Sterben
Zwischen Würde und Geschäft
Ein Plädoyer für mehr Ehrlichkeit. Der medizinische Fortschritt lässt
heute nahezu jede Krankheit heilbar erscheinen. Mit modernen
Behandlungsmethoden erkämpfen wir uns immer mehr Lebenszeit.
Welchen Preis zahlen wir dafür?...
heute nahezu jede Krankheit heilbar erscheinen. Mit modernen
Behandlungsmethoden erkämpfen wir uns immer mehr Lebenszeit.
Welchen Preis zahlen wir dafür?...
lieferbar
versandkostenfrei
Taschenbuch
12.95 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Sterben “
Ein Plädoyer für mehr Ehrlichkeit. Der medizinische Fortschritt lässt
heute nahezu jede Krankheit heilbar erscheinen. Mit modernen
Behandlungsmethoden erkämpfen wir uns immer mehr Lebenszeit.
Welchen Preis zahlen wir dafür? Ein höchst brisantes Thema!
heute nahezu jede Krankheit heilbar erscheinen. Mit modernen
Behandlungsmethoden erkämpfen wir uns immer mehr Lebenszeit.
Welchen Preis zahlen wir dafür? Ein höchst brisantes Thema!
Klappentext zu „Sterben “
Moderne Hochleistungsmedizin und die Verlängerung des Sterbens: Der medizinische Fortschritt lässt heute nahezu jede Krankheit heilbar erscheinen. Mit modernen Behandlungsmethoden erkämpfen wir uns immer mehr Lebenszeit. Doch welchen Preis zahlen wir dafür? Bedeutet ein längeres Leben automatisch ein besseres? Haben wir verlernt, den Tod als Teil des Lebens zu akzeptieren?Dr. Günther Loewit greift ein brisantes Thema auf: Sein Buch Sterben ist ein Plädoyer für Ehrlichkeit, Respekt und menschenwürdige medizinische Begleitung der letzten Lebensphase anstelle von Geschäftemacherei mit der Angst vor dem Tod.- kritisch, provokant und informativ- neuer Zugang zum Thema Sterben und Umgang mit dem Tod- Blick hinter die Kulissen des Gesundheitssystems- vom Medizin-Querdenker Dr. Günther Loewit - Sterbehilfe und Lebensverlängerung als eine Frage der Ethik
Lese-Probe zu „Sterben “
Sterben - Zwischen Würde und Geschäft, Dr. med. Günther LoewitEinmal Intensivstation und zurück
Der normierende und reglementierende Bürokratismus hat auch vor Hospizen und Pflegeheimen
nicht Halt gemacht. Jeder Schwester, jedem Pfleger, jeder Hilfsschwester wird in einem nicht
mehr überschaubaren Konvolut von Gesetzestexten, Verordnungen und Erläuterungen
vorgeschrieben, wie in welcher Situation zu verfahren sei. Jeder Fall ist vorgesehen und vom
Gesetzgeber durchgeplant. Nichts darf dem Zufall überlassen werden. Was aber noch
schlimmer ist: Nichts darf einer individuellen, persönlichen Betrachtungsweise überlassen
werden. Insbesondere alle das Sterben und den Tod der Menschen betreffenden Fälle werden
genauestens geregelt. Fachkundig ist nur noch ein Mitglied des Palliativteams oder das
geschulte Personal von geriatrischen Stationen. Nur dort, weitab von zu Hause und der
öffentlichen Wahrnehmung, darf der Tod stattfinden. Überall sonst muss gerettet, operiert,
infundiert und reanimiert werden.
Man könnte fast den Eindruck gewinnen, dass die Qualitätssicherer und Normierer, die
Patientenanwälte und Ethikexperten auch noch im und beim Tod ein Wörtchen mitreden wollen.
Sowohl betroffene Patienten als auch Angehörige werden verängstigt und verunsichert. Dem
Patienten wird lediglich ein Mitspracherecht in Form der Patientenverfügung eingeräumt.
Am besten wäre wohl, jeder Bürger würde noch zu Lebzeiten einen Sterbekurs mit Diplomabschluss
absolvieren. Dann könnte niemand mehr sagen, er habe nicht gewusst, wo und wie er
regelkonform zu sterben hat. Als Nebeneffekt wäre damit auch noch eine Menge Geld zu
verdienen, bei einer auf Jahre hinaus gesicherten Zahl von Kursteilnehmern. Ein Bombengeschäft.
... mehr
Vor allem im Pflegeheim und auf geriatrischen Pflegestationen ist zwar das Altern und Siechen
erlaubt, nicht immer aber das Sterben.
An einem sonnigen Sonntagnachmittag greift sich eine schwerkranke 89-jährige Insassin eines
Landespflegeheims mit der linken Hand auf die Brust und ruft zugleich mit dem Alarmknopf die
Schwester.
Sie kann gerade noch sagen: „Ich hab so ein Stechen …“, ehe sie bewusstlos zusammensinkt. Die
Schwester weiß zwar, dass die Patientin immer wieder Herzanfälle erlitten hat und dass sie
schon seit geraumer Zeit sterben will. Einen solchen Zwischenfall hat es aber noch nie
gegeben.
Wie angewurzelt steht die Schwester vor dem Bett der Patientin. Sie sieht, wie sich der
Brustkorb weiter hebt und senkt. Damit steht fest, dass die Frau noch atmet. Und lebt. Die
Schwester würde der Frau den Tod gönnen. Denn schon unzählige Male hat sie sich den gewünscht,
während ihr der Heimarzt eine weitere Spritze gegen die Krämpfe in der Brust
verabreicht hat. Aber sie weiß auch, dass sie nur bei bereits eingetretenem Tod auf das
sofortige Herbeirufen eines Arztes verzichten darf. Bei den Teambesprechungen ist immer
wieder darauf hingewiesen worden, dass das Leben der Insassen stets oberste Priorität habe.
Nach einem kurzen inneren Konflikt ruft die gewissenhafte Schwester den Ärztenotruf – denn am
Sonntag gibt es keinen Heimarzt – an und schildert den Fall.
Auch die Dame am Notruftelefon hat eine Checkliste, nach der sie vorzugehen hat: Patientin mit
bekannter koronarer Herzerkrankung, bewusstlos, atmet noch, keine Patientenverfügung. Kein
Arzt in der Nähe erreichbar. Und Schönwetter bedeutet in diesem Fall zugleich auch
Hubschrauberwetter.
Zwei Minuten nach dem Anruf startet der Rettungshubschrauber von seinem 70 Kilometer entfernten
Stützpunkt und landet wenige Minuten später vor dem Pflegeheim. Sanitäter beginnen sofort
mit den notwendigen Maßnahmen, die Patientin atmet zu diesem Zeitpunkt immer noch, ist
aber tief bewusstlos. Das EKG zeigt einen ausgedehnten frischen Hinterwandinfarkt an. Der
Notarzt versorgt die komatöse Patientin den medizinischen Standards entsprechend. Dann wird
sie mit dem Hubschrauber auf die nächste Intensivstation geflogen, welche sich nur zwei
Kilometer Luftlinie vom Pflegeheim entfernt befindet. Die herbeigerufene
Intensivmedizinerin lehnt allerdings die Intubation der sterbenden Frau aus ethischen Gründen
ab. Sie stirbt 40 Minuten nach ihrer Einlieferung auf die Intensivstation.
Umgekehrt verlassen Tag für Tag „austherapierte“ Patienten die Intensivstationen in Richtung
Pflegeheim: Patienten, für die aus Sicht der kurativen (heilenden, wiederherstellenden)
Medizin nichts mehr getan werden kann, und die daher zum Sterben ins Heim entlassen werden.
Schon lange rufen Ökonomen zur Vernunft. Aber niemand bringt den Satz über die Lippen, dass die
Gesellschaft den Tod endlich wieder als essentiellen Bestandteil des Lebens akzeptieren
muss. Stattdessen wird von primärem und sekundärem Therapieverzicht, Patientenautonomie
und Fürsorge, Behandlungsqualität und Therapieabbruch gesprochen.
Die Floskel „einfach so sterben lassen“ gehört zum Standardrepertoire, wenn es um den Umgang mit
dem Sterben geht. In der Regel ist damit ein Versagen der Medizin, ein Mangel an Bemühung
und Engagement gemeint. Dass in dem Satz „Wir lassen einen Menschen einfach sterben“ auch
unendlich viel Güte, Weitsicht und gelebtes Mitleid eingeschlossen sein könnte, käme
keinem Verantwortlichen in den Sinn. Nein, einen Menschen einfach sterben zu lassen kann nur
kriminell im Sinne der unterlassenen Hilfeleistung und dem Vorenthalten der Segnungen der
modernen Medizin sein. Und wenn schon sterben lassen, dann auf keinen Fall „einfach“,
sondern kompliziert. Mit Schläuchen in Mund und Nase, Harnröhre und Magen, Infusionen und
medikamentöser Therapie bis zum letzten Atemzug, und oft auch noch darüber hinaus.
Die letzte Infusion
Immer wieder hört man in Krankenhäusern und bei ärztlichen Hausbesuchen Forderungen wie „Herr
Doktor, Sie können doch meinen Mann nicht einfach verdursten lassen!“ oder „Frau Doktor,
da muss man doch etwas tun, Sie können die Oma ja nicht einfach sterben lassen!“, oder
aber auch: „Herr oder Frau (ohne Doktor), da muss was geschehen, das kann ja nicht wahr sein,
dass Sie in so einem Spital arbeiten und die Frau einfach krepieren lassen.“
Tatsächlich werden in unseren Krankenhäusern und Intensivstationen Tag für Tag 90-jährige
Patienten reanimiert und im Falle von Herzinfarkten und Schlaganfällen gnadenlos und
reflexartig mit dem vollen medizinischen Programm versorgt: Intensivstation, intravenöse
Verweilzugänge, Intubation und Beatmungsmaschinen, Blasenkatheter und Sondenernährung. Und vor
allem Infusionen. Verschlauchte und verkabelte menschliche Körper, denen die
Menschlichkeit wegtherapiert wurde. Von einer Ärztegeneration, die nichts anderes gelernt hat.
Von Medizinern, die zu keinem Zeitpunkt ihres Berufslebens zum eigenständigen Denken
animiert wurden. Dieser Prozess beginnt übrigens schon zu Beginn des
Medizinstudiums in Form eines Multiple-Choice-Tests, der nur auf die passive Reproduktion von
Erlerntem ausgelegt ist und damit eindeutig wissenschaftlich denkende Studienanwärter
bevorzugt. Vor allem aber von Ärzten, die rechtlich ständig unter Druck stehen und für jede
nicht evidenzgesicherte Entscheidung jederzeit gerichtlich belangt werden können.
Herr M., ein pensionierter Staatsbeamter, hat bei einigermaßen guter Gesundheit das stattliche
Alter von 86 Jahren erreicht. Sein Leben war geprägt von Bescheidenheit und Dankbarkeit
dem Schicksal gegenüber. Regelmäßig, einmal im Monat, besucht er seit Jahrzehnten seinen
Hausarzt, um den leicht erhöhten Blutdruck messen und die Medikation bei Bedarf anpassen
zu lassen. Einmal pro Jahr lässt er ein großes Blutbild anfertigen, besucht, ebenso einmal
im Jahr, den Urologen, der ihm seit 15 Jahren regelmäßig ein Prostatamedikament
verschreibt. Wegen eines Glaukoms (grüner Star) ist Herr M. alle zwei Monate beim Augenarzt,
der ihm den Augendruck misst und die entsprechenden Tropfen verordnet.
Ab dem 81. Lebensjahr machen sich im Blutbild erhöhte Thrombozytenzahlen (Blutplättchen)
bemerkbar, die – nach Ansicht der hämatologischen Ambulanz der Universitätsklinik –
schließlich auch medikamentös behandelt werden müssen. Das dazu verwendete Medikament Litalir
ist ein Chemotherapeutikum, das als Nebenwirkung zu einer Erhöhung der Harnsäurewerte
führt. Das wiederum fällt dem Internisten bei der jährlichen Kontrolle auf und er verordnet
ein regelmäßig einzunehmendes Medikament gegen die erhöhte Harnsäure.
Zu dieser Zeit macht auch die rechte Hüfte zunehmend Beschwerden. Ein um Rat gebetener Orthopäde
möchte in Anbetracht des fortgeschrittenen Alters mit einer Operation noch zuwarten und
verordnet ein schmerzstillendes Medikament. Nach einigen Monaten berichtet Herr M. seinem
Hausarzt gegenüber von vermehrt auftretender Übelkeit und häufigen Magenschmerzen, worauf
er sowohl Tropfen gegen die Übelkeit, dreimal täglich einzunehmen, als auch ein
sogenanntes Magenschutzmedikament verordnet bekommt.
Immer wieder betont Herr M. lapidar, dass er ein braver „Pulverschlucker“ sei und alle
Anweisungen seiner Ärzte genauestens befolge, „obwohl ich schon oft ein schlechtes Gewissen
habe, dass ich dem Staat so lange auf der Tasche liege. Aber wenn es geht, möchte ich
meine Pension doch noch eine Zeit in Anspruch nehmen.“
Ein paar Jahre lang geht alles gut. Eine Kataraktoperation (grauer Star) an beiden Augen im 84.
Lebensjahr verträgt Herr M. relativ gut, allerdings entzünden sich beide Augen ab diesem
Zeitpunkt immer wieder. Salben, Tabletten und Schmerzmittel können nur bedingt Abhilfe
schaffen. Die Sehkraft wird immer schlechter.
Knapp vor seinem 86. Geburtstag kommt es zu einer unbeherrschbaren Augenentzündung. Seitens der
Augenärzte wird die Medikation von mittlerweile 23 Tabletten pro Tag nicht weiter in Frage
gestellt.
Herr M., inzwischen deutlich geschwächt und vom Alter gezeichnet, besucht weiterhin all seine
Ärzte, inzwischen mit dem Rettungswagen, wobei die Kontrollintervalle zusammen mit der
zunehmenden Verschlechterung seines Allgemeinzustandes immer enger werden. Der Urologe mahnt
eine Prostataoperation ein, der Internist spricht sich einstweilen dagegen aus, weil der
immer höher werdende Blutdruck vor einer neuerlichen Narkose besser eingestellt werden
müsse. Die Blutbildkontrollen zeigen eine zunehmende Anämie (Blutarmut) an, Herrn M. werden in
immer knapperen Abständen Blutkonserven verabreicht. Ob nicht das Medikament gegen die
vermehrten Blutplättchen schuld an der Blutarmut sein könnte, hinterfragt niemand, ein
Weglassversuch wird nicht in Erwägung gezogen.
Die Rettungsfahrten werden zunehmend beschwerlich. Der einzige Sohn, der sich zusammen mit den
Schwestern des Hilfswerks bis dahin liebevoll um die Koordination aller Arzttermine des
Vaters gekümmert hatte, fühlt sich immer mehr überfordert. Die Dienste einer slowakischen
Krankenpflegerin werden in Anspruch genommen.
Und plötzlich sinkt der zuvor immer erhöhte Blutdruck. Scheinbar unerklärlich. Wasser sammelt
sich in Beinen und Lunge. Als Reaktion werden Entwässerungsmedikamente verordnet. Diese
führen zu einem übermäßigen Verlust von Kalium. Also wird Kalium dreimal täglich in
Tablettenform zugeführt.
Herr M. ist immer öfter verwirrt. Dann weiß er weder, wo er ist, noch das Datum, und findet sich
nicht einmal mehr in der eigenen Wohnung zurecht. Das Gehen fällt ihm zunehmend
schwer. Er sitzt den ganzen Tag entweder im Rettungswagen, einer Spitalsambulanz oder in
seinem Lehnstuhl. Mittlerweile nimmt er täglich 27 Tabletten zu sich. „Ich lebe nur noch von
den Pulvern, Essen brauch ich keines mehr“, sagt er in einem der immer seltener werdenden
klaren Momente.
In dieser Situation wird ihm vom behandelnden Augenarzt einer angesehenen Spitalsambulanz eine
Hornhauttransplantation in Vollnarkose nahegelegt. Nur so könne Herr M. einen Rest seines
fast erloschenen Augenlichtes erhalten.
Und natürlich willigt er ein. Ein Leben lang hat er gelernt, in ärztliche Entscheidungen
einzuwilligen.
Zu diesem Zeitpunkt wagt der Hausarzt ein erstes Mal dem Sohn gegenüber die Bemerkung, dass der
rapide Verfall des Vaters auf den baldigen Tod hinweisen könnte. Trotz des so gut wie
erloschenen Augenlichts rate er von der geplanten Augen-OP ab. Seiner Erfahrung nach habe der
Vater nicht mehr lange zu leben. Er empfehle, dem Patienten einen würdigen Tod in den
eigenen vier Wänden zu gönnen. Er sei auch gerne bereit, sich Zeit zu nehmen, um den Vater
vorsichtig auf ein mögliches Sterben vorzubereiten.
Empörung und Unverständnis seitens des Sohnes sind die erste Reaktion. Er sagt: „Die Fachleute
werden doch wissen, was sie tun.“ Der Hinweis des Hausarztes, dass die Pumpleistung des
Herzens trotz all der Medikamente laufend nachlasse, kein Druck mehr im Kreislauf
aufgebaut werden könne und dass die Nierenwerte bedrohlich angestiegen seien, stimmt den Sohn
dann doch nachdenklich. Nach einem längeren Gespräch kommen Arzt und Sohn überein, den
Patienten selbst über die Operation entscheiden zu lassen.
Und Herr M., zu diesem Zeitpunkt bereits vollkommen desorientiert und hochgradig verwirrt, sagt
mit klarer Stimme: „Na, ich möchte mich schon operieren lassen, wie der Herr
Professor gesagt hat, dann kann ich wenigstens wieder sehen, wie es mir vom Professor
versprochen worden ist.“
In der folgenden Nacht sieht er seine Mutter neben sich im Bett liegen und schreit
unverständliche Wortfetzen, ist aggressiv und reißt sich alle Kleider vom Leib. Unkontrolliert
setzt er Kot und Urin ins Bett ab. Die Pflegerin ist verzweifelt. Er kann
das Bett aus eigener Kraft nicht mehr verlassen. Und doch wird er noch einmal mit der
Rettung in die Augenklinik gefahren. „Weil der Termin schon ausgemacht ist“, argumentiert der
Sohn.
Noch einmal kommt Herr M. nach Hause. Er ist kaum noch ansprechbar. Lediglich den Hausarzt
erkennt er noch an dessen Stimme. In den Unterlagen, die er vom Spital mitbekommen hat, finden
sich eine Überweisung zum Lungenröntgen sowie die Bitte um eine internistische OP-Freigabe.
An diesem Tag kann Herr M. seine Medikamente nicht mehr schlucken. Er erbricht nach der zweiten
Tablette und nimmt ab diesem Zeitpunkt weder Nahrung noch Flüssigkeit zu sich. Sohn und
Krankenpflegerin fordern jetzt beim Hausarzt vehement eine Infusion, die dieser nach
seinen Ordinationsstunden auch verabreicht, um weiteren Konflikten aus dem Weg zu gehen.
Noch während die Kochsalzlösung in den 87-jährigen Patienten hineintropft, verstirbt Herr M.
nach einem letzten tiefen Atemzug. Vor seiner letzten Operation.
Jeder Notfall wird blind, nach international festgelegten Schemata und vorgegebenen
Behandlungspfaden behandelt, oder besser gesagt: abgehandelt.
Das Zauberwort dabei heißt „Scores“. Diese Scores dienen dazu, den Schweregrad von
Krankheitsbildern und die jeweils erforderlichen therapeutischen Maßnahmen festzulegen. Es gibt
hunderte solcher Scores.
Bekannt sind unter unzähligen anderen:
– der APGAR-Score zur Beurteilung des Zustandes eines Neugeborenen
– der MMS (Mini-Mental-Score) zur Evaluierung des Stadiums einer Demenzerkrankung
– die CAM (Confusion Assessment Method) als Gradmesser von Verwirrtheit
– die GCS (Glasgow-Coma-Scale) zur Beurteilung von Bewusstseinsstörungen bei Schädel-
Hirn-Verletzungen
– der CHADS-Score dient zur Abschätzung des Risikos eines Schlaganfalles und zur
Entscheidungsfindung für die Einleitung der Blutverdünnungstherapie bei Vorhofflimmern
(=Herzrhytmusstörung)
– der GS (Gleason Score) dient zur Abschätzung der Aggressivität eines Prostatakarzinoms und zur
Festlegung der erforderlichen Behandlung
– der SAPS (Simplified Acute Physiology Score) zur Einschätzung der Erkrankungsschwere von
Intensivpatienten und deren Sterblichkeitsrisiko, sowie
– das TISS (Therapeutic Intervention Scoring System)
– der Mortality Probability Score
– der SOFA (Sequential Organ Failure Assessment Score)
– die APACHE (Acute Physiology and Chronic Health Evaluation), die auf Intensivstationen zur
Optimierung therapeutischer Interventionen herangezogen werden.
Übrigens: Kein Arzt dieser Welt kennt alle Scores.
Aber, und das alleine zählt, diese Scores haben das freie, patientenorientierte ärztliche Denken
weitestgehend verdrängt bzw. ersetzt. Zusammen mit Errungenschaften der
elektronischen Datenverarbeitung wie zum Beispiel ELGA (Elektronische Lebensbegleitende
Gesundheitsakte) sowie der Datenvernetzung von Überwachungs- und Analysegeräten im
Intensivtherapiebereich wird über kurz oder lang der Computer über Abbruch, Änderung oder
Fortsetzung einer Therapie entscheiden. Besonders kritische Leser dürfen sich ausmalen, wer
die Kriterien für die jeweiligen Parameter festlegen wird.
Nur wenn Patienten selbstbewusst, willensstark und noch bei Bewusstsein sind, sind sie in der
Lage, sich gegen solche automatisch ablaufenden Programme zur Wehr zu setzen. Denn nicht
jeder Patient stimmt im höheren Alter komplizierten Operationen und belastenden
Chemotherapien zu.
Oft allerdings sind Ärzte, die ihre Scores brav einstudiert und verinnerlicht haben, gegenüber
solchen Patienten völlig ratlos und verunsichert. Denn ein Score, der bei der Behandlung
eines selbstbewussten, selbst-bestimmenden Patienten hilft, ist noch nicht beschrieben.
So ist die moderne Medizin zwar auf jede Herausforderung, jeden Zwischenfall und jede
Krankheitskonstellation bestens vorbereitet. Lediglich individuelle, eigenständig denkende
Menschen sind im modernen Medizinbetrieb nicht vorgesehen.
Ein ganz spezielles Problem des sterbenden Menschen ist aber seine eingeschränkte
Beurteilungsfähigkeit der eigenen Situation. Der sterbende Patient verliert im klassischen
Sinne Schritt für Schritt seine Mündigkeit. Er ist in zunehmendem Maße auf die Fürsorge der
für ihn sorgenden Menschen angewiesen. Und besonders in dem Moment, zu dem eine
Entscheidung pro oder kontra Infusion getroffen werden muss, ist der sterbende Mensch nicht
mehr in der Lage, an einer bewussten Entscheidungsfindung mitzuwirken. Es sei denn, er hat
zu einem früheren Zeitpunkt seines Lebens mittels Patientenverfügung eine solche
Entscheidung für den Eventualfall getroffen. Und selbst in diesem Fall bleibt die Frage, ob er
die damalige Entscheidung unter den jetzt eingetretenen Umständen wieder in der gleichen
Weise treffen würde.
Ein markanter Punkt am Weg eines sterbenden Menschen ist der Zeitpunkt, ab dem der Patient nicht
mehr willens oder nicht mehr in der Lage ist, Nahrung oder Flüssigkeit zu sich zu nehmen.
. Dieser Akt ist im Falle eines natürlichen Sterbeprozesses genauso wenig eine
bewusste Handlung, wie auch das Gefühl von Hunger oder Durst im Laufe des Lebens nicht bewusst
hervorgerufen werden kann. Dieser bedeutende Zeitpunkt kommt auch nicht aus heiterem
Himmel. Meist sind ihm Wochen und Monate des körperlichen und oft auch geistigen Verfalls
vorausgegangen. Das Wort Reduktion beschreibt diese Periode treffender. Reduktion der
Wahrnehmung, Reduktion der Gedankenwelt, Reduktion der körperlichen Mobilität, Reduktion von
Bedürfnissen, Reduktion der Beherrschung von körperlichen Funktionen und die Reduktion des
Körpergewichts.
Das aktive, vom Patienten ausgehende Beenden der Flüssigkeitsaufnahme führt auf jeden Fall zum
Nierenversagen und damit definitiv zum Tod. Das Gleiche gilt selbstverständlich auch
für die Beendigung der Flüssigkeitszufuhr im Rahmen eines Therapieverzichts bei
austherapierten hochmoribunden Patienten. Normalerweise innerhalb von drei bis fünf, unter
besonderen Umständen spätestens aber nach zehn bis zwölf Tagen stirbt jeder Mensch ohne
Flüssigkeitszufuhr. Dabei spielen Alter, Körpergewicht, Außentemperatur sowie viele weitere
Faktoren eine Rolle.
Während dieser Phase produziert der Körper in zunehmendem Maße Endorphine. Diese körpereigenen,
Opiatwirkung nachahmenden Glückshormone verändern sowohl das Bewusstsein
wie auch die Schmerzempfindung maßgeblich. Endorphine werden nicht nur während der Geburt,
sondern auch im Laufe des Lebens bei unterschiedlichen Stresssituationen
ausgeschüttet. So haben zum Beispiel schwerverletzte Unfallopfer im ersten Schock keine
Schmerzwahrnehmung. Oft steigen Schwerstverletzte mit Normalität suggerierender Leichtigkeit
aus ihren Autowracks und lehnen jede Hilfeleistung brüsk ab, um einige Sekunden oder
Minuten später plötzlich bewusstlos zusammenzubrechen. Auch das Auftreten von euphorischen
Gefühlen bei Extremsportlern ist auf die Ausschüttung von Endorphinen zurückzuführen.
Die Zuführung von Flüssigkeit in Infusionsform verlangsamt und verzögert diese angenehme
Veränderung der Wahrnehmung von Sterbenden. Unabhängig davon, ob eine solche Infusion
intravenös oder subkutan, also in eine Vene oder in das Unterhautfettgewebe der Bauchdecke
verabreicht wird. Und darüber hinaus bleibt strittig, ob Infusionen bei sterbenden Menschen
überhaupt lebensverlängernd wirken, oder ob sie nicht in vielen Fällen zu zusätzlichen
Komplikationen führen. In diesem Zusammenhang müssen das Lungenödem, also eine krankhafte
Ansammlung von Flüssigkeit in der Lunge, und das chronische Herzversagen, bei dem das Herz
nicht mehr imstande ist, eine ausreichende Pumpleistung aufzubauen, erwähnt werden. Denn wenn
die durch Infusionen zugeführte Flüssigkeit nicht mehr ausreichend in den Blutkreislauf
eingebunden werden kann – und das ist beim chronischen Herzversagen immer der Fall –,
bleibt es der Schwerkraft folgend in den jeweils tiefstgelegenen Punkten des Körpers liegen.
Diese Ödeme sind oft schmerzhaft und begünstigen die Bildung von offenen Hautstellen bzw.
verunmöglichen die Abheilung von bestehenden Druckstellen, weil durch solche Wunden
ständig Gewebsflüssigkeit nach draußen drückt und die Wunden somit permanent Flüssigkeit
absondern. Auch das bedrohlich klingende Rasseln in den Lungen von Sterbenden wird durch die
Gabe von Infusionen noch verstärkt.
Infusionen, die Sterbenden im Rahmen eines natürlichen Sterbevorganges verabreicht werden,
dienen also in erster Linie der psychotherapeutischen Eigenbehandlung von Pflegern, Ärzten
oder Angehörigen. Die eigene Unsicherheit dem anvertrauten Patienten gegenüber wird durch eine
offensichtliche medizinische Intervention überspielt, das eigene Leid weit mehr als das
des Patienten behandelt. Das Gefühl, etwas gegen den Tod getan zu haben, reduziert
vorübergehend den Druck der Ohnmacht dem Tod gegenüber.
Ausnahmen stellen selbstverständlich all jene Situationen dar, bei denen moribunde Patienten
aufgrund ihrer körperlichen Gebrechen zu einem Zeitpunkt keine Flüssigkeit mehr zu sich nehmen
können, zu dem sie noch im Voll- oder Teilbesitz ihrer geistigen Kräfte sind. Auch die
Bitte eines Patienten um eine Infusion sollte ernst genommen werden, selbst wenn sich dahinter
oft irrationale Vorstellungen in Bezug auf die erhoffte Wirkung verbergen.
Frau M. ist 92 Jahre alt. Die letzten Jahre waren vom kontinuierlichen Rückzug gekennzeichnet.
Frau M. war Geschäftsfrau und setzte sich erst mit 75 Jahren zur Ruhe. Um
in Kontakt mit ihren ehemaligen Kunden zu bleiben, ohne deren unmittelbare Nähe in Kauf
nehmen zu müssen, wandelt sie den Verkaufsraum ihres Geschäftes in ihren Lebensabendraum
um. Durch die überdimensionierten Scheiben der früheren Auslagen blickt sie auf das
Treiben der Menschen auf dem Platz vor ihrem Geschäft. Manchmal, wenn sie ein vertrautes
Gesicht bemerkt, winkt sie hinaus. Wenn sie Ruhe und Abgeschiedenheit bevorzugt, schließt sie
die Vorhänge. Auf die Straße ist sie seit Jahren nicht mehr gegangen. Sie betont immer
wieder: „Die Menschen sollen mich so in Erinnerung behalten, wie ich im Geschäft gestanden
bin.“ Und oft fügt sie diesem Satz einen weiteren hinzu: „60 Jahre lang hab ich das Geschäft
keinen einzigen Tag zugesperrt, so war ich einmal.“
Ihre Knie sind vom jahrzehntelangen Stehen hochgradig abgenutzt und ständig angeschwollen.
Außerdem besucht Frau M. von Zeit zu Zeit einen Internisten, um Herz und Blutdruck behandeln
zu lassen. Darüber hinaus ist sie weitgehend gesund. Sie selbst sagt stets: „Ich bin halt
eine alte Frau.“
Lediglich die nachlassende Funktion ihrer Augen bereitet ihr ernste psychische Probleme. Zu
ihrer Ärztin sagt sie immer wieder: „Wissen Sie, Frau Doktor, mein Leben lang hab ich den
Leuten in die Augen geschaut. Wenn ich die Menschen, die mit mir reden, nicht mehr sehen kann,
hat das Leben keinen Sinn mehr.“ Weder ihr Herzfehler noch die Tatsache, dass sie kaum
noch gehen kann, bereitet ihr solche Qualen wie die Tage, an denen sie glaubt, das Augenlicht
einmal ganz verlieren zu müssen. Aber irgendwie gelingt es den Augenärzten immer wieder,
einen ausreichend letzten Rest von Sehkraft zu erhalten.
Jahrelang sitzt Frau M. in ihrem Rollstuhl vor dem Schaufenster, sodass man sie von draußen kaum
wahrnehmen kann, blättert ständig in einer ihrer unzähligen Zeitschriften und
wechselt pausenlos ihre Brillen. Je nachdem, ob sie hinaus auf den Platz vor ihrem Geschäft
schaut, eine Zeitschrift durchblättert oder ein Gespräch mit einer ihrer Töchter oder
einem der unzähligen Enkelkinder führt.
Nach dem 90. Geburtstag beschleunigt sich der körperliche Abbau. Die Familie richtet eine
24-Stunden-Betreuung durch slowakische Pflegerinnen ein. Ein Spitalsbett muss angeschafft
werden, da Frau M. irgendwann nicht mehr in der Lage ist, ihre Hälfte des 70 Jahre alten
Ehebettes ohne fremde Hilfe zu verlassen. Der Platz neben ihr ist seit dem Zweiten Weltkrieg
verwaist und wurde nie wieder besetzt, auch wenn es immer wieder Freier gegeben hätte.
Frau M. wird weniger und weniger, ruhiger und ruhiger. Und wäre nicht ihre oft ins Groteske
übertriebene Sorge um das Augenlicht, so würde, einfach gesagt, Frau M. eines nicht mehr allzu
fernen Tages in Frieden an Altersschwäche sterben.
Aber dann, das Sterben scheint nicht mehr allzu weit entfernt, beginnt sie mit schwacher Stimme
über immer häufiger werdende Schluckbeschwerden zu klagen. „Frau Doktor, ich kann
kaum noch schlucken, ohne dass es mich in der Brust und am Rücken brennt.“ Sie muss nach
diesen Worten einige Male durchatmen, um wieder genug Luft für einen neuen Satz zu haben.
„Bei jedem Schluck brennt es und ich glaub, es zerreißt mir die Brust.“ Und nach
einer weiteren durchatmeten Pause: „Und immer wieder muss ich erbrechen, scheußlich ist
das.“
Die Ärztin versucht die Beschwerden mit säureverringernden Medikamenten und Schmerzmitteln zu
behandeln. Und es gelingt auch, die Beschwerden zu erleichtern. Die Schluckprobleme können
dadurch aber nicht beseitigt werden. Immerhin kann Frau M. von Zeit zu Zeit noch etwas
flüssig-breiige Nahrung bei sich behalten. Die Hausärztin kommt mit den Angehörigen überein,
dass es keinen Sinn machen würde, die ohnehin schon fast nur noch bettlägrige Mutter einer
Speiseröhren- und Magenspiegelung auszusetzen. Außerdem haucht Frau M. bei jedem
Hausbesuch ihrer Ärztin ins Ohr: „Frau Doktor, bitte, bitte schicken Sie mich nicht ins
Spital. Dort würde ich sofort sterben.“ Allerdings informiert die Ärztin die Familie der
betagten Greisin darüber, dass man doch aufgrund der zunehmenden Symptomatik von einem
Speiseröhren- oder Magenkrebs ausgehen müsse und dass die Mutter eines Tages überhaupt nichts
mehr zu sich nehmen würde können.
Die Töchter samt den anderen Angehörigen reagieren verständnisvoll und stimmen mit der
Hausärztin überein, dass die Mutter zu Hause sterben dürfe. Für die Pflege sei ja gesorgt, die
Frau Doktor würde weiterhin die Schmerzbehandlung übernehmen, und ganz nebenbei sagt einer
der Schwiegersöhne: „Und, Frau Doktor, wir sind der Meinung, dass Sie der Mutter auch
keine Infusion mehr geben sollten, weil das doch nur eine sinnlose Verlängerung des Lebens
wäre.“
Ab diesem Zeitpunkt verkompliziert sich das bisher reibungslose Verhältnis zwischen der
Hausärztin und dem selbsternannten Sprecher der Angehörigen. In mühevollen Gesprächen macht
die Ärztin ihren Standpunkt klar. Auch sie ist der Meinung, dass eine Sondenernährung in
Anbetracht des hohen Alters und des stark reduzierten Allgemeinzustandes nicht mit
Menschenwürde und Ethik in Übereinstimmung zu bringen wäre, die Mutter aber – bei noch
lebendigem Leibe – verdursten zu lassen lehne sie allerdings strikt ab.
„Was sollen die Infusionen bringen, die Schwiegermutter stirbt ja sowieso“, sagt die eine Seite.
„Warum haben Sie es denn so eilig mit ihrem Tod?“, repliziert die Medizinerin. „Wir
möchten es aber nicht“, versteift sich der Schwiegersohn. „Es geht aber nicht um uns,
sondern um die Patientin“, entgegnet die Hausärztin. Und sie hat ein gewichtiges Argument auf
ihrer Seite. „Als Hausärztin fühle ich mich auch als Anwältin und Sprecherin der
Patientin, nachdem sie weder entmündigt noch sonst irgendwie geistig eingeschränkt ist.“
Man kommt schließlich überein, die Patientin, so gut es eben noch geht, in die
Entscheidungsfindung miteinzubeziehen. Nach vielen, für Frau M. oft unverständlichen
Argumenten von Ärztin und Schwiegersohn gibt sie zu verstehen, dass sie zwar sterben, aber
nicht verdursten möchte.
Ein paar Tage später bekommt sie die erste Infusion. Es folgen, jeweils im Tagesabstand, 13
weitere. Dann schließt Frau M. ihre Augen für immer.
© Studienverlag GmbH
Vor allem im Pflegeheim und auf geriatrischen Pflegestationen ist zwar das Altern und Siechen
erlaubt, nicht immer aber das Sterben.
An einem sonnigen Sonntagnachmittag greift sich eine schwerkranke 89-jährige Insassin eines
Landespflegeheims mit der linken Hand auf die Brust und ruft zugleich mit dem Alarmknopf die
Schwester.
Sie kann gerade noch sagen: „Ich hab so ein Stechen …“, ehe sie bewusstlos zusammensinkt. Die
Schwester weiß zwar, dass die Patientin immer wieder Herzanfälle erlitten hat und dass sie
schon seit geraumer Zeit sterben will. Einen solchen Zwischenfall hat es aber noch nie
gegeben.
Wie angewurzelt steht die Schwester vor dem Bett der Patientin. Sie sieht, wie sich der
Brustkorb weiter hebt und senkt. Damit steht fest, dass die Frau noch atmet. Und lebt. Die
Schwester würde der Frau den Tod gönnen. Denn schon unzählige Male hat sie sich den gewünscht,
während ihr der Heimarzt eine weitere Spritze gegen die Krämpfe in der Brust
verabreicht hat. Aber sie weiß auch, dass sie nur bei bereits eingetretenem Tod auf das
sofortige Herbeirufen eines Arztes verzichten darf. Bei den Teambesprechungen ist immer
wieder darauf hingewiesen worden, dass das Leben der Insassen stets oberste Priorität habe.
Nach einem kurzen inneren Konflikt ruft die gewissenhafte Schwester den Ärztenotruf – denn am
Sonntag gibt es keinen Heimarzt – an und schildert den Fall.
Auch die Dame am Notruftelefon hat eine Checkliste, nach der sie vorzugehen hat: Patientin mit
bekannter koronarer Herzerkrankung, bewusstlos, atmet noch, keine Patientenverfügung. Kein
Arzt in der Nähe erreichbar. Und Schönwetter bedeutet in diesem Fall zugleich auch
Hubschrauberwetter.
Zwei Minuten nach dem Anruf startet der Rettungshubschrauber von seinem 70 Kilometer entfernten
Stützpunkt und landet wenige Minuten später vor dem Pflegeheim. Sanitäter beginnen sofort
mit den notwendigen Maßnahmen, die Patientin atmet zu diesem Zeitpunkt immer noch, ist
aber tief bewusstlos. Das EKG zeigt einen ausgedehnten frischen Hinterwandinfarkt an. Der
Notarzt versorgt die komatöse Patientin den medizinischen Standards entsprechend. Dann wird
sie mit dem Hubschrauber auf die nächste Intensivstation geflogen, welche sich nur zwei
Kilometer Luftlinie vom Pflegeheim entfernt befindet. Die herbeigerufene
Intensivmedizinerin lehnt allerdings die Intubation der sterbenden Frau aus ethischen Gründen
ab. Sie stirbt 40 Minuten nach ihrer Einlieferung auf die Intensivstation.
Umgekehrt verlassen Tag für Tag „austherapierte“ Patienten die Intensivstationen in Richtung
Pflegeheim: Patienten, für die aus Sicht der kurativen (heilenden, wiederherstellenden)
Medizin nichts mehr getan werden kann, und die daher zum Sterben ins Heim entlassen werden.
Schon lange rufen Ökonomen zur Vernunft. Aber niemand bringt den Satz über die Lippen, dass die
Gesellschaft den Tod endlich wieder als essentiellen Bestandteil des Lebens akzeptieren
muss. Stattdessen wird von primärem und sekundärem Therapieverzicht, Patientenautonomie
und Fürsorge, Behandlungsqualität und Therapieabbruch gesprochen.
Die Floskel „einfach so sterben lassen“ gehört zum Standardrepertoire, wenn es um den Umgang mit
dem Sterben geht. In der Regel ist damit ein Versagen der Medizin, ein Mangel an Bemühung
und Engagement gemeint. Dass in dem Satz „Wir lassen einen Menschen einfach sterben“ auch
unendlich viel Güte, Weitsicht und gelebtes Mitleid eingeschlossen sein könnte, käme
keinem Verantwortlichen in den Sinn. Nein, einen Menschen einfach sterben zu lassen kann nur
kriminell im Sinne der unterlassenen Hilfeleistung und dem Vorenthalten der Segnungen der
modernen Medizin sein. Und wenn schon sterben lassen, dann auf keinen Fall „einfach“,
sondern kompliziert. Mit Schläuchen in Mund und Nase, Harnröhre und Magen, Infusionen und
medikamentöser Therapie bis zum letzten Atemzug, und oft auch noch darüber hinaus.
Die letzte Infusion
Immer wieder hört man in Krankenhäusern und bei ärztlichen Hausbesuchen Forderungen wie „Herr
Doktor, Sie können doch meinen Mann nicht einfach verdursten lassen!“ oder „Frau Doktor,
da muss man doch etwas tun, Sie können die Oma ja nicht einfach sterben lassen!“, oder
aber auch: „Herr oder Frau (ohne Doktor), da muss was geschehen, das kann ja nicht wahr sein,
dass Sie in so einem Spital arbeiten und die Frau einfach krepieren lassen.“
Tatsächlich werden in unseren Krankenhäusern und Intensivstationen Tag für Tag 90-jährige
Patienten reanimiert und im Falle von Herzinfarkten und Schlaganfällen gnadenlos und
reflexartig mit dem vollen medizinischen Programm versorgt: Intensivstation, intravenöse
Verweilzugänge, Intubation und Beatmungsmaschinen, Blasenkatheter und Sondenernährung. Und vor
allem Infusionen. Verschlauchte und verkabelte menschliche Körper, denen die
Menschlichkeit wegtherapiert wurde. Von einer Ärztegeneration, die nichts anderes gelernt hat.
Von Medizinern, die zu keinem Zeitpunkt ihres Berufslebens zum eigenständigen Denken
animiert wurden. Dieser Prozess beginnt übrigens schon zu Beginn des
Medizinstudiums in Form eines Multiple-Choice-Tests, der nur auf die passive Reproduktion von
Erlerntem ausgelegt ist und damit eindeutig wissenschaftlich denkende Studienanwärter
bevorzugt. Vor allem aber von Ärzten, die rechtlich ständig unter Druck stehen und für jede
nicht evidenzgesicherte Entscheidung jederzeit gerichtlich belangt werden können.
Herr M., ein pensionierter Staatsbeamter, hat bei einigermaßen guter Gesundheit das stattliche
Alter von 86 Jahren erreicht. Sein Leben war geprägt von Bescheidenheit und Dankbarkeit
dem Schicksal gegenüber. Regelmäßig, einmal im Monat, besucht er seit Jahrzehnten seinen
Hausarzt, um den leicht erhöhten Blutdruck messen und die Medikation bei Bedarf anpassen
zu lassen. Einmal pro Jahr lässt er ein großes Blutbild anfertigen, besucht, ebenso einmal
im Jahr, den Urologen, der ihm seit 15 Jahren regelmäßig ein Prostatamedikament
verschreibt. Wegen eines Glaukoms (grüner Star) ist Herr M. alle zwei Monate beim Augenarzt,
der ihm den Augendruck misst und die entsprechenden Tropfen verordnet.
Ab dem 81. Lebensjahr machen sich im Blutbild erhöhte Thrombozytenzahlen (Blutplättchen)
bemerkbar, die – nach Ansicht der hämatologischen Ambulanz der Universitätsklinik –
schließlich auch medikamentös behandelt werden müssen. Das dazu verwendete Medikament Litalir
ist ein Chemotherapeutikum, das als Nebenwirkung zu einer Erhöhung der Harnsäurewerte
führt. Das wiederum fällt dem Internisten bei der jährlichen Kontrolle auf und er verordnet
ein regelmäßig einzunehmendes Medikament gegen die erhöhte Harnsäure.
Zu dieser Zeit macht auch die rechte Hüfte zunehmend Beschwerden. Ein um Rat gebetener Orthopäde
möchte in Anbetracht des fortgeschrittenen Alters mit einer Operation noch zuwarten und
verordnet ein schmerzstillendes Medikament. Nach einigen Monaten berichtet Herr M. seinem
Hausarzt gegenüber von vermehrt auftretender Übelkeit und häufigen Magenschmerzen, worauf
er sowohl Tropfen gegen die Übelkeit, dreimal täglich einzunehmen, als auch ein
sogenanntes Magenschutzmedikament verordnet bekommt.
Immer wieder betont Herr M. lapidar, dass er ein braver „Pulverschlucker“ sei und alle
Anweisungen seiner Ärzte genauestens befolge, „obwohl ich schon oft ein schlechtes Gewissen
habe, dass ich dem Staat so lange auf der Tasche liege. Aber wenn es geht, möchte ich
meine Pension doch noch eine Zeit in Anspruch nehmen.“
Ein paar Jahre lang geht alles gut. Eine Kataraktoperation (grauer Star) an beiden Augen im 84.
Lebensjahr verträgt Herr M. relativ gut, allerdings entzünden sich beide Augen ab diesem
Zeitpunkt immer wieder. Salben, Tabletten und Schmerzmittel können nur bedingt Abhilfe
schaffen. Die Sehkraft wird immer schlechter.
Knapp vor seinem 86. Geburtstag kommt es zu einer unbeherrschbaren Augenentzündung. Seitens der
Augenärzte wird die Medikation von mittlerweile 23 Tabletten pro Tag nicht weiter in Frage
gestellt.
Herr M., inzwischen deutlich geschwächt und vom Alter gezeichnet, besucht weiterhin all seine
Ärzte, inzwischen mit dem Rettungswagen, wobei die Kontrollintervalle zusammen mit der
zunehmenden Verschlechterung seines Allgemeinzustandes immer enger werden. Der Urologe mahnt
eine Prostataoperation ein, der Internist spricht sich einstweilen dagegen aus, weil der
immer höher werdende Blutdruck vor einer neuerlichen Narkose besser eingestellt werden
müsse. Die Blutbildkontrollen zeigen eine zunehmende Anämie (Blutarmut) an, Herrn M. werden in
immer knapperen Abständen Blutkonserven verabreicht. Ob nicht das Medikament gegen die
vermehrten Blutplättchen schuld an der Blutarmut sein könnte, hinterfragt niemand, ein
Weglassversuch wird nicht in Erwägung gezogen.
Die Rettungsfahrten werden zunehmend beschwerlich. Der einzige Sohn, der sich zusammen mit den
Schwestern des Hilfswerks bis dahin liebevoll um die Koordination aller Arzttermine des
Vaters gekümmert hatte, fühlt sich immer mehr überfordert. Die Dienste einer slowakischen
Krankenpflegerin werden in Anspruch genommen.
Und plötzlich sinkt der zuvor immer erhöhte Blutdruck. Scheinbar unerklärlich. Wasser sammelt
sich in Beinen und Lunge. Als Reaktion werden Entwässerungsmedikamente verordnet. Diese
führen zu einem übermäßigen Verlust von Kalium. Also wird Kalium dreimal täglich in
Tablettenform zugeführt.
Herr M. ist immer öfter verwirrt. Dann weiß er weder, wo er ist, noch das Datum, und findet sich
nicht einmal mehr in der eigenen Wohnung zurecht. Das Gehen fällt ihm zunehmend
schwer. Er sitzt den ganzen Tag entweder im Rettungswagen, einer Spitalsambulanz oder in
seinem Lehnstuhl. Mittlerweile nimmt er täglich 27 Tabletten zu sich. „Ich lebe nur noch von
den Pulvern, Essen brauch ich keines mehr“, sagt er in einem der immer seltener werdenden
klaren Momente.
In dieser Situation wird ihm vom behandelnden Augenarzt einer angesehenen Spitalsambulanz eine
Hornhauttransplantation in Vollnarkose nahegelegt. Nur so könne Herr M. einen Rest seines
fast erloschenen Augenlichtes erhalten.
Und natürlich willigt er ein. Ein Leben lang hat er gelernt, in ärztliche Entscheidungen
einzuwilligen.
Zu diesem Zeitpunkt wagt der Hausarzt ein erstes Mal dem Sohn gegenüber die Bemerkung, dass der
rapide Verfall des Vaters auf den baldigen Tod hinweisen könnte. Trotz des so gut wie
erloschenen Augenlichts rate er von der geplanten Augen-OP ab. Seiner Erfahrung nach habe der
Vater nicht mehr lange zu leben. Er empfehle, dem Patienten einen würdigen Tod in den
eigenen vier Wänden zu gönnen. Er sei auch gerne bereit, sich Zeit zu nehmen, um den Vater
vorsichtig auf ein mögliches Sterben vorzubereiten.
Empörung und Unverständnis seitens des Sohnes sind die erste Reaktion. Er sagt: „Die Fachleute
werden doch wissen, was sie tun.“ Der Hinweis des Hausarztes, dass die Pumpleistung des
Herzens trotz all der Medikamente laufend nachlasse, kein Druck mehr im Kreislauf
aufgebaut werden könne und dass die Nierenwerte bedrohlich angestiegen seien, stimmt den Sohn
dann doch nachdenklich. Nach einem längeren Gespräch kommen Arzt und Sohn überein, den
Patienten selbst über die Operation entscheiden zu lassen.
Und Herr M., zu diesem Zeitpunkt bereits vollkommen desorientiert und hochgradig verwirrt, sagt
mit klarer Stimme: „Na, ich möchte mich schon operieren lassen, wie der Herr
Professor gesagt hat, dann kann ich wenigstens wieder sehen, wie es mir vom Professor
versprochen worden ist.“
In der folgenden Nacht sieht er seine Mutter neben sich im Bett liegen und schreit
unverständliche Wortfetzen, ist aggressiv und reißt sich alle Kleider vom Leib. Unkontrolliert
setzt er Kot und Urin ins Bett ab. Die Pflegerin ist verzweifelt. Er kann
das Bett aus eigener Kraft nicht mehr verlassen. Und doch wird er noch einmal mit der
Rettung in die Augenklinik gefahren. „Weil der Termin schon ausgemacht ist“, argumentiert der
Sohn.
Noch einmal kommt Herr M. nach Hause. Er ist kaum noch ansprechbar. Lediglich den Hausarzt
erkennt er noch an dessen Stimme. In den Unterlagen, die er vom Spital mitbekommen hat, finden
sich eine Überweisung zum Lungenröntgen sowie die Bitte um eine internistische OP-Freigabe.
An diesem Tag kann Herr M. seine Medikamente nicht mehr schlucken. Er erbricht nach der zweiten
Tablette und nimmt ab diesem Zeitpunkt weder Nahrung noch Flüssigkeit zu sich. Sohn und
Krankenpflegerin fordern jetzt beim Hausarzt vehement eine Infusion, die dieser nach
seinen Ordinationsstunden auch verabreicht, um weiteren Konflikten aus dem Weg zu gehen.
Noch während die Kochsalzlösung in den 87-jährigen Patienten hineintropft, verstirbt Herr M.
nach einem letzten tiefen Atemzug. Vor seiner letzten Operation.
Jeder Notfall wird blind, nach international festgelegten Schemata und vorgegebenen
Behandlungspfaden behandelt, oder besser gesagt: abgehandelt.
Das Zauberwort dabei heißt „Scores“. Diese Scores dienen dazu, den Schweregrad von
Krankheitsbildern und die jeweils erforderlichen therapeutischen Maßnahmen festzulegen. Es gibt
hunderte solcher Scores.
Bekannt sind unter unzähligen anderen:
– der APGAR-Score zur Beurteilung des Zustandes eines Neugeborenen
– der MMS (Mini-Mental-Score) zur Evaluierung des Stadiums einer Demenzerkrankung
– die CAM (Confusion Assessment Method) als Gradmesser von Verwirrtheit
– die GCS (Glasgow-Coma-Scale) zur Beurteilung von Bewusstseinsstörungen bei Schädel-
Hirn-Verletzungen
– der CHADS-Score dient zur Abschätzung des Risikos eines Schlaganfalles und zur
Entscheidungsfindung für die Einleitung der Blutverdünnungstherapie bei Vorhofflimmern
(=Herzrhytmusstörung)
– der GS (Gleason Score) dient zur Abschätzung der Aggressivität eines Prostatakarzinoms und zur
Festlegung der erforderlichen Behandlung
– der SAPS (Simplified Acute Physiology Score) zur Einschätzung der Erkrankungsschwere von
Intensivpatienten und deren Sterblichkeitsrisiko, sowie
– das TISS (Therapeutic Intervention Scoring System)
– der Mortality Probability Score
– der SOFA (Sequential Organ Failure Assessment Score)
– die APACHE (Acute Physiology and Chronic Health Evaluation), die auf Intensivstationen zur
Optimierung therapeutischer Interventionen herangezogen werden.
Übrigens: Kein Arzt dieser Welt kennt alle Scores.
Aber, und das alleine zählt, diese Scores haben das freie, patientenorientierte ärztliche Denken
weitestgehend verdrängt bzw. ersetzt. Zusammen mit Errungenschaften der
elektronischen Datenverarbeitung wie zum Beispiel ELGA (Elektronische Lebensbegleitende
Gesundheitsakte) sowie der Datenvernetzung von Überwachungs- und Analysegeräten im
Intensivtherapiebereich wird über kurz oder lang der Computer über Abbruch, Änderung oder
Fortsetzung einer Therapie entscheiden. Besonders kritische Leser dürfen sich ausmalen, wer
die Kriterien für die jeweiligen Parameter festlegen wird.
Nur wenn Patienten selbstbewusst, willensstark und noch bei Bewusstsein sind, sind sie in der
Lage, sich gegen solche automatisch ablaufenden Programme zur Wehr zu setzen. Denn nicht
jeder Patient stimmt im höheren Alter komplizierten Operationen und belastenden
Chemotherapien zu.
Oft allerdings sind Ärzte, die ihre Scores brav einstudiert und verinnerlicht haben, gegenüber
solchen Patienten völlig ratlos und verunsichert. Denn ein Score, der bei der Behandlung
eines selbstbewussten, selbst-bestimmenden Patienten hilft, ist noch nicht beschrieben.
So ist die moderne Medizin zwar auf jede Herausforderung, jeden Zwischenfall und jede
Krankheitskonstellation bestens vorbereitet. Lediglich individuelle, eigenständig denkende
Menschen sind im modernen Medizinbetrieb nicht vorgesehen.
Ein ganz spezielles Problem des sterbenden Menschen ist aber seine eingeschränkte
Beurteilungsfähigkeit der eigenen Situation. Der sterbende Patient verliert im klassischen
Sinne Schritt für Schritt seine Mündigkeit. Er ist in zunehmendem Maße auf die Fürsorge der
für ihn sorgenden Menschen angewiesen. Und besonders in dem Moment, zu dem eine
Entscheidung pro oder kontra Infusion getroffen werden muss, ist der sterbende Mensch nicht
mehr in der Lage, an einer bewussten Entscheidungsfindung mitzuwirken. Es sei denn, er hat
zu einem früheren Zeitpunkt seines Lebens mittels Patientenverfügung eine solche
Entscheidung für den Eventualfall getroffen. Und selbst in diesem Fall bleibt die Frage, ob er
die damalige Entscheidung unter den jetzt eingetretenen Umständen wieder in der gleichen
Weise treffen würde.
Ein markanter Punkt am Weg eines sterbenden Menschen ist der Zeitpunkt, ab dem der Patient nicht
mehr willens oder nicht mehr in der Lage ist, Nahrung oder Flüssigkeit zu sich zu nehmen.
. Dieser Akt ist im Falle eines natürlichen Sterbeprozesses genauso wenig eine
bewusste Handlung, wie auch das Gefühl von Hunger oder Durst im Laufe des Lebens nicht bewusst
hervorgerufen werden kann. Dieser bedeutende Zeitpunkt kommt auch nicht aus heiterem
Himmel. Meist sind ihm Wochen und Monate des körperlichen und oft auch geistigen Verfalls
vorausgegangen. Das Wort Reduktion beschreibt diese Periode treffender. Reduktion der
Wahrnehmung, Reduktion der Gedankenwelt, Reduktion der körperlichen Mobilität, Reduktion von
Bedürfnissen, Reduktion der Beherrschung von körperlichen Funktionen und die Reduktion des
Körpergewichts.
Das aktive, vom Patienten ausgehende Beenden der Flüssigkeitsaufnahme führt auf jeden Fall zum
Nierenversagen und damit definitiv zum Tod. Das Gleiche gilt selbstverständlich auch
für die Beendigung der Flüssigkeitszufuhr im Rahmen eines Therapieverzichts bei
austherapierten hochmoribunden Patienten. Normalerweise innerhalb von drei bis fünf, unter
besonderen Umständen spätestens aber nach zehn bis zwölf Tagen stirbt jeder Mensch ohne
Flüssigkeitszufuhr. Dabei spielen Alter, Körpergewicht, Außentemperatur sowie viele weitere
Faktoren eine Rolle.
Während dieser Phase produziert der Körper in zunehmendem Maße Endorphine. Diese körpereigenen,
Opiatwirkung nachahmenden Glückshormone verändern sowohl das Bewusstsein
wie auch die Schmerzempfindung maßgeblich. Endorphine werden nicht nur während der Geburt,
sondern auch im Laufe des Lebens bei unterschiedlichen Stresssituationen
ausgeschüttet. So haben zum Beispiel schwerverletzte Unfallopfer im ersten Schock keine
Schmerzwahrnehmung. Oft steigen Schwerstverletzte mit Normalität suggerierender Leichtigkeit
aus ihren Autowracks und lehnen jede Hilfeleistung brüsk ab, um einige Sekunden oder
Minuten später plötzlich bewusstlos zusammenzubrechen. Auch das Auftreten von euphorischen
Gefühlen bei Extremsportlern ist auf die Ausschüttung von Endorphinen zurückzuführen.
Die Zuführung von Flüssigkeit in Infusionsform verlangsamt und verzögert diese angenehme
Veränderung der Wahrnehmung von Sterbenden. Unabhängig davon, ob eine solche Infusion
intravenös oder subkutan, also in eine Vene oder in das Unterhautfettgewebe der Bauchdecke
verabreicht wird. Und darüber hinaus bleibt strittig, ob Infusionen bei sterbenden Menschen
überhaupt lebensverlängernd wirken, oder ob sie nicht in vielen Fällen zu zusätzlichen
Komplikationen führen. In diesem Zusammenhang müssen das Lungenödem, also eine krankhafte
Ansammlung von Flüssigkeit in der Lunge, und das chronische Herzversagen, bei dem das Herz
nicht mehr imstande ist, eine ausreichende Pumpleistung aufzubauen, erwähnt werden. Denn wenn
die durch Infusionen zugeführte Flüssigkeit nicht mehr ausreichend in den Blutkreislauf
eingebunden werden kann – und das ist beim chronischen Herzversagen immer der Fall –,
bleibt es der Schwerkraft folgend in den jeweils tiefstgelegenen Punkten des Körpers liegen.
Diese Ödeme sind oft schmerzhaft und begünstigen die Bildung von offenen Hautstellen bzw.
verunmöglichen die Abheilung von bestehenden Druckstellen, weil durch solche Wunden
ständig Gewebsflüssigkeit nach draußen drückt und die Wunden somit permanent Flüssigkeit
absondern. Auch das bedrohlich klingende Rasseln in den Lungen von Sterbenden wird durch die
Gabe von Infusionen noch verstärkt.
Infusionen, die Sterbenden im Rahmen eines natürlichen Sterbevorganges verabreicht werden,
dienen also in erster Linie der psychotherapeutischen Eigenbehandlung von Pflegern, Ärzten
oder Angehörigen. Die eigene Unsicherheit dem anvertrauten Patienten gegenüber wird durch eine
offensichtliche medizinische Intervention überspielt, das eigene Leid weit mehr als das
des Patienten behandelt. Das Gefühl, etwas gegen den Tod getan zu haben, reduziert
vorübergehend den Druck der Ohnmacht dem Tod gegenüber.
Ausnahmen stellen selbstverständlich all jene Situationen dar, bei denen moribunde Patienten
aufgrund ihrer körperlichen Gebrechen zu einem Zeitpunkt keine Flüssigkeit mehr zu sich nehmen
können, zu dem sie noch im Voll- oder Teilbesitz ihrer geistigen Kräfte sind. Auch die
Bitte eines Patienten um eine Infusion sollte ernst genommen werden, selbst wenn sich dahinter
oft irrationale Vorstellungen in Bezug auf die erhoffte Wirkung verbergen.
Frau M. ist 92 Jahre alt. Die letzten Jahre waren vom kontinuierlichen Rückzug gekennzeichnet.
Frau M. war Geschäftsfrau und setzte sich erst mit 75 Jahren zur Ruhe. Um
in Kontakt mit ihren ehemaligen Kunden zu bleiben, ohne deren unmittelbare Nähe in Kauf
nehmen zu müssen, wandelt sie den Verkaufsraum ihres Geschäftes in ihren Lebensabendraum
um. Durch die überdimensionierten Scheiben der früheren Auslagen blickt sie auf das
Treiben der Menschen auf dem Platz vor ihrem Geschäft. Manchmal, wenn sie ein vertrautes
Gesicht bemerkt, winkt sie hinaus. Wenn sie Ruhe und Abgeschiedenheit bevorzugt, schließt sie
die Vorhänge. Auf die Straße ist sie seit Jahren nicht mehr gegangen. Sie betont immer
wieder: „Die Menschen sollen mich so in Erinnerung behalten, wie ich im Geschäft gestanden
bin.“ Und oft fügt sie diesem Satz einen weiteren hinzu: „60 Jahre lang hab ich das Geschäft
keinen einzigen Tag zugesperrt, so war ich einmal.“
Ihre Knie sind vom jahrzehntelangen Stehen hochgradig abgenutzt und ständig angeschwollen.
Außerdem besucht Frau M. von Zeit zu Zeit einen Internisten, um Herz und Blutdruck behandeln
zu lassen. Darüber hinaus ist sie weitgehend gesund. Sie selbst sagt stets: „Ich bin halt
eine alte Frau.“
Lediglich die nachlassende Funktion ihrer Augen bereitet ihr ernste psychische Probleme. Zu
ihrer Ärztin sagt sie immer wieder: „Wissen Sie, Frau Doktor, mein Leben lang hab ich den
Leuten in die Augen geschaut. Wenn ich die Menschen, die mit mir reden, nicht mehr sehen kann,
hat das Leben keinen Sinn mehr.“ Weder ihr Herzfehler noch die Tatsache, dass sie kaum
noch gehen kann, bereitet ihr solche Qualen wie die Tage, an denen sie glaubt, das Augenlicht
einmal ganz verlieren zu müssen. Aber irgendwie gelingt es den Augenärzten immer wieder,
einen ausreichend letzten Rest von Sehkraft zu erhalten.
Jahrelang sitzt Frau M. in ihrem Rollstuhl vor dem Schaufenster, sodass man sie von draußen kaum
wahrnehmen kann, blättert ständig in einer ihrer unzähligen Zeitschriften und
wechselt pausenlos ihre Brillen. Je nachdem, ob sie hinaus auf den Platz vor ihrem Geschäft
schaut, eine Zeitschrift durchblättert oder ein Gespräch mit einer ihrer Töchter oder
einem der unzähligen Enkelkinder führt.
Nach dem 90. Geburtstag beschleunigt sich der körperliche Abbau. Die Familie richtet eine
24-Stunden-Betreuung durch slowakische Pflegerinnen ein. Ein Spitalsbett muss angeschafft
werden, da Frau M. irgendwann nicht mehr in der Lage ist, ihre Hälfte des 70 Jahre alten
Ehebettes ohne fremde Hilfe zu verlassen. Der Platz neben ihr ist seit dem Zweiten Weltkrieg
verwaist und wurde nie wieder besetzt, auch wenn es immer wieder Freier gegeben hätte.
Frau M. wird weniger und weniger, ruhiger und ruhiger. Und wäre nicht ihre oft ins Groteske
übertriebene Sorge um das Augenlicht, so würde, einfach gesagt, Frau M. eines nicht mehr allzu
fernen Tages in Frieden an Altersschwäche sterben.
Aber dann, das Sterben scheint nicht mehr allzu weit entfernt, beginnt sie mit schwacher Stimme
über immer häufiger werdende Schluckbeschwerden zu klagen. „Frau Doktor, ich kann
kaum noch schlucken, ohne dass es mich in der Brust und am Rücken brennt.“ Sie muss nach
diesen Worten einige Male durchatmen, um wieder genug Luft für einen neuen Satz zu haben.
„Bei jedem Schluck brennt es und ich glaub, es zerreißt mir die Brust.“ Und nach
einer weiteren durchatmeten Pause: „Und immer wieder muss ich erbrechen, scheußlich ist
das.“
Die Ärztin versucht die Beschwerden mit säureverringernden Medikamenten und Schmerzmitteln zu
behandeln. Und es gelingt auch, die Beschwerden zu erleichtern. Die Schluckprobleme können
dadurch aber nicht beseitigt werden. Immerhin kann Frau M. von Zeit zu Zeit noch etwas
flüssig-breiige Nahrung bei sich behalten. Die Hausärztin kommt mit den Angehörigen überein,
dass es keinen Sinn machen würde, die ohnehin schon fast nur noch bettlägrige Mutter einer
Speiseröhren- und Magenspiegelung auszusetzen. Außerdem haucht Frau M. bei jedem
Hausbesuch ihrer Ärztin ins Ohr: „Frau Doktor, bitte, bitte schicken Sie mich nicht ins
Spital. Dort würde ich sofort sterben.“ Allerdings informiert die Ärztin die Familie der
betagten Greisin darüber, dass man doch aufgrund der zunehmenden Symptomatik von einem
Speiseröhren- oder Magenkrebs ausgehen müsse und dass die Mutter eines Tages überhaupt nichts
mehr zu sich nehmen würde können.
Die Töchter samt den anderen Angehörigen reagieren verständnisvoll und stimmen mit der
Hausärztin überein, dass die Mutter zu Hause sterben dürfe. Für die Pflege sei ja gesorgt, die
Frau Doktor würde weiterhin die Schmerzbehandlung übernehmen, und ganz nebenbei sagt einer
der Schwiegersöhne: „Und, Frau Doktor, wir sind der Meinung, dass Sie der Mutter auch
keine Infusion mehr geben sollten, weil das doch nur eine sinnlose Verlängerung des Lebens
wäre.“
Ab diesem Zeitpunkt verkompliziert sich das bisher reibungslose Verhältnis zwischen der
Hausärztin und dem selbsternannten Sprecher der Angehörigen. In mühevollen Gesprächen macht
die Ärztin ihren Standpunkt klar. Auch sie ist der Meinung, dass eine Sondenernährung in
Anbetracht des hohen Alters und des stark reduzierten Allgemeinzustandes nicht mit
Menschenwürde und Ethik in Übereinstimmung zu bringen wäre, die Mutter aber – bei noch
lebendigem Leibe – verdursten zu lassen lehne sie allerdings strikt ab.
„Was sollen die Infusionen bringen, die Schwiegermutter stirbt ja sowieso“, sagt die eine Seite.
„Warum haben Sie es denn so eilig mit ihrem Tod?“, repliziert die Medizinerin. „Wir
möchten es aber nicht“, versteift sich der Schwiegersohn. „Es geht aber nicht um uns,
sondern um die Patientin“, entgegnet die Hausärztin. Und sie hat ein gewichtiges Argument auf
ihrer Seite. „Als Hausärztin fühle ich mich auch als Anwältin und Sprecherin der
Patientin, nachdem sie weder entmündigt noch sonst irgendwie geistig eingeschränkt ist.“
Man kommt schließlich überein, die Patientin, so gut es eben noch geht, in die
Entscheidungsfindung miteinzubeziehen. Nach vielen, für Frau M. oft unverständlichen
Argumenten von Ärztin und Schwiegersohn gibt sie zu verstehen, dass sie zwar sterben, aber
nicht verdursten möchte.
Ein paar Tage später bekommt sie die erste Infusion. Es folgen, jeweils im Tagesabstand, 13
weitere. Dann schließt Frau M. ihre Augen für immer.
© Studienverlag GmbH
... weniger
Autoren-Porträt von Günther Loewit
Dr. med. Günther Loewit, geboren 1958 in Innsbruck, lebt und arbeitet als Allgemeinmediziner, Gemeindearzt und Schriftsteller in Marchegg, Niederösterreich. Langjähriges Engagement als Ärztekammerrat, Vorsitzender des Schlichtungsausschusses der Ärztekammer. Publikationen zu medizinischen und medizinphilosophischen Themen in Ärztezeitschriften, daneben literarische Publikationen seit 2004. Bei HAYMONtb: 'Der ohnmächtige Arzt' (2010) und 'Wie viel Medizin überlebt der Mensch?' (2012).www.guenther-loewit.at
Bibliographische Angaben
- Autor: Günther Loewit
- 2017, 2. Aufl., 328 Seiten, Maße: 11,4 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Haymon Verlag
- ISBN-10: 3852189713
- ISBN-13: 9783852189710
- Erscheinungsdatum: 19.09.2014
Kommentar zu "Sterben"
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Sterben".
Kommentar verfassen