby hörte Musik – Van Halens »Jump«, gesungen von David Lee Roth, dessen Stimme immer lauter wurde. Gleichzeitig vernahm sie wieder eine innere Stimme, die ihr riet, schnellstens wegzuschauen. Das wollte sie auch, weiß Gott, doch ein anderer Teil ihres Gehirns schien die Kontrolle übernommen zu haben, und so sah Darby hin, als die Scheinwerfer über sie hinwegglitten und David Lee Roth mit dröhnender Stimme dazu aufrief, Anlauf zu nehmen und zu springen. Sie sah eine Frau in Jeans und grauem T-Shirt neben einem Baum auf dem Boden knien. Ihr Gesicht war dunkelrot, die Augen weit aufgerissen, und die Finger krallten sich verzweifelt um den Strick, der ihren Hals zuschnürte.
In diesem Moment sprang Stacey auf und versetzte Darby dabei einen Stoß, der sie rücklings zu Boden warf. Ihr Kopf traf auf einen Stein, mit solcher Wucht, dass sie Sterne sah. Sie hörte, wie Stacey davonrannte, und als sie sich auf die Seite wälzte, bemerkte sie, dass auch Mel Reißaus nahm.
Darby hörte Zweige knacken, Laub knistern – der Kerl kam eindeutig näher. Sie rappelte sich auf und lief los.
Erst an der Ecke der East Dunstable holte Darby ihre Freundinnen ein. Die nächsten öffentlichen Fernsprecher gab es vor Buzzy’s, einem Laden mit Pizzeria und Sandwich-Shop, der 24 Stunden geöffnet hatte. Sie rannten die ganze Strecke, ohne dass auch nur ein Wort zwischen ihnen fiel.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, ehe sie endlich ankamen. Schwitzend und außer Atem griff Darby nach dem Telefonhörer, um die 911 zu wählen. Doch Stacey schlug auf die Gabel und sagte: »Wir können nicht anrufen.«
»Bist du verrückt?«, fuhr Darby, die nun bei all ihrer Furcht langsam wütend wurde, sie an. Dabei hätte es sie gar nicht überraschen dürfen, dass sie von Stacey einfach umgestoßen worden war, als diese Reißaus genommen hatte. Stacey setzte sich immer rücksichtslos durch, so wie vor kurzem noch, als sich alle drei fürs Kino verabredet hatten, von Stacey aber in letzter Minute versetzt worden waren, weil sie sich spontan entschlossen hatte, zu Christina Patricks Party zu gehen. Das war typisch für Stacey.
»Wir haben getrunken, Darby.«
»Sollen wir etwa deswegen den Mund halten?«
»Man wird riechen, dass wir eine Fahne haben. Die mit Kaugummi, Zähneputzen oder Mundwasser auf die Schnelle wegkriegen zu wollen, kannst du vergessen. Das nützt nichts.«
»Ich riskier’s trotzdem«, entgegnete Darby und versuchte, Stacey den Hörer aus der Hand zu reißen.
Doch Stacey ließ nicht locker. »Die Frau ist tot, Darby.«
»Das weißt du doch gar nicht.«
»Wir haben schließlich beide dasselbe gesehen …«
»Nein, du kannst gar nicht dasselbe gesehen haben wie ich, weil du abgehauen bist. Und mich einfach weggestoßen hast. Erinnerst du dich?«
»Das war keine Absicht. Ich schwöre, ich …«
»Du denkst doch immer nur an dich. Aber das kennen wir ja von dir.« Wütend riss Darby ihr den Hörer aus der Hand und wählte die 911.
»Du wirst schon sehen, was du davon hast, Darby. Irgendeine Strafe bekommst du sicherlich, auch wenn dein Vater dich nicht …« Stacey stockte, dann fing sie an zu weinen. »Du kannst dir ja nicht vorstellen, was bei mir zu Hause abgeht. Das könnt ihr alle nicht.«
Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine Stimme: »Neun-eins-eins. Mit wem spreche ich?«
Während Darby dem Beamten ihren Namen nannte und erzählte, was passiert war, zog sich Stacey hinter einen der Müllcontainer zurück – wie um Schutz zu suchen vor dem, was kommen würde. Mel starrte auf den Hügel, auf dem sie im Winter als Kind immer Schlitten gefahren war; ihre Finger betasteten jeden einzelnen Glücksbringer ihres Armbands.
Eine Stunde später kehrte Darby, von einem Detective begleitet, an den Tatort im Wald zurück.
Sein Name war Paul Riggers. Sie kannte ihn vom Sehen, von der Beerdigung ihres Vaters. Er hatte große weiße Zähne und erinnerte sie an Larry, den schleimigen Nachbarn in der Fernsehserie Three’s Company.
»Hier ist nichts zu sehen«, stellte Riggers fest. »Vielleicht habt ihr ihn in die Flucht geschlagen.«
Darby nickte. Was sie sah, ließ ihre Knie zittern. Ihr Magen fing wieder an zu kneifen; es schien, als wollte er sich losreißen und in Deckung gehen.
Ihr Portemonnaie lag neben dem Rucksack auf dem Boden. Der Büchereiausweis steckte noch darin, aber das Geld und der vorläufige Führerschein mit ihren persönlichen Angaben waren verschwunden. Er blieb stehen und leuchtete den Boden mit seiner Taschenlampe ab. Der Lichtstrahl fiel auf einen blauen Rucksack, dessen Reißverschluss geöffnet war, sodass die drei übrig gebliebenen Budweiser-Dosen zu sehen waren. »Das ist wohl deiner.
Darby öffnete ihren Rucksack und verteilte Bierdosen.
»Was soll das?«, fragte Mel.
»Ich mache dich mit Mr Budweiser bekannt«, antwortete Darby.
Mel befingerte die Glücksbringer an ihrem Armband. Das tat sie immer, wenn sie nervös oder ängstlich war.
»Na los, Mel, hab dich nicht so. Er wird nicht beißen.«
»Ich will ja nur wissen, warum ihr so was macht.«
»Wir feiern deinen Geburtstag, du Trottel«, sagte Stacey und öffnete ihre Dose.
»Und deinen Führerschein«, ergänzte Darby.
»Jetzt haben wir endlich jemanden, der uns in die Mall fährt.«
»Merkt dein Dad denn nicht, dass das Bier fehlt?«, fragte Mel Stacey erstaunt. »Unser Kühlschrank im Keller ist voll davon. Da fallen sechs Dosen mehr oder weniger nicht auf.« Stacey steckte sich eine Zigarette an und warf dann Darby die Packung zu. »Aber wenn er oder meine Mom uns beim Trinken erwischten, würde ich eine Woche lang nicht mehr gerade sitzen können.«
Darby hob ihre Bierdose. »Happy Birthday, Mel, und alles Gute.«
Stacey trank in wenigen Zügen ihre Dose halb leer. Auch Darby nahm einen tiefen Schluck. Melanie dagegen schnüffelte an ihrem Bier. Das tat sie immer, bevor sie etwas Neues probierte.
»Riecht wie feuchter Toast«, sagte sie naserümpfend.
»Trink, und du wirst sehen, es schmeckt mit jedem Schluck besser. Und vor allem fühlt man sich immer besser.«
Stacey zeigte auf ein Auto, das in der Ferne über die gewundene Route 86 kroch; es sah nach einem Mercedes aus. »So eins werde ich eines Tages auch fahren«, sagte sie.
»Ja, du gibst bestimmt mal eine gute Chauffeurin ab«, erwiderte Darby ironisch.
Stacey zeigte ihr den Mittelfinger. »Von wegen, du blöde Kuh, ich lasse mich kutschieren, weil ich nämlich mal einen stinkreichen Typen heiraten werde.«
»Ich sag’s dir nur ungern«, entgegnete Darby, »aber in Belham gibt es keine reichen Typen.«
»Darum will ich ja auch nach New York City. Und der Mann, den ich heirate, wird nicht nur super aussehen, sondern mich auch nach Strich und Faden verwöhnen. Ich spreche von Dinnern in schicken Restaurants, tollen Klamotten und heißen Autos. Er wird auch sein eigenes Flugzeug haben, mit dem wir dann zu unserem phantastischen Strandhaus in der Karibik fliegen. Und was ist mit dir, Mel? Wie stellst du dir deinen Zukünftigen vor? Oder bist du immer noch entschlossen, Nonne zu werden?«
»Ich werde keine Nonne«, antwortete Mel empört und nahm, wie um ihre Aussage zu bekräftigen, einen tiefen Schluck aus der Dose.
»Soll das heißen, du hast deine Unschuld an Michael Anka verloren?«
Darby verschluckte sich fast an ihrem Bier. »An diesen Nasenpopler?«
»Das tut er schon lange nicht mehr«, verteidigte ihn Mel. »Ich meine, popeln.«
»Dann gratuliere ich dir gleich nochmal«, sagte Darby. Stacey brüllte vor Lachen.
»Hört auf«, protestierte Mel. »Er ist nett.«
»Natürlich ist er das«, sagte Stacey. »Zu Anfang sind alle Jungs nett. Aber wenn sie dann kriegen, was sie von dir wollen, behandeln sie dich wie Dreck.«
»Das ist nicht wahr«, erwiderte Darby, die an ihren Vater denken musste, den alle nur Big Red genannt hatten – wie das Kaugummi. Zu seinen Lebzeiten hatte er ihrer Mutter immer die Tür aufgehalten. Wenn ihre Eltern freitagnachts ausgegangen waren, hatte Big Red nachher zu Hause immer eine seiner Frank-Sinatra-Platten aufgelegt und manchmal mit ihrer Mutter getanzt – cheek-to-cheek, wie es in dem Lied »Heaven« heißt.
»Das ist alles pure Berechnung, Mel, glaub mir«, sagte Stacey. »Darum solltest du aufhören, dich wie ein Mäuschen zu verhalten. Wenn du so weitermachst, wird man dich immer nur ausnutzen.«
Stacey ging nun wieder dazu über, einen ihrer Vorträge über Jungs und deren hinterhältige Tricks zu halten, mit denen sie bei Mädchen zu landen versuchten. Darby verdrehte die Augen, lehnte sich an einen Baum zurück und schaute auf das große Neonkreuz, das am Horizont über der Route 1 leuchtete.
Sie nippte an ihrem Bier, beobachtete den Verkehr, der sich in beiden Fahrtrichtungen über die Route 1 wälzte, und stellte sich vor, was für interessante Leute in diesen Wagen sitzen mochten; womöglich fuhren sie an interessante Orte, um dort interessante Dinge zu unternehmen. Wie konnte man es wohl schaffen, auf andere interessant zu wirken? Oder musste einem diese Eigenschaft von Natur aus gegeben sein wie die Haarfarbe oder Körpergröße? Vielleicht, dachte sie, hatte Gott bei der Geburt schon entschieden, ob man interessant war oder nicht, und man musste lernen, mit dem Gegebenen zu leben.
Je mehr Darby trank, desto deutlicher machte sich eine innere Stimme bemerkbar, die ihr mit Nachdruck versicherte, dass sie, Darby Alexandra McCormick, zu Höherem geboren war. Vielleicht nicht gerade zu einem Filmstar, aber ganz gewiss doch zu etwas sehr viel Besserem als der Palmolive-Welt ihrer Mutter, die aus Putzen, Kochen und Einkaufscoupons bestand. Für Sheila McCormick gab es nichts Größeres, als auf Wühltischen nach Sonderangeboten zu kramen – für sie selbst sehr wohl.
»Hört ihr das?«, flüsterte Stacey plötzlich.
Es knisterte und raschelte im Gebüsch hinter ihnen.
»Vielleicht ein Waschbär oder so was Ähnliches«, antwortete Darby.
»Ich meine nicht das Rascheln«, sagte Stacey. »Da heult doch jemand.«
Darby setzte ihre Bierdose ab und reckte den Hals, um einen Blick über den Rand der Böschung zu werfen. Die Sonne war schon vor einer Weile untergegangen, und außer den Umrissen der Bäume war nichts zu erkennen. Das Knistern und Knacken im Wald schien lauter zu werden. War da jemand?
Plötzlich brachen die Geräusche ab. Stattdessen war eine Frauenstimme zu hören, leise, aber deutlich:
»Lassen Sie mich bitte gehen. Ich werde auch niemandem sagen, was Sie getan haben, ehrlich.«
Zweites Kapitel
»Nehmen Sie mein Portemonnaie«, flehte die Frauenstimme. »Es sind dreihundert Dollar darin. Ich kann Ihnen auch mehr Geld geben, wenn es das ist, was Sie wollen.«
Darby packte Stacey hart beim Arm und zog sie in Deckung. Melanie kauerte sich neben die beiden.
»Es ist anscheinend ein Überfall, aber wahrscheinlich hat er ein Messer dabei, vielleicht sogar eine Pistole«, flüsterte Darby. »Wenn sie ihm das Portemonnaie gibt, lässt er sie bestimmt laufen, und alles ist vorbei. Also halten wir uns lieber raus.«
Mel und Stacey nickten.
»Tun Sie das nicht«, bettelte die Frau.
Darby wusste, dass sie einen Blick riskieren und sich die Situation einprägen musste, auch wenn ihr noch so mulmig dabei war. Wenn die Polizei Fragen stellte, wollte sie sich an alle Details erinnern können, an jedes Wort und jedes Geräusch.
Mit wildpochendem Herzen hob sie den Kopf und spähte über den Rand der Böschung in den dunklen Wald. Grashalme und Laub streiften ihre Nasenspitze.
Die Frau fing wieder an zu weinen. »Bitte. Bitte nicht.«
Der Mann murmelte etwas, das Darby nicht verstehen konnte. Aber es erschreckte sie zu sehen, wie nahe die beiden waren.
Auch Stacey riskierte jetzt einen Blick und rückte dicht an Darby heran.
»Was geht da vor?«, flüsterte Stacey.
»Ich weiß nicht«, antwortete Darby leise.
Auf der Route 86 näherte sich ein Auto. Die Scheinwerfer warfen zwei gespenstische Lichtkegel, die nun über die Baumstämme und den Abhang huschten, der voller Felsbrocken, Blätter und heruntergefallener Zweige war. Darby hörte Musik – Van Halens »Jump«, gesungen von David Lee Roth, dessen Stimme immer lauter wurde. Gleichzeitig vernahm sie wieder eine innere Stimme, die ihr riet, schnellstens wegzuschauen. Das wollte sie auch, weiß Gott, doch ein anderer Teil ihres Gehirns schien die Kontrolle übernommen zu haben, und so sah Darby hin, als die Scheinwerfer über sie hinwegglitten und David Lee Roth mit dröhnender Stimme dazu aufrief, Anlauf zu nehmen und zu springen. Sie sah eine Frau in Jeans und grauem T-Shirt neben einem Baum auf dem Boden knien. Ihr Gesicht war dunkelrot, die Augen weit aufgerissen, und die Finger krallten sich verzweifelt um den Strick, der ihren Hals zuschnürte.
In diesem Moment sprang Stacey auf und versetzte Darby dabei einen Stoß, der sie rücklings zu Boden warf. Ihr Kopf traf auf einen Stein, mit solcher Wucht, dass sie Sterne sah. Sie hörte, wie Stacey davonrannte, und als sie sich auf die Seite wälzte, bemerkte sie, dass auch Mel Reißaus nahm.
Darby hörte Zweige knacken, Laub knistern – der Kerl kam eindeutig näher. Sie rappelte sich auf und lief los.
Erst an der Ecke der East Dunstable holte Darby ihre Freundinnen ein. Die nächsten öffentlichen Fernsprecher gab es vor Buzzy’s, einem Laden mit Pizzeria und Sandwich-Shop, der 24 Stunden geöffnet hatte. Sie rannten die ganze Strecke, ohne dass auch nur ein Wort zwischen ihnen fiel.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, ehe sie endlich ankamen. Schwitzend und außer Atem griff Darby nach dem Telefonhörer, um die 911 zu wählen. Doch Stacey schlug auf die Gabel und sagte: »Wir können nicht anrufen.«
»Bist du verrückt?«, fuhr Darby, die nun bei all ihrer Furcht langsam wütend wurde, sie an. Dabei hätte es sie gar nicht überraschen dürfen, dass sie von Stacey einfach umgestoßen worden war, als diese Reißaus genommen hatte. Stacey setzte sich immer rücksichtslos durch, so wie vor kurzem noch, als sich alle drei fürs Kino verabredet hatten, von Stacey aber in letzter Minute versetzt worden waren, weil sie sich spontan entschlossen hatte, zu Christina Patricks Party zu gehen. Das war typisch für Stacey.
»Wir haben getrunken, Darby.«
»Sollen wir etwa deswegen den Mund halten?«
»Man wird riechen, dass wir eine Fahne haben. Die mit Kaugummi, Zähneputzen oder Mundwasser auf die Schnelle wegkriegen zu wollen, kannst du vergessen. Das nützt nichts.«
»Ich riskier’s trotzdem«, entgegnete Darby und versuchte, Stacey den Hörer aus der Hand zu reißen.
Doch Stacey ließ nicht locker. »Die Frau ist tot, Darby.«
»Das weißt du doch gar nicht.«
»Wir haben schließlich beide dasselbe gesehen …«
»Nein, du kannst gar nicht dasselbe gesehen haben wie ich, weil du abgehauen bist. Und mich einfach weggestoßen hast. Erinnerst du dich?«
»Das war keine Absicht. Ich schwöre, ich …«
»Du denkst doch immer nur an dich. Aber das kennen wir ja von dir.« Wütend riss Darby ihr den Hörer aus der Hand und wählte die 911.
»Du wirst schon sehen, was du davon hast, Darby. Irgendeine Strafe bekommst du sicherlich, auch wenn dein Vater dich nicht …« Stacey stockte, dann fing sie an zu weinen. »Du kannst dir ja nicht vorstellen, was bei mir zu Hause abgeht. Das könnt ihr alle nicht.«
Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine Stimme: »Neun-eins-eins. Mit wem spreche ich?«
Während Darby dem Beamten ihren Namen nannte und erzählte, was passiert war, zog sich Stacey hinter einen der Müllcontainer zurück – wie um Schutz zu suchen vor dem, was kommen würde. Mel starrte auf den Hügel, auf dem sie im Winter als Kind immer Schlitten gefahren war; ihre Finger betasteten jeden einzelnen Glücksbringer ihres Armbands.
Eine Stunde später kehrte Darby, von einem Detective begleitet, an den Tatort im Wald zurück.
Sein Name war Paul Riggers. Sie kannte ihn vom Sehen, von der Beerdigung ihres Vaters. Er hatte große weiße Zähne und erinnerte sie an Larry, den schleimigen Nachbarn in der Fernsehserie Three’s Company.
»Hier ist nichts zu sehen«, stellte Riggers fest. »Vielleicht habt ihr ihn in die Flucht geschlagen.«
Darby nickte. Was sie sah, ließ ihre Knie zittern. Ihr Magen fing wieder an zu kneifen; es schien, als wollte er sich losreißen und in Deckung gehen.
Ihr Portemonnaie lag neben dem Rucksack auf dem Boden. Der Büchereiausweis steckte noch darin, aber das Geld und der vorläufige Führerschein mit ihren persönlichen Angaben waren verschwunden. Er blieb stehen und leuchtete den Boden mit seiner Taschenlampe ab. Der Lichtstrahl fiel auf einen blauen Rucksack, dessen Reißverschluss geöffnet war, sodass die drei übrig gebliebenen Budweiser-Dosen zu sehen waren. »Das ist wohl deiner.
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Autoren-Porträt von Chris Mooney
Chris Mooney, aufgewachsen in Lynn/ Massachusetts, ist einer der erfolgreichsten neuen amerikanischen Thrillerautoren. Sein Buch Victim war ein Bestseller, Secret ebenfalls. Mooney lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in Boston, wo er bereits an seinem nächsten Buch arbeitet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Chris Mooney
- 2013, 315 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild GmbH & Co. KG
- ISBN-10: 3955690806
- ISBN-13: 9783955690809
- Erscheinungsdatum: 14.11.2013
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Kommentare zu "Victim"
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