Über den Fluss nach Afrika
Roman
Ein Talisman ihrer Mutter führt die junge Benita von London nach Südafrika, ihre Heimat. Sie muss sich ihrer Vergangenheit stellen, denn ihre Mutter wurde dort ermordet.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Über den Fluss nach Afrika “
Ein Talisman ihrer Mutter führt die junge Benita von London nach Südafrika, ihre Heimat. Sie muss sich ihrer Vergangenheit stellen, denn ihre Mutter wurde dort ermordet.
Klappentext zu „Über den Fluss nach Afrika “
Ein Erdbeben der GefühleDie junge Farbige Benita ist erfolgreiche Investmentbankerin in London. Ein geheimnisvoller Talisman zwingt sie, sich in ihrem Geburtsland Südafrika endlich auf die Suche nach der Wahrheit zu machen. Wer hat ihre Mutter zur Zeit der politischen Verfolgung umgebracht?
Benita Steinach wurde von der englischen Familie Forrester adoptiert, nachdem sie als kleines Mädchen in Südafrika ein traumatisches Erlebnis hatte: Sie war Zeugin, wie ihre Mutter von Schergen des Apartheidregimes zu Tode gefoltert wurde. Seitdem leidet sie unter einer Teilamnesie, bis sie achtzehn Jahre später in London ein geheimnisvolles Päckchen erhält, in dem sich die kleine Figur eines Flusspferds befindet. Das Wissen, dass dieser Talisman nur von ihrer Mutter stammen kann, setzt bei Benita blitzlichtartige Erinnerungsstücke frei. Da kommt ihr eine Geschäftsreise nach Südafrika sehr gelegen, um dort endlich die Mörder zu finden. Oder hat ihre Mutter gar überlebt? Die Suche beginnt auf Inqaba, der Farm der Familie Steinach in KwaZulu-Natal, wo sich ihr allmählich eine Wahrheit offenbart, die sie nie geahnt hätte ...
- Mit unvergesslichen Bildern erzählt Stefanie Gercke die bewegende Geschichte einer jungen schwarzen Frau zwischen Vergessen, Vergeben und Vergeltung
- Fortsetzung der mit "Schatten im Wasser" und "Feuerwind" begonnenen großen Afrika-Roman-Reihe
Lese-Probe zu „Über den Fluss nach Afrika “
Über den Fluss nach Afrika von Stefanie Gercke LESEPROBE
Beauty Makuba war das erste Opfer. Am Morgen des 4. Novembers fiel sie mit ausgestreckten Armen kopfüber in ein dreißig Meter tiefes Loch in ihrem Garten, das sich über Nacht aufgetan hatte, brach sich erst beide Arme, gleich darauf den Schädel und zum Schluss das Genick. Schmerzen spürte Beauty nicht. Sie war sofort tot.
An diesem Tag fanden ihre Nachbarn in dem kleinen Ort Promise, der vom Bergbau lebte, nicht weniger als sechshundert solcher Löcher in ihren Gärten. Das tiefste war so tief, dass es dem Hausbesitzer bodenlos erschien und er fürchtete, in seinem Vorgarten einen direkten Zugang zur Hölle zu haben. Das regte ihn sehr auf, aber niemand konnte ihm die Frage beantworten, woher diese Löcher wirklich kamen und wohin sie führten.
Die Minengesellschaft wandte sich an ihre Geologen. Da alles am Guy-Fawkes-Day geschah, an dem die Engländer mit Freudenfeuern und dem Abbrennen von spektakulären Feuerwerkskörpern feierten, dass besagter Guy Fawkes und seine Mitverschwörer im Jahr 1605 mit ihrem Plan scheiterten, das englische Parlament in die Luft zu jagen, unterlief dem Geologen vom Dienst, der obendrein an jenem Tag Geburtstag hatte, eine Nachlässigkeit. Er übersah einige ungewöhnliche, verhältnismäßig flache Zacken auf dem Seismographen. In seiner langatmigen Erklärung hieß es, dass es sich um einen Kaverneneinbruch handele, der ja vor Ort keine Besonderheit sei.
Die hiesigen Minen waren ins Dolomitgestein getrieben, und durch die Schächte sickerte immerfort Oberflächenwasser nach, das von der Minengesellschaft ständig abgepumpt werden musste. Langsam, aber stetig fraß das Wasser das Gestein, und es entstanden riesige Kavernen, bis irgendwann die Höhlendecke aus dem weichen Kalkgestein nicht mehr stark genug
... mehr
war und einbrach. Der Einbruch erzeugte ein dumpfes Grollen und einen kurzen Erdstoß. Dann war es vorüber. Die Bosse der Minengesellschaft waren beruhigt und machten sich auf, um ebenfalls ausgiebig den Festtag zu begehen.
Prudence Magubane aber hatte eine Erklärung, die den Bewohnern von Promise, die bis auf wenige Ausnahmen alle von dunkler Hautfarbe waren, mehr einleuchtete. Schon immer, so behauptete die alte Frau, der man nachsagte, dass sie in mondhellen Nächten allerlei geheimnisvolle Riten praktiziere, habe sie davor gewarnt, dass der Boden unter dem Ort durchlöchert sei wie ein Baumstamm von Termiten, weil da unten etwas lebe, das von unvorstellbarer Gefräßigkeit sei.
Viele der Anwohner glaubten ihr, kauften ihre Medizin und gossen sie in die Löcher, um das unterirdische Biest zu füttern. Das Geschäft florierte, und Prudence Magubane zog bald von ihrer Wellblechhütte in ein Haus aus Stein, und in ihrem Wohnzimmer flimmerte fortan Tag und Nacht ein Fernseher.
Aber das unterirdische Biest war unersättlich. Es lag auf der Lauer und wartete.
Am Abend des Guy-Fawkes-Day bebte die Erde erneut, ein Stollen brach ein, und zehn Minenarbeiter der King Midas Gold Mine wurden verschüttet. Unerfahrene verwechselten das Geräusch gern mit dem eines vorbeifahrenden Zuges, aber jeder, der in dieser Gegend lebte, hielt es für einen Kaverneneinbruch, jede Frau, deren Mann in den Minen arbeitete, schickte ein Stoßgebet zum Himmel und hoffte, dass es nicht den ihren getroffen hatte.
Dieses Mal jedoch war es anders. Was die Höhlen zusammenbrechen ließ, war nicht ein Kaverneneinbruch, sondern ein tektonisches Beben. Die Geologen wiesen schnellstens darauf hin, dass Derartiges in dieser Gegend außerordentlich ungewöhnlich sei und sich wohl kaum wiederholen könne.
Aber das Biest hatte die Zähne gefletscht.
Die zehn Minenarbeiter konnten nach einigen Tagen nur noch tot geborgen werden. Das Begräbnis wurde vom Fernsehen übertragen, und die Frauen warfen sich über die Särge ihrer Männer und schrien und klagten, was die Stimmbänder hergaben, damit ihre Ahnen die Toten mit offenen Armen empfingen.
Es war eine sehr würdige Zeremonie.
Linnie merkte von alledem nichts. Das Weltgeschehen interessierte sie schon lange nicht mehr. Außerdem lebte sie weit weg an der südöstlichen Küste des Indischen Ozeans, hatte weder je von dem Ort Promise noch von den mysteriösen Erdlöchern gehört. Sie besaß weder Radio noch Fernsehen, und die Zeitungen, die sie las, waren die, die andere Leute weggeworfen hatten, denn der Busch war ihr Heim, der Himmel ihr Dach und der warme Sand ihr Bett. Sie war zu einem Nachtwesen geworden, ein flüchtiger Schatten zwischen den Büschen, ein trockenes Rascheln im Ried, nichts mehr. Seit achtzehn Jahren war sie nichts als ein Schatten. Unsichtbar. Nicht vorhanden.
Das war gut so, denn niemals durfte einer von denen erfahren, dass es sie noch gab, durfte nicht ahnen, dass sie noch atmete. Ob sie noch lebte, war eine Frage, auf die sie die Antwort selbst nicht geben konnte. Die, die sie einst war, existierte nicht mehr, und mit jedem Tag entfernte sich ihr früheres Leben weiter von ihr. Als schaute sie durch das falsche Ende eines Fernrohrs, erkannte sie jetzt nur noch einen schwach leuchtenden Punkt, und auch der würde bald erloschen sein. Dann blieb nur noch Finsternis. Und der Hass. Denn solange nicht vollbracht war, was sie sich damals geschworen hatte, musste sie atmen. Ein und aus. Ein und aus.
War es vorbei, würde sie sich fallen lassen, sich auflösen, einfach aufhören zu sein. Von ihr würde nichts bleiben, nur tanzende Stäubchen in den Sonnenstrahlen. Manchmal, wenn die Schmerzen zu schlimm wurden, wünschte sie diesen Augenblick herbei, mehr als alles andere auf der Welt. Dann stieg sie im pflaumenfarbenen Morgengrauen nackt in die Wellen, dort, wo keine Felsen unter der Oberfläche lauerten, legte sich auf den Rücken und ließ sich mit geschlossenen Augen ins Licht treiben, hoffte, dass das Meer sie mitnehmen würde in die Ewigkeit. Aber dann schwappte ihr unweigerlich eine vorwitzige Welle in den Mund, oder irgendetwas knabberte an ihrem Zeh, sie verschluckte sich, musste husten und spucken, und ihr Überlebensreflex setzte wieder ein. Sie schwamm zurück an Land.
Eine große grellbunte Heuschrecke landete auf ihrem Arm. Spüren konnte sie das nicht. Unter den wulstigen Narben, die ihren gesamten Körper überzogen, waren die Nerven weitgehend zerstört, nur stellenweise fühlte sie etwas, und dann waren es immer Schmerzen, furchtbare, spitze Schmerzen. An vielen Tagen war sie nur noch ein einziger Schmerz, und es kam ihr vor, als hätte sie nicht nur die Verbindung zu ihrem Körper verloren, sondern auch zu ihrer Seele. In ihrem Inneren war sie tot, alle menschlichen Gefühle waren gestorben.
Alle, bis auf eines. Den Hass. Lichterloh brannte er in ihr, hatte jedes andere Gefühl mit seinen Flammen verzehrt. In diesem Feuer schmiedete sie ihre Wut, schürte die Glut, verlor nie ihr Ziel aus den Augen.
Mit einer blitzschnellen Handbewegung fing sie die Heuschrecke ein und setzte sie ins Blätterwerk. Der Insektenleib war prall und weich, das konnte sie fühlen. Die Fingerspitzen ihrer rechten Hand waren unversehrt. Sie hatte sie zur Faust geballt, und deswegen waren sie verschont geblieben. Sachte strich sie über den pferdeähnlichen Kopf des Tieres, die festen Flügeldecken, zupfte die durchsichtigen, pergamentartigen Hinterflügel hervor, bis sie sich wie Fächer entfalteten. Es gab Zeiten, da hatte sie das Insekt gegessen, meist geröstet, aber auch roh, wenn sie hungrig genug war, obwohl es abstoßend bitter schmeckte. Aber jetzt hatte sie sich ihr Lager nicht weit vom Ort im Dünenwald bereitet, und wenn es ihr nicht gelang, in der Morgendämmerung einige Krebse, vielleicht einen Tintenfisch oder sogar einen Fisch zu fangen, der zur dieser frühen Tageszeit noch schlafend auf dem schattigen Grund eines Teichs im Felsenriff lag, wanderte sie abends im Schutz der Dunkelheit zu den Mülltonnen, die hinter den großen Hotels standen. Dort war der Tisch stets reich gedeckt.
Vor einigen Monaten hatten Kinder, die den dichten Buschstreifen unterhalb der Promenade erkundeten, sie in ihrem Unterschlupf aufgestöbert, und einige unerschrockene hatten sich ihr genähert, zögernd Fragen gestellt und dann ihren ehrlichen Antworten gelauscht. Sie waren zu ihren Freunden geworden und brachten ihr nun ab und zu sauberes Wasser und Essen, das sie ihrer Mutter stahlen oder mit einer kleinen Lüge abschwatzten. Nicht einer verriet sie. Eifersüchtig hüteten alle ihr Geheimnis vor den Erwachsenen, und sie belohnte die Treue der Kinder, indem sie ihnen kleine Figuren aus Lehm modellierte oder Flöten aus Bambus schnitzte, den sie nachts aus einem üppigen Garten in der Nähe des Strandes schnitt, nachdem sie den blutdurstig geifernden Wachhund mit sanften Schnalzlauten und saftigen Fleischresten aus den Mülleimern des Steakrestaurants in ein lammfrommes Hündchen verwandelt hatte.
Nach ihrem abendlichen Beutezug durch die Mülltonnen der Hotels duschte sie sich unter den Strandduschen. Seewasser und Meeresluft überzogen ihre Haut schnell mit Salzkristallen, an denen der grobe Sand so fest haftete, dass sie ihn nicht abschütteln konnte. Dann juckten die Narben so unerträglich, dass sie sich die Haut vom Leibe hätte kratzen mögen. Sie wartete immer, bis der Strand menschenleer war und auch niemand mehr über die Promenade wanderte. Bei ihrer Duschorgie beobachtet zu werden wäre ihr sehr peinlich. Erst wenn kein Sandkorn mehr an ihr klebte, der Juckreiz endlich nachließ, drehte sie den Hahn zu.
In den letzten Monaten hatte sie sehr viel Gewicht verloren, und ihre von glänzenden Wulsten durchzogene, schuppige Haut warf dicke Falten, was ihr ein reptilienhaftes Aussehen verlieh. Ein Reptil mit eingefallenen Flanken und zu großem Kopf, so sah sie sich.
Die Chamäleonfrau nannte man sie, wegen ihrer Haut und der Tatsache, dass ihr Kopf bis auf einige dünne Haarbüschel kahl war, das wusste sie wohl. Sie hatte die Kinder reden hören. Aber es machte ihr nichts aus, und nie benutzte sie ihr Aussehen, um ihnen Angst einzujagen. Kinder liebte sie. Ihr eigenes, ihr einziges, hatte sie verloren, gleichzeitig mit dem Vater, der die Liebe ihres Lebens gewesen war. Die Erinnerung an den, der den Tod ihres Mannes verursacht und sie zu dem Dasein einer lebenden Toten verdammt hatte, die Erinnerung an diesen Mann hielt ihren Hass lebendig.
Sie ballte die Fäuste, presste die Lider zusammen, zwang sich, sich diesen Mann genau vorzustellen, rief sich seine sanfte, tödliche Stimme ins Gedächtnis, suhlte sich in der Erinnerung an den Schmerz, den ihr seine manikürten Hände zugefügt hatten, konzentrierte sich auf diesen weiß glühenden Punkt in ihrem Zentrum. So lebhaft war ihre Vorstellungskraft, dass sie ihn riechen konnte, diesen abstoßenden Geruch nach männlichem Schweiß, vermischt mit Zigarrenrauch und seinem klebrig-süßlichen Rasierwasser. Sie musste sich das antun, damit sie in jener einen Sekunde, auf die sie seit vielen Jahren mit der grausamen Geduld einer hungrigen Raubkatze lauerte, dem Augenblick, in dem er vor ihr stehen würde, bereit war.
Nun war dieser Augenblick ganz nah. Einen Monat würde er in seinem Luxusapartment in Umhlanga Rocks verbringen. Aus geschäftlichen Gründen, so hatte es in einer der Zeitungen gestanden, die sie täglich aus dem Papierkorb vor dem La Spiaggia fischte in der Hoffnung, irgendwann eine Spur dieses Mannes zu finden. Beim schnellen Durchblättern war ihr Blick an dem Foto eines Mannes hängen geblieben, der mit verschränkten Armen den Betrachter kühl von oben herab musterte. Es deckte sich exakt mit dem Bild von ihm, das seit achtzehn Jahren wie mit Säure in ihre Seele geätzt war, und die Erkenntnis, wen sie vor sich hatte, hatte sie mit der Wucht eines Schmiedehammers getroffen, ihr für Minuten jegliche Kontrolle über sich selbst geraubt, allein die Erinnerung verursachte dieselbe Reaktion wie in jenem Moment. Sie zitterte, ihr Herz setzte aus, ihre Hände flogen, sie rang nach Atem, als würde ihr jemand die Kehle zudrücken. Sie hatte die Zeitung fallen lassen und war, hilflos gegen die Dämonen kämpfend, hinunter auf den schattigen Strand gestolpert, entlang den auslaufenden Wellen, bis sie irgendwann lang hingeschlagen und liegen geblieben war. Ihr Mund hatte sich mit Salzwasser gefüllt, Sand ihr die gepeinigte Haut heruntergerieben. Wie ein Stück Treibholz rollte sie in der auflaufenden Flut hin und her, bis eine Welle sie hinauf auf den trockenen Sand gespuckt hatte.
Die wilden Filmfetzen vor ihren Augen waren allmählich verblasst, und eine tödliche Ruhe hatte sich ihrer bemächtigt. Sie ging zurück zum La Spiaggia, fand die Zeitung und hatte im Licht der Straßenlampe den Artikel gelesen, der neben dem Bild abgedruckt war, und damit den süßesten Augenblick der vergangenen achtzehn Jahre erlebt. So lange hatte sie ihn gesucht, hatte sich ans Leben geklammert, hatte sich geschworen, es nicht eher zu verlassen, bis sie ihn gefunden hatte, bis er für alles auf Heller und Pfennig bezahlt hatte, und jetzt hatte sie ihn gefunden.
Er nannte sich heute anders, als er damals hieß, und es war nicht sein Gesicht, das dort abgebildet war. Offenbar hatte er seine Gesichtszüge mittels kosmetischer Operationen verändern lassen - besonders das Kinn erschien ihr kantiger -, aber seine elegante Erscheinung, die arrogante Kopfhaltung, seine Gestik verrieten ihn. Das Haar trug er so militärisch kurz wie früher, aber es war nicht mehr dunkelbraun, sondern weiß.
Wie damals verbarg er seinen durchtrainierten Körper unter feinstem Stoff, glich auch heute noch äußerlich dem, was er ursprünglich gewesen war: ein Wissenschaftler. Was nicht auf den ersten Blick ersichtlich war, was sie aber am eigenen Leib erfahren hatte, waren seine Besessenheit und die unglaubliche Kraft, die er besaß, eine Kraft und Schnelligkeit, die sie eigentlich bisher nur im Tierreich erlebt hatte. Sein Körper schien nur aus Muskeln zu bestehen. Er war nicht groß, unter eins achtzig sicherlich, so schätzte sie ihn, obwohl er größer wirkte.
Unter seinem neuen Namen war er heute offenbar ein prominenter Geschäftsmann, nicht verheiratet, darauf würde sie wetten. Seine Zuneigung galt Jungen mit glatter Haut und knospenden Körpern, das hatte sie beobachtet, damals.
Die Bilder jagten ihr einen Schauer über ihre zerstörte Haut, lösten dabei einen starken Juckreiz aus. Sie beherrschte sich und kratzte sich nicht, weil die Wunden, die sie sich dann selbst zufügte, in dem feuchtwarmen Seeklima leicht vereiterten und oft für Monate nicht heilten. Zwar kannte sie sich gut aus, wusste welche Pflanzen in den Dünen, zu Brei zerdrückt, aseptisch wirkten und die Heilung förderten, aber seit einiger Zeit konnte sie nicht mehr ignorieren, welches Risiko diese Infektionen für sie darstellten.
Die Anzeichen waren nur zu deutlich. Lange hatte sie geglaubt, sie wäre noch einmal davongekommen, nachdem die Bande von zugekifften Tsotsies sie in ihrem Versteck am Strand vor Durbans Goldener Meile aufgestöbert hatte. Durch die Verkrüppelungen und die straff spannenden Narben konnte sie sich nur mit großer Mühe und nur sehr langsam fortbewegen. Sie entkam ihnen nicht. Einer nach dem anderen hatten sie sich auf sie gestürzt, wieder und immer wieder.
Es war eine dunkle, mondlose Nacht gewesen, kurz vor der Wintersonnenwende, und keiner hatte ihr Äußeres richtig wahrgenommen. Erst als die Kerle von ihr abgelassen und sie halb bewusstlos vor Schock und Schmerzen liegen lassen hatten, hatte einer von ihnen ein Feuer angezündet - um sich zu wärmen oder Heroin zu kochen, das konnte sie nicht sagen -, und erst dann bemerkten ihre Peiniger ihr Aussehen.
»Es ist ein Tier, es ist das Chamäleon«, schrie einer, und alle stoben entsetzt davon.
Das Chamäleon war der Todesbote der Zulus, und sie hatte trotz ihres Zustandes ein grimmiges Gefühl von Gerechtigkeit verspürt, weil sie wusste, dass selbst bei den Zulus, die schon im Bauch der Stadt geboren worden waren, der Glaube an die Mythologie ihres Volkes tief verwurzelt war. Diese Männer würden wissen, dass sie dem Tod geweiht waren, und egal, wie sie starben, in ihrem letzten Augenblick würden sie das Wesen vor sich haben, das Schuppen trug und aussah wie ein großes Reptil und doch eine Menschenfrau war. Ihre verbleibende Zeit auf Erden würde keine angenehme werden, dessen war sie sich sicher. Es war ein schwacher Trost, und er hielt nicht lange an.
Obwohl sie wusste, dass antiretrovirale Medikamente, die, kurz nach der Infektion verabreicht, den Ausbruch der Krankheit verhindern oder zumindest verzögern konnten, in Südafrika illegal waren, hatte sie sich voll verzweifelter Wut zum nächsten Krankenhaus geschleppt. Weinend hatte sie die junge indische Ärztin in der Notaufnahme um das rettende Medikament angefleht. Aber vergeblich, sie wurde abgewiesen. Rasend vor Angst, hatte sie geschrien, war den Gang entlanggekrochen und hatte an Türen gehämmert, bis zwei Krankenpfleger sie einfingen.
»Stell dich nicht so an«, hatte einer der beiden geknurrt und sie - durch Einweghandschuhe geschützt - gepackt und vor die Tür gesetzt. Sie nahm es ihnen nicht übel. In einem Land, wo alle sechsundzwanzig Sekunden eine Frau vergewaltigt wurde, war ihr Schicksal ein alltägliches. Nur in den müden Augen der Ärztin hatte sie tiefstes Mitleid gesehen.
An diesem Morgen war sie versucht gewesen, einfach ins Meer zu gehen und weit hinauszuschwimmen, bis sie die Kraft verließ, es keinen Weg mehr zurückgab und sie in die stille, weiche Tiefe sinken würde, immer weiter, bis das Licht über ihr sich verdunkelte, die Stille tiefer wurde und endlich nichts mehr da war als Frieden. Keine Schmerzen, keine Sehnsüchte. Nichts mehr. Stundenlang hatte sie am Saum der Wellen gestanden und hinaus ins sturmgepeitschte wintergraue Meer gestarrt. Doch dann hatte sie ein streunender Hund angefallen, und ein paar Halbwüchsige bewarfen sie mit Steinen und verhöhnten sie mit üblen Namen. Da war die Wut zurückgekommen, und sie wusste, dass sie nie aufgeben würde, bis er die Rechnung in Gänze beglichen hatte.
© Heyne Verlag
Prudence Magubane aber hatte eine Erklärung, die den Bewohnern von Promise, die bis auf wenige Ausnahmen alle von dunkler Hautfarbe waren, mehr einleuchtete. Schon immer, so behauptete die alte Frau, der man nachsagte, dass sie in mondhellen Nächten allerlei geheimnisvolle Riten praktiziere, habe sie davor gewarnt, dass der Boden unter dem Ort durchlöchert sei wie ein Baumstamm von Termiten, weil da unten etwas lebe, das von unvorstellbarer Gefräßigkeit sei.
Viele der Anwohner glaubten ihr, kauften ihre Medizin und gossen sie in die Löcher, um das unterirdische Biest zu füttern. Das Geschäft florierte, und Prudence Magubane zog bald von ihrer Wellblechhütte in ein Haus aus Stein, und in ihrem Wohnzimmer flimmerte fortan Tag und Nacht ein Fernseher.
Aber das unterirdische Biest war unersättlich. Es lag auf der Lauer und wartete.
Am Abend des Guy-Fawkes-Day bebte die Erde erneut, ein Stollen brach ein, und zehn Minenarbeiter der King Midas Gold Mine wurden verschüttet. Unerfahrene verwechselten das Geräusch gern mit dem eines vorbeifahrenden Zuges, aber jeder, der in dieser Gegend lebte, hielt es für einen Kaverneneinbruch, jede Frau, deren Mann in den Minen arbeitete, schickte ein Stoßgebet zum Himmel und hoffte, dass es nicht den ihren getroffen hatte.
Dieses Mal jedoch war es anders. Was die Höhlen zusammenbrechen ließ, war nicht ein Kaverneneinbruch, sondern ein tektonisches Beben. Die Geologen wiesen schnellstens darauf hin, dass Derartiges in dieser Gegend außerordentlich ungewöhnlich sei und sich wohl kaum wiederholen könne.
Aber das Biest hatte die Zähne gefletscht.
Die zehn Minenarbeiter konnten nach einigen Tagen nur noch tot geborgen werden. Das Begräbnis wurde vom Fernsehen übertragen, und die Frauen warfen sich über die Särge ihrer Männer und schrien und klagten, was die Stimmbänder hergaben, damit ihre Ahnen die Toten mit offenen Armen empfingen.
Es war eine sehr würdige Zeremonie.
Linnie merkte von alledem nichts. Das Weltgeschehen interessierte sie schon lange nicht mehr. Außerdem lebte sie weit weg an der südöstlichen Küste des Indischen Ozeans, hatte weder je von dem Ort Promise noch von den mysteriösen Erdlöchern gehört. Sie besaß weder Radio noch Fernsehen, und die Zeitungen, die sie las, waren die, die andere Leute weggeworfen hatten, denn der Busch war ihr Heim, der Himmel ihr Dach und der warme Sand ihr Bett. Sie war zu einem Nachtwesen geworden, ein flüchtiger Schatten zwischen den Büschen, ein trockenes Rascheln im Ried, nichts mehr. Seit achtzehn Jahren war sie nichts als ein Schatten. Unsichtbar. Nicht vorhanden.
Das war gut so, denn niemals durfte einer von denen erfahren, dass es sie noch gab, durfte nicht ahnen, dass sie noch atmete. Ob sie noch lebte, war eine Frage, auf die sie die Antwort selbst nicht geben konnte. Die, die sie einst war, existierte nicht mehr, und mit jedem Tag entfernte sich ihr früheres Leben weiter von ihr. Als schaute sie durch das falsche Ende eines Fernrohrs, erkannte sie jetzt nur noch einen schwach leuchtenden Punkt, und auch der würde bald erloschen sein. Dann blieb nur noch Finsternis. Und der Hass. Denn solange nicht vollbracht war, was sie sich damals geschworen hatte, musste sie atmen. Ein und aus. Ein und aus.
War es vorbei, würde sie sich fallen lassen, sich auflösen, einfach aufhören zu sein. Von ihr würde nichts bleiben, nur tanzende Stäubchen in den Sonnenstrahlen. Manchmal, wenn die Schmerzen zu schlimm wurden, wünschte sie diesen Augenblick herbei, mehr als alles andere auf der Welt. Dann stieg sie im pflaumenfarbenen Morgengrauen nackt in die Wellen, dort, wo keine Felsen unter der Oberfläche lauerten, legte sich auf den Rücken und ließ sich mit geschlossenen Augen ins Licht treiben, hoffte, dass das Meer sie mitnehmen würde in die Ewigkeit. Aber dann schwappte ihr unweigerlich eine vorwitzige Welle in den Mund, oder irgendetwas knabberte an ihrem Zeh, sie verschluckte sich, musste husten und spucken, und ihr Überlebensreflex setzte wieder ein. Sie schwamm zurück an Land.
Eine große grellbunte Heuschrecke landete auf ihrem Arm. Spüren konnte sie das nicht. Unter den wulstigen Narben, die ihren gesamten Körper überzogen, waren die Nerven weitgehend zerstört, nur stellenweise fühlte sie etwas, und dann waren es immer Schmerzen, furchtbare, spitze Schmerzen. An vielen Tagen war sie nur noch ein einziger Schmerz, und es kam ihr vor, als hätte sie nicht nur die Verbindung zu ihrem Körper verloren, sondern auch zu ihrer Seele. In ihrem Inneren war sie tot, alle menschlichen Gefühle waren gestorben.
Alle, bis auf eines. Den Hass. Lichterloh brannte er in ihr, hatte jedes andere Gefühl mit seinen Flammen verzehrt. In diesem Feuer schmiedete sie ihre Wut, schürte die Glut, verlor nie ihr Ziel aus den Augen.
Mit einer blitzschnellen Handbewegung fing sie die Heuschrecke ein und setzte sie ins Blätterwerk. Der Insektenleib war prall und weich, das konnte sie fühlen. Die Fingerspitzen ihrer rechten Hand waren unversehrt. Sie hatte sie zur Faust geballt, und deswegen waren sie verschont geblieben. Sachte strich sie über den pferdeähnlichen Kopf des Tieres, die festen Flügeldecken, zupfte die durchsichtigen, pergamentartigen Hinterflügel hervor, bis sie sich wie Fächer entfalteten. Es gab Zeiten, da hatte sie das Insekt gegessen, meist geröstet, aber auch roh, wenn sie hungrig genug war, obwohl es abstoßend bitter schmeckte. Aber jetzt hatte sie sich ihr Lager nicht weit vom Ort im Dünenwald bereitet, und wenn es ihr nicht gelang, in der Morgendämmerung einige Krebse, vielleicht einen Tintenfisch oder sogar einen Fisch zu fangen, der zur dieser frühen Tageszeit noch schlafend auf dem schattigen Grund eines Teichs im Felsenriff lag, wanderte sie abends im Schutz der Dunkelheit zu den Mülltonnen, die hinter den großen Hotels standen. Dort war der Tisch stets reich gedeckt.
Vor einigen Monaten hatten Kinder, die den dichten Buschstreifen unterhalb der Promenade erkundeten, sie in ihrem Unterschlupf aufgestöbert, und einige unerschrockene hatten sich ihr genähert, zögernd Fragen gestellt und dann ihren ehrlichen Antworten gelauscht. Sie waren zu ihren Freunden geworden und brachten ihr nun ab und zu sauberes Wasser und Essen, das sie ihrer Mutter stahlen oder mit einer kleinen Lüge abschwatzten. Nicht einer verriet sie. Eifersüchtig hüteten alle ihr Geheimnis vor den Erwachsenen, und sie belohnte die Treue der Kinder, indem sie ihnen kleine Figuren aus Lehm modellierte oder Flöten aus Bambus schnitzte, den sie nachts aus einem üppigen Garten in der Nähe des Strandes schnitt, nachdem sie den blutdurstig geifernden Wachhund mit sanften Schnalzlauten und saftigen Fleischresten aus den Mülleimern des Steakrestaurants in ein lammfrommes Hündchen verwandelt hatte.
Nach ihrem abendlichen Beutezug durch die Mülltonnen der Hotels duschte sie sich unter den Strandduschen. Seewasser und Meeresluft überzogen ihre Haut schnell mit Salzkristallen, an denen der grobe Sand so fest haftete, dass sie ihn nicht abschütteln konnte. Dann juckten die Narben so unerträglich, dass sie sich die Haut vom Leibe hätte kratzen mögen. Sie wartete immer, bis der Strand menschenleer war und auch niemand mehr über die Promenade wanderte. Bei ihrer Duschorgie beobachtet zu werden wäre ihr sehr peinlich. Erst wenn kein Sandkorn mehr an ihr klebte, der Juckreiz endlich nachließ, drehte sie den Hahn zu.
In den letzten Monaten hatte sie sehr viel Gewicht verloren, und ihre von glänzenden Wulsten durchzogene, schuppige Haut warf dicke Falten, was ihr ein reptilienhaftes Aussehen verlieh. Ein Reptil mit eingefallenen Flanken und zu großem Kopf, so sah sie sich.
Die Chamäleonfrau nannte man sie, wegen ihrer Haut und der Tatsache, dass ihr Kopf bis auf einige dünne Haarbüschel kahl war, das wusste sie wohl. Sie hatte die Kinder reden hören. Aber es machte ihr nichts aus, und nie benutzte sie ihr Aussehen, um ihnen Angst einzujagen. Kinder liebte sie. Ihr eigenes, ihr einziges, hatte sie verloren, gleichzeitig mit dem Vater, der die Liebe ihres Lebens gewesen war. Die Erinnerung an den, der den Tod ihres Mannes verursacht und sie zu dem Dasein einer lebenden Toten verdammt hatte, die Erinnerung an diesen Mann hielt ihren Hass lebendig.
Sie ballte die Fäuste, presste die Lider zusammen, zwang sich, sich diesen Mann genau vorzustellen, rief sich seine sanfte, tödliche Stimme ins Gedächtnis, suhlte sich in der Erinnerung an den Schmerz, den ihr seine manikürten Hände zugefügt hatten, konzentrierte sich auf diesen weiß glühenden Punkt in ihrem Zentrum. So lebhaft war ihre Vorstellungskraft, dass sie ihn riechen konnte, diesen abstoßenden Geruch nach männlichem Schweiß, vermischt mit Zigarrenrauch und seinem klebrig-süßlichen Rasierwasser. Sie musste sich das antun, damit sie in jener einen Sekunde, auf die sie seit vielen Jahren mit der grausamen Geduld einer hungrigen Raubkatze lauerte, dem Augenblick, in dem er vor ihr stehen würde, bereit war.
Nun war dieser Augenblick ganz nah. Einen Monat würde er in seinem Luxusapartment in Umhlanga Rocks verbringen. Aus geschäftlichen Gründen, so hatte es in einer der Zeitungen gestanden, die sie täglich aus dem Papierkorb vor dem La Spiaggia fischte in der Hoffnung, irgendwann eine Spur dieses Mannes zu finden. Beim schnellen Durchblättern war ihr Blick an dem Foto eines Mannes hängen geblieben, der mit verschränkten Armen den Betrachter kühl von oben herab musterte. Es deckte sich exakt mit dem Bild von ihm, das seit achtzehn Jahren wie mit Säure in ihre Seele geätzt war, und die Erkenntnis, wen sie vor sich hatte, hatte sie mit der Wucht eines Schmiedehammers getroffen, ihr für Minuten jegliche Kontrolle über sich selbst geraubt, allein die Erinnerung verursachte dieselbe Reaktion wie in jenem Moment. Sie zitterte, ihr Herz setzte aus, ihre Hände flogen, sie rang nach Atem, als würde ihr jemand die Kehle zudrücken. Sie hatte die Zeitung fallen lassen und war, hilflos gegen die Dämonen kämpfend, hinunter auf den schattigen Strand gestolpert, entlang den auslaufenden Wellen, bis sie irgendwann lang hingeschlagen und liegen geblieben war. Ihr Mund hatte sich mit Salzwasser gefüllt, Sand ihr die gepeinigte Haut heruntergerieben. Wie ein Stück Treibholz rollte sie in der auflaufenden Flut hin und her, bis eine Welle sie hinauf auf den trockenen Sand gespuckt hatte.
Die wilden Filmfetzen vor ihren Augen waren allmählich verblasst, und eine tödliche Ruhe hatte sich ihrer bemächtigt. Sie ging zurück zum La Spiaggia, fand die Zeitung und hatte im Licht der Straßenlampe den Artikel gelesen, der neben dem Bild abgedruckt war, und damit den süßesten Augenblick der vergangenen achtzehn Jahre erlebt. So lange hatte sie ihn gesucht, hatte sich ans Leben geklammert, hatte sich geschworen, es nicht eher zu verlassen, bis sie ihn gefunden hatte, bis er für alles auf Heller und Pfennig bezahlt hatte, und jetzt hatte sie ihn gefunden.
Er nannte sich heute anders, als er damals hieß, und es war nicht sein Gesicht, das dort abgebildet war. Offenbar hatte er seine Gesichtszüge mittels kosmetischer Operationen verändern lassen - besonders das Kinn erschien ihr kantiger -, aber seine elegante Erscheinung, die arrogante Kopfhaltung, seine Gestik verrieten ihn. Das Haar trug er so militärisch kurz wie früher, aber es war nicht mehr dunkelbraun, sondern weiß.
Wie damals verbarg er seinen durchtrainierten Körper unter feinstem Stoff, glich auch heute noch äußerlich dem, was er ursprünglich gewesen war: ein Wissenschaftler. Was nicht auf den ersten Blick ersichtlich war, was sie aber am eigenen Leib erfahren hatte, waren seine Besessenheit und die unglaubliche Kraft, die er besaß, eine Kraft und Schnelligkeit, die sie eigentlich bisher nur im Tierreich erlebt hatte. Sein Körper schien nur aus Muskeln zu bestehen. Er war nicht groß, unter eins achtzig sicherlich, so schätzte sie ihn, obwohl er größer wirkte.
Unter seinem neuen Namen war er heute offenbar ein prominenter Geschäftsmann, nicht verheiratet, darauf würde sie wetten. Seine Zuneigung galt Jungen mit glatter Haut und knospenden Körpern, das hatte sie beobachtet, damals.
Die Bilder jagten ihr einen Schauer über ihre zerstörte Haut, lösten dabei einen starken Juckreiz aus. Sie beherrschte sich und kratzte sich nicht, weil die Wunden, die sie sich dann selbst zufügte, in dem feuchtwarmen Seeklima leicht vereiterten und oft für Monate nicht heilten. Zwar kannte sie sich gut aus, wusste welche Pflanzen in den Dünen, zu Brei zerdrückt, aseptisch wirkten und die Heilung förderten, aber seit einiger Zeit konnte sie nicht mehr ignorieren, welches Risiko diese Infektionen für sie darstellten.
Die Anzeichen waren nur zu deutlich. Lange hatte sie geglaubt, sie wäre noch einmal davongekommen, nachdem die Bande von zugekifften Tsotsies sie in ihrem Versteck am Strand vor Durbans Goldener Meile aufgestöbert hatte. Durch die Verkrüppelungen und die straff spannenden Narben konnte sie sich nur mit großer Mühe und nur sehr langsam fortbewegen. Sie entkam ihnen nicht. Einer nach dem anderen hatten sie sich auf sie gestürzt, wieder und immer wieder.
Es war eine dunkle, mondlose Nacht gewesen, kurz vor der Wintersonnenwende, und keiner hatte ihr Äußeres richtig wahrgenommen. Erst als die Kerle von ihr abgelassen und sie halb bewusstlos vor Schock und Schmerzen liegen lassen hatten, hatte einer von ihnen ein Feuer angezündet - um sich zu wärmen oder Heroin zu kochen, das konnte sie nicht sagen -, und erst dann bemerkten ihre Peiniger ihr Aussehen.
»Es ist ein Tier, es ist das Chamäleon«, schrie einer, und alle stoben entsetzt davon.
Das Chamäleon war der Todesbote der Zulus, und sie hatte trotz ihres Zustandes ein grimmiges Gefühl von Gerechtigkeit verspürt, weil sie wusste, dass selbst bei den Zulus, die schon im Bauch der Stadt geboren worden waren, der Glaube an die Mythologie ihres Volkes tief verwurzelt war. Diese Männer würden wissen, dass sie dem Tod geweiht waren, und egal, wie sie starben, in ihrem letzten Augenblick würden sie das Wesen vor sich haben, das Schuppen trug und aussah wie ein großes Reptil und doch eine Menschenfrau war. Ihre verbleibende Zeit auf Erden würde keine angenehme werden, dessen war sie sich sicher. Es war ein schwacher Trost, und er hielt nicht lange an.
Obwohl sie wusste, dass antiretrovirale Medikamente, die, kurz nach der Infektion verabreicht, den Ausbruch der Krankheit verhindern oder zumindest verzögern konnten, in Südafrika illegal waren, hatte sie sich voll verzweifelter Wut zum nächsten Krankenhaus geschleppt. Weinend hatte sie die junge indische Ärztin in der Notaufnahme um das rettende Medikament angefleht. Aber vergeblich, sie wurde abgewiesen. Rasend vor Angst, hatte sie geschrien, war den Gang entlanggekrochen und hatte an Türen gehämmert, bis zwei Krankenpfleger sie einfingen.
»Stell dich nicht so an«, hatte einer der beiden geknurrt und sie - durch Einweghandschuhe geschützt - gepackt und vor die Tür gesetzt. Sie nahm es ihnen nicht übel. In einem Land, wo alle sechsundzwanzig Sekunden eine Frau vergewaltigt wurde, war ihr Schicksal ein alltägliches. Nur in den müden Augen der Ärztin hatte sie tiefstes Mitleid gesehen.
An diesem Morgen war sie versucht gewesen, einfach ins Meer zu gehen und weit hinauszuschwimmen, bis sie die Kraft verließ, es keinen Weg mehr zurückgab und sie in die stille, weiche Tiefe sinken würde, immer weiter, bis das Licht über ihr sich verdunkelte, die Stille tiefer wurde und endlich nichts mehr da war als Frieden. Keine Schmerzen, keine Sehnsüchte. Nichts mehr. Stundenlang hatte sie am Saum der Wellen gestanden und hinaus ins sturmgepeitschte wintergraue Meer gestarrt. Doch dann hatte sie ein streunender Hund angefallen, und ein paar Halbwüchsige bewarfen sie mit Steinen und verhöhnten sie mit üblen Namen. Da war die Wut zurückgekommen, und sie wusste, dass sie nie aufgeben würde, bis er die Rechnung in Gänze beglichen hatte.
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Autoren-Porträt von Stefanie Gercke
Stefanie Gercke wurde auf einer Insel des Bissagos-Archipels vor Guinea-Bissau / Westafrika als erste Weiße geboren und wanderte mit 20 Jahren nach Südafrika aus. Politische Gründe zwangen sie Ende der Siebzigerjahre zur Ausreise, und erst unter der neuen Regierung Nelson Mandelas konnte sie zurückkehren. Sie liebt ihre regelmäßigen kleinen Fluchten in die südafrikanische Provinz Natal und lebt sonst mit ihrer großen Familie bei Hamburg.
Bibliographische Angaben
- Autor: Stefanie Gercke
- 2009, Erstmals im TB, 797 Seiten, 3 Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 11,7 x 18,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453406095
- ISBN-13: 9783453406094
- Erscheinungsdatum: 05.03.2009
Rezension zu „Über den Fluss nach Afrika “
"Nehmen Sie die Emotionen von 'Vom Winde verweht' und die Landschaftsbilder von 'Jenseits von Afrika', und Sie bekommen eine Vorstellung von Gerckes Roman: richtig schönes Breitwandkino im Buchformat."
Pressezitat
"Der Mix aus Familiensaga, Politthriller, Liebesdrama und Biografie hat wieder das Zeug zum Bestseller." Bild der Frau
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