Die Vermissten
Zwei verschwundene Kinder und ein brutaler Mord. Nichts für schwache Nerven!
Jenny verschwindet spurlos. Ausgerechnet Jennys Lehrerin Sarah Finch, deren Bruder auch entführt wurde, findet Jennys Leiche. Alte Wunden...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Vermissten “
Zwei verschwundene Kinder und ein brutaler Mord. Nichts für schwache Nerven!
Jenny verschwindet spurlos. Ausgerechnet Jennys Lehrerin Sarah Finch, deren Bruder auch entführt wurde, findet Jennys Leiche. Alte Wunden reißen wieder auf - und dann wird Sarah überfallen. Sie gerät sie in den Focus der Ermittlungen. Und der Täter ist nah.
"Bedrohlich und packend - ein psychologischer Thriller, der süchtig macht."
Sophie Hanna
"Fabelhaft geschrieben."
The Irish Independent
Lese-Probe zu „Die Vermissten “
Die Vermissten von Jane Casey1992
Ich liege im Garten auf einer kratzigen, karierten Picknickdecke und tue so, als würde ich lesen. Es ist heller Nachmittag, die Sonne brennt mir heiß auf Kopf und Rücken und versengt mir fast die Fußsohlen. Meine Schule ist heute geschlossen, weil die Lehrer Weiterbildung haben. Also kann ich stundenlang draußen sein.
Auf der Decke liegen Grasbüschel, die ich von der Wiese gerupft habe. Sie kitzeln auf der bloßen Haut. Mein Kopf wird allmählich schwer, und mir fallen die Augen zu. Die Wörter auf der Buchseite schwirren umher, sosehr ich mich auch abmühe, sie in geordneten Zeilen zu halten. Schließlich gebe ich auf, schiebe das Buch beiseite und lasse den Kopf auf die Arme sinken. Vertrocknetes Gras raschelt unter der Decke; die wochenlange Hitze hat es ausgedörrt und gelb gefärbt. In den Rosenblüten summen die Bienen, und irgendwo, nicht weit, dröhnt ein Rasenmäher.
In der Küche läuft das Radio, die monotone Frauenstimme wird gelegentlich durch einen Schwall von Musik unterbrochen. Die Worte der Sprecherin sind nicht zu verstehen und verschwimmen ineinander. Ein regelmäßiges Bingbong-bong kommt von meinem Bruder, der Tennisbälle an die Hauswand schlägt. Schläger, Wand, Boden. Bing-bong-bong.
Ich habe ihn schon gefragt, ob ich mitspielen kann. Aber er spielt lieber allein als mit mir. So ist das eben, wenn man vier Jahre jünger und noch dazu ein Mädchen ist. Durch meine Armbeuge hindurch beobachte ich einen Marienkäfer, der einen Grashalm hinaufklettert. Ich mag Marienkäfer, in der Schule haben wir gerade ein Projekt über sie gemacht. Ich strecke meinen Finger aus, damit der Käfer draufkrabbeln kann, aber er breitet seine Flügelchen aus und fliegt davon.
An meiner Wade kitzelt es schon wieder eine von diesen fetten schwarzen
... mehr
Fliegen, die diesen Sommer überall sind und mich schon den ganzen Nachmittag nerven. Ich vergrabe den Kopf noch tiefer in meinen Armen und schließe die Augen. Die Decke riecht nach warmer Wolle und herrlichen Sommertagen. Die Sonne brennt, und die Bienen summen mir ein Schlaflied.
Minuten oder Stunden später höre ich jemanden über die Wiese kommen, das trockene Gras raschelt bei jedem Schritt. Es ist Charlie.
»Sag Mum, dass ich bald wieder da bin.« Die Schritte entfernen sich wieder. Ich schaue nicht auf. Ich frage ihn nicht, wohin er geht. Ich schlafe mehr, als dass ich wach bin. Vielleicht träume ich sogar schon. Als ich die Augen öffne, spüre ich, dass etwas geschehen ist, aber was?
Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe. Die Sonne steht noch immer hoch am Himmel, der Rasenmäher dröhnt nach wie vor, das Radio dudelt, aber irgendetwas fehlt. Es dauert ein Weilchen, bis ich merke, dass der Ball nicht mehr zu hören ist. Der Schläger liegt auf dem Boden, und mein Bruder ist verschwunden.
1
Ich war nicht losgegangen, weil ich sie suchen wollte, sondern ich hielt es zu Hause einfach nicht aus. Gleich nach der letzten Stunde hatte ich die Schule verlassen, ohne noch einmal ins Lehrerzimmer zu gehen. Ich war direkt zum Parkplatz geeilt, wo mein kleiner, altersschwacher Renault beim ersten Startversuch bereitwillig ansprang es war das Erste, was heute rundlief.
Normalerweise verließ ich die Schule nicht unmittelbar nach dem Unterricht. Vielmehr hatte ich mir angewöhnt, noch ein Weilchen in meinem leeren Klassenzimmer sitzen zu bleiben. Manchmal arbeitete ich dann Stundenpläne aus oder korrigierte Hausaufgaben.
Oft saß ich auch einfach nur da und schaute aus dem Fenster. Die Stille drückte mir auf die Ohren, als befände ich mich tief unter dem Meeresspiegel. Es gab keinen Anlass, wieder aufzutauchen, denn ich hatte ja keine Kinder, um die ich mich kümmern musste, und keinen Ehemann, mit dem ich verabredet war. Zu Hause er wartete mich nichts als Trübsal, und zwar in jeder Hinsicht. Heute aber war es anders. Mir reichte es.
Es war ein warmer Tag Anfang Mai, und mein Auto hatte sich in der Nachmittagssonne unangenehm aufgeheizt. Ich kurbelte das Fenster herunter, aber im zähflüssigen Verkehr war ich so langsam, dass ich keinen Windhauch in meinen Haaren spürte. Ich war es nicht gewohnt, mich durch den Stoßverkehr direkt nach Schulschluss zu quälen, und meine Arme schmerzten, weil ich das Lenkrad zu fest umklammert hielt.
Ich drehte das Radio an, schaltete es jedoch nach ein paar Sekunden wieder aus. Von der Schule bis nach Hause war es nicht weit normaler weise dauerte die Fahrt fünfzehn Minuten. Doch an diesem Nachmittag saß ich fast fünfzig qualvolle Minuten im Auto.
Im Haus war es still, als ich ankam. Zu still. Ich stand im kühlen, düsteren Flur und lauschte. Dabei spürte ich, wie sich durch den Temperatur unterschied die Härchen auf meinen Armen aufstellten. Mein Shirt war unter den Achseln und am Rücken verschwitzt, und ich fröstelte. Die Wohnzimmer tür stand offen genauso, wie ich sie am Morgen verlassen hatte.
Das einzige Geräusch aus der Küche war das rhythmische Tropfen des Wasserhahns in die Müslischale, die ich nach dem Frühstück in der Spüle hatte stehen lassen. Ich hätte einiges darauf verwettet, dass niemand hier drinnen gewesen war, seit ich am Morgen aus dem Haus gegangen war. Was bedeutete ... Missmutig begann ich nach oben zu steigen und hängte im Vorbeigehen meine Tasche an den Treppenpfosten.
»Bin wieder da.« Als Antwort war ein schlurfendes Geräusch aus dem Zimmer am Ende des Flurs zu hören. Da die Tür geschlossen war, zögerte ich auf dem Treppenabsatz, ob ich anklopfen sollte oder nicht. Exakt in dem Augenblick, als ich beschlossen hatte mich zu trollen, bewegte sich die Türklinke. Bis in mein Zimmer konnte ich es nicht mehr schaffen, ehe die Tür sich öffnete. Also blieb ich stehen und wartete resigniert. Aus den ersten Worten würde ich vollständig erfahren, wie ihr Tag gewesen war.
»Was willst du?«
Streitlust, kaum verhohlen. Nichts Ungewöhnliches also.
»Hallo Mum«, antwortete ich. »Alles in Ordnung?«
Die Tür, die zunächst einen Spaltbreit geöffnet war, ging weiter auf. Ich konnte Charlies Bett sehen. Das Bettzeug war an der Stelle, wo sie gesessen hatte, leicht zerknittert. Sie war immer noch in Morgenmantel und Pantoffeln, hielt sich an der Türklinke fest und schwankte wie eine Kobra. Sie legte die Stirn in tiefe Falten und versuchte ihren Blick zu fokussieren.
»Was machst du denn?«
»Nichts.« Unvermittelt überkam mich eine heftige Müdigkeit.
»Ich bin eben von der Arbeit gekommen, das ist alles. Ich wollte dir nur Hallo sagen.«
»Ich habe noch gar nicht mit dir gerechnet.« Sie schaute mich verwirrt und ein wenig misstrauisch an. »Wie spät ist es denn?« Als ob das für sie eine Rolle spielen würde.
»Ich bin heute ein bisschen früher dran als sonst«, erwiderte ich ohne weitere Erklärung. Die war auch gar nicht nötig, da es ihr sowieso egal war. Wie eigentlich fast alles. Außer Charlie. Ihr Charlie-Schatz. Charlie war eben ihr Goldkind. Sein Zimmer war unberührt.
Seit sechzehn Jahren war dort nichts verändert worden: kein Spielzeugsoldat hatte seinen Posten verlassen, kein Plakat hing lose von der Wand. Ein Stapel zusammengelegter Kleidung wartete darauf, in die Kommode geräumt zu werden. Die Uhr auf dem Nachttisch tickte nach wie vor. Seine Bücher in den Regalen über dem Bett waren ordentlich sortiert: Schulbücher, Comics, dicke Wälzer über Flugzeuge im Zweiten Weltkrieg. Jungsbücher eben.
Alles sah noch so aus wie damals, als er verschwand als könne er jeden Moment hereinspazieren und einfach dort weitermachen, wo er aufgehört hatte. Ich vermisste ihn tagtäglich vermisste ich ihn , aber ich hasste dieses Zimmer. Jetzt wurde Mum unruhig und spielte nervös mit dem Gürtel ihres Morgenmantels.
»Ich war gerade dabei aufzuräumen«, erklärte sie. Ich fragte nicht nach, was genau in einem Zimmer aufzuräumen war, in dem sich nie etwas veränderte. Die Luft darin war verbraucht. Mir wehte ein Hauch von ungewaschenem Körper und Alkoholdunst entgegen, und der Ekel schüttelte mich. Ich wollte nur noch weg von hier, so weit wie möglich weg von diesem Haus.
»Tut mir leid, ich wollte dich nicht stören.« Ich zog mich hastig in mein Zimmer zurück. »Ich gehe gleich joggen.«
»Joggen«, wiederholte Mum und kniff die Augen zusammen. »Dann lass dich bloß nicht von mir aufhalten.«
Ihr veränderter Tonfall irritierte mich.
»Ich ... Ich dachte, ich störe dich.«
»Aber nein, mach nur, was du willst. Das tust du ja sowieso immer.«
Ich hätte nicht reagieren sollen. Ich hätte mich nicht einwickeln lassen dürfen. Eigentlich wusste ich, dass ich hier nicht gewinnen konnte.
»Was soll das heißen?«
»Ich denke, das weißt du ganz genau.«
Mit Hilfe der Türklinke richtete sie sich vollends auf. Sie war gut einen Zentimeter kleiner als ich, also nicht sonderlich groß.
»Du kommst und gehst, wie es dir gerade passt. Es geht immer nur nach dir, Sarah!«
Ich hätte wohl bis eine Million zählen müssen, um meine Fassung zu wahren. Trotzdem schluckte ich hinunter, was ich eigentlich hatte sagen wollen, nämlich: Halt den Mund, du egoistisches Biest.
Ich bin nur hier, weil ich mich unsinniger weise dazu verpflichtet fühle und weil Dad nicht wollte, dass du allein bleibst aus keinem anderen Grund. Denn jegliche Liebe zu dir, die ich vor langer Zeit noch empfunden habe, hast du längst verheizt, du undankbare, von Selbstmitleid zerfressene Kuh.
Stattdessen sagte ich: »Ich dachte nicht, dass du etwas dagegen hast.«
»Du dachtest? Du hast überhaupt nichts gedacht. Du denkst nie.«
Ihre Miene wurde schlaff, als sie leicht schwankend in Richtung ihres Schlafzimmers an mir vorbeistakste. In der Tür hielt sie noch einmal inne.
»Stör mich nicht, wenn du zurückkommst. Ich gehe zeitig schlafen.«
Als ob ich Wert auf ihre Gesellschaft legte. Ich nickte verständnisvoll, doch als sie die Tür hinter sich zugeknallt hatte, veränderte sich mein Nicken zu einem langsamen, bitteren Kopfschütteln. Erlöst schloss ich mich in meinem Zimmer ein. Sie war eine echte Zumutung, teilte ich dem Foto meines Vaters auf dem Nachttisch mit.
»Dafür bist du mir was schuldig«, murmelte ich. »Und zwar einiges.«
Er lächelte ungerührt weiter, während ich mich ein paar Augenblicke später daranmachte, meine Laufschuhe unter dem Bett her vorzuangeln.
Es war eine Erlösung, meine verschwitzten, zerknitterten Sachen auszuziehen, die kurzen Laufsachen überzustreifen, meine dichten Locken zurückzubinden und die kühle Luft im Nacken zu spüren. Ich überlegte kurz und zog dann doch noch eine leichte Jacke über, denn nach der Hitze des Tages war die abendliche Kühle bereits spürbar.
Mit einer Wasserflasche und meinem Handy machte ich mich auf den Weg. Vor der Eingangstür atmete ich tief die frische Luft ein und lockerte meine erschöpften Beine. Es war erst kurz vor fünf, die Sonne schien noch immer und tauchte alles in ein goldgelbes, warmes Licht. Die Amseln sangen im Chor von Gar ten zu Gar ten, und ich lief in mäßigem Tempo los, die Straße hinunter. Ich spür te, wie sich meine Atemfrequenz erhöhte, ehe sie sich dem Takt meines Laufrhythmus anpasste.
Ich wohnte in einer kleinen Sackgasse in Wilmington Estate, einer Wohnsiedlung, die in den Dreißigerjahren für stadtflüchtige Londoner gebaut wurde. Unsere Straße hieß Curzon Close und war eine verträumte Ansammlung von zwanzig Häusern, wobei der eine Teil der Bewohner dort schon seit Jahren wohnte, wie Mum und ich, der andere Teil vor den horrenden Immobilienpreisen in London hierhergeflohen war. Einer dieser neuen Bewohnerinnen, die gerade in ihrem Vorgarten stand, lächelte ich im Vorbeilaufen schüchtern zu.
Keine Reaktion, was nichts Überraschendes war. Im Allgemeinen hatten wir nicht viel mit den Nachbarn zu tun, selbst mit jenen nicht, die schon so lange hier wohnten wie wir oder noch länger. Vielleicht mieden wir die Alteingesessenen sogar besonders. Diejenigen, die sich vielleicht noch erinnern konnten. Die noch Bescheid wussten. Als ich zur Hauptstraße kam, beschleunigte ich das Tempo, um meinen Gedanken davonzulaufen.
Den ganzen Tag über hatte ich schon mit lange verdrängten Erinnerungen gekämpft, die ständig wieder hochkamen wie Gasblasen in einem modrigen Teich. Merkwürdig, ich hatte nicht die leiseste Vorahnung gehabt, als es fünf vor zwölf an der Tür meines Klassenzimmers klopfte. Ich war allein und bereitete mich gerade auf den Unterricht in meiner achten Klasse vor.
Als ich die Tür öffnete, stand Elaine Pennington vor mir, die außerordentlich strenge und furchteinflößende Direktorin der Edgeworth-Mädchenschule. Hinter ihr stand ein großer und finster dreinblickender Mann. Ein Vater, und zwar der von Jenny Shepherd, wie ich bei näherem Hinsehen erkannte. Er sah verzweifelt und aufgelöst aus, und mir war auf der Stelle klar, dass etwas passiert sein musste. Ohne dass ich etwas dagegen tun konnte, lief die Szene wieder in meinem Kopf ab, so wie den ganzen Tag schon. Elaine war ohne Umschweife zur Sache gekommen.
»Haben Sie in der nächsten Stunde Ihre achte Klasse?« Obwohl ich nun schon seit fast einem Jahr hier arbeitete, verunsicherte Elaine mich noch immer enorm. Ihre bloße Anwesenheit genügte, dass mir die Zunge vor lauter Furcht förmlich am Gaumen klebte.
»Äh ... ja«, brachte ich schließlich heraus. »Wen suchen Sie denn?«
»Die ganze Klasse.« Es war Mr. Shepherd, der das gesagt hatte und damit Elaine kurzerhand das Wort abschnitt.
»Ich muss sie fragen, ob sie wissen, wo meine Tochter ist.« Inzwischen waren beide hereingekommen, und Mr. Shepherd lief ruhelos auf und ab. Ich hatte ihn im November bei einem meiner ersten Elterngespräche kennen gelernt, wo er gut gelaunt und lautstark einen Witz nach dem anderen riss, während seine hübsche, charmante Frau gutmütig die Augen verdrehte.
Jenny hatte die zierliche Statur und die ausgesprochen langen Wimpern ihrer Mutter sowie das Lächeln ihres Vaters geerbt. Heute hatte dieses Lächeln in meinem Klassenzimmer gefehlt. Seine Sorge war geradezu körperlich spürbar, die Stirn über seinen dunklen, ausdrucksvollen Augen lag in Falten. Er überragte mich um einiges, doch seine physische Kraft verblasste angesichts seiner offensichtlichen Verzweiflung.
Vor einem Fenster blieb er stehen und lehnte sich gegen das Fensterbrett, als würden ihm die Beine den Dienst versagen. Mit kraftlos herabhängenden Armen schaute er uns hoffnungslos an und wartete.
»Ich sollte Sie wohl erst einmal informieren, was geschehen ist, Sarah. Mr. Shepherd hat mich heute Morgen aufgesucht und mich gebeten, ihm bei der Suche nach seiner Tochter Jennifer zu helfen. Sie hat das Haus am Wochenende verlassen am Samstag, nicht wahr?« Shepherd nickte. »Samstagabend. Etwa um sechs.« Ich rechnete und biss mir auf die Lippe. Samstagabend, und nun war es schon beinahe Montagmittag. Fast zwei Tage. Nicht sehr lange oder eine Ewigkeit, je nachdem, wie man es sah.
»Er und seine Frau haben abgewartet, doch als sie bei Einbruch der Dunkelheit noch immer nicht zurück war und auch auf ihrem Handy nicht erreichbar, haben sie sich auf die Suche gemacht und sind den Weg abgelaufen, den sie höchstwahrscheinlich gegangen ist, jedoch ohne Er folg. Also sind sie zurück nach Hause gegangen und haben bei der Polizei angerufen, wo man sich allerdings nicht sonderlich kooperativ gezeigt hat.«
»Dort haben sie mir gesagt, dass sie schon wieder auftauchen wird.« Seine Stimme war leise, heiser und schmerzerfüllt.
»Sie meinten, Mädchen in diesem Alter hätten keine richtige Zeitvorstellung. Wir sollten weiterhin versuchen, sie auf ihrem Handy zu erreichen, und wenn das nichts hilft, ihren ganzen Freundeskreis abtelefonieren und bei den Eltern nachfragen, ob sie wissen, wo sie steckt. Erst wenn sie längere Zeit als vermisst gemeldet sei, würden sie etwas unternehmen. Sie meinten, dass in Großbritannien alle fünf Minuten ein Kind verschwindet können Sie sich das vorstellen? und dass sie erst jemanden dafür abstellen, wenn das Kind in Gefahr ist. Ihrer Ansicht nach sei eine Zwölfjährige nicht besonders gefährdet. Sie werde schon wieder auftauchen und sich entschuldigen, dass sie uns in Aufregung versetzt hat. Als ob es an der Tagesordnung wäre, dass sie einfach losgeht, ohne uns zu sagen, wo sie hin will, und dann nicht wiederkommt. Die kennen meine Tochter doch gar nicht.«
Dann sah er mich an.
»Aber Sie kennen sie doch, oder? Sie wissen, dass sie niemals einfach losgehen würde, ohne uns zu informieren.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das tun würde«, erwiderte ich vorsichtig und überlegte, was ich von Jenny Shepherd wusste.
Sie war zwölf Jahre alt, eine hübsche und fleißige Schülerin, die stets freundlich lächelte. Sie zeigte keinerlei Hang zu jenem rebellischen Zorn, wie ich ihn bei manchen der älteren Schülerinnen wahrnahm, denen es offenbar einen grausamen Genuss bereitete, ihre Eltern in Sorge zu versetzen. Vor lauter Angst um sie hatte ich einen Kloß im Hals, waren mir doch seine Worte seit zwei Tagen vermisst so schmerzlich vertraut.
Ich musste mich räuspern, ehe ich fragen konnte: »Nimmt man Ihr Anliegen bei der Polizei denn inzwischen ernst?«
Er lachte nervös auf. »Oh, selbstverständlich. Seit der Hund aufgetaucht ist, nehmen sie mich durchaus für voll.«
»Der Hund?«
»Samstagabend war sie mit dem Hund draußen. Sie hat einen kleinen Westie einen West Highland Terrier. Es gehört zu ihren Aufgaben, ihn zweimal am Tag auszuführen, es sei denn, sie ist aus triftigem Grund verhindert. Das war eine der Bedingungen, auf die sie sich einlassen musste, ehe wir den Hund angeschafft haben. Sie sollte Verantwortung für ihn übernehmen.«
Er lehnte sich an die Fensterbank und wirkte plötzlich sehr matt.
»Und das hat sie auch getan. Sie geht wirklich ganz wunderbar mit diesem Tier um. Auch bei schlechtem Wetter oder ganz früh morgens geht sie mit ihm hinaus. Richtig fürsorglich. Deshalb war mir, als ich dann den blutverschmierten Hund sah, klar, dass ihr etwas zugestoßen sein musste.«
Er holte tief Luft und blinzelte seine Tränen weg.
»Ich hätte sie niemals allein gehen lassen dürfen, aber ich dachte doch, sie sei sicher ...«
Er schlug die Hände vors Gesicht, und Elaine und ich warteten, bis er sich wieder gefasst hatte, da wir ihm in seiner Trauer nicht zu nahetreten wollten. Ich weiß nicht, wie Elaine es empfand, aber für mich war es nur schwer auszuhalten. Kurz darauf schrillte die Pausenklingel durch den stillen Raum, sodass er zusammenzuckte und wieder zu sich kam.
»Der Hund kam also wieder nach Hause gelaufen?«, erkundigte ich mich, nachdem die Klingel verstummt war. Einen Moment lang schaute er mich verwirrt an.
»Oh ... ja. Es war ungefähr um elf. Wir machten die Tür auf, und da stand er.«
»War denn die Leine noch dran?«
Es war unübersehbar, dass beide meine Frage für völlig unangebracht hielten, aber ich wollte einfach wissen, ob Jenny den Hund vielleicht losgemacht und dann aus den Augen verloren hatte. Möglicher weise hatte sie noch lange nach ihm gesucht und dann einen Unfall gehabt.
Oder die Leine war ihr entglitten vielleicht weil jemand nachgeholfen hatte. Kein Hundehalter würde seinen Vierbeiner unbeaufsichtigt mit schleifender Leine laufen lassen, da er sich darin verfangen und sich dabei verletzen könnte.
»Ich weiß es nicht mehr«, erwiderte er schließlich und rieb sich nachdenklich die Stirn. Elaine schaltete sich ein.
»Michael Mr. Shepherd hat daraufhin persönlich das Polizeirevier aufgesucht und die Beamten aufgefordert, endlich nach ihr zu suchen. Etwa um Mitternacht haben sie dann schließlich angefangen, die entsprechenden Formulare auszufüllen.«
»Da war sie schon seit sechs Stunden verschwunden«, warf Shepherd ein.
»Das ist einfach unglaublich. Wissen die denn nicht, wie wichtig es ist, nach vermissten Kindern so schnell wie möglich zu suchen?«
Ich konnte nicht fassen, dass sie derart schwer fällig waren und seine Aussage erst so spät aufgenommen hatten.
»Die ersten vierundzwanzg Stunden sind die kritischen, die absolut entscheidenden, und davon haben sie ein Viertel einfach verstreichen lassen.«
»Ich wusste gar nicht, dass Sie sich damit so gut auskennen, Sarah«, merkte Elaine an und lächelte säuerlich. Ihre Miene sagte allerdings: Halt den Mund, und hör zu, du dumme Gans.
»Der Polizeihubschrauber ist ungefähr um zwei Uhr morgens gestartet«, fuhr Michael Shepherd fort. »Mit Hilfe einer Infrarotkamera haben sie das Waldstück abgesucht, wo sie immer mit Archie spazieren gegangen ist. Sie meinten, dass sie sie durch die Wärme ihres Körpers selbst im Unterholz orten könnten. Aber sie konnten nichts finden.«
Also war sie entweder nicht dort, oder ihr Körper hat keine Wärme mehr abgegeben. Man musste kein Experte sein, um zu begreifen, worauf das hinauslief.
»Sie sagen immer wieder, dass es dauern könne, bis Ausreißer gefunden werden, obwohl ich ihnen erklärt habe, dass sie gar keine Ausreißerin ist. Nachdem sie im Wald keinen Erfolg hatten, begannen sie die Aufzeichnungen von Überwachungskameras der umliegenden Bahnhöfe auszuwerten, um zu überprüfen, ob sie vielleicht nach London gefahren ist. Aber das würde sie niemals tun. Immer wenn wir mit ihr dort waren, fand sie es ganz schrecklich. Als wir voriges Jahr in London Weihnachtseinkäufe gemacht haben, hat sie die ganze Zeit meine Hand nicht losgelassen. Es herrschte ein solches Gedränge, dass sie Angst hatte, verloren zu gehen.«
Er schaute hilflos von mir zu Elaine und dann wieder zu mir zurück.
Ich sehe ihm nach, schlendere in das leere Wohnzimmer und wieder zurück. Ich weiß nicht, was ich noch suche. Alles was ich brauche, habe ich. Ich gehe hinaus und schließe ein letztes Mal die Tür hinter mir. Ich gehe fort, und ich schaue mich nicht noch einmal um.
Übersetzung: Franka Reinhart
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2010 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Minuten oder Stunden später höre ich jemanden über die Wiese kommen, das trockene Gras raschelt bei jedem Schritt. Es ist Charlie.
»Sag Mum, dass ich bald wieder da bin.« Die Schritte entfernen sich wieder. Ich schaue nicht auf. Ich frage ihn nicht, wohin er geht. Ich schlafe mehr, als dass ich wach bin. Vielleicht träume ich sogar schon. Als ich die Augen öffne, spüre ich, dass etwas geschehen ist, aber was?
Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe. Die Sonne steht noch immer hoch am Himmel, der Rasenmäher dröhnt nach wie vor, das Radio dudelt, aber irgendetwas fehlt. Es dauert ein Weilchen, bis ich merke, dass der Ball nicht mehr zu hören ist. Der Schläger liegt auf dem Boden, und mein Bruder ist verschwunden.
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Ich war nicht losgegangen, weil ich sie suchen wollte, sondern ich hielt es zu Hause einfach nicht aus. Gleich nach der letzten Stunde hatte ich die Schule verlassen, ohne noch einmal ins Lehrerzimmer zu gehen. Ich war direkt zum Parkplatz geeilt, wo mein kleiner, altersschwacher Renault beim ersten Startversuch bereitwillig ansprang es war das Erste, was heute rundlief.
Normalerweise verließ ich die Schule nicht unmittelbar nach dem Unterricht. Vielmehr hatte ich mir angewöhnt, noch ein Weilchen in meinem leeren Klassenzimmer sitzen zu bleiben. Manchmal arbeitete ich dann Stundenpläne aus oder korrigierte Hausaufgaben.
Oft saß ich auch einfach nur da und schaute aus dem Fenster. Die Stille drückte mir auf die Ohren, als befände ich mich tief unter dem Meeresspiegel. Es gab keinen Anlass, wieder aufzutauchen, denn ich hatte ja keine Kinder, um die ich mich kümmern musste, und keinen Ehemann, mit dem ich verabredet war. Zu Hause er wartete mich nichts als Trübsal, und zwar in jeder Hinsicht. Heute aber war es anders. Mir reichte es.
Es war ein warmer Tag Anfang Mai, und mein Auto hatte sich in der Nachmittagssonne unangenehm aufgeheizt. Ich kurbelte das Fenster herunter, aber im zähflüssigen Verkehr war ich so langsam, dass ich keinen Windhauch in meinen Haaren spürte. Ich war es nicht gewohnt, mich durch den Stoßverkehr direkt nach Schulschluss zu quälen, und meine Arme schmerzten, weil ich das Lenkrad zu fest umklammert hielt.
Ich drehte das Radio an, schaltete es jedoch nach ein paar Sekunden wieder aus. Von der Schule bis nach Hause war es nicht weit normaler weise dauerte die Fahrt fünfzehn Minuten. Doch an diesem Nachmittag saß ich fast fünfzig qualvolle Minuten im Auto.
Im Haus war es still, als ich ankam. Zu still. Ich stand im kühlen, düsteren Flur und lauschte. Dabei spürte ich, wie sich durch den Temperatur unterschied die Härchen auf meinen Armen aufstellten. Mein Shirt war unter den Achseln und am Rücken verschwitzt, und ich fröstelte. Die Wohnzimmer tür stand offen genauso, wie ich sie am Morgen verlassen hatte.
Das einzige Geräusch aus der Küche war das rhythmische Tropfen des Wasserhahns in die Müslischale, die ich nach dem Frühstück in der Spüle hatte stehen lassen. Ich hätte einiges darauf verwettet, dass niemand hier drinnen gewesen war, seit ich am Morgen aus dem Haus gegangen war. Was bedeutete ... Missmutig begann ich nach oben zu steigen und hängte im Vorbeigehen meine Tasche an den Treppenpfosten.
»Bin wieder da.« Als Antwort war ein schlurfendes Geräusch aus dem Zimmer am Ende des Flurs zu hören. Da die Tür geschlossen war, zögerte ich auf dem Treppenabsatz, ob ich anklopfen sollte oder nicht. Exakt in dem Augenblick, als ich beschlossen hatte mich zu trollen, bewegte sich die Türklinke. Bis in mein Zimmer konnte ich es nicht mehr schaffen, ehe die Tür sich öffnete. Also blieb ich stehen und wartete resigniert. Aus den ersten Worten würde ich vollständig erfahren, wie ihr Tag gewesen war.
»Was willst du?«
Streitlust, kaum verhohlen. Nichts Ungewöhnliches also.
»Hallo Mum«, antwortete ich. »Alles in Ordnung?«
Die Tür, die zunächst einen Spaltbreit geöffnet war, ging weiter auf. Ich konnte Charlies Bett sehen. Das Bettzeug war an der Stelle, wo sie gesessen hatte, leicht zerknittert. Sie war immer noch in Morgenmantel und Pantoffeln, hielt sich an der Türklinke fest und schwankte wie eine Kobra. Sie legte die Stirn in tiefe Falten und versuchte ihren Blick zu fokussieren.
»Was machst du denn?«
»Nichts.« Unvermittelt überkam mich eine heftige Müdigkeit.
»Ich bin eben von der Arbeit gekommen, das ist alles. Ich wollte dir nur Hallo sagen.«
»Ich habe noch gar nicht mit dir gerechnet.« Sie schaute mich verwirrt und ein wenig misstrauisch an. »Wie spät ist es denn?« Als ob das für sie eine Rolle spielen würde.
»Ich bin heute ein bisschen früher dran als sonst«, erwiderte ich ohne weitere Erklärung. Die war auch gar nicht nötig, da es ihr sowieso egal war. Wie eigentlich fast alles. Außer Charlie. Ihr Charlie-Schatz. Charlie war eben ihr Goldkind. Sein Zimmer war unberührt.
Seit sechzehn Jahren war dort nichts verändert worden: kein Spielzeugsoldat hatte seinen Posten verlassen, kein Plakat hing lose von der Wand. Ein Stapel zusammengelegter Kleidung wartete darauf, in die Kommode geräumt zu werden. Die Uhr auf dem Nachttisch tickte nach wie vor. Seine Bücher in den Regalen über dem Bett waren ordentlich sortiert: Schulbücher, Comics, dicke Wälzer über Flugzeuge im Zweiten Weltkrieg. Jungsbücher eben.
Alles sah noch so aus wie damals, als er verschwand als könne er jeden Moment hereinspazieren und einfach dort weitermachen, wo er aufgehört hatte. Ich vermisste ihn tagtäglich vermisste ich ihn , aber ich hasste dieses Zimmer. Jetzt wurde Mum unruhig und spielte nervös mit dem Gürtel ihres Morgenmantels.
»Ich war gerade dabei aufzuräumen«, erklärte sie. Ich fragte nicht nach, was genau in einem Zimmer aufzuräumen war, in dem sich nie etwas veränderte. Die Luft darin war verbraucht. Mir wehte ein Hauch von ungewaschenem Körper und Alkoholdunst entgegen, und der Ekel schüttelte mich. Ich wollte nur noch weg von hier, so weit wie möglich weg von diesem Haus.
»Tut mir leid, ich wollte dich nicht stören.« Ich zog mich hastig in mein Zimmer zurück. »Ich gehe gleich joggen.«
»Joggen«, wiederholte Mum und kniff die Augen zusammen. »Dann lass dich bloß nicht von mir aufhalten.«
Ihr veränderter Tonfall irritierte mich.
»Ich ... Ich dachte, ich störe dich.«
»Aber nein, mach nur, was du willst. Das tust du ja sowieso immer.«
Ich hätte nicht reagieren sollen. Ich hätte mich nicht einwickeln lassen dürfen. Eigentlich wusste ich, dass ich hier nicht gewinnen konnte.
»Was soll das heißen?«
»Ich denke, das weißt du ganz genau.«
Mit Hilfe der Türklinke richtete sie sich vollends auf. Sie war gut einen Zentimeter kleiner als ich, also nicht sonderlich groß.
»Du kommst und gehst, wie es dir gerade passt. Es geht immer nur nach dir, Sarah!«
Ich hätte wohl bis eine Million zählen müssen, um meine Fassung zu wahren. Trotzdem schluckte ich hinunter, was ich eigentlich hatte sagen wollen, nämlich: Halt den Mund, du egoistisches Biest.
Ich bin nur hier, weil ich mich unsinniger weise dazu verpflichtet fühle und weil Dad nicht wollte, dass du allein bleibst aus keinem anderen Grund. Denn jegliche Liebe zu dir, die ich vor langer Zeit noch empfunden habe, hast du längst verheizt, du undankbare, von Selbstmitleid zerfressene Kuh.
Stattdessen sagte ich: »Ich dachte nicht, dass du etwas dagegen hast.«
»Du dachtest? Du hast überhaupt nichts gedacht. Du denkst nie.«
Ihre Miene wurde schlaff, als sie leicht schwankend in Richtung ihres Schlafzimmers an mir vorbeistakste. In der Tür hielt sie noch einmal inne.
»Stör mich nicht, wenn du zurückkommst. Ich gehe zeitig schlafen.«
Als ob ich Wert auf ihre Gesellschaft legte. Ich nickte verständnisvoll, doch als sie die Tür hinter sich zugeknallt hatte, veränderte sich mein Nicken zu einem langsamen, bitteren Kopfschütteln. Erlöst schloss ich mich in meinem Zimmer ein. Sie war eine echte Zumutung, teilte ich dem Foto meines Vaters auf dem Nachttisch mit.
»Dafür bist du mir was schuldig«, murmelte ich. »Und zwar einiges.«
Er lächelte ungerührt weiter, während ich mich ein paar Augenblicke später daranmachte, meine Laufschuhe unter dem Bett her vorzuangeln.
Es war eine Erlösung, meine verschwitzten, zerknitterten Sachen auszuziehen, die kurzen Laufsachen überzustreifen, meine dichten Locken zurückzubinden und die kühle Luft im Nacken zu spüren. Ich überlegte kurz und zog dann doch noch eine leichte Jacke über, denn nach der Hitze des Tages war die abendliche Kühle bereits spürbar.
Mit einer Wasserflasche und meinem Handy machte ich mich auf den Weg. Vor der Eingangstür atmete ich tief die frische Luft ein und lockerte meine erschöpften Beine. Es war erst kurz vor fünf, die Sonne schien noch immer und tauchte alles in ein goldgelbes, warmes Licht. Die Amseln sangen im Chor von Gar ten zu Gar ten, und ich lief in mäßigem Tempo los, die Straße hinunter. Ich spür te, wie sich meine Atemfrequenz erhöhte, ehe sie sich dem Takt meines Laufrhythmus anpasste.
Ich wohnte in einer kleinen Sackgasse in Wilmington Estate, einer Wohnsiedlung, die in den Dreißigerjahren für stadtflüchtige Londoner gebaut wurde. Unsere Straße hieß Curzon Close und war eine verträumte Ansammlung von zwanzig Häusern, wobei der eine Teil der Bewohner dort schon seit Jahren wohnte, wie Mum und ich, der andere Teil vor den horrenden Immobilienpreisen in London hierhergeflohen war. Einer dieser neuen Bewohnerinnen, die gerade in ihrem Vorgarten stand, lächelte ich im Vorbeilaufen schüchtern zu.
Keine Reaktion, was nichts Überraschendes war. Im Allgemeinen hatten wir nicht viel mit den Nachbarn zu tun, selbst mit jenen nicht, die schon so lange hier wohnten wie wir oder noch länger. Vielleicht mieden wir die Alteingesessenen sogar besonders. Diejenigen, die sich vielleicht noch erinnern konnten. Die noch Bescheid wussten. Als ich zur Hauptstraße kam, beschleunigte ich das Tempo, um meinen Gedanken davonzulaufen.
Den ganzen Tag über hatte ich schon mit lange verdrängten Erinnerungen gekämpft, die ständig wieder hochkamen wie Gasblasen in einem modrigen Teich. Merkwürdig, ich hatte nicht die leiseste Vorahnung gehabt, als es fünf vor zwölf an der Tür meines Klassenzimmers klopfte. Ich war allein und bereitete mich gerade auf den Unterricht in meiner achten Klasse vor.
Als ich die Tür öffnete, stand Elaine Pennington vor mir, die außerordentlich strenge und furchteinflößende Direktorin der Edgeworth-Mädchenschule. Hinter ihr stand ein großer und finster dreinblickender Mann. Ein Vater, und zwar der von Jenny Shepherd, wie ich bei näherem Hinsehen erkannte. Er sah verzweifelt und aufgelöst aus, und mir war auf der Stelle klar, dass etwas passiert sein musste. Ohne dass ich etwas dagegen tun konnte, lief die Szene wieder in meinem Kopf ab, so wie den ganzen Tag schon. Elaine war ohne Umschweife zur Sache gekommen.
»Haben Sie in der nächsten Stunde Ihre achte Klasse?« Obwohl ich nun schon seit fast einem Jahr hier arbeitete, verunsicherte Elaine mich noch immer enorm. Ihre bloße Anwesenheit genügte, dass mir die Zunge vor lauter Furcht förmlich am Gaumen klebte.
»Äh ... ja«, brachte ich schließlich heraus. »Wen suchen Sie denn?«
»Die ganze Klasse.« Es war Mr. Shepherd, der das gesagt hatte und damit Elaine kurzerhand das Wort abschnitt.
»Ich muss sie fragen, ob sie wissen, wo meine Tochter ist.« Inzwischen waren beide hereingekommen, und Mr. Shepherd lief ruhelos auf und ab. Ich hatte ihn im November bei einem meiner ersten Elterngespräche kennen gelernt, wo er gut gelaunt und lautstark einen Witz nach dem anderen riss, während seine hübsche, charmante Frau gutmütig die Augen verdrehte.
Jenny hatte die zierliche Statur und die ausgesprochen langen Wimpern ihrer Mutter sowie das Lächeln ihres Vaters geerbt. Heute hatte dieses Lächeln in meinem Klassenzimmer gefehlt. Seine Sorge war geradezu körperlich spürbar, die Stirn über seinen dunklen, ausdrucksvollen Augen lag in Falten. Er überragte mich um einiges, doch seine physische Kraft verblasste angesichts seiner offensichtlichen Verzweiflung.
Vor einem Fenster blieb er stehen und lehnte sich gegen das Fensterbrett, als würden ihm die Beine den Dienst versagen. Mit kraftlos herabhängenden Armen schaute er uns hoffnungslos an und wartete.
»Ich sollte Sie wohl erst einmal informieren, was geschehen ist, Sarah. Mr. Shepherd hat mich heute Morgen aufgesucht und mich gebeten, ihm bei der Suche nach seiner Tochter Jennifer zu helfen. Sie hat das Haus am Wochenende verlassen am Samstag, nicht wahr?« Shepherd nickte. »Samstagabend. Etwa um sechs.« Ich rechnete und biss mir auf die Lippe. Samstagabend, und nun war es schon beinahe Montagmittag. Fast zwei Tage. Nicht sehr lange oder eine Ewigkeit, je nachdem, wie man es sah.
»Er und seine Frau haben abgewartet, doch als sie bei Einbruch der Dunkelheit noch immer nicht zurück war und auch auf ihrem Handy nicht erreichbar, haben sie sich auf die Suche gemacht und sind den Weg abgelaufen, den sie höchstwahrscheinlich gegangen ist, jedoch ohne Er folg. Also sind sie zurück nach Hause gegangen und haben bei der Polizei angerufen, wo man sich allerdings nicht sonderlich kooperativ gezeigt hat.«
»Dort haben sie mir gesagt, dass sie schon wieder auftauchen wird.« Seine Stimme war leise, heiser und schmerzerfüllt.
»Sie meinten, Mädchen in diesem Alter hätten keine richtige Zeitvorstellung. Wir sollten weiterhin versuchen, sie auf ihrem Handy zu erreichen, und wenn das nichts hilft, ihren ganzen Freundeskreis abtelefonieren und bei den Eltern nachfragen, ob sie wissen, wo sie steckt. Erst wenn sie längere Zeit als vermisst gemeldet sei, würden sie etwas unternehmen. Sie meinten, dass in Großbritannien alle fünf Minuten ein Kind verschwindet können Sie sich das vorstellen? und dass sie erst jemanden dafür abstellen, wenn das Kind in Gefahr ist. Ihrer Ansicht nach sei eine Zwölfjährige nicht besonders gefährdet. Sie werde schon wieder auftauchen und sich entschuldigen, dass sie uns in Aufregung versetzt hat. Als ob es an der Tagesordnung wäre, dass sie einfach losgeht, ohne uns zu sagen, wo sie hin will, und dann nicht wiederkommt. Die kennen meine Tochter doch gar nicht.«
Dann sah er mich an.
»Aber Sie kennen sie doch, oder? Sie wissen, dass sie niemals einfach losgehen würde, ohne uns zu informieren.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das tun würde«, erwiderte ich vorsichtig und überlegte, was ich von Jenny Shepherd wusste.
Sie war zwölf Jahre alt, eine hübsche und fleißige Schülerin, die stets freundlich lächelte. Sie zeigte keinerlei Hang zu jenem rebellischen Zorn, wie ich ihn bei manchen der älteren Schülerinnen wahrnahm, denen es offenbar einen grausamen Genuss bereitete, ihre Eltern in Sorge zu versetzen. Vor lauter Angst um sie hatte ich einen Kloß im Hals, waren mir doch seine Worte seit zwei Tagen vermisst so schmerzlich vertraut.
Ich musste mich räuspern, ehe ich fragen konnte: »Nimmt man Ihr Anliegen bei der Polizei denn inzwischen ernst?«
Er lachte nervös auf. »Oh, selbstverständlich. Seit der Hund aufgetaucht ist, nehmen sie mich durchaus für voll.«
»Der Hund?«
»Samstagabend war sie mit dem Hund draußen. Sie hat einen kleinen Westie einen West Highland Terrier. Es gehört zu ihren Aufgaben, ihn zweimal am Tag auszuführen, es sei denn, sie ist aus triftigem Grund verhindert. Das war eine der Bedingungen, auf die sie sich einlassen musste, ehe wir den Hund angeschafft haben. Sie sollte Verantwortung für ihn übernehmen.«
Er lehnte sich an die Fensterbank und wirkte plötzlich sehr matt.
»Und das hat sie auch getan. Sie geht wirklich ganz wunderbar mit diesem Tier um. Auch bei schlechtem Wetter oder ganz früh morgens geht sie mit ihm hinaus. Richtig fürsorglich. Deshalb war mir, als ich dann den blutverschmierten Hund sah, klar, dass ihr etwas zugestoßen sein musste.«
Er holte tief Luft und blinzelte seine Tränen weg.
»Ich hätte sie niemals allein gehen lassen dürfen, aber ich dachte doch, sie sei sicher ...«
Er schlug die Hände vors Gesicht, und Elaine und ich warteten, bis er sich wieder gefasst hatte, da wir ihm in seiner Trauer nicht zu nahetreten wollten. Ich weiß nicht, wie Elaine es empfand, aber für mich war es nur schwer auszuhalten. Kurz darauf schrillte die Pausenklingel durch den stillen Raum, sodass er zusammenzuckte und wieder zu sich kam.
»Der Hund kam also wieder nach Hause gelaufen?«, erkundigte ich mich, nachdem die Klingel verstummt war. Einen Moment lang schaute er mich verwirrt an.
»Oh ... ja. Es war ungefähr um elf. Wir machten die Tür auf, und da stand er.«
»War denn die Leine noch dran?«
Es war unübersehbar, dass beide meine Frage für völlig unangebracht hielten, aber ich wollte einfach wissen, ob Jenny den Hund vielleicht losgemacht und dann aus den Augen verloren hatte. Möglicher weise hatte sie noch lange nach ihm gesucht und dann einen Unfall gehabt.
Oder die Leine war ihr entglitten vielleicht weil jemand nachgeholfen hatte. Kein Hundehalter würde seinen Vierbeiner unbeaufsichtigt mit schleifender Leine laufen lassen, da er sich darin verfangen und sich dabei verletzen könnte.
»Ich weiß es nicht mehr«, erwiderte er schließlich und rieb sich nachdenklich die Stirn. Elaine schaltete sich ein.
»Michael Mr. Shepherd hat daraufhin persönlich das Polizeirevier aufgesucht und die Beamten aufgefordert, endlich nach ihr zu suchen. Etwa um Mitternacht haben sie dann schließlich angefangen, die entsprechenden Formulare auszufüllen.«
»Da war sie schon seit sechs Stunden verschwunden«, warf Shepherd ein.
»Das ist einfach unglaublich. Wissen die denn nicht, wie wichtig es ist, nach vermissten Kindern so schnell wie möglich zu suchen?«
Ich konnte nicht fassen, dass sie derart schwer fällig waren und seine Aussage erst so spät aufgenommen hatten.
»Die ersten vierundzwanzg Stunden sind die kritischen, die absolut entscheidenden, und davon haben sie ein Viertel einfach verstreichen lassen.«
»Ich wusste gar nicht, dass Sie sich damit so gut auskennen, Sarah«, merkte Elaine an und lächelte säuerlich. Ihre Miene sagte allerdings: Halt den Mund, und hör zu, du dumme Gans.
»Der Polizeihubschrauber ist ungefähr um zwei Uhr morgens gestartet«, fuhr Michael Shepherd fort. »Mit Hilfe einer Infrarotkamera haben sie das Waldstück abgesucht, wo sie immer mit Archie spazieren gegangen ist. Sie meinten, dass sie sie durch die Wärme ihres Körpers selbst im Unterholz orten könnten. Aber sie konnten nichts finden.«
Also war sie entweder nicht dort, oder ihr Körper hat keine Wärme mehr abgegeben. Man musste kein Experte sein, um zu begreifen, worauf das hinauslief.
»Sie sagen immer wieder, dass es dauern könne, bis Ausreißer gefunden werden, obwohl ich ihnen erklärt habe, dass sie gar keine Ausreißerin ist. Nachdem sie im Wald keinen Erfolg hatten, begannen sie die Aufzeichnungen von Überwachungskameras der umliegenden Bahnhöfe auszuwerten, um zu überprüfen, ob sie vielleicht nach London gefahren ist. Aber das würde sie niemals tun. Immer wenn wir mit ihr dort waren, fand sie es ganz schrecklich. Als wir voriges Jahr in London Weihnachtseinkäufe gemacht haben, hat sie die ganze Zeit meine Hand nicht losgelassen. Es herrschte ein solches Gedränge, dass sie Angst hatte, verloren zu gehen.«
Er schaute hilflos von mir zu Elaine und dann wieder zu mir zurück.
Ich sehe ihm nach, schlendere in das leere Wohnzimmer und wieder zurück. Ich weiß nicht, was ich noch suche. Alles was ich brauche, habe ich. Ich gehe hinaus und schließe ein letztes Mal die Tür hinter mir. Ich gehe fort, und ich schaue mich nicht noch einmal um.
Übersetzung: Franka Reinhart
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2010 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München
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Bibliographische Angaben
- Autor: Jane Casey
- 2010, 1, 509 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868004572
- ISBN-13: 9783868004571
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