In den Armen der Nacht / Eve Dallas Bd.20
Roman
Bei der New Yorker Polizei geht der Anruf eines verängstigten Kindes ein. Eve Dallas macht sich sofort auf den Weg - und findet ein Blutbad vor. Einzige Überlebende ist die neunjährige Nixie - und die schwebt als Augenzeugin in höchster Lebensgefahr.
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Produktinformationen zu „In den Armen der Nacht / Eve Dallas Bd.20 “
Bei der New Yorker Polizei geht der Anruf eines verängstigten Kindes ein. Eve Dallas macht sich sofort auf den Weg - und findet ein Blutbad vor. Einzige Überlebende ist die neunjährige Nixie - und die schwebt als Augenzeugin in höchster Lebensgefahr.
Klappentext zu „In den Armen der Nacht / Eve Dallas Bd.20 “
Ein neuer explosiver Lady-Thriller und ein neuer Fall für Eve Dallas, der sie tief in ihre eigene Vergangenheit zurückführtMitten in der Nacht trifft bei der New Yorker Polizei der ängstliche Notruf eines kleinen Mädchens ein. Eve Dallas macht sich sofort auf den Weg, doch sie kommt zu spät: Die ganze Familie Swisher ist tot, und anscheinend waren hochprofessionelle Killer am Werk, die keine Spuren hinterlassen haben. Nur ein Familienmitglied - die neunjährige Nixie - entging dem Blutbad. Als Eve das zitternde Mädchen erblickt, ist es um sie geschehen. Um jeden Preis will sie das Kind schützen, denn Nixie schwebt als einzige Augenzeugin in höchster Gefahr ...
Lese-Probe zu „In den Armen der Nacht / Eve Dallas Bd.20 “
In den Armen der Nacht von J. D. RobbProlog
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Das nächtliche Verlangen nach einer Orangenlimonade rettete Nixies Leben. Als sie die Augen aufschlug, warf sie einen Blick auf die leuchtend roten Ziffern ihrer Armbanduhr und sah, es war bereits nach zwei.
Es war ihr nicht gestattet, zwischen den Mahlzeiten etwas zu essen oder zu trinken, was nicht auf der Liste gesunder Nahrungsmittel ihrer Mutter stand. Vor allem nicht um zwei Uhr nachts.
Andererseits würde sie sterben, wenn sie keine Orangenlimonade bekam.
Sie rollte sich auf die Seite und stieß ihre weltbeste Freundin Linnie Dyson an. Obwohl sie morgen in die Schule mussten, durfte Linnie bei ihr übernachten, denn Linnies Mom und Dad feierten ihren Hochzeitstag in irgendeinem schicken Hotel.
Damit sie miteinander schlafen konnten. Mom und Mrs Dyson sagten, sie übernachteten in dem Hotel, um ein elegantes Dinner einnehmen und tanzen gehen zu können, aber sie wussten ganz genau, es ging dabei um Sex. Himmel, sie und Linnie waren neun und nicht mehr zwei. Sie kannten sich mit diesen Dingen aus.
Davon abgesehen waren ihnen diese Dinge vollkommen egal. Ihnen war nur wichtig, dass Mom - das Regelmonster - von der Regel abgewichen war, dass mitten in der Woche kein anderes Kind bei ihnen schlief. Denn obwohl sie um halb zehn die Lichter löschen mussten - als wären sie noch Babys - hatten sie und Linnie sich prächtig amüsiert.
Bis zur Schule waren es noch Stunden, und sie hatte jetzt Durst. Also piekste sie die Freundin an und flüsterte ihr zu: »Wach auf!«
»Neee. Es ist noch gar nicht Morgen. Es ist noch dunkel.«
»Es ist Morgen. Es ist zwei Uhr morgens.« Deshalb war es auch so kühl. »Ich will eine Orangenlimo. Lass uns runtergehen und uns eine holen. Wir können sie uns teilen.« Linnie stieß ein leises Knurren aus, rollte sich auf die andere Seite und zog sich ihre Decke fast bis über den Kopf.
»Tja, dann gehe ich eben alleine«, zischte Nixie und stand leise auf.
Es war nicht ganz so lustig, wenn sie alleine gehen musste, aber solange sie an die verbotene Limonade dächte, bekäme sie kein Auge zu. Sie müsste sich ganz runter in die Küche schleichen, weil ihre Mutter nicht erlaubte, dass sie einen eigenen AutoChef bekam. Es war wie im Gefängnis, dachte Nixie. Wie in einem Gefängnis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts und nicht wie im Jahr 2059 in ihrem eigenen Haus.
Mom hatte sogar Kindersicherungen an den Auto-Chefs in ihrem Haushalt anbringen lassen, damit Nixie und ihr Bruder Coyle nur Vitamindrinks bestellen konnten, igitt.
Weshalb schlürften sie nicht gleich irgendwelchen Schlamm?
Ihr Vater sagte: »Regeln müssen eingehalten werden.« Das sagte er sehr oft. Aber manchmal zwinkerte er ihr und ihrem Bruder dabei zu, wenn Mom nicht in der Nähe war, und bestellte Eiscreme oder Chips.
Nixie glaubte, Mom würde es trotzdem mitbekommen und einfach nur so tun, als wäre sie für dieses Treiben blind.
Sie schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer, ein hübsches kleines Mädchen mit dicht gelocktem, platinblondem Haar und blassblauen Augen, mit denen sie allmählich trotz der Dunkelheit ausreichend sah.
Außerdem brannte im Bad am Ende des Korridors ein kleines Licht, falls einmal jemand nachts auf die Toilette musste oder so.
Mit angehaltenem Atem schlich sie an Coyles Zimmer vorbei. Wenn er sie bemerkte, könnte es passieren, dass er sie verpetzte. Manchmal war er wirklich blöd. Aber manchmal war er auch in Ordnung. Sie blieb einen Moment lang stehen und überlegte, ob sie in sein Zimmer schleichen und ihn wecken sollte, damit er ihr bei diesem Abenteuer Gesellschaft leistete.
Neee. Schließlich war es doppelt aufregend, wenn sie sich alleine in die Küche stahl. Als sie am Elternschlafzimmer vorbeikam, hielt sie abermals den Atem an und hoffte, sie tauchte nicht auf dem Radarschirm ihrer Mutter auf.
Aber nichts und niemand rührte sich, als sie die Treppe hinunterschlich.
Selbst nachdem sie unten angekommen war, verhielt sie sich mucksmäuschenstill. Schließlich musste sie noch an der Wohnung ihrer Haushälterin vorbei, die direkt hinter der Küche lag. Direkt neben ihrem Ziel. Eigentlich war Inga echt in Ordnung, aber sie würde ihr ganz sicher nie erlauben, dass sie mitten in der Nacht eine Orangenlimo trank.
Regeln mussten eingehalten werden, sagte Inga genauso wie ihr Dad.
Deshalb machte sie kein Licht an, als sie sich wie eine Diebin in die große Küche schlich. Dadurch wurde es noch spannender, und deshalb würde die Orangenlimo noch viel besser als gewöhnlich schmecken, dachte sie.
Vorsichtig zog sie die Tür des Kühlschranks auf.
Plötzlich kam ihr der Gedanke, dass ihre Mutter solche Sachen vielleicht zählte. Vielleicht hatte sie ja eine Liste und auf der hakte sie jede Limonade und jede Süßigkeit, die sie verzehrten, ab.
Aber für einen Rückzieher war es zu spät. Sie würde sich einfach später Gedanken machen, falls sie für die verbotene Tat einen Preis bezahlen müsste.
Die Limonadendose in der Hand schlurfte sie ans Küchenende, von wo aus sie die Tür zu Ingas Zimmer im Auge behalten und hinter der Kochinsel verschwinden konnte, falls es nötig war.
Sie öffnete die Dose in der Dunkelheit und nahm den ersten verbotenen Schluck.
Es schmeckte ihr so gut, dass sie auf der Bank in der Frühstücksecke Platz nahm, um jeden Tropfen ihres köstlichen Getränks zu genießen.
Kaum hatte sie es sich jedoch bequem gemacht, als ein Geräusch an ihre Ohren drang und sie auf der Bank unter dem Tisch in Deckung ging. Dann sah sie eine Bewegung und dachte: Jetzt hat sie mich erwischt!
Doch der Schatten glitt vollkommen lautlos durch die Küche bis zur Tür von Ingas Zimmer und ging dann einfach hinein.
Ein Mann. Nixie fing fröhlich an zu kichern und hielt sich eilig eine Hand vor ihren Mund. Inga hatte einen Freund! Dabei war sie schon so alt - sie musste mindestens vierzig sein. Anscheinend hatten nicht nur Linnies Eltern heute Abend Sex.
Die Versuchung war zu groß, und so ließ sie ihre Limodose einfach stehen und glitt leise von der Bank. Sie musste einfach gucken, musste einfach sehen, was dort geschah. Deshalb schlich sie durch die Küche in Ingas kleines Wohnzimmer und von dort weiter zum Schlafraum, vor dessen offener Tür sie sich auf alle viere fallen ließ.
Wenn Linnie das erfahren würde, würde sie grün vor Neid.
Mit vergnügt blitzenden Augen hielt Nixie sich erneut den Mund zu, um sich nicht durch ein Kichern zu verraten, schob sich ein Stückchen weiter, legte ihren Kopf ein wenig schräg ...
... und sah, wie der Mann Inga die Kehle durchschnitt.
Sie sah das herausspritzende Blut. Hörte ein grauenhaftes, gurgelndes Geräusch. Sie atmete zischend in ihre vor den Mund gepresste Hand, schob sich ein Stück zurück und drückte sich, während das wilde Pochen ihres Herzens ihre Brust zu sprengen drohte, mit dem Rücken gegen die Wand.
Er kam wieder heraus, ging direkt an ihr vorbei und verschwand durch die offene Tür.
Tränen quollen ihr aus den Augen und flossen zwischen ihren gespreizten Fingern in Richtung ihres Kinns. Zitternd kroch sie durch das Zimmer, versteckte sich hinter einem Stuhl, streckte die Hand nach Ingas auf dem Tisch liegenden Handy aus ...
... und rief flüsternd die Polizei.
»Er hat sie umgebracht, er hat sie umgebracht. Sie müssen kommen«, wisperte sie ein ums andere Mal, ohne auf die Fragen am anderen Ende der Leitung einzugehen. »Sofort. Sie müssen sofort kommen.« Sie nannte die Adresse, ließ das Handy achtlos auf dem Boden liegen und kroch langsam bis zu der schmalen Treppe, über die man aus Ingas Wohnung direkt in die obere Etage kam.
Sie wollte zu ihrer Mommy.
Sie wagte nicht zu rennen und stand gar nicht erst auf. Ihre Beine fühlten sich so seltsam an, als wären ihre Knochen aus Gelee. Deshalb robbte sie lautlos schluchzend auf dem Bauch den Korridor hinauf. Zu ihrem Entsetzen sah sie jetzt nicht nur den einen Schatten wieder, sondern inzwischen sogar zwei. Einer öffnete die Tür von ihrem Zimmer, und der andere ging in den Raum, in dem ihr Bruder schlief.
Wimmernd zwang sie ihren Körper durch die Tür des Schlafzimmers der Eltern. Sie hörte ein Geräusch, ein dumpfes Pochen, und presste ihr Gesicht fest in den Teppich, als ihr Magen sich zusammenzog.
Dann gingen die Schatten wieder an der offenen Tür vorbei. Sie sah sie, und sie hörte sie. Obwohl sie sich bewegten, als ob sie tatsächlich nur Schatten wären. Nicht ein mörderisches Menschenpaar.
Zitternd kroch sie weiter, an Moms Sessel und dem kleinen Tisch mit der bunten Lampe vorbei. Bis ihre Hand durch etwas Warmes, Nasses glitt.
Sie zog sich am Bett der Eltern hoch und starrte auf ihre Mom und ihren Dad. Wegen all des Blutes war von ihnen kaum noch etwas zu erkennen.
1
Mord war immer eine Beleidigung, und zwar seit der erste Menschenschädel von der ersten Menschenhand eingeschlagen worden war. Doch der blutige, brutale Mord an einer ganzen Familie in ihrem eigenen Haus, in ihren eigenen Betten war eine andere Form des Bösen, dachte sie.
Lieutenant Eve Dallas von der New Yorker Polizei blickte auf die zweiundvierzigjährige Inga Snood. Hausangestellte, geschieden. Tot.
Die Position der Toten und der Blutspritzer verrieten, wie es abgelaufen war. Snoods Mörder war zur Tür hereingekommen, vor das Bett getreten, hatte ihren Kopf - wahrscheinlich am mittellangen, blonden Haar - vom Kissen hochgerissen und ihr dann von links nach rechts mit einem scharfen Messer die Kehle und die Halsschlagader durchtrennt.
Relativ sauber, auf alle Fälle schnell. Wahrscheinlich völlig lautlos. Es war unwahrscheinlich, dass das Opfer überhaupt begriffen hatte, was mit ihm geschah. Außer der klaffenden Schnittwunde am Hals wies Inga keine Abwehr- oder anderen Verletzungen und keine Spuren eines Kampfes auf. Außer Blut und Tod war nichts zu sehen.
Eve war vor ihrer Partnerin und der Spurensicherung im Haus erschienen. Der Notruf war bei der Zentrale eingegangen, die hatte ihn an einen Einsatzwagen weitergegeben, der gerade in der Gegend Streife gefahren war. Die uniformierten Beamten hatten die Mordkommission verständigt, der weitergeleitete Anruf hatte sie um kurz vor drei erreicht.
Die anderen Toten und die anderen Zimmer hatte sie noch nicht gesehen. Sie kehrte aus Snoods Schlafzimmer in die Küche zurück und wandte sich dem dort postierten Polizisten zu.
»Sichern Sie das Zimmer weiter, ja?«
»Ja, Madam, Lieutenant. «
Sie marschierte in einen zweigeteilten, halb als Wohn-und halb als Esszimmer benutzten Raum weiter. Die Swishers hatten offenbar recht gut verdient. Sie konnten sich ein hübsches Einfamilienhaus in einer ordentlichen Gegend in der Upper West Side, eine teure Sicherheitsanlage und eine Angestellte leisten, auch wenn all das letztendlich völlig nutzlos gewesen war.
Das Haus war geschmackvoll eingerichtet, alles wirkte aufgeräumt und sauber und offenbar stand jedes Stück an seinem Platz. Es schien kein Raubmord zu sein, denn die leicht zu transportierenden, teuren elektronischen Geräte waren alle noch da.
Sie ging in die obere Etage und suchte dort zuerst das Schlafzimmer der Eltern auf. Keelie und Grant Swisher, achtunddreißig beziehungsweise vierzig Jahre alt. Auch dieser Raum wies keine Spuren eines Kampfes auf. Nur zwei Menschen, die in ihrem eigenen Bett geschlafen hatten und jetzt nicht mehr lebten.
Sie sah sich eilig um und entdeckte auf dem Ankleidetisch ein Paar goldene Ohrringe und eine teure Herrenarmbanduhr.
Nein, es ging ganz sicher nicht um einen Raub, dachte sie.
Als sie den Raum wieder verließ, kam ihre Partnerin, Detective Delia Peabody - immer noch leicht hinkend - die Treppe aus dem Erdgeschoss herauf.
Hatte sie sie vielleicht zu früh wieder in den aktiven Dienst gelassen, überlegte Eve. Schließlich war es erst drei Wochen her, dass sie vor ihrer eigenen Wohnung auf der Straße überfallen und zusammengeschlagen worden war. Den Anblick der robusten Peabody, als sie mit gebrochenen Knochen, Prellungen und Abschürfungen bewusstlos auf der Intensivstation gelegen hatte, vergäße sie wahrscheinlich nie.
Doch sie musste dieses Bild und die Schuldgefühle, die sie hatte, so gut es ging verdrängen und sich daran erinnern, dass sie selbst es hasste, wenn sie krankgeschrieben war, und dass Arbeit manchmal besser als erzwungene Ruhe bei der Genesung half.
»Fünf Tote? Infolge eines Einbruchs?« Peabody zeigte leicht keuchend auf die Treppe. »Der Beamte unten an der Tür hat mir einen kurzen Überblick verschafft.«
»So sieht es bisher aus, auch wenn wir noch nicht sicher wissen, was genau hier vorgefallen ist. Die Hausangestellte liegt unten in ihrem eigenen Schlafzimmer direkt neben der Küche. Ihr wurde im Schlaf die Kehle durchgeschnitten. Die Eigentümer des Hauses und die beiden Kinder, ein Mädchen und ein Junge, liegen hier oben in ihren jeweiligen Zimmern. Auch ihnen wurden im Schlaf die Halsschlagadern aufgeschlitzt.«
»Kinder? Meine Güte.«
»Der Beamte, der zuerst am Tatort war, meinte, hier läge der Junge.« Eve ging zur nächsten Tür und machte Licht.
»Coyle Swisher, der zwölfjährige Sohn.« Die Wände waren mit gerahmten Sportpostern, vor allem zum Thema Baseball, übersät. Etwas von seinem Blut war auf den Oberkörper des augenblicklich heißesten linken Außenfeldspielers der Yankees gespritzt.
Der Fußboden, der Schreibtisch und die Wäschekommode waren mit dem Unrat eines Heranwachsenden übersät, es gab jedoch nirgendwo ein Zeichen dafür, dass Coyle vorgewarnt gewesen war, genauso wenig wie seine Eltern.
Peabody presste die Lippen aufeinander, räusperte sich leise und stellte tonlos fest: »Schnell und effizient.«
»Es gibt keinen Hinweis darauf, dass jemand gewaltsam eingedrungen ist. Es gab keinen Alarm. Entweder hatten die Swishers vergessen, die Alarmanlage einzuschalten - was ich mir nicht vorstellen kann -, oder jemand hatte ihre Codes oder einen guten Störsender dabei. Das Mädchen müsste hier unten liegen.«
»Okay.« Peabody straffte die Schultern. »Es ist noch härter, wenn es Kinder sind.«
»Das ist auch gut so.« Eve ging in das nächste Zimmer, machte Licht und blickte auf das rosa-weiße Rüschenbett und das kleine Mädchen mit dem blutverklebten blonden Haar. »Das muss die neunjährige Nixie Swisher sein.«
»Praktisch noch ein Baby.«
»Ja.« Eve sah sich mit schräg gelegtem Kopf im Zimmer um. »Was sehen Sie, Peabody? «
»Ein armes Kind, das keine Chance mehr hat zu sehen, wie das Erwachsenenleben ist. «
»Da stehen zwei Paar Schuhe.«
»Kinder, vor allem aus wohlhabenderen Familien, haben jede Menge Schuhe.«
»Und zwei von diesen Rucksäcken, in denen Kinder ihre Sachen durch die Gegend schleppen. Haben Sie Ihre Hände schon versiegelt?«
»Nein, ich bin gerade erst -«
»Ich aber.« Eve trat neben das Bett und streckte eine ihrer Hände nach den Schuhen aus. »Das sind verschiedene Größen. Holen Sie den Beamten, der zuerst hier war. «
Als Peabody den Raum verließ, blickte Eve, die Schuhe noch immer in der Hand haltend, wieder auf das Bett. Dann stellte sie die Schuhe fort und machte ihren Untersuchungsbeutel auf.
Ja, es war noch härter, wenn es Kinder traf. Es war entsetzlich hart, eine so kleine Hand zu nehmen. Eine so kleine, schlaffe Hand, und dabei auf den Menschen zu blicken, dem so viele Jahre gestohlen worden waren, all die Freuden und die Schmerzen, die es im Verlauf von einem Leben zu erleben gab.
Sie drückte die Finger auf den Identifizierungspad und wartete auf das Ergebnis.
»Officer Grimes, Lieutenant«, sagte Peabody aus Richtung Tür. »Er war als Erster hier.«
»Wer hat die Sache gemeldet, Grimes?«, fragte Eve, ohne sich auch nur umzudrehen.
»Eine unbekannte weibliche Person, Madam.« »Wo ist diese unbekannte weibliche Person?« »Ich ... Lieutenant, ich nahm an, dass sie eins der Op-
fer war. «
Jetzt drehte Eve sich um und Grimes sah eine hoch gewachsene, schlanke Frau in einer abgewetzten braunen Lederjacke, Männerjeans und kühlen braunen Polizistenaugen in einem scharfkantigen Gesicht. Ihre Haare waren bernsteinbraun wie ihre Augen und standen ihr in wirren kurzen Strähnen um den Kopf.
Sie stand in dem Ruf, knallhart zu sein, und als ihr kalter Blick ihn traf, wurde Grimes bewusst, dass dieser Ruf begründet war.
»Dann hat diese Person also über den Notruf einen Mord gemeldet und ist danach einfach wieder in ihr Bett gehüpft, um sich die Kehle durchschneiden zu lassen?«
»Ah ...« Er war ein junger, unerfahrener Streifenpolizist. »Vielleicht hat die Kleine hier den Mord gemeldet, Lieutenant, und dann versucht, sich in ihrem Bett vor dem Täter zu verstecken.«
»Wie lange sind Sie schon im Dienst, Grimes? « »Zwei Jahre, Lieutenant - im Januar werden es zwei Jahre.«
»Ich kenne Zivilisten, die können besser Spuren lesen als Sie. Das fünfte Opfer ist eine gewisse Linnie Dyson, neun Jahre alt. Sie ist unter dieser verdammten Adresse nicht gemeldet, weil sie nicht Nixie Swisher ist. Peabody, starten Sie eine Durchsuchung des Anwesens. Wir suchen nach einem zweiten neunjährigen Mädchen, lebend oder tot. Grimes, Sie Idiot, geben Sie Alarm. Vielleicht war sie der Grund für diese Taten. Vielleicht wurde sie entführt. Setzen Sie sich in Bewegung!«
Peabody riss eine Dose Versiegelungsspray aus ihrem eigenen Untersuchungsbeutel und sprühte eilig ihre Hände und ihre Schuhe ein.
»Vielleicht hat sie sich ja irgendwo versteckt. Wenn das Kind den ersten Mord gemeldet hat, Dallas, hat es sich vielleicht irgendwo versteckt. Vielleicht wagt es nicht herauszukommen, oder es steht unter Schock. Es ist durchaus möglich, dass es noch am Leben ist. «
»Fangen Sie unten an.« Eve ließ sich auf Hände und auf Knie sinken und blickte unter das Bett. »Finden Sie heraus, von welchem Handy oder Link aus sie den Notruf abgegeben hat.«
»Schon dabei.«
Eve trat vor den Schrank, durchsuchte ihn und sah in allen möglichen anderen Verstecken in dem Zimmer nach. Dann ging sie in den Flur, betrat den Raum des Jungen und blickte sich auch dort noch einmal gründlich um.
Wohin ging ein kleines Mädchen, das aus einer netten Familie zu stammen schien, wenn es sich fürchtete?
Übersetzung: Uta Hege
Taschenbuchausgabe August 201 1 bei Blanvalet Verlag,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe
Random House GmbH, München
Das nächtliche Verlangen nach einer Orangenlimonade rettete Nixies Leben. Als sie die Augen aufschlug, warf sie einen Blick auf die leuchtend roten Ziffern ihrer Armbanduhr und sah, es war bereits nach zwei.
Es war ihr nicht gestattet, zwischen den Mahlzeiten etwas zu essen oder zu trinken, was nicht auf der Liste gesunder Nahrungsmittel ihrer Mutter stand. Vor allem nicht um zwei Uhr nachts.
Andererseits würde sie sterben, wenn sie keine Orangenlimonade bekam.
Sie rollte sich auf die Seite und stieß ihre weltbeste Freundin Linnie Dyson an. Obwohl sie morgen in die Schule mussten, durfte Linnie bei ihr übernachten, denn Linnies Mom und Dad feierten ihren Hochzeitstag in irgendeinem schicken Hotel.
Damit sie miteinander schlafen konnten. Mom und Mrs Dyson sagten, sie übernachteten in dem Hotel, um ein elegantes Dinner einnehmen und tanzen gehen zu können, aber sie wussten ganz genau, es ging dabei um Sex. Himmel, sie und Linnie waren neun und nicht mehr zwei. Sie kannten sich mit diesen Dingen aus.
Davon abgesehen waren ihnen diese Dinge vollkommen egal. Ihnen war nur wichtig, dass Mom - das Regelmonster - von der Regel abgewichen war, dass mitten in der Woche kein anderes Kind bei ihnen schlief. Denn obwohl sie um halb zehn die Lichter löschen mussten - als wären sie noch Babys - hatten sie und Linnie sich prächtig amüsiert.
Bis zur Schule waren es noch Stunden, und sie hatte jetzt Durst. Also piekste sie die Freundin an und flüsterte ihr zu: »Wach auf!«
»Neee. Es ist noch gar nicht Morgen. Es ist noch dunkel.«
»Es ist Morgen. Es ist zwei Uhr morgens.« Deshalb war es auch so kühl. »Ich will eine Orangenlimo. Lass uns runtergehen und uns eine holen. Wir können sie uns teilen.« Linnie stieß ein leises Knurren aus, rollte sich auf die andere Seite und zog sich ihre Decke fast bis über den Kopf.
»Tja, dann gehe ich eben alleine«, zischte Nixie und stand leise auf.
Es war nicht ganz so lustig, wenn sie alleine gehen musste, aber solange sie an die verbotene Limonade dächte, bekäme sie kein Auge zu. Sie müsste sich ganz runter in die Küche schleichen, weil ihre Mutter nicht erlaubte, dass sie einen eigenen AutoChef bekam. Es war wie im Gefängnis, dachte Nixie. Wie in einem Gefängnis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts und nicht wie im Jahr 2059 in ihrem eigenen Haus.
Mom hatte sogar Kindersicherungen an den Auto-Chefs in ihrem Haushalt anbringen lassen, damit Nixie und ihr Bruder Coyle nur Vitamindrinks bestellen konnten, igitt.
Weshalb schlürften sie nicht gleich irgendwelchen Schlamm?
Ihr Vater sagte: »Regeln müssen eingehalten werden.« Das sagte er sehr oft. Aber manchmal zwinkerte er ihr und ihrem Bruder dabei zu, wenn Mom nicht in der Nähe war, und bestellte Eiscreme oder Chips.
Nixie glaubte, Mom würde es trotzdem mitbekommen und einfach nur so tun, als wäre sie für dieses Treiben blind.
Sie schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer, ein hübsches kleines Mädchen mit dicht gelocktem, platinblondem Haar und blassblauen Augen, mit denen sie allmählich trotz der Dunkelheit ausreichend sah.
Außerdem brannte im Bad am Ende des Korridors ein kleines Licht, falls einmal jemand nachts auf die Toilette musste oder so.
Mit angehaltenem Atem schlich sie an Coyles Zimmer vorbei. Wenn er sie bemerkte, könnte es passieren, dass er sie verpetzte. Manchmal war er wirklich blöd. Aber manchmal war er auch in Ordnung. Sie blieb einen Moment lang stehen und überlegte, ob sie in sein Zimmer schleichen und ihn wecken sollte, damit er ihr bei diesem Abenteuer Gesellschaft leistete.
Neee. Schließlich war es doppelt aufregend, wenn sie sich alleine in die Küche stahl. Als sie am Elternschlafzimmer vorbeikam, hielt sie abermals den Atem an und hoffte, sie tauchte nicht auf dem Radarschirm ihrer Mutter auf.
Aber nichts und niemand rührte sich, als sie die Treppe hinunterschlich.
Selbst nachdem sie unten angekommen war, verhielt sie sich mucksmäuschenstill. Schließlich musste sie noch an der Wohnung ihrer Haushälterin vorbei, die direkt hinter der Küche lag. Direkt neben ihrem Ziel. Eigentlich war Inga echt in Ordnung, aber sie würde ihr ganz sicher nie erlauben, dass sie mitten in der Nacht eine Orangenlimo trank.
Regeln mussten eingehalten werden, sagte Inga genauso wie ihr Dad.
Deshalb machte sie kein Licht an, als sie sich wie eine Diebin in die große Küche schlich. Dadurch wurde es noch spannender, und deshalb würde die Orangenlimo noch viel besser als gewöhnlich schmecken, dachte sie.
Vorsichtig zog sie die Tür des Kühlschranks auf.
Plötzlich kam ihr der Gedanke, dass ihre Mutter solche Sachen vielleicht zählte. Vielleicht hatte sie ja eine Liste und auf der hakte sie jede Limonade und jede Süßigkeit, die sie verzehrten, ab.
Aber für einen Rückzieher war es zu spät. Sie würde sich einfach später Gedanken machen, falls sie für die verbotene Tat einen Preis bezahlen müsste.
Die Limonadendose in der Hand schlurfte sie ans Küchenende, von wo aus sie die Tür zu Ingas Zimmer im Auge behalten und hinter der Kochinsel verschwinden konnte, falls es nötig war.
Sie öffnete die Dose in der Dunkelheit und nahm den ersten verbotenen Schluck.
Es schmeckte ihr so gut, dass sie auf der Bank in der Frühstücksecke Platz nahm, um jeden Tropfen ihres köstlichen Getränks zu genießen.
Kaum hatte sie es sich jedoch bequem gemacht, als ein Geräusch an ihre Ohren drang und sie auf der Bank unter dem Tisch in Deckung ging. Dann sah sie eine Bewegung und dachte: Jetzt hat sie mich erwischt!
Doch der Schatten glitt vollkommen lautlos durch die Küche bis zur Tür von Ingas Zimmer und ging dann einfach hinein.
Ein Mann. Nixie fing fröhlich an zu kichern und hielt sich eilig eine Hand vor ihren Mund. Inga hatte einen Freund! Dabei war sie schon so alt - sie musste mindestens vierzig sein. Anscheinend hatten nicht nur Linnies Eltern heute Abend Sex.
Die Versuchung war zu groß, und so ließ sie ihre Limodose einfach stehen und glitt leise von der Bank. Sie musste einfach gucken, musste einfach sehen, was dort geschah. Deshalb schlich sie durch die Küche in Ingas kleines Wohnzimmer und von dort weiter zum Schlafraum, vor dessen offener Tür sie sich auf alle viere fallen ließ.
Wenn Linnie das erfahren würde, würde sie grün vor Neid.
Mit vergnügt blitzenden Augen hielt Nixie sich erneut den Mund zu, um sich nicht durch ein Kichern zu verraten, schob sich ein Stückchen weiter, legte ihren Kopf ein wenig schräg ...
... und sah, wie der Mann Inga die Kehle durchschnitt.
Sie sah das herausspritzende Blut. Hörte ein grauenhaftes, gurgelndes Geräusch. Sie atmete zischend in ihre vor den Mund gepresste Hand, schob sich ein Stück zurück und drückte sich, während das wilde Pochen ihres Herzens ihre Brust zu sprengen drohte, mit dem Rücken gegen die Wand.
Er kam wieder heraus, ging direkt an ihr vorbei und verschwand durch die offene Tür.
Tränen quollen ihr aus den Augen und flossen zwischen ihren gespreizten Fingern in Richtung ihres Kinns. Zitternd kroch sie durch das Zimmer, versteckte sich hinter einem Stuhl, streckte die Hand nach Ingas auf dem Tisch liegenden Handy aus ...
... und rief flüsternd die Polizei.
»Er hat sie umgebracht, er hat sie umgebracht. Sie müssen kommen«, wisperte sie ein ums andere Mal, ohne auf die Fragen am anderen Ende der Leitung einzugehen. »Sofort. Sie müssen sofort kommen.« Sie nannte die Adresse, ließ das Handy achtlos auf dem Boden liegen und kroch langsam bis zu der schmalen Treppe, über die man aus Ingas Wohnung direkt in die obere Etage kam.
Sie wollte zu ihrer Mommy.
Sie wagte nicht zu rennen und stand gar nicht erst auf. Ihre Beine fühlten sich so seltsam an, als wären ihre Knochen aus Gelee. Deshalb robbte sie lautlos schluchzend auf dem Bauch den Korridor hinauf. Zu ihrem Entsetzen sah sie jetzt nicht nur den einen Schatten wieder, sondern inzwischen sogar zwei. Einer öffnete die Tür von ihrem Zimmer, und der andere ging in den Raum, in dem ihr Bruder schlief.
Wimmernd zwang sie ihren Körper durch die Tür des Schlafzimmers der Eltern. Sie hörte ein Geräusch, ein dumpfes Pochen, und presste ihr Gesicht fest in den Teppich, als ihr Magen sich zusammenzog.
Dann gingen die Schatten wieder an der offenen Tür vorbei. Sie sah sie, und sie hörte sie. Obwohl sie sich bewegten, als ob sie tatsächlich nur Schatten wären. Nicht ein mörderisches Menschenpaar.
Zitternd kroch sie weiter, an Moms Sessel und dem kleinen Tisch mit der bunten Lampe vorbei. Bis ihre Hand durch etwas Warmes, Nasses glitt.
Sie zog sich am Bett der Eltern hoch und starrte auf ihre Mom und ihren Dad. Wegen all des Blutes war von ihnen kaum noch etwas zu erkennen.
1
Mord war immer eine Beleidigung, und zwar seit der erste Menschenschädel von der ersten Menschenhand eingeschlagen worden war. Doch der blutige, brutale Mord an einer ganzen Familie in ihrem eigenen Haus, in ihren eigenen Betten war eine andere Form des Bösen, dachte sie.
Lieutenant Eve Dallas von der New Yorker Polizei blickte auf die zweiundvierzigjährige Inga Snood. Hausangestellte, geschieden. Tot.
Die Position der Toten und der Blutspritzer verrieten, wie es abgelaufen war. Snoods Mörder war zur Tür hereingekommen, vor das Bett getreten, hatte ihren Kopf - wahrscheinlich am mittellangen, blonden Haar - vom Kissen hochgerissen und ihr dann von links nach rechts mit einem scharfen Messer die Kehle und die Halsschlagader durchtrennt.
Relativ sauber, auf alle Fälle schnell. Wahrscheinlich völlig lautlos. Es war unwahrscheinlich, dass das Opfer überhaupt begriffen hatte, was mit ihm geschah. Außer der klaffenden Schnittwunde am Hals wies Inga keine Abwehr- oder anderen Verletzungen und keine Spuren eines Kampfes auf. Außer Blut und Tod war nichts zu sehen.
Eve war vor ihrer Partnerin und der Spurensicherung im Haus erschienen. Der Notruf war bei der Zentrale eingegangen, die hatte ihn an einen Einsatzwagen weitergegeben, der gerade in der Gegend Streife gefahren war. Die uniformierten Beamten hatten die Mordkommission verständigt, der weitergeleitete Anruf hatte sie um kurz vor drei erreicht.
Die anderen Toten und die anderen Zimmer hatte sie noch nicht gesehen. Sie kehrte aus Snoods Schlafzimmer in die Küche zurück und wandte sich dem dort postierten Polizisten zu.
»Sichern Sie das Zimmer weiter, ja?«
»Ja, Madam, Lieutenant. «
Sie marschierte in einen zweigeteilten, halb als Wohn-und halb als Esszimmer benutzten Raum weiter. Die Swishers hatten offenbar recht gut verdient. Sie konnten sich ein hübsches Einfamilienhaus in einer ordentlichen Gegend in der Upper West Side, eine teure Sicherheitsanlage und eine Angestellte leisten, auch wenn all das letztendlich völlig nutzlos gewesen war.
Das Haus war geschmackvoll eingerichtet, alles wirkte aufgeräumt und sauber und offenbar stand jedes Stück an seinem Platz. Es schien kein Raubmord zu sein, denn die leicht zu transportierenden, teuren elektronischen Geräte waren alle noch da.
Sie ging in die obere Etage und suchte dort zuerst das Schlafzimmer der Eltern auf. Keelie und Grant Swisher, achtunddreißig beziehungsweise vierzig Jahre alt. Auch dieser Raum wies keine Spuren eines Kampfes auf. Nur zwei Menschen, die in ihrem eigenen Bett geschlafen hatten und jetzt nicht mehr lebten.
Sie sah sich eilig um und entdeckte auf dem Ankleidetisch ein Paar goldene Ohrringe und eine teure Herrenarmbanduhr.
Nein, es ging ganz sicher nicht um einen Raub, dachte sie.
Als sie den Raum wieder verließ, kam ihre Partnerin, Detective Delia Peabody - immer noch leicht hinkend - die Treppe aus dem Erdgeschoss herauf.
Hatte sie sie vielleicht zu früh wieder in den aktiven Dienst gelassen, überlegte Eve. Schließlich war es erst drei Wochen her, dass sie vor ihrer eigenen Wohnung auf der Straße überfallen und zusammengeschlagen worden war. Den Anblick der robusten Peabody, als sie mit gebrochenen Knochen, Prellungen und Abschürfungen bewusstlos auf der Intensivstation gelegen hatte, vergäße sie wahrscheinlich nie.
Doch sie musste dieses Bild und die Schuldgefühle, die sie hatte, so gut es ging verdrängen und sich daran erinnern, dass sie selbst es hasste, wenn sie krankgeschrieben war, und dass Arbeit manchmal besser als erzwungene Ruhe bei der Genesung half.
»Fünf Tote? Infolge eines Einbruchs?« Peabody zeigte leicht keuchend auf die Treppe. »Der Beamte unten an der Tür hat mir einen kurzen Überblick verschafft.«
»So sieht es bisher aus, auch wenn wir noch nicht sicher wissen, was genau hier vorgefallen ist. Die Hausangestellte liegt unten in ihrem eigenen Schlafzimmer direkt neben der Küche. Ihr wurde im Schlaf die Kehle durchgeschnitten. Die Eigentümer des Hauses und die beiden Kinder, ein Mädchen und ein Junge, liegen hier oben in ihren jeweiligen Zimmern. Auch ihnen wurden im Schlaf die Halsschlagadern aufgeschlitzt.«
»Kinder? Meine Güte.«
»Der Beamte, der zuerst am Tatort war, meinte, hier läge der Junge.« Eve ging zur nächsten Tür und machte Licht.
»Coyle Swisher, der zwölfjährige Sohn.« Die Wände waren mit gerahmten Sportpostern, vor allem zum Thema Baseball, übersät. Etwas von seinem Blut war auf den Oberkörper des augenblicklich heißesten linken Außenfeldspielers der Yankees gespritzt.
Der Fußboden, der Schreibtisch und die Wäschekommode waren mit dem Unrat eines Heranwachsenden übersät, es gab jedoch nirgendwo ein Zeichen dafür, dass Coyle vorgewarnt gewesen war, genauso wenig wie seine Eltern.
Peabody presste die Lippen aufeinander, räusperte sich leise und stellte tonlos fest: »Schnell und effizient.«
»Es gibt keinen Hinweis darauf, dass jemand gewaltsam eingedrungen ist. Es gab keinen Alarm. Entweder hatten die Swishers vergessen, die Alarmanlage einzuschalten - was ich mir nicht vorstellen kann -, oder jemand hatte ihre Codes oder einen guten Störsender dabei. Das Mädchen müsste hier unten liegen.«
»Okay.« Peabody straffte die Schultern. »Es ist noch härter, wenn es Kinder sind.«
»Das ist auch gut so.« Eve ging in das nächste Zimmer, machte Licht und blickte auf das rosa-weiße Rüschenbett und das kleine Mädchen mit dem blutverklebten blonden Haar. »Das muss die neunjährige Nixie Swisher sein.«
»Praktisch noch ein Baby.«
»Ja.« Eve sah sich mit schräg gelegtem Kopf im Zimmer um. »Was sehen Sie, Peabody? «
»Ein armes Kind, das keine Chance mehr hat zu sehen, wie das Erwachsenenleben ist. «
»Da stehen zwei Paar Schuhe.«
»Kinder, vor allem aus wohlhabenderen Familien, haben jede Menge Schuhe.«
»Und zwei von diesen Rucksäcken, in denen Kinder ihre Sachen durch die Gegend schleppen. Haben Sie Ihre Hände schon versiegelt?«
»Nein, ich bin gerade erst -«
»Ich aber.« Eve trat neben das Bett und streckte eine ihrer Hände nach den Schuhen aus. »Das sind verschiedene Größen. Holen Sie den Beamten, der zuerst hier war. «
Als Peabody den Raum verließ, blickte Eve, die Schuhe noch immer in der Hand haltend, wieder auf das Bett. Dann stellte sie die Schuhe fort und machte ihren Untersuchungsbeutel auf.
Ja, es war noch härter, wenn es Kinder traf. Es war entsetzlich hart, eine so kleine Hand zu nehmen. Eine so kleine, schlaffe Hand, und dabei auf den Menschen zu blicken, dem so viele Jahre gestohlen worden waren, all die Freuden und die Schmerzen, die es im Verlauf von einem Leben zu erleben gab.
Sie drückte die Finger auf den Identifizierungspad und wartete auf das Ergebnis.
»Officer Grimes, Lieutenant«, sagte Peabody aus Richtung Tür. »Er war als Erster hier.«
»Wer hat die Sache gemeldet, Grimes?«, fragte Eve, ohne sich auch nur umzudrehen.
»Eine unbekannte weibliche Person, Madam.« »Wo ist diese unbekannte weibliche Person?« »Ich ... Lieutenant, ich nahm an, dass sie eins der Op-
fer war. «
Jetzt drehte Eve sich um und Grimes sah eine hoch gewachsene, schlanke Frau in einer abgewetzten braunen Lederjacke, Männerjeans und kühlen braunen Polizistenaugen in einem scharfkantigen Gesicht. Ihre Haare waren bernsteinbraun wie ihre Augen und standen ihr in wirren kurzen Strähnen um den Kopf.
Sie stand in dem Ruf, knallhart zu sein, und als ihr kalter Blick ihn traf, wurde Grimes bewusst, dass dieser Ruf begründet war.
»Dann hat diese Person also über den Notruf einen Mord gemeldet und ist danach einfach wieder in ihr Bett gehüpft, um sich die Kehle durchschneiden zu lassen?«
»Ah ...« Er war ein junger, unerfahrener Streifenpolizist. »Vielleicht hat die Kleine hier den Mord gemeldet, Lieutenant, und dann versucht, sich in ihrem Bett vor dem Täter zu verstecken.«
»Wie lange sind Sie schon im Dienst, Grimes? « »Zwei Jahre, Lieutenant - im Januar werden es zwei Jahre.«
»Ich kenne Zivilisten, die können besser Spuren lesen als Sie. Das fünfte Opfer ist eine gewisse Linnie Dyson, neun Jahre alt. Sie ist unter dieser verdammten Adresse nicht gemeldet, weil sie nicht Nixie Swisher ist. Peabody, starten Sie eine Durchsuchung des Anwesens. Wir suchen nach einem zweiten neunjährigen Mädchen, lebend oder tot. Grimes, Sie Idiot, geben Sie Alarm. Vielleicht war sie der Grund für diese Taten. Vielleicht wurde sie entführt. Setzen Sie sich in Bewegung!«
Peabody riss eine Dose Versiegelungsspray aus ihrem eigenen Untersuchungsbeutel und sprühte eilig ihre Hände und ihre Schuhe ein.
»Vielleicht hat sie sich ja irgendwo versteckt. Wenn das Kind den ersten Mord gemeldet hat, Dallas, hat es sich vielleicht irgendwo versteckt. Vielleicht wagt es nicht herauszukommen, oder es steht unter Schock. Es ist durchaus möglich, dass es noch am Leben ist. «
»Fangen Sie unten an.« Eve ließ sich auf Hände und auf Knie sinken und blickte unter das Bett. »Finden Sie heraus, von welchem Handy oder Link aus sie den Notruf abgegeben hat.«
»Schon dabei.«
Eve trat vor den Schrank, durchsuchte ihn und sah in allen möglichen anderen Verstecken in dem Zimmer nach. Dann ging sie in den Flur, betrat den Raum des Jungen und blickte sich auch dort noch einmal gründlich um.
Wohin ging ein kleines Mädchen, das aus einer netten Familie zu stammen schien, wenn es sich fürchtete?
Übersetzung: Uta Hege
Taschenbuchausgabe August 201 1 bei Blanvalet Verlag,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe
Random House GmbH, München
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Autoren-Porträt von J. D. Robb
J. D. Robb ist das Pseudonym der international höchst erfolgreichen Autorin Nora Roberts. Nora Roberts wurde 1950 in Maryland geboren und veröffentlichte 1981 ihren ersten Roman. Inzwischen zählt sie zu den meistgelesenen Autorinnen der Welt: Ihre Bücher haben eine weltweite Gesamtauflage von 500 Millionen Exemplaren überschritten. Auch in Deutschland erobern ihre Bücher und Hörbücher regelmäßig die Bestsellerlisten. Nora Roberts hat zwei erwachsene Söhne und lebt mit ihrem Ehemann in Maryland.Bibliographische Angaben
- Autor: J. D. Robb
- 2011, Erstmals im TB, 558 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Uta Hege
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442369665
- ISBN-13: 9783442369669
- Erscheinungsdatum: 14.07.2011
Rezension zu „In den Armen der Nacht / Eve Dallas Bd.20 “
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