Zeitgeschichte: Das Mädchen aus der Severinstraße

Annette Wieners über das Schweigen der Großeltern und warum es Zeit ist, sich jetzt damit auseinanderzusetzen

Annette Wieners erzählt Kölner Geschichte, die bisher wenig bekannt ist und kaum aufgearbeitet wurde. Beim Schreiben kamen widerstreitende Gefühle hoch, wie sie im Interview schildert. Foto: © Bettina Fürst-Fastré

Inspiriert von der eigenen Familiengeschichte: Annette Wieners‘ Roman "Das Mädchen aus der Severinstraße"

Als Annette Wieners die Wohnung ihrer Großeltern aufräumt, macht sie unter einem Teppich eine überraschende - und für ihre Großmutter schockierende - Entdeckung. Welche, verrät sie im Interview weiter unten. Das Geheimnis, das der Großvater jahrelang unter dem Läufer verborgen hielt, wirft viele Fragen auf. Fragen, denen die Schriftstellerin und WDR-Journalistin Annette Wieners in ihrem Roman in einer fiktiven Geschichte nachspürt.

In "Das Mädchen aus der Severinstraße" entdeckt Sabine Schubert, dass in ihrer Familiengeschichte erschreckende Lücken aufklaffen. Was haben ihre Großeltern über die Jahre des NS-Regimes verschwiegen? Hat der Großvater in der Kölner Metallgussfirma wirklich nur Spielzeug hergestellt? Und auch ihre Großmutter scheint von ihrer Zeit als berühmtes Fotomodell nur die halbe Wahrheit zu erzählen.

"Wir kennen häufig sogar noch viel weniger", sagt Wieners im Interview über die Vergangenheit unserer Großeltern. "Mein Großvater war schon früh in der NSDAP, das habe ich herausfinden können. Er selbst hat es leider nie erwähnt oder gar erklärt, und dieses Schweigen gibt es sehr häufig in den Familien." Derweil sei es auch für Wieners‘ Generation an der Zeit zu erfragen: "Wo komme ich her, und warum bin ich, verdammt noch mal, so geworden, wie ich bin? Die Eltern – ihre oft schwierigen Lebenswege – haben großen Einfluss auf uns. Es ist wichtig, der Sache auf den Grund zu gehen, solange es noch möglich ist."

Annette Wieners‘ Großeltern in den 1930er Jahren. Annette Wieners: "Wie haben sie über die Gewalt gegen Juden, Kommunisten und Homosexuelle gedacht? Was haben sie beobachtet, wenn sie die Severinstraße entlanggingen? SA-Männer in den Hauseingängen? Leider haben meine Großeltern nie darüber gesprochen." Fotos: © Annette Wieners

Die Autorin und WDR-Journalistin Annette Wieners im Interview über das Schweigen der Großeltern und warum es an der Zeit ist, sich jetzt damit auseinanderzusetzen

Die Handlung Ihres neuen Romans ist inspiriert von einer wahren Begebenheit – genau genommen von Ihrer eigenen Familiengeschichte. Was haben Sie damals unter dem Teppich Ihrer Großeltern gefunden?

Annette Wieners: Als wir das Haus meiner Großmutter aufräumten, sollte ich den Teppich im Wohnzimmer zusammenrollen. Den Anblick werde ich nie vergessen: Zuerst kam helles Parkett zum Vorschein, es hatte noch nie die Sonne gesehen, und dann tauchten Tausendmarkscheine auf. Sorgfältig nebeneinander gereiht, flach auf dem Boden. Uns war klar, dass mein Großvater das Geld dort versteckt haben musste. Ein kleiner Schock für meine Großmutter, die daraufhin das gesamte Haus absuchte. Sie fand noch mehr wertvolle Dinge und war für den Moment eine recht wohlhabende Frau. Aber in diese Erkenntnis mischten sich Wut und Enttäuschung über ihren Mann, der ein solches Geheimnis vor ihr gehütet hatte. Welches Geheimnis es genau war – wo also das Geld herkam – haben wir nie herausgefunden. Aber die Frage hat mich nachhaltig beschäftigt, und jetzt habe ich sie im Roman fiktiv gelöst.

Hat diese Entdeckung denn Ihr Bild von Ihrer Familie nachhaltig verändert?

Annette Wieners: Mich hat die Reaktion meiner Großmutter beeindruckt. Sie hat den unverhofften Reichtum sofort und mit großer Energie ausgegeben. Wahrscheinlich war es eine Genugtuung für sie, denn ihr verstorbener, geheimniskrämerischer Ehemann hatte sein Geld zeitlebens sehr eng beisammengehalten. Mein Blick auf meine Familie hat sich aber erst später verändert, nämlich als ich den Roman schrieb. „Das Mädchen aus der Severinstraße“ beginnt im Jahr 1937, und ich habe akribisch zusammengetragen, wie der Alltag damals in Köln aussah. Die Zeit wurde für mich immer lebendiger, und ich begann, mir meine Großeltern damals in der Kölner Südstadt vorzustellen. Sie waren ja ein Teil dessen, was ich nun thematisierte, sie gehörten zu den Menschen, die mit der wachsenden Nazi-Begeisterung zu tun hatten. Aber wie haben sie die Hitler-Besuche in Köln erlebt? Wie haben sie über die Gewalt gegen Juden, Kommunisten und Homosexuelle gedacht? Was haben sie beobachtet, wenn sie die Severinstraße entlanggingen? SA-Männer in den Hauseingängen? Leider haben meine Großeltern nie darüber gesprochen.

historischen Lesestoff bei Weltbild entdecken

Können wir davon ausgehen, dass wir – Kinder und Enkel – oft nur die halbe Wahrheit darüber kennen, was unsere Familien während des Nazi-Regimes erlebt haben?

Annette Wieners: Wir kennen häufig sogar noch viel weniger. Mein Großvater war schon früh in der NSDAP, das habe ich herausfinden können. Er selbst hat es leider nie erwähnt oder gar erklärt, und dieses Schweigen gibt es sehr häufig in den Familien. Trotzdem sollte man nicht annehmen, dass es dabei immer um einen Akt der Vertuschung oder Verdrängung geht. Ein anderes Mitglied meiner Familie hat sich beispielsweise in den letzten Kriegsmonaten als Jugendlicher selbst verletzt, um nicht zur Wehrmacht eingezogen zu werden. Hintergrund war nicht nur seine Angst vor der Front, sondern auch eine tiefe Abneigung gegen die Nazis – die sich bis heute gehalten hat. Trotzdem durfte die Verletzung in unserer Familie nie thematisiert werden, weil der Krieg die betreffende Person traumatisiert hat.

Wird heute noch genug nachgefragt und Interesse gezeigt an der Vergangenheit?

Annette Wieners: Das Interesse wächst derzeit wieder, aber es könnte eigentlich noch größer sein. Die Kriegsjahrgänge sterben, und es wird eiliger, wenn man noch Berichte aus erster Quelle hören will. Außerdem sind die geburtenstarken Jahrgänge aus den 1960er-Jahren in einem Alter, in dem sie nicht mehr nur nach vorne gucken (Karriere, Kinder, Sparbuch), sondern auch zurück. Wo komme ich her, und warum bin ich, verdammt noch mal, so geworden, wie ich bin? Die Eltern – ihre oft schwierigen Lebenswege – haben großen Einfluss auf uns. Es ist wichtig, der Sache auf den Grund zu gehen, solange es noch möglich ist.

„Das Mädchen aus der Severinstraße“ spielt in Köln – welche Verbindung haben Sie zu Köln und warum war es der passende Schauplatz fürs Buch?

Annette Wieners: Ich lebe in Köln und mag diese Stadt sehr. In Köln haben auch meine Großeltern gelebt, meine Großmutter ist in der Südstadt aufgewachsen, und meine Mutter wurde hier geboren. Ich selbst habe zwar die ersten Lebensjahre in Paderborn verbracht, aber Köln war für mich immer ein Sehnsuchtsort. Ich empfand die Stadt so, wie meine Großeltern in meinen Augen waren: offen und fröhlich. Als ich für den Roman dann die Vergangenheit umgrub, bekam das Bild einige Schatten. Köln hatte durch seine geografische Lage, die Nähe zu Frankreich, eine besondere Bedeutung für die NS-Regierung. Also wurden die Kölner von den Nazis auch besonders umworben – leider mit Erfolg. Diese widerstreitenden Gefühle in mir, die Zuneigung zum Rheinland und die gleichzeitige Abneigung gegen das, was ich als Kölner Geltungsdrang bezeichnen würde, sind in den Roman eingeflossen und haben die Geschichte farbig gemacht.

Sie sind nicht nur Schriftstellerin, sondern arbeiten auch beim WDR und sind Radio-Fachfrau für aktuelle Themen. Wie passt das zu Ihren Romanen?

Annette Wieners: Alles dreht sich um die Sprache. Wenn ich im Radio moderiere oder Interviews führe, will ich präzise sein, und auch beim Schreiben meiner Romane lege ich jedes Wort auf die Goldwaage. Als Schriftstellerin kreiere ich meine Texte natürlich im Rahmen einer künstlerischen Arbeit, ich bringe Fiktion und Realität in lebendigen Geschichten zusammen. Dazu recherchiere ich sehr viel, um beim Schreiben das Gefühl zu bekommen, dass die Geschichten wirklich so passiert sind – oder passiert sein könnten. Ein solches Vorgehen kann unerwartete Folgen haben: Nachdem ich „Das Mädchen aus der Severinstraße“ beendet hatte, war noch so viel Recherchematerial übrig, dass ich beschloss, einen Podcast zum Buch zu machen. So etwas hat es bisher noch nicht gegeben, einen Podcast als Bonus-Track für einen Roman, aber für mich ist es die ideale Möglichkeit, meine Erfahrung als Radiojournalistin und als Schriftstellerin zusammenzubringen. Ich präsentiere Romanausschnitte, die ich mit historischen Original-Tönen abmische, außerdem schildere ich meine Erlebnisse während der Recherche zum Buch. Sie können den Podcast überall im Internet hören oder über eine App auf dem Handy oder auf meiner Homepage: www.annette-wieners.de