28 Tage lang
Ausgezeichnet mit dem Buxtehuder Bullen 2014
Der neue Roman des Bestsellerautors!
Warschau 1942:
Die sechzehnjährige Mira schmuggelt Lebensmittel, um im Warschauer Ghetto zu überleben. Als sie erfährt, dass die gesamte Ghettobevölkerung in...
Warschau 1942:
Die sechzehnjährige Mira schmuggelt Lebensmittel, um im Warschauer Ghetto zu überleben. Als sie erfährt, dass die gesamte Ghettobevölkerung in...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „28 Tage lang “
Der neue Roman des Bestsellerautors!
Warschau 1942:
Die sechzehnjährige Mira schmuggelt Lebensmittel, um im Warschauer Ghetto zu überleben. Als sie erfährt, dass die gesamte Ghettobevölkerung in Konzentrationslager deportiert und schießlich umgebracht werden soll, sucht sie nach einem Weg, um ihr Leben und das ihrer Familie zu retten.
Sie kommt in Kontakt mit jungen Menschen, die etwas Unvorstellbare planen: einen Aufstand gegen die Besatzer. Mira schließt sich dem Widerstand an. Der kann der übermächtigen SS länger trotzen als vermutet. Viel länger. Ganze 28 Tage.
28 Tage, in denen Mira sich entscheiden muss, wem ihr Herz gehört: Amos, der noch möglichst viele Nazis mit in den Tod nehmen will - oder Daniel, der sich um die Waisen in den Bunkern kümmert.
28 Tage, in denen Mira Momente von großer Menschlichkeit erlebt - aber auch von großem Verrat, Leid und Glück. 28 Tage, um ein ganzes Leben zu leben... um die wahre Liebe zu finden... um eine Legende zu werden.
"Dieses Buch ist mein Herzensprojekt."
David Safier
Warschau 1942:
Die sechzehnjährige Mira schmuggelt Lebensmittel, um im Warschauer Ghetto zu überleben. Als sie erfährt, dass die gesamte Ghettobevölkerung in Konzentrationslager deportiert und schießlich umgebracht werden soll, sucht sie nach einem Weg, um ihr Leben und das ihrer Familie zu retten.
Sie kommt in Kontakt mit jungen Menschen, die etwas Unvorstellbare planen: einen Aufstand gegen die Besatzer. Mira schließt sich dem Widerstand an. Der kann der übermächtigen SS länger trotzen als vermutet. Viel länger. Ganze 28 Tage.
28 Tage, in denen Mira sich entscheiden muss, wem ihr Herz gehört: Amos, der noch möglichst viele Nazis mit in den Tod nehmen will - oder Daniel, der sich um die Waisen in den Bunkern kümmert.
28 Tage, in denen Mira Momente von großer Menschlichkeit erlebt - aber auch von großem Verrat, Leid und Glück. 28 Tage, um ein ganzes Leben zu leben... um die wahre Liebe zu finden... um eine Legende zu werden.
"Dieses Buch ist mein Herzensprojekt."
David Safier
Lese-Probe zu „28 Tage lang “
28 Tage lang von David Safier 1
Sie hatten mich entdeckt.
Die Hyänen hatten mich entdeckt!
Und sie hefteten sich an meine Fersen.
Das spürte ich instinktiv. Ohne sie gesehen oder gehört zu haben. So wie ein Tier spürt, dass es in großer Gefahr ist, selbst wenn es den Feind in der Wildnis noch gar nicht erblickt hat. Dieser Markt, dieser für die Polen ganz gewöhnliche Markt, auf dem sie ihr Gemüse, ihr Brot, ihren Speck, ihre Kleidung, ja, sogar ihre Rosen kauften, war für Menschen wie mich die Wildnis. Eine, in der ich als Beute galt. Eine, in der ich sterben konnte, wenn man herausfand, wer oder besser gesagt was ich wirklich war.
Jetzt nur nicht schneller werden, dachte ich mir. Oder langsamer. Oder die Richtung wechseln. Schon gar nicht zu meinen Verfolgern schauen. Noch nicht mal unregelmäßig atmen. Nichts tun, was ihren Verdacht bestätigt.
Es fiel mir unglaublich schwer, einfach so weiter über den Markt zu schlendern, als genösse ich die Sonne dieses überraschend warmen Frühlingstages. Alles in mir wollte weglaufen, aber dann wäre den Hyänen klar gewesen, dass ihr Verdacht stimmte. Dass ich keine normale Polin war, die gerade ihre Einkäufe erledigt hatte und ihre vollen Taschen nun zu den Eltern nach Hause trug, sondern eine Schmugglerin.
Ich hielt kurz inne, prüfte zum Schein die Äpfel an dem Stand einer Bäuerin und überlegte, ob ich mich nicht vielleicht doch umschauen sollte. Immerhin konnte es ja sein, dass ich mir alles nur einbildete, dass mich doch niemand verfolgte. Doch jede Faser meines Körpers wollte fliehen. Und ich hatte schon vor langer Zeit gelernt, meinen Instinkten zu vertrauen. Sonst hätte ich es wohl nicht geschafft, sechzehn Jahre alt zu werden.
... mehr
Ich entschied mich gegen eine Flucht und ging langsam weiter. Die alte Bäuerin, die widerlich dick war - sie hatte anscheinend nicht nur genug, sondern sogar zu viel zu essen - krächzte mir hinterher: „Das sind die besten Äpfel von ganz Warschau!"
Ich verriet ihr nicht, dass für mich jeder Apfel großartig war. Für die meisten Menschen, die innerhalb der Mauern leben mussten, wäre selbst ein angefaulter Apfel ein Genuss gewesen. Noch mehr die Eier, die ich in meinen Taschen trug, die Pflaumen und erst Recht die Butter, die ich auf unserem Schwarzmarkt für viel Geld verkaufen würde.
Wenn ich jedoch überhaupt eine Chance haben wollte, hinter die Mauern zurückzukehren, musste ich erst einmal herausfinden, wie viele Verfolger ich hatte. Ganz sicher konnten sie ihrer Sache ja nicht sein, denn sonst hätten sie mich schon längst angehalten. Ich musste mich endlich nach ihnen umsehen. Irgendwie. Unauffällig. Ohne noch mehr Verdacht zu erregen.
Mein Blick fiel auf das Kopfsteinpflaster unter meinen Füßen, ein paar Meter vor mir war ein Kanalgitter, und mir kam eine Idee. Erstmal ging ich ganz normal weiter. Dabei klackerten die Absätze meiner blauen Schuhe auf das Kopfsteinpflaster, die so wunderbar zu dem blauen Kleid mit den roten Blumen passten. Immer wenn ich schmuggelte, trug ich diese Sachen, die mir meine Mutter geschenkt hatte, als wir noch Geld hatten. Alle anderen Anziehsachen, die ich besaß, waren inzwischen schäbig, einige gar unzählige Male gestopft. Hätte ich sie getragen, könnte ich keine fünf Meter weit über den Markt gehen ohne aufzufallen. Doch dieses Kleid und diese Schuhe, die ich hütete wie meinen Augapfel, waren meine Arbeitskleidung, meine Tarnung, meine Rüstung.
Ich ging direkt auf das Kanalgitter zu und verfing mich absichtlich mit dem Absatz darin. Ich knickte leicht um, fluchte theatralisch „Au Mist, verdammter!", stellte meine Taschen ab und beugte mich runter, um den Absatz, der zwischen zwei Gitterstäben steckte, zu befreien. Dabei blickte ich mich verstohlen um und sah sie: Die Hyänen.
Mein Instinkt hatte nicht getrogen. Das tat er leider nie. Oder dankenswerterweise, je nach Sichtweise.
Es waren drei Männer. Ein kleiner unrasierter Stämmiger mit brauner Lederjacke und grauer Schlägermütze ging voran. Der war so um die vierzig und offensichtlich der Anführer. Ihm folgten ein großer Bärtiger, der aussah als könne er Felsbrocken werfen, und ein Junge in meinem Alter. Er trug ebenfalls Lederjacke und Schlägermütze, sah aus wie eine kleine Version des Anführers. War der womöglich sein Vater? Jedenfalls ging der Junge nicht zur Schule, sonst würde er sich ja nicht vormittags auf dem Markt herumtreiben, um auf Menschenjagd zu gehen.
Verrückt, innerhalb der Mauern durften wir nicht mehr zur Schule gehen, weil die Deutschen uns jeglichen Unterricht verboten. Es gab zwar noch illegale Schulen im Untergrund, aber nicht für alle, und ich besuchte sie schon lange nicht mehr. Ich hatte nun mal eine Familie durchzubringen.
Dieser polnische Junge jedoch durfte lernen, könnte was aus sich machen, wollte es aber nicht. Es brachte ja auch eine Menge Geld ein, mit so einer Bande von Schmaltzovniks, wie wir diese Hyänen nannten, auf die Jagd nach Juden zu gehen und sie gegen eine Belohnung an die Deutschen auszuliefern. Es machte den Schmaltzovniks, von denen es so viele in Warschau gab, auch nichts aus, dass die Deutschen jeden Illegalen, der jenseits der Mauern gefasst wurde, erschossen.
In diesem Frühjahr 42 galt die Todesstrafe für alle, die sich unerlaubt im polnischen Teil der Stadt aufhielten. Und der Tod war noch nicht mal das Schlimmste, es kursierten die furchtbarsten Geschichten, wie die Deutschen ihre Gefangenen folterten, bevor sie sie an die Wand stellten. Egal, ob Mann, Frau oder Kind. Ja, manchmal quälten sie sogar Kinder zu Tode. Allein der Gedanke an so ein Foltergefängnis schnürte mir die Kehle zu. Aber noch war ich nicht geschlagen, gefoltert und erschossen. Noch war ich am Leben! Und ich musste es bleiben. Für meine kleine Schwester Hannah.
Es gab keinen Menschen auf der Erde, den ich so sehr liebte wie dieses kleine zarte Wesen. Hannah war durch die schlechte Ernährung viel zu klein für ihre zwölf Jahre und sie wäre eigentlich unscheinbar wie ein kleiner Schatten, wären da nicht ihre Augen. Die waren so groß, so wach, so neugierig und hätten verdient, etwas anderes zu sehen als den Alptraum innerhalb der Mauern.
In diesen Augen leuchtete die Kraft einer unglaublichen Phantasie. In der Szukult-Untergrundschule war sie zwar in allen Fächern, von Mathematik über Biologie bis Geographie, mäßig bis schlecht, aber wenn es um Geschichten ging, die sie in den Pausen den anderen Kindern erzählte, machte ihr niemand was vor: Sie fabulierte von der Waldläuferin Sarah, die ihren geliebten Prinzen Josef aus den Klauen des Dreiköpfigen Drachens befreite, von dem Hasen Marek, der für die Alliierten den Krieg gewann, und von dem Ghettojungen Hans, der Steine zum Leben erwecken konnte, dies aber nicht so gerne machte, weil die Steine so griesgrämig waren. Für jeden, der Hannah zuhörte, wurde die Welt bunter und schöner.
Wer nur sollte für die Kleine sorgen, wenn ich mich hier erwischen ließ?
Gewiss nicht meine Mutter. Sie war so gebrochen, dass sie das kleine schäbige Loch, das wir bewohnten, nicht mehr verließ. Und erst recht nicht mein Bruder. Der war viel zu sehr damit beschäftigt an sich selbst zu denken.
Ich blickte von den Schmaltzovniks weg, zog meinen Absatz aus dem Gitter und berührte kurz mit der Hand das Kopfsteinpflaster. Oft, wenn mich die Angst überwältigt, berühre ich die Oberfläche von etwas, um mich zu beruhigen: Von Metallen, Steinen, Stoffen - egal, Hauptsache ich merke, dass es noch etwas anderes auf dieser Welt gibt als meine Furcht.
Der helle Stein, auf dem meine Hand für eine Sekunde lag, war ganz warm von den Sonnenstrahlen. Ich atmete tief durch, griff nach meinen Taschen und ging weiter.
Die Schmaltzovniks verfolgten mich, das wusste ich. Ich konnte ihre schneller werdenden Schritte deutlich hören, dabei gab es hier auf dem Markt noch so viele andere Geräusche: die Stimmen der Händler, die ihre Waren anpriesen, die Käufer, die über die Preise feilschten, Vogelgezwitscher oder der Lärm von Autos, die auf der Straße hinter dem Markt entlangfuhren.
Menschen schlenderten im gemächlichen Tempo an mir vorbei. Ein junger blonder Mann im grauen Anzug, wie ihn viele polnische Studenten trugen, pfiff fröhlich ein Liedchen vor sich hin. All das nahm ich zwar wahr, aber irgendwie traten diese Geräusche in den Hintergrund. Laut hörte ich nur meinen Atem, der hektischer wurde, obwohl ich kein bisschen schneller ging, und mein Herz, das von Sekunde zu Sekunde schneller pochte. Am lautesten aber hörte ich die Schritte meiner Verfolger.
Sie kamen näher.
Immer, immer näher.
Bald hätten sie mich eingeholt und würden mich stellen. Wahrscheinlich würden sie versuchen mich zu erpressen, all mein Geld verlangen für das Versprechen mich nicht auszuliefern. Und wenn ich sie bezahlt hätte, würden sie mich dennoch verraten und von den Nazis zusätzlich das Kopfgeld kassieren.
Mir war schon lange klar, dass so etwas früher oder später passieren würde, eigentlich seit ich mit dem Schmuggeln angefangen hatte. Das war wenige Wochen, nachdem Papa sich überlegt hatte, uns im Stich zu lassen. Wir besaßen kein Geld mehr, um auf dem Schwarzmarkt Essen zu kaufen, und die Ration, die die Deutschen uns zuteilten, betrug pro Person gerade mal 360 Kalorien am Tag. Außerdem war das, was man uns Juden bei den Essensaugaben aushändigte, oftmals auch noch verdorben. Alles, was für die deutschen Soldaten an der Ostfront zu schlecht war, ging an uns. Verrottete Rüben, schlechte Eier oder gefrorene Kartoffeln, die man nicht mehr kochen konnte und aus denen man mit ein bißchen Geschick gerade noch so genießbare Puffer machen konnte. An manchen Tagen im letzten Winter roch das ganze Ghetto nach diesen Kartoffelpuffern.
Wenn ich wollte, dass meine Familie zu Essen hatte, musste ich also etwas unternehmen. Meine Freundin Ruth verkaufte ihren Körper im Britannia-Hotel und hatte mir angeboten, mich zu vermitteln, selbst wenn ich, wie sie grinsend anmerkte, eher eine knabenhafte Figur besaß. Doch bevor ich so etwas machte, setzte ich lieber mein Leben als Schmugglerin aufs Spiel.
Für den Fall, dass ich von den Schmaltzovniks erwischt würde, hatte ich mir eine Geschichte zurecht gelegt: Ich wäre Dana Smuda, eine polnische Schülerin, die in einem anderen Stadtteil Warschaus wohnt, aber hier immer gerne einkauft, weil es nur auf diesem Markt diesen einen besonders süßen Blätterteigkuchen mit der großartigen Apfelfüllung gab. Dass meine erlogene Adresse weit weg lag, war wichtig, denn sonst würden die Hyänen mich direkt zu meinem angeblichen Zuhause führen und merken, dass ich log. Um meine Geschichte notfalls beglaubigen zu können, kaufte ich auf dem Markt jedes Mal ein Stück von dem Kuchen und legte es in meine Tasche.
Bei meinen Ausflügen trug ich um den Hals auch immer eine Kette mit dem Kreuz Jesu. Zudem hatte ich viele christliche Gebete auswendig gelernt, damit ich mich als gute Katholikin ausgeben konnte. Gebete wie Rosenkranz, Sanctus oder Magnificat: „Meine Seele preißet die Größe des Herrn und mein Geist jubelt über Gott ..." - als ob ein gesunder Geist in diesen Zeiten über Gott jubeln könnte.
Wenn der auf einer Bühne vor mir stünde, würde ich ihn mit Eiern bewerfen. Auch wenn sie im Ghetto sehr viel Geld kosteten. Ich glaubte nicht an Religion. Nicht an Politik. Und erst Recht nicht an die Erwachsenen. Ich glaubte nur ans Überleben.
„Halt!", rief einer meiner Verfolger, vermutlich gehörte die Stimme dem Anführer der Bande.
Ich tat so, als ob er nicht mich meinte. Ich war ja ein ganz normales polnisches Mädchen, wieso sollte ich mich da umdrehen, wenn ein Wildfremder „Halt!" ruft?
In meinen Gedanken ging ich noch mal hastig alles durch: Ich war Dana Smuda, wohnte in der Miodawa Straße 23, liebte
Blätterteigkuchen...
Die Hyänen schnitten mir den Weg ab und bauten sich vor mir auf.
„Na, machst du einen kleinen Ausflug auf die andere Seite, Judenschlampe?", fragte der Anführer.
„Was?", fragte ich gespielt irritiert. Es war jetzt überlebenswichtig, nicht ängstlich dreinzuschauen.
„Zweitausend Zloty oder wir liefern dich an die Gestapo aus", antwortete der Anführer, während sein Sohn - es musste sein Sohn sein, die beiden hatten die gleiche leicht geduckte Körperhaltung - mich von oben bis unten musterte, als ob er einerseits von mir, der Jüdin, angewidert war, andererseits sich in seinem dreckigen Hirn vorstellte, wie ich wohl ohne mein Kleid aussehen würde.
„Das ist ein einmaliges Angebot: Zweitausend und wir lassen dich in Ruhe."
Mit einem Male spürte ich Schweiß an meinem Nacken. Es war kein gewöhnlicher Schweiß, einer, den man schon mal bekam, weil die Sonne gegen Mittag stärker schien. Nein, es war Angstschweiß. Der, der so beißend riecht, und von dem ich, weil ich so behütet aufgewachsen war, vor wenigen Jahren noch gar nicht wusste, dass es ihn gab.
Solange mir der Schweiß lediglich am Nacken und unter den Achseln runter lief, war er noch nicht verräterisch, aber er dufte mir auf keinen Fall auf die Stirn treten. Diese Hyänen erkannten jedes noch so kleine Zeichen der Schwäche.
„Hast du nicht verstanden, Judenhure?"
Ich brachte kein Wort raus.
In diesem Augenblick verstand ich, warum Menschen in so einer Lage Verbrechern all ihr Geld gaben, selbst wenn sie eigentlich wussten, dass sie danach dennoch ausgeliefert wurden. Sie
klammerten sich an die absurde Hoffnung, dass die Schmaltzovniks sich an den von ihnen vorgeschlagenen Handel halten würden. Hätte ich so viel Geld, vermutlich hätte ich auch sofort zugegeben, dass ich eine Jüdin war, und es ihnen gegeben. Aber ich hatte noch nie so viel besessen. Daher rang ich mir ein Lächeln ab und sagte: „Das ist ein Irrtum."
„Verkauf uns nicht für dumm", zischte der Anführer. Er war seiner Sache ganz sicher.
Instinktiv wusste ich, dass meine hübsch zurecht gelegte Geschichte ihn nicht überzeugen würde. Seinen Sohn und den grobschlächtigen großen Kerl hätte ich damit vielleicht täuschen können, aber nicht ihn. Er hatte bestimmt schon viele Juden in den letzten Jahren aufgespürt und garantiert noch bessere Lügengeschichten gehört als meine von der Schülerin mit dem Blätterteigkuchen. Viel bessere. Und sicher hatte er auch genug Ketten mit Jesus-Kreuzen gesehen.
Meine Lügen würden nichts bringen. Rein gar nichts. Wie hatte ich nur so naiv sein können, so schlecht vorbereitet? Wegen mir würde meine Mutter in unserem Zimmer in der Mila-Straße 70 in wenigen Wochen verenden, und Hannah würde auch nicht viel länger am Leben bleiben. Vielleicht würde sie sich als Bettlerin auf den Straßen des Ghettos durchschlagen, das könnte eine Weile gut gehen. Aber spätestens wenn der Winter kam, erfroren die bettelnden Kinder in den Nächten.
Ich durfte nicht zulassen, dass Hannah das passiert. Auf gar keinen Fall!
Ich besann mich darauf, dass die Kette und meine Lügen nicht alles waren, was mir helfen konnte. Ich hatte noch etwas, auf das ich setzen konnte: Ich sah nicht allzu jüdisch aus.
Sicher, ich hatte dunkle Haare wie die meisten Jüdinnen - aber auch wie viele Polinnen. Dafür hatte ich eine kleine Stupsnase und vor allen Dingen etwas, das so überhaupt nicht zum Bild einer Jüdin passte: grüne Augen.
Mein Freund Daniel hatte mir mal in einem seiner wenigen romantischen Augenblicke gesagt, sie sähen aus wie zwei Bergseen, die in der Sonne funkelten. Ich selbst hatte in meinem ganzen Leben noch keinen Bergsee gesehen, von daher wusste ich nicht, ob sie wirklich grün funkeln. Und ich würde es vermutlich auch nie herausfinden.
Immer wenn mir Menschen in die Augen sehen, werden sie unsicher. Aus der Ferne konnte man mich für eine Polin halten oder für eine Jüdin. Von nahem aber machte mich die Farbe meiner Augen zu etwas seltenem auf beiden Seiten der Mauer.
Ich kämpfte gegen meine Angst an und sah den Anführer der Schamltzovniks direkt in die Augen. Das Grün irritierte ihn. Und dann tat ich etwas völlig Irres, ohne vorher darüber nachzudenken: Ich lachte. Lauthals. Die wenigen Menschen, die mich gut kennen, wissen, dass ich fast nie lache und wenn, dann garantiert nicht so. Für die Schmaltzovniks aber klang es echt, und es verunsicherte sie noch mehr.
Dann spottete ich: „Ihr liegt ja so daneben."
Ich schob mich an den verdutzten Männern vorbei, die ganz offensichtlich noch nie von einer, die sie für eine Judenschlampe hielten, ausgelacht worden waren, und ging mit meinen Taschen einfach weiter. Es war kaum zu glauben: Ich schien mit meiner Frechheit tatsächlich durchzukommen. Beinahe hätte ich gegrinst.
Doch mit einem Male rannte der kleine Anführer los, gefolgt von den anderen beiden und schnitt mir erneut den Weg ab. Mir stockte der Atem, noch mal frech zu lachen, würde mir nicht gelingen.
„Du bist eine Jüdin, das riech ich genau", blaffte der Mann und schob sich dabei die Mütze etwas in den Nacken: „Ich bin der Beste, wenn es darum geht, euch Ungeziefer aufzuspüren."
„Der Allerbeste", sagte der Junge stolz.
Ja, da war jemand stolz darauf, dass sein Vater Menschen erpresste und in den Tod schickte.
Es war so ungerecht: Mein Vater hatte die Menschen geheilt, Polen, Juden, egal wen. Sogar einen deutschen Soldaten, der in den letzten Tagen des Einmarsches in unserer Straße angeschossen wurde, hatte er versorgt. Doch egal wie viele Menschen er auch gerettet hatte, wie angesehen er als Arzt auch gewesen war, jetzt wo wir ihn am meisten brauchten, war mein Vater nicht für uns da und ich konnte nicht mal ansatzweise stolz auf ihn sein.
„Hört auf mich zu belästigen", drohte ich wütend, „oder ich hole die Polizei!"
Den Jungen und den bärtigen Riesen beeindruckte ich mit meiner leeren Drohung. Die polnische Polizei mochte die Schmaltzovniks nicht, sie waren Konkurrenten, wenn es darum ging mit Juden, die sich illegal auf der arischen Seite rumtrieben, Kopfgeld zu verdienen. Und wenn Schmaltzovniks zu allem Überfluss sogar noch unschuldige polnische Mädchen drangsalierten, das wusste die Kerle hier auch, würden sie richtig Ärger bekommen.
Doch der Anführer ließ sich nicht einschüchtern. Er starrte nur in meine Augen, deren Grün ihn nicht mehr von seinem Verdacht abbringen konnte und versuchte Unsicherheit ihn ihnen zu entdecken, irgendein noch so kleines Flackern.
Ich hielt seinem Blick stand. Mit aller Macht.
„Ich meine es ernst", wiederholte ich.
„Nein, das tust du nicht", erwiderte er seelenruhig.
„Und wie!"
„Dann lass uns gemeinsam zur Polizei gehen", schlug er vor und zeigte auf einen Polizisten in blauer Uniform, der am Stand der dicken alten Frau in einen Apfel biss und die Miene säuerlich verzog, weil der Apfel wohl nicht halb so gut war wie versprochen.
Was sollte ich nur tun? Wenn ich zu dem Polizisten ging, war ich verloren. Wenn ich nicht ging, ebenso. Jetzt trat mir der Angstschweiß auch noch auf die Stirn. Der Anführer sah die Schweißperlen und lächelte. Weiteres Lügen war sinnlos.
Wieder hörte ich den Studenten pfeifen. Ich würde bald sterben, spätestens morgen würde ich an die Wand gestellt. Meine Mutter und meine kleine Schwester würden ohne mich nicht überleben. Und der Kerl pfiff fröhlich eine kleine Melodie!
Sollte ich jetzt wegrennen? Ich hätte kaum eine Chance zu entkommen. Selbst wenn ich trotz meiner Absätze schneller gewesen wäre als die Schmaltzovniks, würden sie rufen und schreien und unter diesen ganzen Menschen, die auf dem Markt ihre Besorgungen erledigten, würde es genug Judenhasser geben, die mich festhielten. So viele Polen verabscheuten uns. Sie wollten zwar ohne die Besatzung der Deutschen leben, aber sie waren dankbar, dass sie ihnen die Juden vom Hals schafften.
Sogar für den komplett unwahrscheinlichen Fall, dass ich allen auf dem Markt entkommen könnte, würde ich es nie im Leben unbemerkt zurück zur Mauer schaffen, um ins Ghetto zu gelangen. Wegrennen war also zwecklos. Und doch war es meine einzige Chance. Ich wollte gerade die Taschen mit meiner wertvollen Ware zu Boden werfen und um mein Leben laufen, da sah ich vor meinen
Augen plötzlich eine Rose.
Es war wirklich eine Rose!
Direkt vor meinem Gesicht.
Ihr intensiver Duft verdrängte in meiner Nase sogar für einen Augenblick den beißenden Gestank meines Angstschweißes. Wann hatte ich das letzte Mal den Duft einer Rose gerochen? Im Ghetto gab es keine. Und wenn ich auf dem polnischen Markt meine Ware besorgte, hatte ich nie die Muße, um an Blumen zu schnuppern. Ich hatte noch nicht einmal daran gedacht. Und jetzt, wo ich kurz davor war, an die Deutschen ausgeliefert zu werden, hielt mir jemand eine Rose hin?
Es war der Student.
Er stand direkt neben mir und lächelte mich aus seinen hellen blauen Augen glücklich an, als sei ich das schönste und großartigste Wesen, das er je erblickt hatte.
Bei näherem Hinsehen sah dieser strahlende Kerl jünger aus als ein Student, eher nach siebzehn, achtzehn Jahren als nach Anfang zwanzig.
Noch bevor ich oder einer der Schmaltzovniks etwas sagen konnte, nahm er mich schwungvoll in die Arme und lachte: „Eine Rose für meine Rose!"
Ein völlig alberner Satz. Aber so überzeugt verliebt, wie er ihn vortrug, wirkte es ganz und gar nicht lächerlich.
Endlich begriff ich: Dieser Junge wollte mein Leben retten. Indem er vorspielte, dass ich seine große polnische Liebe war. War er auch ein Jude? Eher ein Pole. Er hätte mit seinen blonden Haaren,
Sommersprossen und blauen Augen sogar als Deutscher durchgehen können. Jedenfalls war er ein großartiger Schauspieler. Egal, was er auch war, er riskierte für mich - eine Wildfremde - sein Leben.
„Du bist die Rose meines Lebens!", strahlte er.
Die Hyänen wussten immer noch nicht, wie sie das hier einschätzen sollten. Würde jemand, der Liebe nur vorspielt, dies ausgerechnet auf so eine übertriebene Art und Weise tun?
Wenn ich sie überzeugen und uns beide retten wollte, musste ich auf das Spiel eingehen.
Doch ich war zu durcheinander. Ich wollte seine Rose in die Hand nehmen, aber ich war wie blockiert. Als hätte mich die Giftraupe Xala gelähmt, die sich Hannah ausgedacht hatte für ihre Geschichte von den dummen Raupen, die die Schmetterlinge hassten.
Der Junge spürte, wie verkrampft ich war und zog mich noch mehr zu sich heran. Sein Griff war fest, seine Arme viel kräftiger, als man es von so einem dünnen Kerl hätte vermuten können. Ich war immer noch nicht in der Lage zu reagieren. Vor lauter Angst und Überraschung lag ich wie eine Schaufensterpuppe in den Armen des Jungen. Um das zu überspielen, intensivierte der die Scharade noch: Mit einem Male küsste er mich.
Er küsste mich!
Seine rauen, leicht aufgesprungenen Lippen drückten sich auf meine und seine Zunge drang in meinen Mund, ganz selbstverständlich, als ob sie dies schon tausend Mal getan hatte. Mir war klar: Ich musste seinen Kuss erwidern. Das war meine letzte Chance. Wenn ich es nicht tat, war endgültig alles aus. Für uns beide.
Diese Gewissheit, garantiert zu sterben, wenn ich jetzt nicht endlich reagierte, riss mich aus meiner Verkrampfung. So küsste ich genauso leidenschaftlich zurück.
Ob mir der Kuss gefiel, konnte ich in diesem Moment gar nicht sagen.
Als der Junge wieder von mir abließ, spielte ich die Glücksselige.
„Danke für die Rose, Stefan", dachte ich mir schnell einen Namen für ihn aus.
„Ich danke dir, dass es dich gibt, Lenka", gab er mir ebenfalls einen Namen und war gewiss zutiefst erleichtert, dass ich auf sein Spiel einging.
Jetzt erst wagte ich, zu den Hyänen zu sehen. Die waren von unserer Vorstellung schwer beeindruckt. Der junge Schmaltzovnik war sogar sichtlich etwas neidisch, sicherlich hätte er auch gerne mal ein polnisches Mädchen so geküsst.
„Belästigen dich diese Kerle, etwa?", fragte Stefan, der so tat, als ob er sie das erste Mal wahrnahm.
„Sie halten mich für eine Jüdin."
Stefan sah die Männer an, als seien sie völlig verrückt geworden, auf so einen Gedanken zu kommen. Aber er lachte nicht wie ich bei meinem ersten Versuch, sie loszuwerden. Sein Gesicht verzog sich zu einer zornigen Grimasse: „Wollt ihr meine Freundin beleidigen?"
Er gab jetzt den stolzen Polen, dessen Mädchen in ihrem Ehrgefühl verletzt wurde. Jüdin? So etwas durfte man zu der Freundin eines aufrechten Polen doch nicht wagen zu sagen!
„Nein ... nein", stammelte der Anführer. Er trat einen Schritt zurück. Seine Leute taten es ihm nach.
„Doch, das wollten sie", widersprach ich in einem wütenden Tonfall. Auch wenn ich die Rolle als gekränkte Polin nur spielte, war mein Zorn auf diese Hyänen doch echt.
Stefan ballte die Faust und hob sie leicht den Schmaltzovniks entgegen. Die wichen noch etwas mehr zurück. Gewiss, sie hätten ihn einfach verprügeln können, drei gegen einen, das wäre kein Problem gewesen. Aber sie vergriffen sich nicht an Polen, das hätte ihnen nur Ärger mit der Polizei eingebracht. Sie schämten sich sogar etwas, mit ihrem Verdacht gegen mich so daneben gelegen zu haben. Zu einer Entschuldigung reichte es zwar nicht, aber der Anführer wandte sich wortlos von uns ab und bedeutete den anderen beiden Hyänen, ihm zu folgen.
Stefan nahm meine beiden schweren Taschen in eine Hand wie ein Kavalier, der seiner Freundin das Tragen abnimmt, und legte den freien Arm um mich. Verliebt begann er mit mir über den Markt zu schlendern. Dabei hielt ich seine Rose.
Für einen kurzen Augenblick bekam ich Angst, dass er sich mit meinen Sachen davonmachen könnte. Vielleicht war er ja auch ein Schmuggler. Aber würde ein gewöhnlicher Schmuggler sein Leben für einen anderen riskieren? Und selbst wenn er meine Sachen stahl, wäre das nicht ein kleiner Preis für mein Leben? Für die Möglichkeit weiter meine Familie ernähren zu können? Meine kleine Schwester durchzubringen?
„Danke", sagte ich zu ihm.
„Es war mir ein Vergnügen", lachte er, so dass man es ihm fast glaubte. Und er fügte hinzu: „Du küsst wirklich gut."
Er sagte das mit der frechen Autorität eines Jungen, der viele Mädchen und vermutlich auch viele Frauen geküsst hatte, um das auch wirklich beurteilen zu können.
„Es ging um mein Leben", erwiderte ich flüsternd, damit die Passanten es nicht hören konnten. Das war weder die Zeit noch der Ort, um von Komplimenten angetan zu sein. „Um unser Leben. Du hast deins für mich riskiert."
Ich konnte das immer noch nicht richtig glauben. In einer Welt, in der jeder nur an sich denkt, hatte jemand alles für mich aufs Spiel gesetzt.
„Ich wusste, dass es klappt", antwortete er ebenfalls leise. Dabei lächelte er nun weder gespielt, noch frech, sondern ehrlich.
„Da wusstest du mehr als ich", lächelte ich gequält.
„Es gab zwei Dinge, die dafür sprachen", erklärte er.
„Und welche?"
„Zum einen deine grüne Augen ..."
Er lachte, sie schienen ihm zu gefallen. Und ich war überrascht, dass mir das schmeichelte.
„Was war das andere?", fragte ich ihn.
„Jemand, der in diesen Zeiten schmuggelt, muss sehr, sehr flink im Kopf sein. Sonst wäre er schon längst tot. Oder sie."
Diese Anerkennung schmeichelte mir noch mehr. Sie machte mich sogar etwas stolz. Natürlich wollte ich mir das nicht anmerken lassen und so sagte ich schnell: „Flink im Kopf oder sehr, sehr verrückt."
Er lachte. Es war ein schönes, freies Lachen. Nicht so bedrückt wie das von vielen Juden. War er doch ein Pole? Nachher hieß er sogar wirklich Stefan.
„Schmuggelst du auch?", fragte ich.
Er blieb stehen, wurde ernst und zögerte etwas, ob und wie viel er mir von sich preisgeben sollte. Schließlich antwortete er: „Nicht so wie du."
Was sollte das bedeuten? Schmuggelte er für die Schwarzmarktkönige im Ghetto? War er ein polnischer Verbrecher, der diesen Leuten half?
Stefan nahm seinen Arm von mir.
„Es ist besser für dich, wenn du nicht mehr von mir weißt", sagte Stefan und wirkte plötzlich viel älter als siebzehn.
„Och, ich halt schon einiges aus", hielt ich dagegen.
„Das habe ich früher auch von mir gedacht", erwiderte er. Das freche Funkeln war jetzt komplett aus seinen Augen verschwunden. Auch wenn ich gern gewusst hätte, worüber er sprach, es ging mich nichts an. Er gab mir meine Taschen zurück. Ich war erleichtert; ich würde nicht ohne Lebensmittel ins Ghetto zurückkehren. Außerdem hätte es mich schwer getroffen, wenn mein Retter mich bestohlen hätte.
„Wir sollten uns jetzt verabschieden", sagte Stefan.
Mir gefiel das nicht. Ich hätte gerne noch mehr über ihn erfahren. Dennoch nickte ich: „Das sollten wir wohl."
Er sah mich ganz kurz wehmütig an, als ob auch er es bedauern würde, dass sich unsere Wege hier trennten. Als er sich von mir ertappt fühlte, knipste er sein Lächeln wieder an: „Wenn du zu Hause bist, musst du dich waschen."
„Was?", fragte ich erstaunt.
„Du riechst nach Angstschweiß", grinste er breit.
Ich wusste nicht, ob ich lachen sollte oder ihm eine langen. Ich entschied mich für beides.
„Aua", lachte er auf.
„Pass auf, was du sagst", antwortete ich, „es könnten sonst noch viele Auas folgen."
Er lachte noch mehr: „Ich sag es ja immer, attraktive Frauen sind eine Gefahr."
Verdammt, ich war schon wieder geschmeichelt.
Stefan gab mir noch einen frechen Kuss auf die Wange und verschwand in der Menschenmenge. Und damit womöglich für immer aus meinem Leben, ohne dass ich seinen richtigen Namen erfahren hatte oder er wusste, dass ich eigentlich Mira hieß.
Manchmal ist es im Leben ja so, dass man etwas erlebt und die Gefühle dazu einen erst viel später erreichen, wenn man zur Ruhe kommt. Ein spitzer Dorn der Rose piekste leicht in meine Fingerkuppe und mit einem Male spürte ich ganz intensiv den Kuss. Die Leidenschaft, die Stefan hineingelegt hatte. Und die, mit der ich seinen Kuss erwidert hatte.
Ich war völlig aufgewühlt. Dieser Kuss hätte gar nicht unterschiedlicher sein können zu dem ersten, den ich damals von Daniel bekommen hatte.
Daniel.
Ich fühlte mich mit einem Male schuldig. Wie konnte ich mich überhaupt von dem Kuss eines Fremden so beeindrucken lassen?
Daniel war der einzige auf der Welt, bei dem ich Kraft schöpfen konnte. Er war der anständigste Mensch, den ich kannte. Und er war immer für mich da. Im Gegensatz zu allen anderen.
Stefan würde ich wohl nie wieder sehen. Und selbst wenn ...
Daniel und ich. Wir würden zusammen nach Amerika gehen. Irgendwann. Wir würden mit Hannah über den Broadway in New York flanieren. Diese wundervolle Stadt in Farbe erleben. Ich kannte sie nur in Schwarzweiss aus den amerikanischen Filmen, die man bei uns in den Kinos hatte sehen dürfen, bevor die Nazis einmarschierten.
Daniel und ich hatten uns New York geschworen.
Ich riss mich zusammen, verdrängte alle Gefühle, die mit dem Kuss zu tun hatten. Ich schob sie auf die ganze Aufregung, auf die Lebensgefahr, in der ich mich befunden hatte und zwang mich, nicht mehr an Stefan zu denken, denn noch hatte ich den Tag nicht überlebt. Das Schwierigste lag noch vor mir. Ich musste wieder zurück ins Ghetto. Ohne von den deutschen Wachen erwischt zu werden.
© Kindler Verlag
Ich entschied mich gegen eine Flucht und ging langsam weiter. Die alte Bäuerin, die widerlich dick war - sie hatte anscheinend nicht nur genug, sondern sogar zu viel zu essen - krächzte mir hinterher: „Das sind die besten Äpfel von ganz Warschau!"
Ich verriet ihr nicht, dass für mich jeder Apfel großartig war. Für die meisten Menschen, die innerhalb der Mauern leben mussten, wäre selbst ein angefaulter Apfel ein Genuss gewesen. Noch mehr die Eier, die ich in meinen Taschen trug, die Pflaumen und erst Recht die Butter, die ich auf unserem Schwarzmarkt für viel Geld verkaufen würde.
Wenn ich jedoch überhaupt eine Chance haben wollte, hinter die Mauern zurückzukehren, musste ich erst einmal herausfinden, wie viele Verfolger ich hatte. Ganz sicher konnten sie ihrer Sache ja nicht sein, denn sonst hätten sie mich schon längst angehalten. Ich musste mich endlich nach ihnen umsehen. Irgendwie. Unauffällig. Ohne noch mehr Verdacht zu erregen.
Mein Blick fiel auf das Kopfsteinpflaster unter meinen Füßen, ein paar Meter vor mir war ein Kanalgitter, und mir kam eine Idee. Erstmal ging ich ganz normal weiter. Dabei klackerten die Absätze meiner blauen Schuhe auf das Kopfsteinpflaster, die so wunderbar zu dem blauen Kleid mit den roten Blumen passten. Immer wenn ich schmuggelte, trug ich diese Sachen, die mir meine Mutter geschenkt hatte, als wir noch Geld hatten. Alle anderen Anziehsachen, die ich besaß, waren inzwischen schäbig, einige gar unzählige Male gestopft. Hätte ich sie getragen, könnte ich keine fünf Meter weit über den Markt gehen ohne aufzufallen. Doch dieses Kleid und diese Schuhe, die ich hütete wie meinen Augapfel, waren meine Arbeitskleidung, meine Tarnung, meine Rüstung.
Ich ging direkt auf das Kanalgitter zu und verfing mich absichtlich mit dem Absatz darin. Ich knickte leicht um, fluchte theatralisch „Au Mist, verdammter!", stellte meine Taschen ab und beugte mich runter, um den Absatz, der zwischen zwei Gitterstäben steckte, zu befreien. Dabei blickte ich mich verstohlen um und sah sie: Die Hyänen.
Mein Instinkt hatte nicht getrogen. Das tat er leider nie. Oder dankenswerterweise, je nach Sichtweise.
Es waren drei Männer. Ein kleiner unrasierter Stämmiger mit brauner Lederjacke und grauer Schlägermütze ging voran. Der war so um die vierzig und offensichtlich der Anführer. Ihm folgten ein großer Bärtiger, der aussah als könne er Felsbrocken werfen, und ein Junge in meinem Alter. Er trug ebenfalls Lederjacke und Schlägermütze, sah aus wie eine kleine Version des Anführers. War der womöglich sein Vater? Jedenfalls ging der Junge nicht zur Schule, sonst würde er sich ja nicht vormittags auf dem Markt herumtreiben, um auf Menschenjagd zu gehen.
Verrückt, innerhalb der Mauern durften wir nicht mehr zur Schule gehen, weil die Deutschen uns jeglichen Unterricht verboten. Es gab zwar noch illegale Schulen im Untergrund, aber nicht für alle, und ich besuchte sie schon lange nicht mehr. Ich hatte nun mal eine Familie durchzubringen.
Dieser polnische Junge jedoch durfte lernen, könnte was aus sich machen, wollte es aber nicht. Es brachte ja auch eine Menge Geld ein, mit so einer Bande von Schmaltzovniks, wie wir diese Hyänen nannten, auf die Jagd nach Juden zu gehen und sie gegen eine Belohnung an die Deutschen auszuliefern. Es machte den Schmaltzovniks, von denen es so viele in Warschau gab, auch nichts aus, dass die Deutschen jeden Illegalen, der jenseits der Mauern gefasst wurde, erschossen.
In diesem Frühjahr 42 galt die Todesstrafe für alle, die sich unerlaubt im polnischen Teil der Stadt aufhielten. Und der Tod war noch nicht mal das Schlimmste, es kursierten die furchtbarsten Geschichten, wie die Deutschen ihre Gefangenen folterten, bevor sie sie an die Wand stellten. Egal, ob Mann, Frau oder Kind. Ja, manchmal quälten sie sogar Kinder zu Tode. Allein der Gedanke an so ein Foltergefängnis schnürte mir die Kehle zu. Aber noch war ich nicht geschlagen, gefoltert und erschossen. Noch war ich am Leben! Und ich musste es bleiben. Für meine kleine Schwester Hannah.
Es gab keinen Menschen auf der Erde, den ich so sehr liebte wie dieses kleine zarte Wesen. Hannah war durch die schlechte Ernährung viel zu klein für ihre zwölf Jahre und sie wäre eigentlich unscheinbar wie ein kleiner Schatten, wären da nicht ihre Augen. Die waren so groß, so wach, so neugierig und hätten verdient, etwas anderes zu sehen als den Alptraum innerhalb der Mauern.
In diesen Augen leuchtete die Kraft einer unglaublichen Phantasie. In der Szukult-Untergrundschule war sie zwar in allen Fächern, von Mathematik über Biologie bis Geographie, mäßig bis schlecht, aber wenn es um Geschichten ging, die sie in den Pausen den anderen Kindern erzählte, machte ihr niemand was vor: Sie fabulierte von der Waldläuferin Sarah, die ihren geliebten Prinzen Josef aus den Klauen des Dreiköpfigen Drachens befreite, von dem Hasen Marek, der für die Alliierten den Krieg gewann, und von dem Ghettojungen Hans, der Steine zum Leben erwecken konnte, dies aber nicht so gerne machte, weil die Steine so griesgrämig waren. Für jeden, der Hannah zuhörte, wurde die Welt bunter und schöner.
Wer nur sollte für die Kleine sorgen, wenn ich mich hier erwischen ließ?
Gewiss nicht meine Mutter. Sie war so gebrochen, dass sie das kleine schäbige Loch, das wir bewohnten, nicht mehr verließ. Und erst recht nicht mein Bruder. Der war viel zu sehr damit beschäftigt an sich selbst zu denken.
Ich blickte von den Schmaltzovniks weg, zog meinen Absatz aus dem Gitter und berührte kurz mit der Hand das Kopfsteinpflaster. Oft, wenn mich die Angst überwältigt, berühre ich die Oberfläche von etwas, um mich zu beruhigen: Von Metallen, Steinen, Stoffen - egal, Hauptsache ich merke, dass es noch etwas anderes auf dieser Welt gibt als meine Furcht.
Der helle Stein, auf dem meine Hand für eine Sekunde lag, war ganz warm von den Sonnenstrahlen. Ich atmete tief durch, griff nach meinen Taschen und ging weiter.
Die Schmaltzovniks verfolgten mich, das wusste ich. Ich konnte ihre schneller werdenden Schritte deutlich hören, dabei gab es hier auf dem Markt noch so viele andere Geräusche: die Stimmen der Händler, die ihre Waren anpriesen, die Käufer, die über die Preise feilschten, Vogelgezwitscher oder der Lärm von Autos, die auf der Straße hinter dem Markt entlangfuhren.
Menschen schlenderten im gemächlichen Tempo an mir vorbei. Ein junger blonder Mann im grauen Anzug, wie ihn viele polnische Studenten trugen, pfiff fröhlich ein Liedchen vor sich hin. All das nahm ich zwar wahr, aber irgendwie traten diese Geräusche in den Hintergrund. Laut hörte ich nur meinen Atem, der hektischer wurde, obwohl ich kein bisschen schneller ging, und mein Herz, das von Sekunde zu Sekunde schneller pochte. Am lautesten aber hörte ich die Schritte meiner Verfolger.
Sie kamen näher.
Immer, immer näher.
Bald hätten sie mich eingeholt und würden mich stellen. Wahrscheinlich würden sie versuchen mich zu erpressen, all mein Geld verlangen für das Versprechen mich nicht auszuliefern. Und wenn ich sie bezahlt hätte, würden sie mich dennoch verraten und von den Nazis zusätzlich das Kopfgeld kassieren.
Mir war schon lange klar, dass so etwas früher oder später passieren würde, eigentlich seit ich mit dem Schmuggeln angefangen hatte. Das war wenige Wochen, nachdem Papa sich überlegt hatte, uns im Stich zu lassen. Wir besaßen kein Geld mehr, um auf dem Schwarzmarkt Essen zu kaufen, und die Ration, die die Deutschen uns zuteilten, betrug pro Person gerade mal 360 Kalorien am Tag. Außerdem war das, was man uns Juden bei den Essensaugaben aushändigte, oftmals auch noch verdorben. Alles, was für die deutschen Soldaten an der Ostfront zu schlecht war, ging an uns. Verrottete Rüben, schlechte Eier oder gefrorene Kartoffeln, die man nicht mehr kochen konnte und aus denen man mit ein bißchen Geschick gerade noch so genießbare Puffer machen konnte. An manchen Tagen im letzten Winter roch das ganze Ghetto nach diesen Kartoffelpuffern.
Wenn ich wollte, dass meine Familie zu Essen hatte, musste ich also etwas unternehmen. Meine Freundin Ruth verkaufte ihren Körper im Britannia-Hotel und hatte mir angeboten, mich zu vermitteln, selbst wenn ich, wie sie grinsend anmerkte, eher eine knabenhafte Figur besaß. Doch bevor ich so etwas machte, setzte ich lieber mein Leben als Schmugglerin aufs Spiel.
Für den Fall, dass ich von den Schmaltzovniks erwischt würde, hatte ich mir eine Geschichte zurecht gelegt: Ich wäre Dana Smuda, eine polnische Schülerin, die in einem anderen Stadtteil Warschaus wohnt, aber hier immer gerne einkauft, weil es nur auf diesem Markt diesen einen besonders süßen Blätterteigkuchen mit der großartigen Apfelfüllung gab. Dass meine erlogene Adresse weit weg lag, war wichtig, denn sonst würden die Hyänen mich direkt zu meinem angeblichen Zuhause führen und merken, dass ich log. Um meine Geschichte notfalls beglaubigen zu können, kaufte ich auf dem Markt jedes Mal ein Stück von dem Kuchen und legte es in meine Tasche.
Bei meinen Ausflügen trug ich um den Hals auch immer eine Kette mit dem Kreuz Jesu. Zudem hatte ich viele christliche Gebete auswendig gelernt, damit ich mich als gute Katholikin ausgeben konnte. Gebete wie Rosenkranz, Sanctus oder Magnificat: „Meine Seele preißet die Größe des Herrn und mein Geist jubelt über Gott ..." - als ob ein gesunder Geist in diesen Zeiten über Gott jubeln könnte.
Wenn der auf einer Bühne vor mir stünde, würde ich ihn mit Eiern bewerfen. Auch wenn sie im Ghetto sehr viel Geld kosteten. Ich glaubte nicht an Religion. Nicht an Politik. Und erst Recht nicht an die Erwachsenen. Ich glaubte nur ans Überleben.
„Halt!", rief einer meiner Verfolger, vermutlich gehörte die Stimme dem Anführer der Bande.
Ich tat so, als ob er nicht mich meinte. Ich war ja ein ganz normales polnisches Mädchen, wieso sollte ich mich da umdrehen, wenn ein Wildfremder „Halt!" ruft?
In meinen Gedanken ging ich noch mal hastig alles durch: Ich war Dana Smuda, wohnte in der Miodawa Straße 23, liebte
Blätterteigkuchen...
Die Hyänen schnitten mir den Weg ab und bauten sich vor mir auf.
„Na, machst du einen kleinen Ausflug auf die andere Seite, Judenschlampe?", fragte der Anführer.
„Was?", fragte ich gespielt irritiert. Es war jetzt überlebenswichtig, nicht ängstlich dreinzuschauen.
„Zweitausend Zloty oder wir liefern dich an die Gestapo aus", antwortete der Anführer, während sein Sohn - es musste sein Sohn sein, die beiden hatten die gleiche leicht geduckte Körperhaltung - mich von oben bis unten musterte, als ob er einerseits von mir, der Jüdin, angewidert war, andererseits sich in seinem dreckigen Hirn vorstellte, wie ich wohl ohne mein Kleid aussehen würde.
„Das ist ein einmaliges Angebot: Zweitausend und wir lassen dich in Ruhe."
Mit einem Male spürte ich Schweiß an meinem Nacken. Es war kein gewöhnlicher Schweiß, einer, den man schon mal bekam, weil die Sonne gegen Mittag stärker schien. Nein, es war Angstschweiß. Der, der so beißend riecht, und von dem ich, weil ich so behütet aufgewachsen war, vor wenigen Jahren noch gar nicht wusste, dass es ihn gab.
Solange mir der Schweiß lediglich am Nacken und unter den Achseln runter lief, war er noch nicht verräterisch, aber er dufte mir auf keinen Fall auf die Stirn treten. Diese Hyänen erkannten jedes noch so kleine Zeichen der Schwäche.
„Hast du nicht verstanden, Judenhure?"
Ich brachte kein Wort raus.
In diesem Augenblick verstand ich, warum Menschen in so einer Lage Verbrechern all ihr Geld gaben, selbst wenn sie eigentlich wussten, dass sie danach dennoch ausgeliefert wurden. Sie
klammerten sich an die absurde Hoffnung, dass die Schmaltzovniks sich an den von ihnen vorgeschlagenen Handel halten würden. Hätte ich so viel Geld, vermutlich hätte ich auch sofort zugegeben, dass ich eine Jüdin war, und es ihnen gegeben. Aber ich hatte noch nie so viel besessen. Daher rang ich mir ein Lächeln ab und sagte: „Das ist ein Irrtum."
„Verkauf uns nicht für dumm", zischte der Anführer. Er war seiner Sache ganz sicher.
Instinktiv wusste ich, dass meine hübsch zurecht gelegte Geschichte ihn nicht überzeugen würde. Seinen Sohn und den grobschlächtigen großen Kerl hätte ich damit vielleicht täuschen können, aber nicht ihn. Er hatte bestimmt schon viele Juden in den letzten Jahren aufgespürt und garantiert noch bessere Lügengeschichten gehört als meine von der Schülerin mit dem Blätterteigkuchen. Viel bessere. Und sicher hatte er auch genug Ketten mit Jesus-Kreuzen gesehen.
Meine Lügen würden nichts bringen. Rein gar nichts. Wie hatte ich nur so naiv sein können, so schlecht vorbereitet? Wegen mir würde meine Mutter in unserem Zimmer in der Mila-Straße 70 in wenigen Wochen verenden, und Hannah würde auch nicht viel länger am Leben bleiben. Vielleicht würde sie sich als Bettlerin auf den Straßen des Ghettos durchschlagen, das könnte eine Weile gut gehen. Aber spätestens wenn der Winter kam, erfroren die bettelnden Kinder in den Nächten.
Ich durfte nicht zulassen, dass Hannah das passiert. Auf gar keinen Fall!
Ich besann mich darauf, dass die Kette und meine Lügen nicht alles waren, was mir helfen konnte. Ich hatte noch etwas, auf das ich setzen konnte: Ich sah nicht allzu jüdisch aus.
Sicher, ich hatte dunkle Haare wie die meisten Jüdinnen - aber auch wie viele Polinnen. Dafür hatte ich eine kleine Stupsnase und vor allen Dingen etwas, das so überhaupt nicht zum Bild einer Jüdin passte: grüne Augen.
Mein Freund Daniel hatte mir mal in einem seiner wenigen romantischen Augenblicke gesagt, sie sähen aus wie zwei Bergseen, die in der Sonne funkelten. Ich selbst hatte in meinem ganzen Leben noch keinen Bergsee gesehen, von daher wusste ich nicht, ob sie wirklich grün funkeln. Und ich würde es vermutlich auch nie herausfinden.
Immer wenn mir Menschen in die Augen sehen, werden sie unsicher. Aus der Ferne konnte man mich für eine Polin halten oder für eine Jüdin. Von nahem aber machte mich die Farbe meiner Augen zu etwas seltenem auf beiden Seiten der Mauer.
Ich kämpfte gegen meine Angst an und sah den Anführer der Schamltzovniks direkt in die Augen. Das Grün irritierte ihn. Und dann tat ich etwas völlig Irres, ohne vorher darüber nachzudenken: Ich lachte. Lauthals. Die wenigen Menschen, die mich gut kennen, wissen, dass ich fast nie lache und wenn, dann garantiert nicht so. Für die Schmaltzovniks aber klang es echt, und es verunsicherte sie noch mehr.
Dann spottete ich: „Ihr liegt ja so daneben."
Ich schob mich an den verdutzten Männern vorbei, die ganz offensichtlich noch nie von einer, die sie für eine Judenschlampe hielten, ausgelacht worden waren, und ging mit meinen Taschen einfach weiter. Es war kaum zu glauben: Ich schien mit meiner Frechheit tatsächlich durchzukommen. Beinahe hätte ich gegrinst.
Doch mit einem Male rannte der kleine Anführer los, gefolgt von den anderen beiden und schnitt mir erneut den Weg ab. Mir stockte der Atem, noch mal frech zu lachen, würde mir nicht gelingen.
„Du bist eine Jüdin, das riech ich genau", blaffte der Mann und schob sich dabei die Mütze etwas in den Nacken: „Ich bin der Beste, wenn es darum geht, euch Ungeziefer aufzuspüren."
„Der Allerbeste", sagte der Junge stolz.
Ja, da war jemand stolz darauf, dass sein Vater Menschen erpresste und in den Tod schickte.
Es war so ungerecht: Mein Vater hatte die Menschen geheilt, Polen, Juden, egal wen. Sogar einen deutschen Soldaten, der in den letzten Tagen des Einmarsches in unserer Straße angeschossen wurde, hatte er versorgt. Doch egal wie viele Menschen er auch gerettet hatte, wie angesehen er als Arzt auch gewesen war, jetzt wo wir ihn am meisten brauchten, war mein Vater nicht für uns da und ich konnte nicht mal ansatzweise stolz auf ihn sein.
„Hört auf mich zu belästigen", drohte ich wütend, „oder ich hole die Polizei!"
Den Jungen und den bärtigen Riesen beeindruckte ich mit meiner leeren Drohung. Die polnische Polizei mochte die Schmaltzovniks nicht, sie waren Konkurrenten, wenn es darum ging mit Juden, die sich illegal auf der arischen Seite rumtrieben, Kopfgeld zu verdienen. Und wenn Schmaltzovniks zu allem Überfluss sogar noch unschuldige polnische Mädchen drangsalierten, das wusste die Kerle hier auch, würden sie richtig Ärger bekommen.
Doch der Anführer ließ sich nicht einschüchtern. Er starrte nur in meine Augen, deren Grün ihn nicht mehr von seinem Verdacht abbringen konnte und versuchte Unsicherheit ihn ihnen zu entdecken, irgendein noch so kleines Flackern.
Ich hielt seinem Blick stand. Mit aller Macht.
„Ich meine es ernst", wiederholte ich.
„Nein, das tust du nicht", erwiderte er seelenruhig.
„Und wie!"
„Dann lass uns gemeinsam zur Polizei gehen", schlug er vor und zeigte auf einen Polizisten in blauer Uniform, der am Stand der dicken alten Frau in einen Apfel biss und die Miene säuerlich verzog, weil der Apfel wohl nicht halb so gut war wie versprochen.
Was sollte ich nur tun? Wenn ich zu dem Polizisten ging, war ich verloren. Wenn ich nicht ging, ebenso. Jetzt trat mir der Angstschweiß auch noch auf die Stirn. Der Anführer sah die Schweißperlen und lächelte. Weiteres Lügen war sinnlos.
Wieder hörte ich den Studenten pfeifen. Ich würde bald sterben, spätestens morgen würde ich an die Wand gestellt. Meine Mutter und meine kleine Schwester würden ohne mich nicht überleben. Und der Kerl pfiff fröhlich eine kleine Melodie!
Sollte ich jetzt wegrennen? Ich hätte kaum eine Chance zu entkommen. Selbst wenn ich trotz meiner Absätze schneller gewesen wäre als die Schmaltzovniks, würden sie rufen und schreien und unter diesen ganzen Menschen, die auf dem Markt ihre Besorgungen erledigten, würde es genug Judenhasser geben, die mich festhielten. So viele Polen verabscheuten uns. Sie wollten zwar ohne die Besatzung der Deutschen leben, aber sie waren dankbar, dass sie ihnen die Juden vom Hals schafften.
Sogar für den komplett unwahrscheinlichen Fall, dass ich allen auf dem Markt entkommen könnte, würde ich es nie im Leben unbemerkt zurück zur Mauer schaffen, um ins Ghetto zu gelangen. Wegrennen war also zwecklos. Und doch war es meine einzige Chance. Ich wollte gerade die Taschen mit meiner wertvollen Ware zu Boden werfen und um mein Leben laufen, da sah ich vor meinen
Augen plötzlich eine Rose.
Es war wirklich eine Rose!
Direkt vor meinem Gesicht.
Ihr intensiver Duft verdrängte in meiner Nase sogar für einen Augenblick den beißenden Gestank meines Angstschweißes. Wann hatte ich das letzte Mal den Duft einer Rose gerochen? Im Ghetto gab es keine. Und wenn ich auf dem polnischen Markt meine Ware besorgte, hatte ich nie die Muße, um an Blumen zu schnuppern. Ich hatte noch nicht einmal daran gedacht. Und jetzt, wo ich kurz davor war, an die Deutschen ausgeliefert zu werden, hielt mir jemand eine Rose hin?
Es war der Student.
Er stand direkt neben mir und lächelte mich aus seinen hellen blauen Augen glücklich an, als sei ich das schönste und großartigste Wesen, das er je erblickt hatte.
Bei näherem Hinsehen sah dieser strahlende Kerl jünger aus als ein Student, eher nach siebzehn, achtzehn Jahren als nach Anfang zwanzig.
Noch bevor ich oder einer der Schmaltzovniks etwas sagen konnte, nahm er mich schwungvoll in die Arme und lachte: „Eine Rose für meine Rose!"
Ein völlig alberner Satz. Aber so überzeugt verliebt, wie er ihn vortrug, wirkte es ganz und gar nicht lächerlich.
Endlich begriff ich: Dieser Junge wollte mein Leben retten. Indem er vorspielte, dass ich seine große polnische Liebe war. War er auch ein Jude? Eher ein Pole. Er hätte mit seinen blonden Haaren,
Sommersprossen und blauen Augen sogar als Deutscher durchgehen können. Jedenfalls war er ein großartiger Schauspieler. Egal, was er auch war, er riskierte für mich - eine Wildfremde - sein Leben.
„Du bist die Rose meines Lebens!", strahlte er.
Die Hyänen wussten immer noch nicht, wie sie das hier einschätzen sollten. Würde jemand, der Liebe nur vorspielt, dies ausgerechnet auf so eine übertriebene Art und Weise tun?
Wenn ich sie überzeugen und uns beide retten wollte, musste ich auf das Spiel eingehen.
Doch ich war zu durcheinander. Ich wollte seine Rose in die Hand nehmen, aber ich war wie blockiert. Als hätte mich die Giftraupe Xala gelähmt, die sich Hannah ausgedacht hatte für ihre Geschichte von den dummen Raupen, die die Schmetterlinge hassten.
Der Junge spürte, wie verkrampft ich war und zog mich noch mehr zu sich heran. Sein Griff war fest, seine Arme viel kräftiger, als man es von so einem dünnen Kerl hätte vermuten können. Ich war immer noch nicht in der Lage zu reagieren. Vor lauter Angst und Überraschung lag ich wie eine Schaufensterpuppe in den Armen des Jungen. Um das zu überspielen, intensivierte der die Scharade noch: Mit einem Male küsste er mich.
Er küsste mich!
Seine rauen, leicht aufgesprungenen Lippen drückten sich auf meine und seine Zunge drang in meinen Mund, ganz selbstverständlich, als ob sie dies schon tausend Mal getan hatte. Mir war klar: Ich musste seinen Kuss erwidern. Das war meine letzte Chance. Wenn ich es nicht tat, war endgültig alles aus. Für uns beide.
Diese Gewissheit, garantiert zu sterben, wenn ich jetzt nicht endlich reagierte, riss mich aus meiner Verkrampfung. So küsste ich genauso leidenschaftlich zurück.
Ob mir der Kuss gefiel, konnte ich in diesem Moment gar nicht sagen.
Als der Junge wieder von mir abließ, spielte ich die Glücksselige.
„Danke für die Rose, Stefan", dachte ich mir schnell einen Namen für ihn aus.
„Ich danke dir, dass es dich gibt, Lenka", gab er mir ebenfalls einen Namen und war gewiss zutiefst erleichtert, dass ich auf sein Spiel einging.
Jetzt erst wagte ich, zu den Hyänen zu sehen. Die waren von unserer Vorstellung schwer beeindruckt. Der junge Schmaltzovnik war sogar sichtlich etwas neidisch, sicherlich hätte er auch gerne mal ein polnisches Mädchen so geküsst.
„Belästigen dich diese Kerle, etwa?", fragte Stefan, der so tat, als ob er sie das erste Mal wahrnahm.
„Sie halten mich für eine Jüdin."
Stefan sah die Männer an, als seien sie völlig verrückt geworden, auf so einen Gedanken zu kommen. Aber er lachte nicht wie ich bei meinem ersten Versuch, sie loszuwerden. Sein Gesicht verzog sich zu einer zornigen Grimasse: „Wollt ihr meine Freundin beleidigen?"
Er gab jetzt den stolzen Polen, dessen Mädchen in ihrem Ehrgefühl verletzt wurde. Jüdin? So etwas durfte man zu der Freundin eines aufrechten Polen doch nicht wagen zu sagen!
„Nein ... nein", stammelte der Anführer. Er trat einen Schritt zurück. Seine Leute taten es ihm nach.
„Doch, das wollten sie", widersprach ich in einem wütenden Tonfall. Auch wenn ich die Rolle als gekränkte Polin nur spielte, war mein Zorn auf diese Hyänen doch echt.
Stefan ballte die Faust und hob sie leicht den Schmaltzovniks entgegen. Die wichen noch etwas mehr zurück. Gewiss, sie hätten ihn einfach verprügeln können, drei gegen einen, das wäre kein Problem gewesen. Aber sie vergriffen sich nicht an Polen, das hätte ihnen nur Ärger mit der Polizei eingebracht. Sie schämten sich sogar etwas, mit ihrem Verdacht gegen mich so daneben gelegen zu haben. Zu einer Entschuldigung reichte es zwar nicht, aber der Anführer wandte sich wortlos von uns ab und bedeutete den anderen beiden Hyänen, ihm zu folgen.
Stefan nahm meine beiden schweren Taschen in eine Hand wie ein Kavalier, der seiner Freundin das Tragen abnimmt, und legte den freien Arm um mich. Verliebt begann er mit mir über den Markt zu schlendern. Dabei hielt ich seine Rose.
Für einen kurzen Augenblick bekam ich Angst, dass er sich mit meinen Sachen davonmachen könnte. Vielleicht war er ja auch ein Schmuggler. Aber würde ein gewöhnlicher Schmuggler sein Leben für einen anderen riskieren? Und selbst wenn er meine Sachen stahl, wäre das nicht ein kleiner Preis für mein Leben? Für die Möglichkeit weiter meine Familie ernähren zu können? Meine kleine Schwester durchzubringen?
„Danke", sagte ich zu ihm.
„Es war mir ein Vergnügen", lachte er, so dass man es ihm fast glaubte. Und er fügte hinzu: „Du küsst wirklich gut."
Er sagte das mit der frechen Autorität eines Jungen, der viele Mädchen und vermutlich auch viele Frauen geküsst hatte, um das auch wirklich beurteilen zu können.
„Es ging um mein Leben", erwiderte ich flüsternd, damit die Passanten es nicht hören konnten. Das war weder die Zeit noch der Ort, um von Komplimenten angetan zu sein. „Um unser Leben. Du hast deins für mich riskiert."
Ich konnte das immer noch nicht richtig glauben. In einer Welt, in der jeder nur an sich denkt, hatte jemand alles für mich aufs Spiel gesetzt.
„Ich wusste, dass es klappt", antwortete er ebenfalls leise. Dabei lächelte er nun weder gespielt, noch frech, sondern ehrlich.
„Da wusstest du mehr als ich", lächelte ich gequält.
„Es gab zwei Dinge, die dafür sprachen", erklärte er.
„Und welche?"
„Zum einen deine grüne Augen ..."
Er lachte, sie schienen ihm zu gefallen. Und ich war überrascht, dass mir das schmeichelte.
„Was war das andere?", fragte ich ihn.
„Jemand, der in diesen Zeiten schmuggelt, muss sehr, sehr flink im Kopf sein. Sonst wäre er schon längst tot. Oder sie."
Diese Anerkennung schmeichelte mir noch mehr. Sie machte mich sogar etwas stolz. Natürlich wollte ich mir das nicht anmerken lassen und so sagte ich schnell: „Flink im Kopf oder sehr, sehr verrückt."
Er lachte. Es war ein schönes, freies Lachen. Nicht so bedrückt wie das von vielen Juden. War er doch ein Pole? Nachher hieß er sogar wirklich Stefan.
„Schmuggelst du auch?", fragte ich.
Er blieb stehen, wurde ernst und zögerte etwas, ob und wie viel er mir von sich preisgeben sollte. Schließlich antwortete er: „Nicht so wie du."
Was sollte das bedeuten? Schmuggelte er für die Schwarzmarktkönige im Ghetto? War er ein polnischer Verbrecher, der diesen Leuten half?
Stefan nahm seinen Arm von mir.
„Es ist besser für dich, wenn du nicht mehr von mir weißt", sagte Stefan und wirkte plötzlich viel älter als siebzehn.
„Och, ich halt schon einiges aus", hielt ich dagegen.
„Das habe ich früher auch von mir gedacht", erwiderte er. Das freche Funkeln war jetzt komplett aus seinen Augen verschwunden. Auch wenn ich gern gewusst hätte, worüber er sprach, es ging mich nichts an. Er gab mir meine Taschen zurück. Ich war erleichtert; ich würde nicht ohne Lebensmittel ins Ghetto zurückkehren. Außerdem hätte es mich schwer getroffen, wenn mein Retter mich bestohlen hätte.
„Wir sollten uns jetzt verabschieden", sagte Stefan.
Mir gefiel das nicht. Ich hätte gerne noch mehr über ihn erfahren. Dennoch nickte ich: „Das sollten wir wohl."
Er sah mich ganz kurz wehmütig an, als ob auch er es bedauern würde, dass sich unsere Wege hier trennten. Als er sich von mir ertappt fühlte, knipste er sein Lächeln wieder an: „Wenn du zu Hause bist, musst du dich waschen."
„Was?", fragte ich erstaunt.
„Du riechst nach Angstschweiß", grinste er breit.
Ich wusste nicht, ob ich lachen sollte oder ihm eine langen. Ich entschied mich für beides.
„Aua", lachte er auf.
„Pass auf, was du sagst", antwortete ich, „es könnten sonst noch viele Auas folgen."
Er lachte noch mehr: „Ich sag es ja immer, attraktive Frauen sind eine Gefahr."
Verdammt, ich war schon wieder geschmeichelt.
Stefan gab mir noch einen frechen Kuss auf die Wange und verschwand in der Menschenmenge. Und damit womöglich für immer aus meinem Leben, ohne dass ich seinen richtigen Namen erfahren hatte oder er wusste, dass ich eigentlich Mira hieß.
Manchmal ist es im Leben ja so, dass man etwas erlebt und die Gefühle dazu einen erst viel später erreichen, wenn man zur Ruhe kommt. Ein spitzer Dorn der Rose piekste leicht in meine Fingerkuppe und mit einem Male spürte ich ganz intensiv den Kuss. Die Leidenschaft, die Stefan hineingelegt hatte. Und die, mit der ich seinen Kuss erwidert hatte.
Ich war völlig aufgewühlt. Dieser Kuss hätte gar nicht unterschiedlicher sein können zu dem ersten, den ich damals von Daniel bekommen hatte.
Daniel.
Ich fühlte mich mit einem Male schuldig. Wie konnte ich mich überhaupt von dem Kuss eines Fremden so beeindrucken lassen?
Daniel war der einzige auf der Welt, bei dem ich Kraft schöpfen konnte. Er war der anständigste Mensch, den ich kannte. Und er war immer für mich da. Im Gegensatz zu allen anderen.
Stefan würde ich wohl nie wieder sehen. Und selbst wenn ...
Daniel und ich. Wir würden zusammen nach Amerika gehen. Irgendwann. Wir würden mit Hannah über den Broadway in New York flanieren. Diese wundervolle Stadt in Farbe erleben. Ich kannte sie nur in Schwarzweiss aus den amerikanischen Filmen, die man bei uns in den Kinos hatte sehen dürfen, bevor die Nazis einmarschierten.
Daniel und ich hatten uns New York geschworen.
Ich riss mich zusammen, verdrängte alle Gefühle, die mit dem Kuss zu tun hatten. Ich schob sie auf die ganze Aufregung, auf die Lebensgefahr, in der ich mich befunden hatte und zwang mich, nicht mehr an Stefan zu denken, denn noch hatte ich den Tag nicht überlebt. Das Schwierigste lag noch vor mir. Ich musste wieder zurück ins Ghetto. Ohne von den deutschen Wachen erwischt zu werden.
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Autoren-Porträt von David Safier
David Safier, 1966 geboren, zählt zu den erfolgreichsten Autoren der letzten Jahre. Seine Romane, darunter «Mieses Karma», «Jesus liebt mich», «Happy Family» und «MUH!» erreichten Millionenauflagen im In- und Ausland. Der erste Band seiner Krimireihe rund um die Ex-Kanzlerin gehört zu den bestverkauften Büchern des Jahres 2021. Als Drehbuchautor wurde David Safier unter anderem mit dem Grimme-Preis sowie dem International Emmy ausgezeichnet. Er lebt und arbeitet in Bremen, ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Autoren-Interview mit David Safier
Wahrheit und FiktionAus einem Gespräch mit David Safier
Von David Safier erwartet man lustige Bücher mit fantastischen Einschlag und schrägen Einfällen. Opus Nr. 6 fällt aus der Reihe - wie sind Sie auf die Idee gekommen, einen Roman über den Aufstand im Warschauer Ghetto zu schreiben?
Es ist eine Geschichte, die ich immer schreiben wollte. 1992, vor mehr als 20 Jahren, wurde ich gebeten, im Bremer Dom anlässlich des Jahrestags eine Rede über den Warschauer Ghettoaufstand zu halten. Ich war damals Mitte 20, Journalist bei Radio Bremen, und sollte etwas über junge Leute im Widerstand erzählen. Mich faszinierten, als ich mich intensiver mit dem Thema beschäftigte, die Geschichten von menschlicher Größe, aber auch von menschlicher Feigheit. Seitdem verging eigentlich kein Jahr, in dem ich nicht überlegt habe, ob und wie ich diese Geschichte literarisch erzählen kann.
Was ist das Besondere an der Geschichte?
Dass die Opfer sich gewehrt haben. Unser Bild ist: Die Juden sind, ohne Widerstand zu leisten, in die Konzentrationslager gebracht worden und wie Schlachtvieh in den Tod gegangen. In Warschau haben 1.200 Juden, größtenteils junge Menschen zwischen 13 und 29 Jahren, einen Aufstand organisiert und 28 Tage lang einer brutalen Übermacht getrotzt. Das ist schon singulär - nicht nur in der jüngsten Geschichte, sondern in der Historie überhaupt.
Warum haben sich die Juden so lange nicht gewehrt?
Die Nazis haben das perfide gemacht: Die Hoffnung wurde immer ein bisschen am Leben gehalten. Es wurde gesagt: Soundsoviele Leute werden deportiert, aber es gibt Ausnahmen, und wer über eine entsprechende Bescheinigung verfügt, wird nicht in den Osten geschickt. Und dann rennen alle los, um sich eine solche Bescheinigung zu besorgen. Eine Woche später war die Bescheinigung nichts mehr wert. Im Nachherein kann man immer sagen, das ist ja klar,
... mehr
aber die Verbrechen der Nationalsozialisten überstiegen jede Vorstellungskraft: die systematische, fabrikmäßige Ausrottung der Juden, die in die Gaskammern geschickt wurden. In dem Ghetto gab es viele Werkstätten, da wurden Flugzeugteile hergestellt, Mäntel für die Wehrmacht usw. Die Juden haben gedacht, wir sind billige Arbeitskräfte, da werden sie doch nicht, das wäre doch verrückt .... Es dauerte lange, bis alle begriffen haben: Wir werden nicht überleben. Von den 450.000 Juden im Warschauer Ghetto waren bereits 400.000 deportiert, dann war es allen klar: Wir werden nicht überleben. Erst diese bittere Einsicht gab ihnen die Kraft, irgendwann zu den Waffen zu greifen.
Vorher hatte es im Ghetto viele unterschiedliche Parteien gegeben, aber in dem Augenblick, als die Deutschen das Ghetto von den letzten dort verbliebenen Juden gesäubert haben, waren alle politischen Unterschiede obsolet. Es gab nur noch das eine Ziel, sich nicht wehrlos zur Schlachtbank führen zu lassen.
Letztlich haben die Nazis gesorgt für die politische Einigkeit. Sie haben mit ihren Rassegesetzen Menschen, die sich zuvor gar nicht als Juden verstanden haben, dazu gemacht.
Es gab einen Mafiaboss, der mit Schwarzmarktgeschäften und Prostitution viel Geld verdient hat im Ghetto. Als Jude hat er sich gar nicht betrachtet, sondern die Situation zynisch für sich ausgenutzt hat. Er hat - das wollte meine Lektorin gar nicht glauben, doch es war so - seine Bunker nach Konzentrationslagern benannt: Treblinka, Auschwitz usw. Irgendwann wurde aber selbst aus diesem Verbrecher ein Widerstandskämpfer, der den Aufständischen Unterschlupf in seinem Bunker gewährt hat.
Es war eine Extremsituation, die den Menschen Entscheidungen abverlangte. Es gibt wahren Geschichten von großer Selbstlosigkeit: Wie Menschen anderen geholfen haben, wie sie ihr eigenes Leben geopfert haben, um andere durchzubringen. Und wie es immer wieder in dem ganzen Wahnsinn auch Momente gab, in denen man Glück und Barmherzigkeit erleben konnte. In einer Nacht, mitten zwischen brennenden Gebäuden, sind die Ghettokämpfer in eine Bäckerei gegangen, haben Brot gebacken und an die Hungernden im Ghetto verteilt haben. Unter hohem persönlichen Risiko, aus reiner Menschlichkeit. Aber es gab auch Momente von großer Niedertracht. Die Judenpolizei hat den Deutschen zugearbeitet, immer in der Hoffnung, so sich selbst retten zu können. Während der Deportation haben die Deutschen den Judenpolizisten gesagt, jeder von ihnen müsse am Tag fünf Juden in die Züge treiben. Es gab Judenpolizisten, die ihre eigenen Eltern in die Züge trieben, um ihr eigenes Leben um ein paar Tage zu verlängern.
Der Roman «28 Tage lang» ist ein Werk der Fiktion, aber nicht der freien Erfindung, sondern inspiriert von wahren Geschichten.
In dem Film «Titanic» gibt es zwei fiktionale Figuren, die von Kate Winslet und Leonardo Di Capri, und sie erleben alles, was damals passiert ist. So geht es auch mit meiner Heldin. Diese Mira gab es nicht, aber alles, was ihr passiert, und alles, was im Roman geschieht, basiert auf realen Ereignissen. Ich habe diese Ansatz bewusst gewählt: Wenn ich eine Geschichte erzähle mit einer historischen Person als Protagonist, bin ich gebunden an den Ausschnitt, den sie erlebt hat. Ich musste mir eine Möglichkeit schaffen, die Themen, die mich interessieren, genauer zu exponieren. Alles, was Mira im Ghetto erlebt, wie sie am Anfang schmuggelt, bis später zu den Kampfeshandlungen, auch die Szene, wo sie sich mit den anderen Kämpfern entscheiden muss, ob man einen umbringt, damit er einen nicht verrät und Hunderte andere in den Tod gehen, alle diese Situationen gab es. Nur die Heldin ist fiktional, weil ich glaube, damit eine höhere Identifikation zu schaffen.
Die historischen Fakten, den Ablauf des Aufstands, kann man recherchieren. Emotionen sind etwas anderes - gibt es Augenzeugenberichte?
Es gibt viele Memoiren von Überlebenden, umfangreiche Sammlungen von Quellen, nicht zuletzt «Ringelblums Vermächtnis», das geheime Ghettoarchiv, das verscharrt wurde, um nicht den Deutschen in die Hände zu fallen, und später als Buch veröffentlicht wurde. Diese Berichte sind oft sehr sachlich, fast distanziert, wie die meisten Erinnerungen von Überlebenden an den Holocaust. Es war die einzige Art, wie sie darüber schreiben konnten. Dagegen versuche ich, die Emotionalität hervorzuheben; auch deshalb habe ich eine fiktive Figur gebraucht. Einer tatsächlichen Person gegenüber bin ich ganz anders verpflichtet: Ich kann ihr nichts andichten, ihr keine Emotion unterschieben, die sie nicht selbst geschildert hat. Als Romanautor habe ich versucht, mich in dieses 16jährige Mädchen hinzuversetzen. Wie ist es, Hunger zu leiden, wie ist es, andere Menschen in den Tod gehen zu sehen, wie ist es denn, Freude zu empfinden, obwohl um einen herum alles brennt. «28 Tage lang» dauert der Aufstand, aber es ist auch eine große Liebesgeschichte.
Der Roman ist der Versuch, nicht nur die Fakten zu schildern, sondern das Geschehen auch emotional dem Leser nahezubringen. Die Überlebenden sind inzwischen sehr alt oder schon gestorben. Mein Vater, Jahrgang 1915, wurde von den Nationalsozialisten verfolgt; mein Großvater ist in Buchenwald umgekommen, meine Großmutter im Ghetto von Lodz. Mütterlicherseits habe ich deutsche Vorfahren, meine Mutter ist ein deutsches Kriegskind, auf ganz andere Weise traumatisiert. Aber wir sind ja schon eine oder zwei Generationen weiter - wie kann ich die Geschichte für eine heutige Generation wieder lebendig werden lassen? Deshalb habe ich für den Roman eine Sprache gewählt, die direkt zu dem Leser führt.
Hat der Aufstand Sinn gemacht?
Diese Frage wird in dem Buch nicht eindeutig beantwortet in dem Sinn, ob es richtig oder falsch ist, zur Waffe zu greifen. Es ist eine Option, die die Menschen gewählt haben. Marek Edelmann - einer der Kämpfer, die überlebt haben - hat sinngemäß später gesagt: Damals haben wir die Leute verachtet, die in die Züge gegangen sind; als älterer Mensch weiß ich jetzt, dass viel mehr Mut dazu gehört, als zur Waffe zu greifen. Die Kämpfer selber wollen ein Fanal setzen wie damals bei Masada, wo Juden gegen die Römer Widerstand geleistet haben. Im Gründungsmythos des Staates Israel hat es eine große Rolle gespielt, dass Juden sich gewehrt haben.
Die Jugendlichen haben sich gewehrt und das nicht leichten Herzens, sondern viele erst durch den Druck der Ereignisse, angesichts des nahenden Todes. Ich hoffe, es ist im Buch nachvollziehbar beschrieben, wie ein junges Mädchen, das zunächst mit Schmuggel versucht, die Familie durchzubringen, dem Widerstand gegenüber skeptisch ist, nach und nach durch die schrecklichen Ereignisse dazu gebracht wird, selbst zu einer Waffe zu greifen, und das schildere ich nicht als Heldentat. Sondern es geht auch darum, was es bedeutet, zu einer Waffe zu greifen, was das mit einem Menschen macht. Sich zu wehren heißt in dieser Situation: jemand anderen zu töten. Es ist ein langer Weg, auch für die Heldin in meinem Roman, es verursacht Alpträume und Schuldgefühle. Aber es geht nicht um das Töten, sondern um das Leben. Und was man damit anfängt.
Das Leitmotiv dieses Romans besitzt, ganz losgelöst von der Situation „Drittes Reich" und Warschauer Ghetto, auch heute noch Gültigkeit, es handelt sich um eine universelle Frage: Was für ein Mensch willst du sein, wie würdest du dich verhalten in so einer Situation? Würdest du töten, würdest du Leben retten, würdest du dein eigenes Leben einsetzen für andere?
Es gibt im Roman eine bewegende, unglaubliche Szene. Die Juden sind In einem Kessel zusammengetrieben worden, und es findet eine Selektion statt: Das eine Tor bedeutet den Tod, das andere das Leben. Da werden auch Mütter von ihren Kindern getrennt, und eine Frau sagt: Man kann immer ein neues Kind bekommen.
Auch diese Szene habe ich in den Erinnerungen eines Überlebenden gefunden. Einige Juden haben Marken bekommen - also immer wieder dieses perfide System: Einige von euch überleben, wenn ihr die Kriterien erfüllt. Es gab Mütter, die Marken hatten, aber trotzdem darum gekämpft haben, bei ihren Kindern zu bleiben, obwohl das bedeutet hat, in den Tod zu gehen. Aber es gab auch eine Frau, die so eine Marke trug und ihr Baby abgab mit der Bemerkung, man kann doch immer noch ein neues Leben in die Welt setzen. Ob sie überlebt hat, weiß man nicht, aber an diesem Tag konnte sie weiterleben und dafür opferte sie ihr Kind.
Es gab Menschen, die sich hätten retten können. Janusz Korczak z.B., ein weltberühmter Pädagoge damals, hätte sich befreien können, hat sich aber entschlossen, mit seinen 200 Waisenkindern in den Tod zu gehen.
Im Roman gibt es auch komische Szenen. Der Ghettonarr brüllt vor dem Geschäft: «Hitler macht Liebe mit seinem Schäferhund, das geht es rund.» Allen stockt der Atem, und schnell bekommt der Mann Marmelade, damit er still ist. Vielleicht ist der Mann verrückt, aber jeden Fall funktioniert seine Masche.
Auch das ist keine erfundene Figur, Rubinstein gab es tatsächlich. Er hat sich wirklich vor Läden gestellt und über Hitler geschimpft, bis der Ladenbesitzer rauskam: Halt deine Klappe, hier hast du, was haben möchtest, aber halt bloß deine Klappe. Rubinstein hat immer Jokes gemacht und ist durchs Ghetto gehüpft mit dem Spruch: Alle gleich, alle gleich! Darüber haben selbst die deutschen Soldaten gelacht.
Vieles von dem Wahnsinn, der Größe, aber auch von dem Schrecken wirkt wie ausgedacht, ist aber real so gewesen. Ich habe mir dichterische Freiheiten genommen, was die Abläufe betrifft, etwa beim Ghettokampf einen Tag vorgezogen oder zwei zusammengelegt. Bei Korczak habe ich dieses Theaterstück hinzugedichtet, den Text erfunden und die Szene genau vor die Deportation gesetzt. Solche Dramatisierungen habe ich mir erlaubt und deshalb auch die meisten Ghettokämpfer nicht mit Namen identifiziert. Allerdings gibt es eine kleine Hommage an Marcel Reich-Ranicki und seine Frau Teofila.
Das Ende ist offen. Mira und Amos können fliehen und Rebecca retten. Wie leben die Figuren weiter?
Die Flucht von Kämpfern aus dem Ghetto gab es genauso. Einige haben als Partisanen weitergekämpft, einige haben überlebt, andere sind gestorben. Meine Heldin und der Junge, den sie liebt, entscheiden sich, nicht mehr mit der Waffe zu kämpfen, sondern sich in den Wäldern zu verstecken und sich um das Waisenkind zu kümmern. Ich hoffe natürlich, dass sich ihr Traum verwirklicht und sie mit dieser kleinen Familie nach Amerika gehen kann. Aber der Roman endet 1943 - ob sie es schaffen, kann ich nicht sagen, aber ich ende auf dieser positiven Note.
Das Gespräch führte Michael Töteberg
Vorher hatte es im Ghetto viele unterschiedliche Parteien gegeben, aber in dem Augenblick, als die Deutschen das Ghetto von den letzten dort verbliebenen Juden gesäubert haben, waren alle politischen Unterschiede obsolet. Es gab nur noch das eine Ziel, sich nicht wehrlos zur Schlachtbank führen zu lassen.
Letztlich haben die Nazis gesorgt für die politische Einigkeit. Sie haben mit ihren Rassegesetzen Menschen, die sich zuvor gar nicht als Juden verstanden haben, dazu gemacht.
Es gab einen Mafiaboss, der mit Schwarzmarktgeschäften und Prostitution viel Geld verdient hat im Ghetto. Als Jude hat er sich gar nicht betrachtet, sondern die Situation zynisch für sich ausgenutzt hat. Er hat - das wollte meine Lektorin gar nicht glauben, doch es war so - seine Bunker nach Konzentrationslagern benannt: Treblinka, Auschwitz usw. Irgendwann wurde aber selbst aus diesem Verbrecher ein Widerstandskämpfer, der den Aufständischen Unterschlupf in seinem Bunker gewährt hat.
Es war eine Extremsituation, die den Menschen Entscheidungen abverlangte. Es gibt wahren Geschichten von großer Selbstlosigkeit: Wie Menschen anderen geholfen haben, wie sie ihr eigenes Leben geopfert haben, um andere durchzubringen. Und wie es immer wieder in dem ganzen Wahnsinn auch Momente gab, in denen man Glück und Barmherzigkeit erleben konnte. In einer Nacht, mitten zwischen brennenden Gebäuden, sind die Ghettokämpfer in eine Bäckerei gegangen, haben Brot gebacken und an die Hungernden im Ghetto verteilt haben. Unter hohem persönlichen Risiko, aus reiner Menschlichkeit. Aber es gab auch Momente von großer Niedertracht. Die Judenpolizei hat den Deutschen zugearbeitet, immer in der Hoffnung, so sich selbst retten zu können. Während der Deportation haben die Deutschen den Judenpolizisten gesagt, jeder von ihnen müsse am Tag fünf Juden in die Züge treiben. Es gab Judenpolizisten, die ihre eigenen Eltern in die Züge trieben, um ihr eigenes Leben um ein paar Tage zu verlängern.
Der Roman «28 Tage lang» ist ein Werk der Fiktion, aber nicht der freien Erfindung, sondern inspiriert von wahren Geschichten.
In dem Film «Titanic» gibt es zwei fiktionale Figuren, die von Kate Winslet und Leonardo Di Capri, und sie erleben alles, was damals passiert ist. So geht es auch mit meiner Heldin. Diese Mira gab es nicht, aber alles, was ihr passiert, und alles, was im Roman geschieht, basiert auf realen Ereignissen. Ich habe diese Ansatz bewusst gewählt: Wenn ich eine Geschichte erzähle mit einer historischen Person als Protagonist, bin ich gebunden an den Ausschnitt, den sie erlebt hat. Ich musste mir eine Möglichkeit schaffen, die Themen, die mich interessieren, genauer zu exponieren. Alles, was Mira im Ghetto erlebt, wie sie am Anfang schmuggelt, bis später zu den Kampfeshandlungen, auch die Szene, wo sie sich mit den anderen Kämpfern entscheiden muss, ob man einen umbringt, damit er einen nicht verrät und Hunderte andere in den Tod gehen, alle diese Situationen gab es. Nur die Heldin ist fiktional, weil ich glaube, damit eine höhere Identifikation zu schaffen.
Die historischen Fakten, den Ablauf des Aufstands, kann man recherchieren. Emotionen sind etwas anderes - gibt es Augenzeugenberichte?
Es gibt viele Memoiren von Überlebenden, umfangreiche Sammlungen von Quellen, nicht zuletzt «Ringelblums Vermächtnis», das geheime Ghettoarchiv, das verscharrt wurde, um nicht den Deutschen in die Hände zu fallen, und später als Buch veröffentlicht wurde. Diese Berichte sind oft sehr sachlich, fast distanziert, wie die meisten Erinnerungen von Überlebenden an den Holocaust. Es war die einzige Art, wie sie darüber schreiben konnten. Dagegen versuche ich, die Emotionalität hervorzuheben; auch deshalb habe ich eine fiktive Figur gebraucht. Einer tatsächlichen Person gegenüber bin ich ganz anders verpflichtet: Ich kann ihr nichts andichten, ihr keine Emotion unterschieben, die sie nicht selbst geschildert hat. Als Romanautor habe ich versucht, mich in dieses 16jährige Mädchen hinzuversetzen. Wie ist es, Hunger zu leiden, wie ist es, andere Menschen in den Tod gehen zu sehen, wie ist es denn, Freude zu empfinden, obwohl um einen herum alles brennt. «28 Tage lang» dauert der Aufstand, aber es ist auch eine große Liebesgeschichte.
Der Roman ist der Versuch, nicht nur die Fakten zu schildern, sondern das Geschehen auch emotional dem Leser nahezubringen. Die Überlebenden sind inzwischen sehr alt oder schon gestorben. Mein Vater, Jahrgang 1915, wurde von den Nationalsozialisten verfolgt; mein Großvater ist in Buchenwald umgekommen, meine Großmutter im Ghetto von Lodz. Mütterlicherseits habe ich deutsche Vorfahren, meine Mutter ist ein deutsches Kriegskind, auf ganz andere Weise traumatisiert. Aber wir sind ja schon eine oder zwei Generationen weiter - wie kann ich die Geschichte für eine heutige Generation wieder lebendig werden lassen? Deshalb habe ich für den Roman eine Sprache gewählt, die direkt zu dem Leser führt.
Hat der Aufstand Sinn gemacht?
Diese Frage wird in dem Buch nicht eindeutig beantwortet in dem Sinn, ob es richtig oder falsch ist, zur Waffe zu greifen. Es ist eine Option, die die Menschen gewählt haben. Marek Edelmann - einer der Kämpfer, die überlebt haben - hat sinngemäß später gesagt: Damals haben wir die Leute verachtet, die in die Züge gegangen sind; als älterer Mensch weiß ich jetzt, dass viel mehr Mut dazu gehört, als zur Waffe zu greifen. Die Kämpfer selber wollen ein Fanal setzen wie damals bei Masada, wo Juden gegen die Römer Widerstand geleistet haben. Im Gründungsmythos des Staates Israel hat es eine große Rolle gespielt, dass Juden sich gewehrt haben.
Die Jugendlichen haben sich gewehrt und das nicht leichten Herzens, sondern viele erst durch den Druck der Ereignisse, angesichts des nahenden Todes. Ich hoffe, es ist im Buch nachvollziehbar beschrieben, wie ein junges Mädchen, das zunächst mit Schmuggel versucht, die Familie durchzubringen, dem Widerstand gegenüber skeptisch ist, nach und nach durch die schrecklichen Ereignisse dazu gebracht wird, selbst zu einer Waffe zu greifen, und das schildere ich nicht als Heldentat. Sondern es geht auch darum, was es bedeutet, zu einer Waffe zu greifen, was das mit einem Menschen macht. Sich zu wehren heißt in dieser Situation: jemand anderen zu töten. Es ist ein langer Weg, auch für die Heldin in meinem Roman, es verursacht Alpträume und Schuldgefühle. Aber es geht nicht um das Töten, sondern um das Leben. Und was man damit anfängt.
Das Leitmotiv dieses Romans besitzt, ganz losgelöst von der Situation „Drittes Reich" und Warschauer Ghetto, auch heute noch Gültigkeit, es handelt sich um eine universelle Frage: Was für ein Mensch willst du sein, wie würdest du dich verhalten in so einer Situation? Würdest du töten, würdest du Leben retten, würdest du dein eigenes Leben einsetzen für andere?
Es gibt im Roman eine bewegende, unglaubliche Szene. Die Juden sind In einem Kessel zusammengetrieben worden, und es findet eine Selektion statt: Das eine Tor bedeutet den Tod, das andere das Leben. Da werden auch Mütter von ihren Kindern getrennt, und eine Frau sagt: Man kann immer ein neues Kind bekommen.
Auch diese Szene habe ich in den Erinnerungen eines Überlebenden gefunden. Einige Juden haben Marken bekommen - also immer wieder dieses perfide System: Einige von euch überleben, wenn ihr die Kriterien erfüllt. Es gab Mütter, die Marken hatten, aber trotzdem darum gekämpft haben, bei ihren Kindern zu bleiben, obwohl das bedeutet hat, in den Tod zu gehen. Aber es gab auch eine Frau, die so eine Marke trug und ihr Baby abgab mit der Bemerkung, man kann doch immer noch ein neues Leben in die Welt setzen. Ob sie überlebt hat, weiß man nicht, aber an diesem Tag konnte sie weiterleben und dafür opferte sie ihr Kind.
Es gab Menschen, die sich hätten retten können. Janusz Korczak z.B., ein weltberühmter Pädagoge damals, hätte sich befreien können, hat sich aber entschlossen, mit seinen 200 Waisenkindern in den Tod zu gehen.
Im Roman gibt es auch komische Szenen. Der Ghettonarr brüllt vor dem Geschäft: «Hitler macht Liebe mit seinem Schäferhund, das geht es rund.» Allen stockt der Atem, und schnell bekommt der Mann Marmelade, damit er still ist. Vielleicht ist der Mann verrückt, aber jeden Fall funktioniert seine Masche.
Auch das ist keine erfundene Figur, Rubinstein gab es tatsächlich. Er hat sich wirklich vor Läden gestellt und über Hitler geschimpft, bis der Ladenbesitzer rauskam: Halt deine Klappe, hier hast du, was haben möchtest, aber halt bloß deine Klappe. Rubinstein hat immer Jokes gemacht und ist durchs Ghetto gehüpft mit dem Spruch: Alle gleich, alle gleich! Darüber haben selbst die deutschen Soldaten gelacht.
Vieles von dem Wahnsinn, der Größe, aber auch von dem Schrecken wirkt wie ausgedacht, ist aber real so gewesen. Ich habe mir dichterische Freiheiten genommen, was die Abläufe betrifft, etwa beim Ghettokampf einen Tag vorgezogen oder zwei zusammengelegt. Bei Korczak habe ich dieses Theaterstück hinzugedichtet, den Text erfunden und die Szene genau vor die Deportation gesetzt. Solche Dramatisierungen habe ich mir erlaubt und deshalb auch die meisten Ghettokämpfer nicht mit Namen identifiziert. Allerdings gibt es eine kleine Hommage an Marcel Reich-Ranicki und seine Frau Teofila.
Das Ende ist offen. Mira und Amos können fliehen und Rebecca retten. Wie leben die Figuren weiter?
Die Flucht von Kämpfern aus dem Ghetto gab es genauso. Einige haben als Partisanen weitergekämpft, einige haben überlebt, andere sind gestorben. Meine Heldin und der Junge, den sie liebt, entscheiden sich, nicht mehr mit der Waffe zu kämpfen, sondern sich in den Wäldern zu verstecken und sich um das Waisenkind zu kümmern. Ich hoffe natürlich, dass sich ihr Traum verwirklicht und sie mit dieser kleinen Familie nach Amerika gehen kann. Aber der Roman endet 1943 - ob sie es schaffen, kann ich nicht sagen, aber ich ende auf dieser positiven Note.
Das Gespräch führte Michael Töteberg
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Bibliographische Angaben
- Autor: David Safier
- 2014, 3. Aufl., 416 Seiten, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Kindler
- ISBN-10: 3463406403
- ISBN-13: 9783463406404
- Erscheinungsdatum: 12.03.2014
Rezension zu „28 Tage lang “
Ein überwältigendes Buch über den Aufstand im Warschauer Ghetto News
Pressezitat
Ein überwältigendes Buch über den Aufstand im Warschauer Ghetto News
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