Die Waringham-Saga, 3 Bände im Schuber
- Packendes Historien-Epos
- Über 3.300 Seiten
- Inklusive Stammbaum-Poster
Leider schon ausverkauft
Buch
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Waringham-Saga, 3 Bände im Schuber “
- Packendes Historien-Epos
- Über 3.300 Seiten
- Inklusive Stammbaum-Poster
3 Bände im Schuber:
- Das Lächeln der Fortuna:
England 1360: Als der Earl of Waringham einem Komplott zum Opfer fällt und als angeblicher Hochverräter in den Tod getrieben wird, ist sein 12-jähriger Sohn Robin auf sich gestellt. Seines Titels beraubt, muss er sich in der Welt der Besitzlosen durchsetzen und sich gegen die neuen Eigentümer der Grafschaft Waringham behaupten. Die Intrigen des düsteren Mortimer treiben Robin bis an den Hof des Königs, dort will er sein Recht einfordern. Während Fortunas Rad sich dreht, erlebt Robin Armut und Prunk, Aufstände und Feldzüge sowie die Liebe seines Lebens … - Die Hüter der Rose:
England 1413: Als der dreizehnjährige John of Waringham fürchten muss, von seinem Vater in eine kirchliche Laufbahn gedrängt zu werden, reißt er aus und macht sich auf den Weg nach Westminster. Dort begegnet er König Harry und wird an dessen Seite schon jung zum Ritter und Kriegshelden. Doch Harrys plötzlicher Tod stürzt England in eine tiefe Krise, denn sein Sohn und Thronfolger ist gerade acht Monate alt … - Das Spiel der Könige:
England 1455: Der Bruderkrieg zwischen Lancaster und York um den englischen Thron macht den achtzehnjährigen Julian unverhofft zum Earl of Waringham. Als mit Edward IV. der erste König des Hauses York die Krone erringt, brechen für Julian schwere Zeiten an. Obwohl er ahnt, dass Edward seinem Land ein guter König sein könnte, schließt er sich dem lancastrianischen Widerstand unter der entthronten Königin Marguerite an, denn sie hat ihre ganz eigenen Methoden, sich seiner Vasallentreue zu versichern. Und die Tatsache, dass seine Zwillingsschwester eine gesuchte Verbrecherin ist, macht Julian verwundbar …
Lese-Probe zu „Die Waringham-Saga, 3 Bände im Schuber “
Das Lächeln der Fortuna von Rebecca Gablé1360-1361
... mehr
»Wenn sie uns erwischen, wird es sein, als sei das Jüngste Gericht über uns hereingebrochen«, prophezeite Lionel düster. Sein rundes Jungengesicht wirkte besorgt, und er schien leicht zu frösteln. Eine schwache Brise bauschte seine Novizenkutte auf. »Du kannst immer noch umkehren«, erwiderte Robin kühl. Er war beinah einen Kopf größer als sein gleichaltriger Schulkamerad, und er nutzte diesen Größenunterschied, um verächtlich auf ihn hinabzublicken. Lionel war oft der verzagtere und immer der vernünftigere von beiden. Doch seine Furcht, vor seinem Freund an Gesicht zu verlieren, war größer als die vor den möglichen Folgen ihres Unterfangens. »Wofür hältst du mich?« »Das kommt darauf an ...« Sie grinsten sich zu. Robin konnte das Gesicht seines Freundes schwach erkennen, und er sah seine Zähne aufblitzen. Die Nacht war nicht dunkel, denn in zwei Tagen war Vollmond. Zu ihrer Rechten erahnten sie die Umrisse des Kapitelsaals, wo die Mönche ihre täglichen Versammlungen abhielten. Er bildete die nördliche Begrenzungsmauer des Kreuzganges. Genau vor ihnen lag der schnurgerade Weg zum Haupttor. Die alten Linden, die ihn säumten, standen reglos in der Finsternis, wie eine Reihe Soldaten vor einem Nachtangriff. Robin und Lionel nahmen diesen Weg jedoch nicht. Lautlos überquerten sie den grasbewachsenen Innenhof, umrundeten den Fischteich und glitten schließlich in den schwarzen Schatten der Klostermauer, die sich zu beiden Seiten erstreckte und nach ein paar Ellen mit der Dunkelheit verschmolz.
Lionel ging drei Schritte nach rechts und blieb dann stehen. »Hier ist es am besten«, wisperte er. »Auf der anderen Seite steht ein Baum, an dem wir herunterklettern können.« Robin sah an der Mauer hinauf und nickte. »Du zuerst.« Er machte eine Räuberleiter, und Lionel legte eine Hand auf seine Schulter, stellte den rechten Fuß in Robins ineinander verschränkte Hände und stieg hoch. Er bekam die Mauerkante zu fassen und zog sich mit seinen kräftigen Armen hinauf. Dann brachte er sich in eine sitzende Haltung, ließ die Beine baumeln und spähte hinunter. »Und jetzt?« »Leg dich auf den Bauch, lass die Beine zur anderen Seite herunterhängen und zieh mich hoch. Ganz einfach.« »O ja. Wirklich ganz einfach. Warum lasse ich mich nur immer auf deine Torheiten ein, Waringham, kannst du mir das sagen?« Robin streckte ihm die Hand entgegen. »Wer ist der größere Tor? Der Tor oder der Tor, der ihm folgt?« Lionel wusste wie so oft keine Antwort. Er packte zu, und schließlich saßen sie beide keuchend oben auf der Mauer. Sie spürten nicht mehr, dass die Septembernacht kühl war, sie waren sogar ein bisschen ins Schwitzen gekommen. Also verschnauften sie einen Augenblick. Der Baum war eine uralte Weide. Sie überragte die Klostermauer ein gutes Stück, und ihre zahlreichen knorrigen Äste reichten fast bis zum Boden. Man konnte daran hinabklettern wie an einer Leiter. Die Äste ächzten leise, und das Laub raschelte, als die beiden Ausreißer sich an den Abstieg begaben. Ein paar lange, schmale Blätter schwebten lautlos zu Boden. »Ich hoffe nur, Oswin hat unsere Verabredung nicht verschlafen«, raunte Robin. »Dann war die ganze Mühe umsonst.«
»Wehe«, schnaubte Lionel. »Ich schlag' ihm seine Pferdezähne ein, wenn er uns versetzt! « »Ho, Mönchlein, große Worte für eine halbe Portion wie dich«, ertönte plötzlich eine leise Stimme hinter ihnen. »Hier bin ich schon.« Aus dem Schatten löste sich eine dunkle Gestalt und kam auf sie zu. »Ich wünschte, du würdest mich nicht immer so nennen.« Lionel seufzte unglücklich. »Wie? Mönchlein? Aber das bist du doch, oder etwa nicht?« Er beachtete Lionel nicht weiter und schlug Robin freundschaftlich auf die Schulter. »Waringham, alter Galgenvogel. Laß uns zuerst das Geschäft erledigen, wenn's dir recht ist.« Sein Ton hatte sich leicht verändert. Seit Oswin in den Stimmbruch gekommen war und seine Schultern so breit wie die seines Vaters geworden waren, war er für die Klosterschüler ein gottähnliches Idol, das sie mit unerschütterlicher Hingabe verehrten. Oswin behandelte sie dementsprechend mit gebotener Herablassung. Sein Vater war Stallknecht und kümmerte sich um die kleine Schar Pferde und Maultiere, die die Abtei von St. Thomas besaß. Seit er im Krieg gewesen war, trank er, und es war Oswin, der den Großteil der Arbeit erledigte. Er schuftete von früh bis spät, bereitete für sie beide die Mahlzeiten, wurde nicht selten am Abend ins Wirtshaus gerufen, um seinen betrunkenen Vater abzuholen, und erntete gelegentlich zum Dank ein blaues Auge. Niemand dachte im Traum daran, ihn zur Schule zu schicken, ihn lesen zu lehren und all die anderen Dinge, die die Schüler des klösterlichen Internats lernten. Oswin würde immer bleiben, was er war. Und trotzdem beneideten sie ihn, die Söhne von Landadeligen und reichen Kaufleuten. Um seine Freiheit und seine prahlerische Männlichkeit. Nur auf Robin hatte er weder mit Großspurigkeit noch mit seinen meist gutmütigen Einschüchterungen Eindruck machen können. Vielleicht war das der Grund, warum er den jungen Waringham von all diesen kleinen Bücherwürmern am liebsten mochte und ihm allein Zugang zum Pferdestall gestattete. Robin legte einen Farthing in Oswins ausgestreckte Hand. Sein Gegenüber ließ die kleine Münze mit einem zufriedenen Grinsen verschwinden. »Ziemlich knauserig für einen reichen Mann.« Robin schüttelte kurz den Kopf. »Bringst du uns dafür hin oder nicht?« Oswin tat, als zögere er. Als er feststellte, dass Robin nicht noch einmal in die kleine Tasche am Ärmel seiner Kutte greifen würde, brummte er mit gespielter Verstimmtheit: »Meinetwegen. Dann kommt.« Er wandte ihnen seinen breiten Rücken zu, und die beiden Jungen folgten ihm eilig. Sie liefen etwa eine Meile über die feuchten Wiesen, die das Kloster umgaben. Dann gelangten sie an ein kleines Flüsschen, das sie auf einem Holzsteg überquerten. Dahinter erhoben sich die ersten Häuser von Curn, einem kleinen Dorf, kaum mehr als ein Weiler, wo die Bauern lebten, die die klösterlichen Felder bewirtschafteten. Oswin führte sie auf einem staubigen Weg an der armseligen Holzkirche vorbei, am Haus des Dorfpfarrers und dem Wirtshaus. Damit ließen sie den Dorfplatz hinter sich, und die Häuser wurden wieder spärlicher. Sie sprachen nicht, und es gab auch nichts zu bereden. Das Geschäft mit Oswin war über mehrere Wochen verhandelt worden und vor zwei Tagen zum Abschluss gekommen. Er hatte seinen Lohn, und er wusste, was sie dafür wollten. Weder Robin noch Lionel verspürten Neigung, dem anderen einzugestehen, dass sie weiche Knie hatten und kaum genug Spucke im Mund, um zu schlucken. Plötzlich hielt Oswin an. »Hier ist es«, raunte er. »Wartet hier. Und seid um Himmels willen leise! « Er hatte sie zu einem kleinen Holzhaus gebracht, das noch armseliger schien als die anderen. Das Dach neigte sich in einem verwegenen Winkel, als wolle es jeden Moment abstürzen. Es gab keinen Kamin. Nur ein einziges Fenster neben der Tür gähnte sie schief an wie das Maul eines Ungeheuers. Ein wenig Rauch und zuckendes Licht drangen heraus. Oswin näherte sich weder Fenster noch Tür. Er trat statt dessen an die Rückwand des Häuschens, beugte sich ein wenig vor und stand dann still. So verharrte er so lange, bis die beiden Jungen ungeduldig wurden. Magisch angezogen traten sie näher. »Was ist?« flüsterte Robin, heiser vor Aufregung. Oswin wandte sich zu ihm um und legte einen Finger an die Lippen. »Jungs, ihr kriegt wirklich was geboten für euer Geld«, versprach er tonlos. Dann winkte er sie näher und wies mit den Zeigefingern auf zwei Astlöcher in der Wand, nahe nebeneinander, eins höher, das andere niedriger. Ermutigend klopfte er Robin die Schulter und schlenderte anschließend Richtung Wirtshaus davon, zweifellos, um festzustellen, wie betrunken sein Vater inzwischen war. Robin überließ Lionel das niedrigere Loch, lehnte behutsam die Stirn an die rohe Holzwand und spähte durch die höhere Öffnung hinein. Zuerst konnte er nicht viel erkennen. Drinnen schien es dunkler zu sein als hier draußen. Er war enttäuscht und erleichtert zugleich. Gerade, als er sich abwenden und von Oswin sein Geld zurückfordern wollte, erhaschte er eine Bewegung. Und dann erkannte er mit einemmal Formen und hielt den Atem an. Das Häuschen bestand nur aus einem einzigen Raum. Nahe der Tür befand sich eine kleine Kochstelle. Das Holz war fast heruntergebrannt, nur hier und da züngelten noch Flammen aus der Glut. An der Wand zur Linken war ein Bett, ein üppiges Strohlager mit einer Wolldecke darauf. Und auf dem Bett saß Emma, die Witwe des Kuhhirten, der diese jämmerliche Hütte gehörte. Es hieß, sie sei siebzehn gewesen, als ihr Mann vor zwei Jahren von einem wilden Stier aufgespießt worden war, und es hieß weiter, dass Emma sich ihre Witwenschaft nicht sonderlich zu Herzen nahm. Sie war eine lebenslustige junge Frau, und sie war wunderschön. Die Schüler von St. Thomas ließen sich keine Gelegenheit entgehen, einen Blick auf sie zu werfen, wenn sie gelegentlich sonntags das Hochamt in der Klosterkirche besuchte, und tagelang schwärmten sie heimlich oder offen von dem, was sie gesehen hatten. »Was betet ihr sie aus der Ferne an?« hatte Oswin halb verächtlich, halb belustigt gefragt. »Für einen halben Penny könnt ihr sie haben.« Sie hatten nicht so recht verstanden, was er meinte, und Bruder Anthony hatte ihre Unterhaltung unterbrochen und Oswin vom Schulgelände gejagt, ehe sie ihn um eine Erklärung bitten konnten. Doch Oswin hatte offenbar recht gehabt. Denn Emma war nicht allein. Und sie war nackt. Fassungslos starrte Robin auf ihre großen Brüste, die ihm riesig vorkamen, wie Euter. Er dachte an den verstorbenen Kuhhirten und unterdrückte ein nervöses Kichern. Ihre Haut erschien im schwachen Feuerschein kupferfarben, die Höfe und Warzen ihrer großzügigen Brüste schwarz. Nicht zum ersten mal spürte Robin dieses unerklärliche, herrliche und gleichzeitig schreckliche Gefühl irgendwo tief unten in seinem Körper. Aber es war noch nie so heftig gewesen. Er glaubte, das Gefühl wolle ihn in die Knie zwingen, es war, als müsse er sich zusammenkrümmen.
Der Mann, der neben dem Bett stand, war Cuthbert der Schmied. In der schwachen Glut zeichneten sich die mächtigen Muskeln seiner Arme und Schultern deutlich ab, und Robin glaubte zu erkennen, dass Emmas Blick bewundernd darüber streifte. Cuthbert sah auf sie hinunter, offenbar ebenso gebannt wie Robin. Dann erwachte er zum Leben. Er legte die Hände auf ihre Brüste, und Emma ließ sich zurückfallen, bis sie ausgestreckt auf dem Rücken lag, ihre kastanienfarbenen Locken umgaben ihr Gesicht wie ein dunkler Schleier. Sie schloss die Augen, und ihr wunderbarer, kirschroter Mund lächelte zufrieden, während die rauen Hände des Schmieds sanft über ihre Haut glitten. Dann ließ er sie plötzlich los, legte die Hände auf ihre angewinkelten Knie und schob sie auseinander. Robin stockte beinah der Atem. Gleich darauf verdeckte der breite Körper des Mannes dem Jungen die Sicht. Der Schmied legte sich zwischen Emmas Beine, und sofort begannen die beiden Körper, sich in einem langsamen, wunderbar harmonischen Rhythmus zu bewegen. Robin wusste, was sie taten. Der Unterschied zu Kühen oder Schafen oder Pferden war nicht so groß, dass er es nicht verstanden hätte, trotzdem war es völlig anders. Ihm wurde ungeheuer heiß. Der Rhythmus der beiden Körper wurde schneller und schneller, bis sie zuckten und sich wanden und ein bisschen grotesk wirkten. Und dann hörte er einen seltsamen Laut. Er verstand nicht gleich, was es war. Aber dann erklang der Laut wieder, diesmal lauter. Sie stöhnte. Und dann stöhnte er auch. Aber es war nicht, als hätten sie Schmerzen. Es war, als ob ... als ob ... Er fand kein Wort dafür. Seine Handflächen, die er links und rechts neben den Kopf an die Wand gelegt hatte, waren feucht. Seine Augen brannten. Er wusste nicht, wie lange er schon starrte, ohne zu blinzeln. Und dann lag plötzlich eine energische Hand auf seiner Schulter und riss ihn von dem Astloch weg. Robin fuhr entsetzt zusammen und unterdrückte im letzten Moment einen Laut. Erwischt! dachte er wütend. Sie haben uns erwischt! Aber es war nur Lionel. Er starrte ihn mit riesigen Augen an, und sein Gesicht schien im fahlen Mondlicht kalkweiß. Wortlos zerrte er Robin von der Hauswand weg, bis sie außer Hörweite waren. »O mein Gott, ist mir schlecht«, keuchte Lionel gepresst. »Was? Warum?« fragte Robin verständnislos. Er war immer noch benommen, halb dankbar, dass er dem beunruhigenden Schauspiel nicht länger folgen musste, halb enttäuscht. Lionel schüttelte sich unwillkürlich. »In meinem ganzen Leben habe ich noch nichts so Abscheuliches gesehen!« Robin schwieg betroffen. Er hatte es nicht abscheulich gefunden. Keineswegs. »Jetzt verstehe ich, was die Brüder meinen, wenn sie von der Sünde des Fleisches reden. Wer das tut, muss einfach in die Hölle kommen!« »Blödsinn. Was, glaubst du, haben deine Eltern gemacht, bevor du geboren wurdest?« Lionel war schockiert. »Bestimmt nicht das! «
Robin grinste vor sich hin. »Also ehrlich, manchmal bist du wirklich zu dämlich.« »Was soll das heißen? Was willst du über meine Eltern sagen?« Robin hörte deutlich den drohenden Unterton. »Gar nichts.« Er hob begütigend die Hände. »Nur, dass es natürlich ist. Alles Leben entsteht so. Es ist nicht schmutzig. Das reden sie uns nur ein. Und der Teu... ich meine, ich wüsste zu gerne, warum.« »Es ist nicht natürlich«, widersprach Lionel heftig. »Es ist falsch und sündig. Die Frauen sind daran schuld. Sie tragen immer noch die Sünde Evas mit sich. Das sagt Bruder Philippus. Und jetzt glaube ich das auch. Wie sie ihn angesehen hat! So voller ... Gier! Und wie kalt sie gelächelt hat. Was für eine Hexe sie doch ist. Ich weiß nicht, wie sie mir je gefallen konnte. Nein, ich glaube, jede Frau ist mit Satan im Bunde.« Was Lionel sagte, hörte Robin nicht zum ersten mal. Bruder Philippus hatte ihnen aus vielen Büchern gelehrter Männer vorgelesen, die alle das gleiche sagten. Aber er konnte es einfach nicht glauben. Er dachte immer an seine Mutter, wenn er hörte, dass alle Frauen sündig seien, dass sie von Natur aus größere Sünder seien als Männer, dass sie überhaupt die Sünde in die Welt gebracht hatten und dass eigentlich nur Jungfrauen in den Himmel kommen konnten. Dazu zählte seine Mutter eindeutig nicht, denn sie war verheiratet gewesen und hatte fünf Kinder geboren. Aber sie war ihm trotzdem immer als das vollkommenste aller Wesen erschienen, klug und schön und liebevoll. So hatte er sie jedenfalls in Erinnerung. Und als Bruder Philippus ihnen zum ersten mal von der Sünde aller Frauen vorgelesen hatte, hatte er die ganze Nacht wach gelegen und gebetet, Gott möge bei seiner Mutter eine Ausnahme machen. Die Vorstellung, dass sie im ewigen Feuer der Hölle brennen könnte, jetzt und bis in alle Ewigkeit, hatte ihn ganz krank gemacht.
Das war schon über vier Jahre her. Damals war er noch ein kleiner, leichtgläubiger Bengel gewesen, und seine Mutter war erst kurz zuvor gestorben. Heute glaubte er längst nicht mehr alles, was die Brüder ihnen auftischten. Trotzdem verspürte er ein leichtes Unbehagen. Er hatte den Anblick von Emma und Cuthbert nicht als abstoßend empfunden, im Gegenteil. Er hatte sich ein bisschen geschämt, weil er spionierte, weil er etwas ansah, das ganz gewiss nicht für fremde Augen bestimmt war. Aber was sie taten, erschien ihm nicht sündig. Lag es am Ende daran, dass er selbst sündig war? Sollte Bruder Anthony etwa doch recht haben, der jeden Tag wenigstens einmal behauptete, dass ihm, Robin, ein warmer Platz in der Hölle sicher sei? Er zog unbehaglich die Schultern hoch. »Und ich denke, Bruder Philippus und seine Gelehrten haben nicht recht. Es kann nicht Sünde sein. Warum sollte Gott es so eingerichtet haben, dass die Menschen in Sünde gezeugt werden? Heißt es nicht, er hat uns nach seinem Ebenbild geschaffen?« Lionel schüttelte entschieden den Kopf. »Du solltest die Bibelauslegung lieber denen überlassen, die sie verstehen und die das Wort Gottes nicht für ihre Zwecke verdrehen.« Sie waren wieder an der Mauer des Klosters angelangt. Robin kletterte auf den untersten Ast der Weide. »Schön, denk, was du willst. Aber wenn man dich hört, könnte man meinen, Oswin hat recht. Aus dir wird tatsächlich noch ein echter Klosterbruder.« Lionel sah ihn ärgerlich an. »Man muss kein Mönch sein, um gottesfürchtig zu leben und sich von der Sünde fernzuhalten.« Robin seufzte. »Vielleicht nicht. Aber wenn du glaubst, diese Geschichte hier beichten zu müssen, dann lass mich dabei aus dem Spiel, hörst du. Bring mich nicht in Schwierigkeiten mit deiner unbefleckten Heiligkeit.« Lionel presste die Lippen zusammen. »Manchmal fürchte ich um deine Seele, Robin.« Robin schwang sich über die Mauer. »Dann bete für mich, Mönchlein.« Als Bruder Bernhard am nächsten Morgen das Dormitorium betrat, seine misstönende Handglocke schwang und mit seiner rauen Bassstimme donnerte: »Gelobt sei Jesus Christus!«, sprangen dreißig Jungen im Alter zwischen sieben und vierzehn Jahren von ihren Lagern auf und erwiderten im Chor: »In Ewigkeit, Amen! « Nur Robin rührte sich nicht. Bruder Bernhard sah stirnrunzelnd zu ihm hinüber, aber ehe er herbeihinken konnte, um ihn mit einem gezielten Tritt auf die Beine zu bringen, hatte Lionel ihn am Ellenbogen gepackt und halb hoch gezerrt. »Aufstehen«, zischte er eindringlich. Robin fuhr aus dem Schlaf auf, strampelte seine leichte Wolldecke zurück und kam stolpernd hoch. »In ... Ewigkeit, Amen.« Bruder Bernhard brummte übellaunig und ging ohne Eile davon. Robin rieb sich die Augen und gähnte herzhaft. »Ich wünschte, ich könnte nur ein einziges Mal so lange schlafen, bis ich von selbst aufwache.« »Müßiggang ... «, begann Lionel, und Robin winkte eilig ab. »Ich weiß, ich weiß. Aber die Sache hat auch eine andere Seite. Wer schläft, sündigt nicht, oder?«
Lionel fiel keine überzeugende Erwiderung ein, und kurze Zeit später gingen sie nebeneinander in einem schweigenden, ordentlichen Zug mit den anderen Schülern zur Frühmesse. Nach dem Frühstück, das wie jeden Morgen aus einem Stück hartem, dunklem Brot und einem Becher verdünntem Bier bestand, begaben sie sich zum Schulhaus. In der ersten Stunde hatten sie Rechenunterricht bei Bruder Bernhard. Robin vergaß für eine Weile, wie unausgeschlafen er war, obwohl er gerade diese Stunde auch im Halbschlaf mühelos hätte bewältigen können. Der Umgang mit dem Abakus barg für ihn schon lange keine Tücken mehr. Manchmal, wenn Bruder Bernhard guter Laune war, erzählte er Robin ein wenig über die Grundbegriffe der Geometrie, und dann hatte er einen ungewöhnlich aufmerksamen Zuhörer. An diesem Morgen allerdings ließ er sie nur Kopfrechnen üben. Robin war ein bisschen gelangweilt, aber es hielt ihn zumindest wach. In der anschließenden Lateinstunde dagegen kämpfte er fortwährend mit dem Schlaf. Auf der Suche nach Ablenkung sah er wieder und wieder aus dem Fenster in den Obstgarten. Der Spätsommermorgen war heiß und dunstig geworden. Der Tau auf dem Gras und den Blättern der Apfelbäume war längst getrocknet. Still standen sie im warmen, fast messingfarbenen Sonnenlicht, und ihre Äste bogen sich unter ihrer rotgoldenen Last. Der süße Duft der Früchte lockte Wespen in Scharen an. Schon ein bisschen träge tummelten sie sich um das Fallobst im hohen Gras. Robin war dankbar für den wenig spektakulären Ausblick. Wenn der Herbstregen einsetzte, würden die Fenster mit Holzläden verschlossen, damit die Feuchtigkeit nicht ungehemmt in den Schulraum eindringen konnte, und sie würden wieder im trüben Halbdunkel bei eisiger Kälte sitzen. Aber noch war es nicht soweit, noch konnte er hinaussehen in den blauen Himmel und über die Felder hinter dem Obstgarten, die größtenteils schon abgeerntet waren. Erntezeit. Zu Hause brachten sie jetzt auch das Korn ein. Von früh bis spät würden die Bauern und ihre Familien auf den Feldern sein. Dann kam die Dreschzeit, und wenn das Stroh gebündelt war, kamen die Erntefeste, mit großen Feuern und Tanz und Ausgelassenheit, und das frisch gebraute Bier würde in den Krügen schäumen, und niemand schickte die Kinder ins Bett ... »Waringham, du gottloser Schwachkopf, was gibt es da draußen so Erbauliches zu sehen?«
Robin fuhr leicht zusammen. »Nichts, Bruder Anthony.« »Nichts?« Der kleine Mönch durchschritt die Gasse zwischen den Schulbänken, und sein schwarzes Habit flatterte dabei um seinen hageren Körper. Robin saß ganz hinten, weil er zu den Größten gehörte. Ein bevorzugter Platz, aber Bruder Anthony hatte gerade die letzten Bänke immer besonders im Auge. Er warf einen kurzen Blick durch das Fenster. »Warum starrst du dann immerzu hinaus?« »Es tut mir leid«, murmelte Robin ohne die geringsten Anzeichen echter Reue und unterdrückte ein Gähnen. Bruder Anthonys Lippen waren schmal und weiß, ein sicheres Anzeichen seines Missfallens. »Also, was haben wir denn da draußen? Ich sehe Apfel- und Birnbäume und vier Brüder bei der Obsternte. Ist es das, was dich so fasziniert?«
Die anderen Jungen lachten leise, ein bisschen nervös vielleicht. Robin sagte nichts. Bruder Anthony schüttelte verächtlich den Kopf. »Ich versuche, dir ein paar elementare Regeln der Stillehre beizubringen, und du siehst aus dem Fenster. Du glaubst, ein Obstgarten sei interessanter als Vergilius. Du bist ein Taugenichts! « Robin sah auf seine Hände. »Ja, Bruder Anthony.« »Voll sündiger Gedanken!« »Ja, Bruder Anthony.« Lionel ist da ganz deiner Meinung, dachte er halb grimmig, halb belustigt. Er bemühte sich um eine ausdruckslose Miene. »... nach dem Unterricht hierbleiben und die nächsten dreißig Zeilen auswendig lernen. Ich werde dich heute abhören. Besser, du lernst sie gut, Waringham! « Robin hatte nur mit halbem Ohr hingehört. Bruder Anthonys wüste Beschimpfungen hatten sich schon lange abgenutzt. Er hörte sie viel zu oft, um ihnen noch besondere Beachtung zu schenken. Doch als die letzten Worte zu ihm vordrangen, sah er entsetzt in das kantige Gesicht mit den scharfen, hellblauen Augen auf. »Aber ... « »Ja? Was wolltest du sagen, Schwachkopf?«
Er biss sich auf die Unterlippe. Heute Nachmittag wäre er an der Reihe gewesen, mit Bruder Cornelius nach Posset zu fahren. Es war nur ein Marktflecken, etwa drei Meilen westlich des Klosters, aber im Vergleich zu Curn war Posset eine Stadt. Auf dem Markt wurde das wenige eingekauft, was die Brüder nicht selber herstellten, wie Wolle, zum Beispiel. Jede Woche durfte einer der älteren Schüler Bruder Cornelius begleiten. Es gehörte zu den wenigen Abwechslungen in ihrem tristen, streng geregelten Internatsleben, und sie fieberten dem Ausflug schon Wochen im voraus entgegen. Bruder Cornelius, der Cellarius, war ein gutmütiger, fettleibiger Mönch, dessen Tonsur mit den Jahren zu einer großen, glänzenden Glatze geworden war, umgeben von einem schmalen Kranz grauer Zotteln. Er war so ganz anders als Bruder Anthony und die übrigen Lehrer, denn er ließ die Jungen den Wagen lenken, ließ sie unbeaufsichtigt und länger als nötig in dem bunten Treiben auf dem Markt herumstreunen, schwatzte einem Bäcker ein paar Honigkuchen für seine ewig ausgehungerten Begleiter ab, und er erzählte ihnen Geschichten aus der Zeit vor dem Krieg. Als der König nicht viel älter gewesen war als die Schüler von St. Thomas jetzt, bevor der Schwarze Tod gekommen war, und man konnte glauben, England sei damals ein dichtbevölkertes Land voll unbeschwerter Fröhlichkeit gewesen. Sie liebten Bruder Cornelius. Die Ausflüge mit ihm waren wie ein Hauch von Freiheit.
Robin spürte seine Enttäuschung wie einen großen, grauen Ozean, der sich vor ihm auftun wollte. Es würden mehr als drei Monate vergehen, bevor er wieder an der Reihe war. Für einen Augenblick fürchtete er, er werde in Tränen ausbrechen. Statt dessen wurde er zornig. »Ihr seid ungerecht, Bruder Anthony.« Betroffenes Schweigen legte sich über die Klasse. »Was sagtest du?« erkundigte der Lehrer sich leise. Robin rang um seinen Mut. »Ich ... habe überhaupt nichts getan. Ich habe meine Aufgaben gelernt, alles, was Ihr uns aufgetragen habt. Aber Ihr fragt mich nicht einmal danach. Warum?« Er hätte wirklich gerne den Grund gekannt, warum Bruder Anthony ihn so verabscheute.
© Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
»Wenn sie uns erwischen, wird es sein, als sei das Jüngste Gericht über uns hereingebrochen«, prophezeite Lionel düster. Sein rundes Jungengesicht wirkte besorgt, und er schien leicht zu frösteln. Eine schwache Brise bauschte seine Novizenkutte auf. »Du kannst immer noch umkehren«, erwiderte Robin kühl. Er war beinah einen Kopf größer als sein gleichaltriger Schulkamerad, und er nutzte diesen Größenunterschied, um verächtlich auf ihn hinabzublicken. Lionel war oft der verzagtere und immer der vernünftigere von beiden. Doch seine Furcht, vor seinem Freund an Gesicht zu verlieren, war größer als die vor den möglichen Folgen ihres Unterfangens. »Wofür hältst du mich?« »Das kommt darauf an ...« Sie grinsten sich zu. Robin konnte das Gesicht seines Freundes schwach erkennen, und er sah seine Zähne aufblitzen. Die Nacht war nicht dunkel, denn in zwei Tagen war Vollmond. Zu ihrer Rechten erahnten sie die Umrisse des Kapitelsaals, wo die Mönche ihre täglichen Versammlungen abhielten. Er bildete die nördliche Begrenzungsmauer des Kreuzganges. Genau vor ihnen lag der schnurgerade Weg zum Haupttor. Die alten Linden, die ihn säumten, standen reglos in der Finsternis, wie eine Reihe Soldaten vor einem Nachtangriff. Robin und Lionel nahmen diesen Weg jedoch nicht. Lautlos überquerten sie den grasbewachsenen Innenhof, umrundeten den Fischteich und glitten schließlich in den schwarzen Schatten der Klostermauer, die sich zu beiden Seiten erstreckte und nach ein paar Ellen mit der Dunkelheit verschmolz.
Lionel ging drei Schritte nach rechts und blieb dann stehen. »Hier ist es am besten«, wisperte er. »Auf der anderen Seite steht ein Baum, an dem wir herunterklettern können.« Robin sah an der Mauer hinauf und nickte. »Du zuerst.« Er machte eine Räuberleiter, und Lionel legte eine Hand auf seine Schulter, stellte den rechten Fuß in Robins ineinander verschränkte Hände und stieg hoch. Er bekam die Mauerkante zu fassen und zog sich mit seinen kräftigen Armen hinauf. Dann brachte er sich in eine sitzende Haltung, ließ die Beine baumeln und spähte hinunter. »Und jetzt?« »Leg dich auf den Bauch, lass die Beine zur anderen Seite herunterhängen und zieh mich hoch. Ganz einfach.« »O ja. Wirklich ganz einfach. Warum lasse ich mich nur immer auf deine Torheiten ein, Waringham, kannst du mir das sagen?« Robin streckte ihm die Hand entgegen. »Wer ist der größere Tor? Der Tor oder der Tor, der ihm folgt?« Lionel wusste wie so oft keine Antwort. Er packte zu, und schließlich saßen sie beide keuchend oben auf der Mauer. Sie spürten nicht mehr, dass die Septembernacht kühl war, sie waren sogar ein bisschen ins Schwitzen gekommen. Also verschnauften sie einen Augenblick. Der Baum war eine uralte Weide. Sie überragte die Klostermauer ein gutes Stück, und ihre zahlreichen knorrigen Äste reichten fast bis zum Boden. Man konnte daran hinabklettern wie an einer Leiter. Die Äste ächzten leise, und das Laub raschelte, als die beiden Ausreißer sich an den Abstieg begaben. Ein paar lange, schmale Blätter schwebten lautlos zu Boden. »Ich hoffe nur, Oswin hat unsere Verabredung nicht verschlafen«, raunte Robin. »Dann war die ganze Mühe umsonst.«
»Wehe«, schnaubte Lionel. »Ich schlag' ihm seine Pferdezähne ein, wenn er uns versetzt! « »Ho, Mönchlein, große Worte für eine halbe Portion wie dich«, ertönte plötzlich eine leise Stimme hinter ihnen. »Hier bin ich schon.« Aus dem Schatten löste sich eine dunkle Gestalt und kam auf sie zu. »Ich wünschte, du würdest mich nicht immer so nennen.« Lionel seufzte unglücklich. »Wie? Mönchlein? Aber das bist du doch, oder etwa nicht?« Er beachtete Lionel nicht weiter und schlug Robin freundschaftlich auf die Schulter. »Waringham, alter Galgenvogel. Laß uns zuerst das Geschäft erledigen, wenn's dir recht ist.« Sein Ton hatte sich leicht verändert. Seit Oswin in den Stimmbruch gekommen war und seine Schultern so breit wie die seines Vaters geworden waren, war er für die Klosterschüler ein gottähnliches Idol, das sie mit unerschütterlicher Hingabe verehrten. Oswin behandelte sie dementsprechend mit gebotener Herablassung. Sein Vater war Stallknecht und kümmerte sich um die kleine Schar Pferde und Maultiere, die die Abtei von St. Thomas besaß. Seit er im Krieg gewesen war, trank er, und es war Oswin, der den Großteil der Arbeit erledigte. Er schuftete von früh bis spät, bereitete für sie beide die Mahlzeiten, wurde nicht selten am Abend ins Wirtshaus gerufen, um seinen betrunkenen Vater abzuholen, und erntete gelegentlich zum Dank ein blaues Auge. Niemand dachte im Traum daran, ihn zur Schule zu schicken, ihn lesen zu lehren und all die anderen Dinge, die die Schüler des klösterlichen Internats lernten. Oswin würde immer bleiben, was er war. Und trotzdem beneideten sie ihn, die Söhne von Landadeligen und reichen Kaufleuten. Um seine Freiheit und seine prahlerische Männlichkeit. Nur auf Robin hatte er weder mit Großspurigkeit noch mit seinen meist gutmütigen Einschüchterungen Eindruck machen können. Vielleicht war das der Grund, warum er den jungen Waringham von all diesen kleinen Bücherwürmern am liebsten mochte und ihm allein Zugang zum Pferdestall gestattete. Robin legte einen Farthing in Oswins ausgestreckte Hand. Sein Gegenüber ließ die kleine Münze mit einem zufriedenen Grinsen verschwinden. »Ziemlich knauserig für einen reichen Mann.« Robin schüttelte kurz den Kopf. »Bringst du uns dafür hin oder nicht?« Oswin tat, als zögere er. Als er feststellte, dass Robin nicht noch einmal in die kleine Tasche am Ärmel seiner Kutte greifen würde, brummte er mit gespielter Verstimmtheit: »Meinetwegen. Dann kommt.« Er wandte ihnen seinen breiten Rücken zu, und die beiden Jungen folgten ihm eilig. Sie liefen etwa eine Meile über die feuchten Wiesen, die das Kloster umgaben. Dann gelangten sie an ein kleines Flüsschen, das sie auf einem Holzsteg überquerten. Dahinter erhoben sich die ersten Häuser von Curn, einem kleinen Dorf, kaum mehr als ein Weiler, wo die Bauern lebten, die die klösterlichen Felder bewirtschafteten. Oswin führte sie auf einem staubigen Weg an der armseligen Holzkirche vorbei, am Haus des Dorfpfarrers und dem Wirtshaus. Damit ließen sie den Dorfplatz hinter sich, und die Häuser wurden wieder spärlicher. Sie sprachen nicht, und es gab auch nichts zu bereden. Das Geschäft mit Oswin war über mehrere Wochen verhandelt worden und vor zwei Tagen zum Abschluss gekommen. Er hatte seinen Lohn, und er wusste, was sie dafür wollten. Weder Robin noch Lionel verspürten Neigung, dem anderen einzugestehen, dass sie weiche Knie hatten und kaum genug Spucke im Mund, um zu schlucken. Plötzlich hielt Oswin an. »Hier ist es«, raunte er. »Wartet hier. Und seid um Himmels willen leise! « Er hatte sie zu einem kleinen Holzhaus gebracht, das noch armseliger schien als die anderen. Das Dach neigte sich in einem verwegenen Winkel, als wolle es jeden Moment abstürzen. Es gab keinen Kamin. Nur ein einziges Fenster neben der Tür gähnte sie schief an wie das Maul eines Ungeheuers. Ein wenig Rauch und zuckendes Licht drangen heraus. Oswin näherte sich weder Fenster noch Tür. Er trat statt dessen an die Rückwand des Häuschens, beugte sich ein wenig vor und stand dann still. So verharrte er so lange, bis die beiden Jungen ungeduldig wurden. Magisch angezogen traten sie näher. »Was ist?« flüsterte Robin, heiser vor Aufregung. Oswin wandte sich zu ihm um und legte einen Finger an die Lippen. »Jungs, ihr kriegt wirklich was geboten für euer Geld«, versprach er tonlos. Dann winkte er sie näher und wies mit den Zeigefingern auf zwei Astlöcher in der Wand, nahe nebeneinander, eins höher, das andere niedriger. Ermutigend klopfte er Robin die Schulter und schlenderte anschließend Richtung Wirtshaus davon, zweifellos, um festzustellen, wie betrunken sein Vater inzwischen war. Robin überließ Lionel das niedrigere Loch, lehnte behutsam die Stirn an die rohe Holzwand und spähte durch die höhere Öffnung hinein. Zuerst konnte er nicht viel erkennen. Drinnen schien es dunkler zu sein als hier draußen. Er war enttäuscht und erleichtert zugleich. Gerade, als er sich abwenden und von Oswin sein Geld zurückfordern wollte, erhaschte er eine Bewegung. Und dann erkannte er mit einemmal Formen und hielt den Atem an. Das Häuschen bestand nur aus einem einzigen Raum. Nahe der Tür befand sich eine kleine Kochstelle. Das Holz war fast heruntergebrannt, nur hier und da züngelten noch Flammen aus der Glut. An der Wand zur Linken war ein Bett, ein üppiges Strohlager mit einer Wolldecke darauf. Und auf dem Bett saß Emma, die Witwe des Kuhhirten, der diese jämmerliche Hütte gehörte. Es hieß, sie sei siebzehn gewesen, als ihr Mann vor zwei Jahren von einem wilden Stier aufgespießt worden war, und es hieß weiter, dass Emma sich ihre Witwenschaft nicht sonderlich zu Herzen nahm. Sie war eine lebenslustige junge Frau, und sie war wunderschön. Die Schüler von St. Thomas ließen sich keine Gelegenheit entgehen, einen Blick auf sie zu werfen, wenn sie gelegentlich sonntags das Hochamt in der Klosterkirche besuchte, und tagelang schwärmten sie heimlich oder offen von dem, was sie gesehen hatten. »Was betet ihr sie aus der Ferne an?« hatte Oswin halb verächtlich, halb belustigt gefragt. »Für einen halben Penny könnt ihr sie haben.« Sie hatten nicht so recht verstanden, was er meinte, und Bruder Anthony hatte ihre Unterhaltung unterbrochen und Oswin vom Schulgelände gejagt, ehe sie ihn um eine Erklärung bitten konnten. Doch Oswin hatte offenbar recht gehabt. Denn Emma war nicht allein. Und sie war nackt. Fassungslos starrte Robin auf ihre großen Brüste, die ihm riesig vorkamen, wie Euter. Er dachte an den verstorbenen Kuhhirten und unterdrückte ein nervöses Kichern. Ihre Haut erschien im schwachen Feuerschein kupferfarben, die Höfe und Warzen ihrer großzügigen Brüste schwarz. Nicht zum ersten mal spürte Robin dieses unerklärliche, herrliche und gleichzeitig schreckliche Gefühl irgendwo tief unten in seinem Körper. Aber es war noch nie so heftig gewesen. Er glaubte, das Gefühl wolle ihn in die Knie zwingen, es war, als müsse er sich zusammenkrümmen.
Der Mann, der neben dem Bett stand, war Cuthbert der Schmied. In der schwachen Glut zeichneten sich die mächtigen Muskeln seiner Arme und Schultern deutlich ab, und Robin glaubte zu erkennen, dass Emmas Blick bewundernd darüber streifte. Cuthbert sah auf sie hinunter, offenbar ebenso gebannt wie Robin. Dann erwachte er zum Leben. Er legte die Hände auf ihre Brüste, und Emma ließ sich zurückfallen, bis sie ausgestreckt auf dem Rücken lag, ihre kastanienfarbenen Locken umgaben ihr Gesicht wie ein dunkler Schleier. Sie schloss die Augen, und ihr wunderbarer, kirschroter Mund lächelte zufrieden, während die rauen Hände des Schmieds sanft über ihre Haut glitten. Dann ließ er sie plötzlich los, legte die Hände auf ihre angewinkelten Knie und schob sie auseinander. Robin stockte beinah der Atem. Gleich darauf verdeckte der breite Körper des Mannes dem Jungen die Sicht. Der Schmied legte sich zwischen Emmas Beine, und sofort begannen die beiden Körper, sich in einem langsamen, wunderbar harmonischen Rhythmus zu bewegen. Robin wusste, was sie taten. Der Unterschied zu Kühen oder Schafen oder Pferden war nicht so groß, dass er es nicht verstanden hätte, trotzdem war es völlig anders. Ihm wurde ungeheuer heiß. Der Rhythmus der beiden Körper wurde schneller und schneller, bis sie zuckten und sich wanden und ein bisschen grotesk wirkten. Und dann hörte er einen seltsamen Laut. Er verstand nicht gleich, was es war. Aber dann erklang der Laut wieder, diesmal lauter. Sie stöhnte. Und dann stöhnte er auch. Aber es war nicht, als hätten sie Schmerzen. Es war, als ob ... als ob ... Er fand kein Wort dafür. Seine Handflächen, die er links und rechts neben den Kopf an die Wand gelegt hatte, waren feucht. Seine Augen brannten. Er wusste nicht, wie lange er schon starrte, ohne zu blinzeln. Und dann lag plötzlich eine energische Hand auf seiner Schulter und riss ihn von dem Astloch weg. Robin fuhr entsetzt zusammen und unterdrückte im letzten Moment einen Laut. Erwischt! dachte er wütend. Sie haben uns erwischt! Aber es war nur Lionel. Er starrte ihn mit riesigen Augen an, und sein Gesicht schien im fahlen Mondlicht kalkweiß. Wortlos zerrte er Robin von der Hauswand weg, bis sie außer Hörweite waren. »O mein Gott, ist mir schlecht«, keuchte Lionel gepresst. »Was? Warum?« fragte Robin verständnislos. Er war immer noch benommen, halb dankbar, dass er dem beunruhigenden Schauspiel nicht länger folgen musste, halb enttäuscht. Lionel schüttelte sich unwillkürlich. »In meinem ganzen Leben habe ich noch nichts so Abscheuliches gesehen!« Robin schwieg betroffen. Er hatte es nicht abscheulich gefunden. Keineswegs. »Jetzt verstehe ich, was die Brüder meinen, wenn sie von der Sünde des Fleisches reden. Wer das tut, muss einfach in die Hölle kommen!« »Blödsinn. Was, glaubst du, haben deine Eltern gemacht, bevor du geboren wurdest?« Lionel war schockiert. »Bestimmt nicht das! «
Robin grinste vor sich hin. »Also ehrlich, manchmal bist du wirklich zu dämlich.« »Was soll das heißen? Was willst du über meine Eltern sagen?« Robin hörte deutlich den drohenden Unterton. »Gar nichts.« Er hob begütigend die Hände. »Nur, dass es natürlich ist. Alles Leben entsteht so. Es ist nicht schmutzig. Das reden sie uns nur ein. Und der Teu... ich meine, ich wüsste zu gerne, warum.« »Es ist nicht natürlich«, widersprach Lionel heftig. »Es ist falsch und sündig. Die Frauen sind daran schuld. Sie tragen immer noch die Sünde Evas mit sich. Das sagt Bruder Philippus. Und jetzt glaube ich das auch. Wie sie ihn angesehen hat! So voller ... Gier! Und wie kalt sie gelächelt hat. Was für eine Hexe sie doch ist. Ich weiß nicht, wie sie mir je gefallen konnte. Nein, ich glaube, jede Frau ist mit Satan im Bunde.« Was Lionel sagte, hörte Robin nicht zum ersten mal. Bruder Philippus hatte ihnen aus vielen Büchern gelehrter Männer vorgelesen, die alle das gleiche sagten. Aber er konnte es einfach nicht glauben. Er dachte immer an seine Mutter, wenn er hörte, dass alle Frauen sündig seien, dass sie von Natur aus größere Sünder seien als Männer, dass sie überhaupt die Sünde in die Welt gebracht hatten und dass eigentlich nur Jungfrauen in den Himmel kommen konnten. Dazu zählte seine Mutter eindeutig nicht, denn sie war verheiratet gewesen und hatte fünf Kinder geboren. Aber sie war ihm trotzdem immer als das vollkommenste aller Wesen erschienen, klug und schön und liebevoll. So hatte er sie jedenfalls in Erinnerung. Und als Bruder Philippus ihnen zum ersten mal von der Sünde aller Frauen vorgelesen hatte, hatte er die ganze Nacht wach gelegen und gebetet, Gott möge bei seiner Mutter eine Ausnahme machen. Die Vorstellung, dass sie im ewigen Feuer der Hölle brennen könnte, jetzt und bis in alle Ewigkeit, hatte ihn ganz krank gemacht.
Das war schon über vier Jahre her. Damals war er noch ein kleiner, leichtgläubiger Bengel gewesen, und seine Mutter war erst kurz zuvor gestorben. Heute glaubte er längst nicht mehr alles, was die Brüder ihnen auftischten. Trotzdem verspürte er ein leichtes Unbehagen. Er hatte den Anblick von Emma und Cuthbert nicht als abstoßend empfunden, im Gegenteil. Er hatte sich ein bisschen geschämt, weil er spionierte, weil er etwas ansah, das ganz gewiss nicht für fremde Augen bestimmt war. Aber was sie taten, erschien ihm nicht sündig. Lag es am Ende daran, dass er selbst sündig war? Sollte Bruder Anthony etwa doch recht haben, der jeden Tag wenigstens einmal behauptete, dass ihm, Robin, ein warmer Platz in der Hölle sicher sei? Er zog unbehaglich die Schultern hoch. »Und ich denke, Bruder Philippus und seine Gelehrten haben nicht recht. Es kann nicht Sünde sein. Warum sollte Gott es so eingerichtet haben, dass die Menschen in Sünde gezeugt werden? Heißt es nicht, er hat uns nach seinem Ebenbild geschaffen?« Lionel schüttelte entschieden den Kopf. »Du solltest die Bibelauslegung lieber denen überlassen, die sie verstehen und die das Wort Gottes nicht für ihre Zwecke verdrehen.« Sie waren wieder an der Mauer des Klosters angelangt. Robin kletterte auf den untersten Ast der Weide. »Schön, denk, was du willst. Aber wenn man dich hört, könnte man meinen, Oswin hat recht. Aus dir wird tatsächlich noch ein echter Klosterbruder.« Lionel sah ihn ärgerlich an. »Man muss kein Mönch sein, um gottesfürchtig zu leben und sich von der Sünde fernzuhalten.« Robin seufzte. »Vielleicht nicht. Aber wenn du glaubst, diese Geschichte hier beichten zu müssen, dann lass mich dabei aus dem Spiel, hörst du. Bring mich nicht in Schwierigkeiten mit deiner unbefleckten Heiligkeit.« Lionel presste die Lippen zusammen. »Manchmal fürchte ich um deine Seele, Robin.« Robin schwang sich über die Mauer. »Dann bete für mich, Mönchlein.« Als Bruder Bernhard am nächsten Morgen das Dormitorium betrat, seine misstönende Handglocke schwang und mit seiner rauen Bassstimme donnerte: »Gelobt sei Jesus Christus!«, sprangen dreißig Jungen im Alter zwischen sieben und vierzehn Jahren von ihren Lagern auf und erwiderten im Chor: »In Ewigkeit, Amen! « Nur Robin rührte sich nicht. Bruder Bernhard sah stirnrunzelnd zu ihm hinüber, aber ehe er herbeihinken konnte, um ihn mit einem gezielten Tritt auf die Beine zu bringen, hatte Lionel ihn am Ellenbogen gepackt und halb hoch gezerrt. »Aufstehen«, zischte er eindringlich. Robin fuhr aus dem Schlaf auf, strampelte seine leichte Wolldecke zurück und kam stolpernd hoch. »In ... Ewigkeit, Amen.« Bruder Bernhard brummte übellaunig und ging ohne Eile davon. Robin rieb sich die Augen und gähnte herzhaft. »Ich wünschte, ich könnte nur ein einziges Mal so lange schlafen, bis ich von selbst aufwache.« »Müßiggang ... «, begann Lionel, und Robin winkte eilig ab. »Ich weiß, ich weiß. Aber die Sache hat auch eine andere Seite. Wer schläft, sündigt nicht, oder?«
Lionel fiel keine überzeugende Erwiderung ein, und kurze Zeit später gingen sie nebeneinander in einem schweigenden, ordentlichen Zug mit den anderen Schülern zur Frühmesse. Nach dem Frühstück, das wie jeden Morgen aus einem Stück hartem, dunklem Brot und einem Becher verdünntem Bier bestand, begaben sie sich zum Schulhaus. In der ersten Stunde hatten sie Rechenunterricht bei Bruder Bernhard. Robin vergaß für eine Weile, wie unausgeschlafen er war, obwohl er gerade diese Stunde auch im Halbschlaf mühelos hätte bewältigen können. Der Umgang mit dem Abakus barg für ihn schon lange keine Tücken mehr. Manchmal, wenn Bruder Bernhard guter Laune war, erzählte er Robin ein wenig über die Grundbegriffe der Geometrie, und dann hatte er einen ungewöhnlich aufmerksamen Zuhörer. An diesem Morgen allerdings ließ er sie nur Kopfrechnen üben. Robin war ein bisschen gelangweilt, aber es hielt ihn zumindest wach. In der anschließenden Lateinstunde dagegen kämpfte er fortwährend mit dem Schlaf. Auf der Suche nach Ablenkung sah er wieder und wieder aus dem Fenster in den Obstgarten. Der Spätsommermorgen war heiß und dunstig geworden. Der Tau auf dem Gras und den Blättern der Apfelbäume war längst getrocknet. Still standen sie im warmen, fast messingfarbenen Sonnenlicht, und ihre Äste bogen sich unter ihrer rotgoldenen Last. Der süße Duft der Früchte lockte Wespen in Scharen an. Schon ein bisschen träge tummelten sie sich um das Fallobst im hohen Gras. Robin war dankbar für den wenig spektakulären Ausblick. Wenn der Herbstregen einsetzte, würden die Fenster mit Holzläden verschlossen, damit die Feuchtigkeit nicht ungehemmt in den Schulraum eindringen konnte, und sie würden wieder im trüben Halbdunkel bei eisiger Kälte sitzen. Aber noch war es nicht soweit, noch konnte er hinaussehen in den blauen Himmel und über die Felder hinter dem Obstgarten, die größtenteils schon abgeerntet waren. Erntezeit. Zu Hause brachten sie jetzt auch das Korn ein. Von früh bis spät würden die Bauern und ihre Familien auf den Feldern sein. Dann kam die Dreschzeit, und wenn das Stroh gebündelt war, kamen die Erntefeste, mit großen Feuern und Tanz und Ausgelassenheit, und das frisch gebraute Bier würde in den Krügen schäumen, und niemand schickte die Kinder ins Bett ... »Waringham, du gottloser Schwachkopf, was gibt es da draußen so Erbauliches zu sehen?«
Robin fuhr leicht zusammen. »Nichts, Bruder Anthony.« »Nichts?« Der kleine Mönch durchschritt die Gasse zwischen den Schulbänken, und sein schwarzes Habit flatterte dabei um seinen hageren Körper. Robin saß ganz hinten, weil er zu den Größten gehörte. Ein bevorzugter Platz, aber Bruder Anthony hatte gerade die letzten Bänke immer besonders im Auge. Er warf einen kurzen Blick durch das Fenster. »Warum starrst du dann immerzu hinaus?« »Es tut mir leid«, murmelte Robin ohne die geringsten Anzeichen echter Reue und unterdrückte ein Gähnen. Bruder Anthonys Lippen waren schmal und weiß, ein sicheres Anzeichen seines Missfallens. »Also, was haben wir denn da draußen? Ich sehe Apfel- und Birnbäume und vier Brüder bei der Obsternte. Ist es das, was dich so fasziniert?«
Die anderen Jungen lachten leise, ein bisschen nervös vielleicht. Robin sagte nichts. Bruder Anthony schüttelte verächtlich den Kopf. »Ich versuche, dir ein paar elementare Regeln der Stillehre beizubringen, und du siehst aus dem Fenster. Du glaubst, ein Obstgarten sei interessanter als Vergilius. Du bist ein Taugenichts! « Robin sah auf seine Hände. »Ja, Bruder Anthony.« »Voll sündiger Gedanken!« »Ja, Bruder Anthony.« Lionel ist da ganz deiner Meinung, dachte er halb grimmig, halb belustigt. Er bemühte sich um eine ausdruckslose Miene. »... nach dem Unterricht hierbleiben und die nächsten dreißig Zeilen auswendig lernen. Ich werde dich heute abhören. Besser, du lernst sie gut, Waringham! « Robin hatte nur mit halbem Ohr hingehört. Bruder Anthonys wüste Beschimpfungen hatten sich schon lange abgenutzt. Er hörte sie viel zu oft, um ihnen noch besondere Beachtung zu schenken. Doch als die letzten Worte zu ihm vordrangen, sah er entsetzt in das kantige Gesicht mit den scharfen, hellblauen Augen auf. »Aber ... « »Ja? Was wolltest du sagen, Schwachkopf?«
Er biss sich auf die Unterlippe. Heute Nachmittag wäre er an der Reihe gewesen, mit Bruder Cornelius nach Posset zu fahren. Es war nur ein Marktflecken, etwa drei Meilen westlich des Klosters, aber im Vergleich zu Curn war Posset eine Stadt. Auf dem Markt wurde das wenige eingekauft, was die Brüder nicht selber herstellten, wie Wolle, zum Beispiel. Jede Woche durfte einer der älteren Schüler Bruder Cornelius begleiten. Es gehörte zu den wenigen Abwechslungen in ihrem tristen, streng geregelten Internatsleben, und sie fieberten dem Ausflug schon Wochen im voraus entgegen. Bruder Cornelius, der Cellarius, war ein gutmütiger, fettleibiger Mönch, dessen Tonsur mit den Jahren zu einer großen, glänzenden Glatze geworden war, umgeben von einem schmalen Kranz grauer Zotteln. Er war so ganz anders als Bruder Anthony und die übrigen Lehrer, denn er ließ die Jungen den Wagen lenken, ließ sie unbeaufsichtigt und länger als nötig in dem bunten Treiben auf dem Markt herumstreunen, schwatzte einem Bäcker ein paar Honigkuchen für seine ewig ausgehungerten Begleiter ab, und er erzählte ihnen Geschichten aus der Zeit vor dem Krieg. Als der König nicht viel älter gewesen war als die Schüler von St. Thomas jetzt, bevor der Schwarze Tod gekommen war, und man konnte glauben, England sei damals ein dichtbevölkertes Land voll unbeschwerter Fröhlichkeit gewesen. Sie liebten Bruder Cornelius. Die Ausflüge mit ihm waren wie ein Hauch von Freiheit.
Robin spürte seine Enttäuschung wie einen großen, grauen Ozean, der sich vor ihm auftun wollte. Es würden mehr als drei Monate vergehen, bevor er wieder an der Reihe war. Für einen Augenblick fürchtete er, er werde in Tränen ausbrechen. Statt dessen wurde er zornig. »Ihr seid ungerecht, Bruder Anthony.« Betroffenes Schweigen legte sich über die Klasse. »Was sagtest du?« erkundigte der Lehrer sich leise. Robin rang um seinen Mut. »Ich ... habe überhaupt nichts getan. Ich habe meine Aufgaben gelernt, alles, was Ihr uns aufgetragen habt. Aber Ihr fragt mich nicht einmal danach. Warum?« Er hätte wirklich gerne den Grund gekannt, warum Bruder Anthony ihn so verabscheute.
© Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
... weniger
Autoren-Porträt von Rebecca Gable
Rebecca Gablé, Jahrgang 1964, in einer Kleinstadt am Niederrhein geboren, war nach dem Studium der Literaturwissenschaft, Sprachgeschichte und Mediävistik als Dozentin für mittelalterliche englische Literatur tätig. Ihr erster Roman "Jagdfieber" wurde 1996 für den Glauser-Krimipreis nominiert. Wenn sie nicht gerade an einem Roman schreibt, reist sie gern und viel, vor allem in die USA und nach England, oft auch zu Recherchezwecken. Neben der Literatur gilt ihr Interesse der (mittelalterlichen) Geschichte, dem Theater und vor allem der Musik, in fast jeder Erscheinungsform. Rebecca Gablé spielt Klavier, Gitarre, Cello und singt seit vielen Jahren in einer Rockband. Mit ihrem Mann lebt sie unweit von Mönchengladbach auf dem Land.
Bibliographische Angaben
- Autor: Rebecca Gable
- 3504 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Kart. im Schuber
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 386800968X
- ISBN-13: 9783868009682
Kommentare zu "Die Waringham-Saga, 3 Bände im Schuber"
5 von 5 Sternen
5 Sterne 29Schreiben Sie einen Kommentar zu "Die Waringham-Saga, 3 Bände im Schuber".
Kommentar verfassen