Vertauschtes Leben
Meine Eltern sind gar nicht meine Eltern. Ich bin das Kind unserer Nachbarn.
Gabi entdeckt im Alter von 36 Jahren, dass sie als Baby im Krankenhaus vertauscht wurde. Doch es kommt schlimmer: Sie erfährt, dass ihre Eltern von der Vertauschung wussten. Wie die Eltern des anderen Mädchens. Warum haben sie nichts unternommen?
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Produktinformationen zu „Vertauschtes Leben “
Gabi entdeckt im Alter von 36 Jahren, dass sie als Baby im Krankenhaus vertauscht wurde. Doch es kommt schlimmer: Sie erfährt, dass ihre Eltern von der Vertauschung wussten. Wie die Eltern des anderen Mädchens. Warum haben sie nichts unternommen?
Lese-Probe zu „Vertauschtes Leben “
Vertauschtes Leben von Foline Ullrich Kapitel 1
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Frau Siebeck wartete schon. Regungslos stand sie im Vorgarten vor dem grauen Reihenhaus und sah Gabi entgegen. Die Hände hatte sie in die Taschen ihrer blauen Strickweste gesteckt. Gabi winkte ihr vom Fahrrad aus zu. Frau Siebeck antwortete mit einem kurzen, stummen Nicken. Es war ein warmer Spätsommertag, dieser letzte Samstag im September 1996, und es war der Tag, der Gabis Leben für immer verändern sollte. Sie stieg von ihrem Fahrrad und lehnte es an die Hecke. Frau Siebeck beobachtete jede ihrer Bewegungen. Gabi nahm ihre Handtasche vom Lenker und ging am Jägerzaun entlang auf die kleine Gartentür zu. Sie zog den Riegel an der Innenseite hoch und sah, wie ihre Hände zitterten. Die ganze Nacht hatte sie kein Auge zugetan, hatte sich stundenlang im Bett hin- und hergewälzt. Schließlich war sie aufgestanden und ins Wohnzimmer gegangen. Die letzten Stunden bis zum Morgengrauen hatte sie dort in eine Decke gehüllt auf dem Sofa gesessen und gegrübelt. ›War es wirklich richtig, was sie heute vorhatte? Wenn sie sich nun irrte mit ihrem Verdacht? Wie würde sie dann dastehen? Und was, wenn sie wirklich recht hatte? Wie sollte es denn dann weitergehen? Sie würden doch nicht einfach so weitermachen können wie bisher?‹ Gegessen hatte sie heute auch noch nichts; schon nach dem ersten Bissen hatte sie das Brötchen über den Küchentisch zu ihrem Mann geschoben. Der hatte nur stumm den Kopf über sie geschüttelt. Er brauchte auch nichts zu sagen, sie kannte seine Meinung schließlich. »Doch, ich fahr da jetzt hin«, hatte sie auf sein Schweigen geantwortet, »ich muss es endlich wissen.« Gabi schob die Gartentür auf und ging den gepflasterten Weg entlang auf Frau Siebeck zu, die noch immer an derselben Stelle stand. Mit ihrer rauen Stimme sagte Frau Siebeck: »Hallo, Gabi«, und Gabi sagte: »Hallo, Frau Siebeck«, und sie gaben sich die Hand. Dann sahen sie sich an. Warum sagte Frau Siebeck denn jetzt nichts? So etwas wie: »Schön, dass du da bist. Wir haben uns ja so lange nicht mehr gesehen. Komm doch rein, ich mach uns einen Kaffee.« So in der Art hatte Gabi es sich vorgestellt. Doch Frau Siebeck blieb stumm. Sie schien darauf zu warten, dass Gabi den Anfang machte. Also gut. Aber auf keinen Fall würde sie gleich mit der Tür ins Haus fallen, das hatte sich Gabi fest vorgenommen. Erst einmal ein bisschen plaudern wollte sie mit der Nachbarin aus ihren Kindertagen, sie fragen, wie es ihr ginge nach all den Jahren. Sehr verändert hatte sich Frau Siebeck nicht seit damals; vielleicht hatte sie noch etwas zugenommen, und vielleicht waren da auch ein paar neue Falten, doch sie wirkte sehr gepflegt, und das kurze Haar war noch immer hellblond und sorgfältig frisiert. Gabi überlegte, war nahe daran, ihr ein Kompliment für das gute Aussehen zu machen. Aber vielleicht sollte sie besser erst einmal mit einer Bemerkung über das schöne Spätsommerwetter anfangen, das war noch unverfänglicher. Oder sie könnte etwas Nettes über die Blumenpracht hier im Garten sagen. Gabi holte Luft. »Wissen Sie, warum ich hier bin, Frau Siebeck?«, hörte sie sich im selben Moment herausplatzen. »Wissen Sie, warum ich mit Ihnen reden will?« Hilde Siebeck sah Gabi noch immer ausdruckslos an. Eine gefühlte Ewigkeit lang. Dann stieß sie einen langen Seufzer aus. »Ja«, sagte sie. »Weil du meine Tochter bist.«
Kapitel 2
Der 21. November 1959 war ein Samstag, und es lag Schnee. Detlef Siebeck rutschte unruhig in der Schulbank hin und her. Die drei Schulstunden erschienen dem Siebenjährigen wie eine Ewigkeit. Er konnte es kaum abwarten, endlich nach draußen zu kommen. Vor drei Tagen hatte er zusammen mit seinem Freund Hans begonnen, ein Iglu zu bauen, und heute wollten sie unbedingt damit fertig werden. Und nun musste er hier sitzen und Buchstaben in sein Heft schreiben! Dabei wusste er doch sowieso schon das meiste von dem, was die Lehrerin erzählte. Seine Mutter Hilde übte so oft und ausgiebig mit ihm, dass er seinen Mitschülern immer ein kleines Stück voraus war. Er sollte unbedingt ein guter Schüler sein und später im Leben etwas erreichen, das predigte sie ihm fast jeden Tag, und vor allem sollte er nie so schwer arbeiten müssen wie sein Vater. Nach der dritten Stunde war die Schule endlich aus. Detlef und Hans schnallten ihre Tornister auf und liefen in die Junkerstraße. Bei dem Haus mit der Nummer 27 hielten sie an. Es war ein graues Zechenhaus, genau wie alle anderen Häuser in der Junkerstraße. Hier wohnte Detlef mit seinen Eltern, und genau gegenüber, auf einem freien Grundstück, stand das halb fertige Iglu. Detlef zog seinen Tornister vom Rücken, ging schnell die paar Schritte zur Haustür und legte ihn dort ab. Hans war schon über die Straße gelaufen, und als Detlef ihm folgte, empfing ihn der Freund mit einem Hagel von Schneebällen. »Uff«, stöhnte Detlef, als ihm eines der Geschosse direkt gegen die Brust flog, und Hans jubelte: »Volltreffer.« Hinter ihnen ging ein Fenster auf. »DEEEtlef!«, rief eine Männerstimme. Detlef drehte sich nicht um. Schließlich kannte er diesen Ruf nur zu gut, und er konnte nur eines bedeuten: Er sollte reinkommen. Aber das sah er überhaupt nicht ein. Es war doch schließlich noch nicht Mittagszeit. Essen gab es immer genau um zwölf Uhr, und das war erst in mehr als einer Stunde. Bis dahin wollten sie doch noch richtig gut vorankommen mit ihrem Iglu. Und vor allem musste er Hans jetzt erst einmal Revanche geben. Er bückte sich, nahm eine Handvoll Schnee und begann eine Kugel zu formen. »DEEEtlef! Aber sofort!«, ertönte die Stimme wieder, und es war klar, dass sie keinen Widerspruch duldete. Detlef ließ den Schneeball enttäuscht fallen, winkte seinem Freund kurz zu und trottete über die Straße auf das graue Haus zu. Er nahm seinen Tornister, drückte die Eingangstür auf und ging durch das enge Treppenhaus eine Etage hoch. Die Tür zu ihrer Wohnung stand schon offen. Im Flur stolperte er beinahe über einen kleinen braunen Koffer. Der gehörte doch seiner Mutter. Was war denn hier los? »Mensch, Junge, beeil dich doch«, rief sein Vater, der aus dem Schlafzimmer auf ihn zukam. In der Hand hielt er die blaue Sporttasche, in der Detlef sonst seine Fußballsachen transportierte. »Hier, nimm, die hat die Mama für dich gepackt. Du gehst jetzt sofort zur Oma Wilma rüber. Deine Mama muss ins Krankenhaus. Sie ist für ein paar Tage weg, und so lange musst du bei Oma und Opa bleiben.« »Kurt! Was machst du denn so lange!?«, hörte Detlef seine Mutter aus dem Schlafzimmer rufen. »Ja, Hilde, Moment noch, geht gleich los. Hier, Junge.« Kurt Siebeck drückte seinem Sohn die Tasche in die Hand und strich ihm verlegen über die kurzen blonden Haare. »Nun lauf schnell los.« Die ganze Situation machte Detlef Angst, aber er traute sich nicht, irgendetwas zu fragen. Stumm nahm er die Tasche, zog die Tür hinter sich zu und machte sich auf den Weg zu Oma Wilma und Opa Erwin, den Eltern seines Vaters. Eigentlich hätte er auch bei seiner anderen Großmutter bleiben können, bei Oma Johanna. Sie war die Mutter seiner Mutter und wohnte im selben Haus wie Detlef und seine Eltern, unten im Erdgeschoss. Aber Oma Johannas zweiter Ehemann, Herr Manske, mochte keine Kinder. Wenn Detlef mit seinen Freunden vor dem Haus oder hinten im Hof spielte, dauerte es keine zwei Minuten, und Herr Manske klopfte an die Fensterscheibe und drohte ihnen mit der Faust. Und Oma Johanna hielt im Zweifel immer zu Herrn Manske und nicht zu Detlef, ihrem Enkel. Aber auch zu Oma Wilma und Opa Erwin war es nicht weit, sie wohnten nur ein paar Straßen weiter. Nach fünf Minuten stand Detlef vor der Tür und klingelte. Oma Wilma öffnete die Tür. »Ach Detlef, Junge, du bist das. Na, dann ist es ja wohl so weit. Nun kriegst du endlich ein Geschwisterchen. Was für ein Glück, dass es doch noch geklappt hat nach all den Jahren.« Detlef war völlig überrascht. Niemand hatte ihn darauf vorbereitet. Schlagartig wurde ihm nun so einiges klar: Warum die Mutter immer dicker geworden war, warum sie Detlefs alte Babysachen wieder herausgeholt und gewaschen hatte, warum der Vater das kleine Kinderbett aus dem Keller geholt und im Schlafzimmer aufgestellt hatte. Vielleicht hatten die Eltern gedacht, er würde sich die Dinge schon selbst zusammenreimen können. Aber zu ihm gesagt hatten sie nichts, nicht einmal eine Andeutung gemacht. Und Detlef hatte auch nicht gefragt. Sowieso redete er nicht allzu viel. Das hätte er vom Vater, sagten immer alle. Vater Kurt und sein Sohn Detlef, die beiden ruhigen Vertreter. Oma Wilma legte den Arm um seine Schultern. »Na, dann komm mal rein, mein Junge. Nun bist du für ein paar Tage bei uns, da machen wir uns eine schöne Zeit. Und wenn du wieder nach Hause darfst, wartet schon ein Brüderchen oder Schwesterchen auf dich.« Das Marienkrankenhaus war ein großer düsterer Bau aus dem Jahr 1875, und es war das einzige Krankenhaus in Hürthen. Es stand unter der Leitung der katholischen Kirche, und auf den Stationen führten strenge Nonnen das Regiment. Die Einhaltung moralischer Grundsätze stand für sie an oberster Stelle, und den von ihnen aufgestellten Regeln und Anweisungen hatte sich jeder in der Klinik widerspruchslos zu fügen. Selbst der kleine Detlef hatte schon seine eigenen Erfahrungen mit den unnachgiebigen Ordensschwestern gemacht. Seine Mutter hatte dafür gesorgt, dass er sich in der Kinder- und Jugendgruppe beim Roten Kreuz engagierte. Er sollte so früh wie möglich lernen, wie wichtig es ist, sich um andere Menschen zu kümmern. Zu seinen Aufgaben gehörte es, regelmäßig an den Wochenenden Krankenhausdienste im Marienkrankenhaus abzuleisten, zusammen mit anderen Kindern. Die Nonnen fürchteten jedoch um deren Moral und verboten den Jungen und Mädchen, in ihren Pausen in der Cafeteria zusammenzusitzen oder auch nur irgendwo miteinander zu reden. Besonders scharf bewacht wurden sie von einer Furcht einflößenden Nonne, die die Kinder hinter vorgehaltener Hand »Schwester Rabiata « nannten. Als Schwester Rabiata dann einmal trotz strengster Anweisung ein Mädchen und einen Jungen miteinander im Gang reden sah, ordnete sie umgehend getrennte Pausen an. Niemand sollte mehr die Gelegenheit dazu haben, ihre Anordnungen missachten zu können. Als Hilde Siebeck am späten Samstagvormittag im Marienkrankenhaus ankam, gab es nicht mehr viel Zeit zu verlieren. Am Eingang verabschiedete sie sich schnell von ihrem Mann, der gleich wieder zurück nach Hause fuhr. Bald fing seine Schicht in der Zeche an, und er hatte ohnehin im Krankenhaus jetzt nichts mehr verloren. Das Kinderkriegen war schließlich reine Frauenangelegenheit. Die Wehen kamen schon in kurzen Abständen, und so brachte man Hilde Siebeck gleich in den Kreißsaal. Hier ging alles schnell und ohne Probleme. Nach weniger als zwei Stunden hatte es Hilde geschafft. »Sie haben ein gesundes Mädchen!«, sagte man ihr. Es war ein kräftiges Kind, das sie auf die Welt gebracht hatte, mit einem runden Gesicht und kaum einem Haar auf dem Kopf. Nur ein Hauch von hellem Flaum ließ vermuten, dass das Mädchen einmal blond werden würde - genau wie seine Mutter, sein Vater und sein Bruder. Nachdem man es gewogen, vermessen und in warme Tücher gepackt hatte, brachte man das Neugeborene auf die Säuglingsstation. Die junge Mutter sollte sich nun erst einmal ausgiebig von den Strapazen der Geburt erholen. Hilde Siebeck wurde auf die Wöchnerinnenstation gebracht. In einem Sechsbettzimmer lagen bereits vier Mütter, mit Hildes Ankunft waren sie zu fünft. Am späten Abend des nächsten Tages war schließlich auch noch das letzte freie Bett belegt. Der Neuzugang hieß Margot Knappe. Sie war eine kleine zierliche Frau mit schwarzem Haar. An diesem Sonntag, den 22. November 1959, hatte sie um kurz nach zehn Uhr abends ebenfalls ein Mädchen geboren. Es war ein zartes Kind, das sie auf die Welt gebracht hatte, und es hatte dichtes schwarzes Haar - genau wie seine Mutter, sein Vater und sein Bruder. Natürlich verband alle sechs Frauen in diesem Zimmer vor allem das eine große Thema: die Geburt ihrer Kinder mit allem, was an Freud und Leid dazugehörte. Doch Hilde Siebeck und Margot Knappe hatten darüber hinaus noch mehr Gemeinsamkeiten. Beide hatten schon einen Sohn, beide Ehemänner arbeiteten im selben Steinkohlebergwerk, und beide Familien wohnten sogar in derselben Straße, nicht viel weiter als 200 Meter voneinander entfernt. Die Knappes lebten am Anfang der Junkerstraße, im Haus Nummer 6. Allerdings waren sie erst zu Beginn des Jahres dort hingezogen. Vorher hatten sie im Nachbarort gelebt. In den ersten Tagen nach der Geburt hatten die Frauen viel Zeit, um sich auszutauschen. Ihre Babys bekamen sie nicht allzu oft zu Gesicht. Die Säuglinge wurden von den Nonnen nur zu genau festgelegten Zeiten zum Füttern ans Bett gebracht; so sollten die Kinder schon früh an feste Essenszeiten gewöhnt werden. Die übrige Zeit verbrachten die Kleinen auf der Säuglingsstation. Gebadet, gecremt, gepudert und gewickelt wurden sie von den Schwestern - und in Ausnahmefällen vielleicht auch einmal tröstend auf den Arm genommen, wenn sie allzu sehr weinten. Die Mütter sollten mit alldem noch nichts zu tun haben, sie sollten sich schonen und wieder zu Kräften kommen, um nach gut einer Woche dann wieder voll und ganz der Familie und dem Haushalt zur Verfügung stehen zu können. Die Kinder wurden auch dann nicht in das Zimmer der Mütter geholt, wenn Besuch da war. Die Verwandten konnten Glück haben und das Kind durch reinen Zufall kurz vor oder nach dem Füttern im Zimmer antreffen - ansonsten mussten sie sich mit einem Blick durch die Scheibe vor der Säuglingsstation begnügen. Dort stand ein paar Tage nach der Geburt auch Detlef gemeinsam mit seiner Oma Wilma. Durch die große Glasscheibe sah er zu, wie die Nonne ein Bündel aus einem der Bettchen nahm und mit dem Gesicht in seine Richtung hob. Näher als durch diese Scheibe getrennt durfte Detlef seiner neuen Schwester nicht kommen. Für Kinder war die gesamte Geburtsstation tabu - man fürchtete die erhöhte Ansteckungsgefahr, die von ihnen ausgeht. Auch seine Mutter durfte er nicht besuchen. »Das ist nun also deine kleine Schwester«, sagte Oma Wilma. Detlef schwieg. Er konnte kaum etwas erkennen, dieses Baby war so dick eingemummelt. Außerdem fiel ihm zu der ganzen Sache sowieso nichts ein. Oma Wilma sah ihn von der Seite an und legte den Arm um ihn. »Na, wenn die Kleine erst bei euch zu Hause ist, dann wird es schon gehen mit euch beiden. Wirst sehen, mein Junge.« Ein paar Tage später holte Kurt Siebeck seinen Sohn Detlef von den Großeltern wieder ab und ging mit ihm nach Hause. Der kleine Koffer von Hilde Siebeck stand noch unausgepackt im Flur. Kurt Siebeck hatte seine Frau gerade erst aus dem Krankenhaus abgeholt. Sie saß im Wohnzimmer auf dem Sofa und schaute auf das Baby in ihrem Arm. Als Detlef das Zimmer betrat, sah sie hoch und lächelte. »Komm mal her zu mir, mein Großer.« Detlef setzte sich mit ein bisschen Abstand vorsichtig neben seine Mutter. Er sah seinen Vater an, der im Türrahmen stehen geblieben war und ihm nun aufmunternd zunickte. Dann drehte sich Detlef zu seiner Mutter um und warf einen schnellen Blick auf das Baby. Ganz dichtes schwarzes Haar hatte es, das fiel Detlef als Erstes auf. Ansonsten gab es für ihn nicht viel Interessantes zu entdecken. Das Baby hatte die Augen geschlossen, es schlief wohl gerade. Detlef war ziemlich enttäuscht von diesem Familienzuwachs. Er hatte nicht erwartet, dass das neue Kind so klein sein würde - und so schwächlich. »Das ist deine kleine Schwester Monika. Du bist nun ihr großer Bruder, und du musst sie ganz, ganz lieb haben. Und immer schön auf sie aufpassen und sie beschützen. Versprichst du das deiner Mama?« Detlef nickte stumm, und seine Eltern lächelten sich zu. Einige Tage später ging Detlef mit seiner Mutter und dem Baby spazieren. Eigentlich konnte er Spaziergänge überhaupt nicht leiden, aber die Mutter hatte ihm versprochen, dass er den Kinderwagen schieben dürfe. Sie gingen die Junkerstraße entlang. Plötzlich blieb seine Mutter stehen. »Du, in dem Haus hier gegenüber, da wohnt die Frau Knappe. Sie hat auch ein Baby bekommen, wir waren zusammen im Krankenhaus. Lass uns mal eben nachsehen, ob sie da ist, dann sagen wir kurz Guten Tag.« Sie lief über die Straße, ging den kleinen Weg vor dem grauen Haus entlang zur Eingangstür und klingelte. Detlef hatte Mühe, mit dem Kinderwagen hinterherzukommen, die Räder blieben auf dem unebenen Pflaster ständig hängen. Die Tür ging auf, und eine kleine schwarzhaarige Frau mit einem Baby auf dem Arm trat einen Schritt nach draußen. »Guten Tag, Frau Knappe. Störe ich?«, fragte Hilde Siebeck. »Ja, also, ehrlich gesagt, mein Mann ist gerade von der Schicht nach Hause gekommen ...«, sagte Frau Knappe und warf einen hektischen Blick über ihre Schulter nach hinten. »Ach schade. Dann gehen wir gleich weiter. Wir sind ja auch nur zufällig vorbeigekommen. Detlef, komm doch mal schnell her, das hier ist die kleine Gabi.« Dieses fremde Baby interessierte Detlef nun wirklich nicht im Geringsten, aber er wollte nicht ungehorsam sein. Er ließ den Kinderwagen stehen und ging auf die beiden Frauen zu. Frau Knappe beugte sich ein wenig zu ihm nach unten, damit er besser sehen konnte. Das Kind, das sie auf dem Arm trug, war viel molliger als Monika. Und es hatte so gut wie gar keine Haare. Nur ein bisschen hellen Flaum. Detlef musste ein Grinsen unterdrücken. Irgendwie sah dieses Baby lustig aus mit seinem beinahe kahlen Kopf. »Kommen Sie doch bald mal wieder vorbei, Frau Siebeck «, sagte Frau Knappe und richtete sich wieder auf. »Ja, das mache ich bestimmt«, sagte Detlefs Mutter, »und der Detlef kommt dann auch gern mit, um die kleine Gabi zu besuchen.« Wozu das nun wieder gut sein sollte, konnte sich Detlef beim besten Willen nicht vorstellen. Aber Widerworte waren zwecklos, das wusste er nur zu genau. Wenn seine Mutter einmal etwas beschlossen hatte, dann wurde es auch so gemacht.
Kapitel 3
Detlefs Mutter Hilde war eine resolute kleine Frau, die das Geschehen zu Hause beherrschte. Sie steckte voller Energie und kümmerte sich nebenbei gern auch noch um die Sorgen und Probleme anderer Leute. Dabei hatte sie selbst in ihrem Leben nicht allzu viel Fürsorge erfahren. Hilde Siebecks Kindheit war alles andere als glücklich und unbeschwert gewesen. Es war vor allem das Schicksal ihres Vaters Heinrich, das auf der ganzen Familie lastete und alles überschattete. Heinrich war als ältestes von acht Kindern in einem kleinen Dorf im ostpreußischen Masuren aufgewachsen. Unter eher ärmlichen Umständen lebte die Familie dort auf einem Hof und versorgte aus dessen Erträgen in erster Linie sich selbst. Als der Erste Weltkrieg ausbrach und der Vater einberufen wurde, musste Heinrich an seine Stelle treten und für den Hof und alle seine Geschwister sorgen. Dann geschah ein Unglück: Beim Holzsammeln im Wald wurde Heinrich vom Blitz getroffen. Rein körperlich trug er keine erkennbaren Schäden davon, doch alle sagten, er hätte sich irgendwie verändert. Ob nun dieser Blitzschlag tatsächlich der Auslöser war für das, was später mit ihm geschah, vermochte aber niemand zu sagen. Zuerst liefen die Dinge noch gut. Heinrich lernte eine junge Frau namens Johanna kennen, und die beiden heirateten bald. Doch in ihrer Heimat Masuren sahen sie für sich keine Zukunft, zu schlecht war die Arbeitslage. Und so folgte Heinrich dem »Ruf der Kohle« aus dem Westen. Gemeinsam mit seiner jungen Ehefrau verließ er die Heimat, um sich im Ruhrgebiet niederzulassen, und fand schnell in dem kleinen Städtchen Hürthen eine Stelle als Bergmann. Heinrich und Johanna bekamen zwei Töchter: zuerst Gisela, zwei Jahre später Hilde. Dann begann der Abstieg. Heinrich verfiel in eine Art religiösen Wahn. Er verlangte, dass zu Hause alle Spiegel verhängt und die Kreuze von den Wänden abgenommen wurden. Immerzu segnete er seine beiden Töchter und weinte dabei bitterlich. Und er betete ohne Unterlass. Dass ihm seine Frau Johanna in seinem religiösen Eifer nicht folgen wollte und das ständige gemeinsame Gebet verweigerte, konnte er einfach nicht begreifen. Also zwang er sie auf Umwegen dazu. Als die kleine Hilde einmal etwas getan hatte, was nicht in Heinrichs Sinn war, sperrte er das Mädchen in den Keller. Hilde weinte und bettelte darum, wieder nach oben ins Helle gelassen zu werden. Doch der Vater blieb hart. »Nicht, bevor deine Mama vor der Tür laut gebetet hat.« Und so fand Hilde ihre Mutter zitternd vor Wut auf den Knien vor einem Kreuz, als der Vater die Tür endlich wieder aufschloss. Heinrich geriet auch immer wieder in unerklärliche Wut. So nahm er vor den Augen seiner verängstigten Familie das Brot vom Tisch und trampelte wild darauf herum. Einen erkennbaren Anlass dafür gab es nicht. An geregelte Arbeit war längst nicht mehr zu denken. Heinrich vernachlässigte sogar die Tiere, die er nebenbei hielt. Hilde und ihre Schwester Gisela hörten die Schweine unten im Hof schreien vor Hunger. Schließlich wurde Heinrich ins Krankenhaus eingeliefert. Als Hilde ihren Vater dort besuchte, umklammerte er seine kleine Tochter heftig und wollte sie nicht mehr loslassen. »Bleib bei mir, mein Engel!«, schrie er. Drei Pfleger mussten kommen und das verstörte Kind von ihm losreißen. Es war das letzte Mal, dass Hilde ihren Vater sah. Die Ärzte diagnostizierten: Schizophrenie, unheilbar. Eine Diagnose, die zu dieser Zeit, im Jahr 1937, schwerwiegende Folgen hatte. Man brachte Heinrich in eine psychiatrische Klinik, die nichts anderes war als eine Euthanasieanstalt, wo man ihn zunächst vor sich hin vegetieren ließ. Dann wurde er weiterverlegt und landete schließlich in einem Hungerlager bei München, wo er im Alter von nur zweiundvierzig Jahren elendig starb. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich seine Frau Johanna längst schon von ihm scheiden lassen. An ihr Ehegelübde von einst fühlte sie sich nicht mehr gebunden. Sie musste vor allem an sich und die Kinder denken und suchte deshalb nach einem Mann, der sie alle versorgen konnte. Den Richtigen hierfür glaubte sie zunächst in einem Nachbarn gefunden zu haben. Er wohnte ein paar Häuser weiter und war mit einer älteren Frau verheiratet - unglücklich verheiratet, wie er sagte. Johanna fing eine Affäre mit ihm an und wurde schnell schwanger. Sie brachte ein Mädchen zur Welt und nannte es Rosemarie. Gisela und Hilde hatten nun eine kleine Halbschwester, doch noch immer keinen neuen Vater, denn der Nachbar hatte sich entgegen seiner ständigen Beteuerungen noch nicht von seiner Frau getrennt. Dann starb Rosemarie plötzlich. Kurze Zeit später wurde der Nachbar schwer krank. Johanna löste die Verbindung kurzerhand auf und beschloss, die Suche nach einem Mann und Versorger nun strategisch anzugehen. In der Tageszeitung gab sie eine Anzeige auf, und es meldete sich ein Herr Manske. Er war Bergmann, verdiente sehr gut und war ledig. Johanna und Herr Manske heirateten. Der neue Mann der Mutter war ein Sonderling. Vielleicht hatte ihn die lange Kriegsgefangenschaft geprägt, vielleicht lagen ein gewisser Egoismus und der Mangel an Rücksicht auf die Kinder auch einfach in seiner Natur. Er wollte vor allem einfach seine Ruhe haben und sich im Übrigen so benehmen, wie es ihm in den Sinn kam - dass die Mädchen mit ansehen mussten, wie er ihre Mutter auf dem Küchentisch nahm, mitten am Tag und bei offener Küchentür, schien ihm egal zu sein. Aber auch die Mutter selbst war ihren Töchtern gegenüber nicht gerade von Liebe beseelt. Wohl niemand hätte Johanna als warmherzige Frau beschrieben. Ihre Stärke lag darin, zu organisieren und für bestmögliche Umstände zu sorgen. Die Kinder auch einmal in den Arm zu nehmen kam ihr dagegen nicht in den Sinn. Für die beiden Mädchen war es furchtbar gewesen, den zunehmenden Wahn ihres Vaters mitzuerleben und ihn dann zu verlieren, eine kleine Schwester zu bekommen und sie sterben zu sehen und sich nun dem sonderbaren Stiefvater unterordnen zu müssen - und mit all ihren Sorgen und Ängsten mussten sie ganz allein fertigwerden. Trost oder liebe Worte von der Mutter gab es nicht. Die Mädchen sollten vor allem eines: nicht stören. Die etwas aufmüpfigere Gisela ließ sich allerdings nicht immer den Mund verbieten - und wurde deshalb so oft wie möglich weit weg zur Verwandtschaft nach Ostpreußen geschickt. Für ihre kleine Schwester Hilde war es eine schreckliche Vorstellung, ebenfalls weggeschickt zu werden. Dann war es doch besser, man begehrte nicht auf und verhielt sich möglichst unauffällig, überlegte sie und verhielt sich dementsprechend. Vielleicht war es das schreckliche Zusammenleben mit Heinrich, das Johanna zu dieser verhärteten Frau hatte werden lassen, vielleicht war sie aber auch einfach von Natur aus ein unterkühlter Mensch. Jedenfalls wurde sie auch in ihren späteren Jahren nicht zugänglicher. Ihr Enkel Detlef erlebte seine Oma Johanna als eine herrische Person, die sich von allen bedienen ließ und zu niemandem aus der Familie ein wirklich herzliches Verhältnis hatte - auch nicht zu ihren drei weiteren Kindern, die sie noch gemeinsam mit Herrn Manske bekam. Hilde blieb bis zu ihrem 21. Lebensjahr bei ihrer Mutter, ihrem Stiefvater und den drei Halbgeschwistern wohnen. Von zu Hause auszuziehen und sich als junge Frau eine eigene Wohnung zu nehmen war Anfang der 50er-Jahre so gut wie undenkbar - und ohne die ausdrückliche Erlaubnis des Vaters nicht einmal erlaubt. Man hatte sich nach einem passenden Ehemann umzusehen und mit diesem dann einen Hausstand zu gründen. Dieses Ziel zu erreichen war für Hilde nicht allzu schwer. Sie hatte sich zu einer sehr schönen jungen Frau entwickelt. Ihr blondes, gewelltes Haar trug sie kinnlang, und mit ihrer drallen Figur und ihrer energischen Art hatte sie so manchen Verehrer. Allerdings konnte sie sich lange für keinen von ihnen wirklich erwärmen. Dann lernte sie Kurt Siebeck kennen. Ihre erste Begegnung fand auf dem Wochenmarkt von Hürthen statt. Hilde arbeitete dort als Verkäuferin an einem Wurststand. Kurt war begeistert von dem schönen Mädchen. Obwohl er ein eher zurückhaltender Mensch war, setzte er alles daran, sie für sich zu gewinnen. Abends stellte er sich vor das Haus ihrer Familie und warf so lange Steinchen an Hildes Fenster, bis sie endlich zu ihm nach draußen kam. Hilde war von dem ruhigen und attraktiven blonden Kurt und seinen schmeichelhaften Umwerbungen mehr als angetan. Allzu lange dauerte es nicht, dann war sie schwanger, und die beiden heirateten. Auch Kurt lebte noch bei seinen Eltern, und fürs Erste zog Hilde dort mit ein. Bald nach Detlefs Geburt wurden die Verhältnisse aber zu beengt. Zu dritt in einem einzigen Zimmer zu wohnen konnte kein dauerhafter Zustand sein. Kurt und Hilde mussten sich nach einer eigenen Wohnung umsehen. Als zu dieser Zeit Herr Manske das Haus Nummer 27 in der Junkerstraße kaufte und die obere Wohnung in diesem Haus frei war, zogen sie kurzerhand dorthin um. Die Wohnung war nicht allzu groß, kaum mehr als 70 Quadratmeter, doch es gab eine große Wohnküche und ein Badezimmer mit einer richtigen Badewanne mit Füßen; keine Selbstverständlichkeit in den 50er-Jahren. Kurt und Hilde waren ausgesprochen stolz auf ihre erste eigene Wohnung. Im Gegensatz zu Hilde hatte Kurt eine harmonische Kindheit verlebt. Auch seine Eltern kamen ursprünglich aus Ostpreußen. Vater Erwin stammte aus Insterburg. Er war eigentlich Bergmann, arbeitete aber zeit seines Lebens nicht unter Tage, sondern war für den Gärtnerei- und Forstbereich der Zechen zuständig. Kurts Mutter Wilma kam von einem Gut aus der Nähe von Königsberg. Erwin und Wilma heirateten noch in Ostpreußen, und auch sie verließen dann die wirtschaftlich schwache Heimat, um in den aussichtsreicheren Westen zu gehen. Über einige Umwege gelangten die beiden schließlich nach Hürthen, wo kurze Zeit später Kurt geboren wurde. Den zweiten Sohn, den sie bekamen, verloren sie durch plötzlichen Kindstod. Dann kam ihr dritter Sohn auf die Welt, und bei diesen zwei Kindern blieb es. Einziger Streitpunkt zwischen Wilma und Erwin war sein Alkoholkonsum. Wenn es auf der Zeche die Lohntüte gab, ging es mit den Kollegen anschließend direkt in die Kneipe, und dort gab es dann kein Halten. Alles Flehen, Schimpfen und Drohen seiner Frau änderte daran nichts. Um ihren Mann überhaupt nach Hause zu bekommen, schickte Wilma ihren Sohn Kurt los, um den Vater zu holen. Später war es ihr Enkel Detlef, der diese Aufgabe zu erfüllen hatte. Schon mit fünf Jahren stand der Junge ganz verloren in der Kneipe und sollte nun seinen Opa Erwin irgendwie nach Hause lotsen. Wenigstens machte der Opa es ihm nicht schwer. Erwin Siebeck war ohnehin ein lieber Mensch, und wenn er dann seinen kleinen Enkel dort stehen sah, sagte er ganz gerührt: »Ach Gott, der Junge«, und ging brav mit. Dieses weiche Herz hatte Kurt Siebeck von seinem Vater geerbt, genauso wie den Hang zum Alkohol. Bei Kurt brachte es allerdings schon die Arbeit mit sich, dass das Trinken zur Selbstverständlichkeit wurde. Er war auf der Hürthener Zeche in der Kokerei beschäftigt. Dort erzeugte man aus Kohle Koks. Für diesen Vorgang musste Rohkohle in einem Koksofen auf über 1000 Grad Celsius erhitzt werden, damit die gasförmigen Bestandteile der Kohle ausgasen konnten. Kurt und seine Kollegen waren also permanent einer unglaublichen Hitze ausgesetzt und mussten dementsprechend ständig trinken - und es war literweise Bier, das sie ihre ausgedörrten Kehlen hinunterlaufen ließen. Die schwere körperliche Arbeit machte Kurt sehr zu schaffen, hinzu kam eine gewisse Enttäuschung darüber, es im Leben nicht wirklich weit gebracht zu haben. Kurt war nur ein schlichter Arbeiter, kein gelernter Bergmann mit gutem Verdienst wie Hildes Stiefvater Herr Manske. Um sich aus seiner Position nach oben zu kämpfen, hätte es einer gehörigen Portion Willens und Ehrgeizes bedurft, doch beides besaß Kurt nicht in ausreichendem Maße. Bis zum Ende seines Berufslebens blieb er der einfache Arbeiter. Auch zu Hause konnte er sich nicht richtig entfalten. Hilde war im Laufe der Jahre immer dominanter geworden. Sie hielt gern die Fäden in der Hand, bestimmte alle häuslichen Angelegenheiten und führte auch bei Tisch oder abends im Wohnzimmer stets das Wort. Mit seiner ruhigen Art stand Kurt dann oft abseits und zog sich zurück. Wenn er allerdings einmal über sein normales Maß hinaus getrunken hatte, auf Festen und Feiern, fiel seine Zurückhaltung plötzlich von ihm ab und konnte in Aggression umschlagen, sobald er sich provoziert fühlte. Manchmal reichte schon ein kleiner Anlass. Kurt sagte: »Es schneit«, ein anderer korrigierte ihn: »Nein, das ist doch Hagel«, und schon kam es zum handfesten Streit. Und nicht selten auch zur Schlägerei. Der eigentlich so ruhige und herzensgute Kurt war dann nicht mehr zu halten. All seine unterdrückte Frustration schien sich so zu entladen. Zu Hause aber zeigte Kurt diese Seite nie. Er war den Kindern immer ein liebevoller Vater, und zusammen mit seiner Frau Hilde bot er ihnen ein schönes und verlässliches Zuhause. Die Familie aß gemeinsam, unternahm am Wochenende Ausflüge, besaß einen Schrebergarten, hatte engen Kontakt zur Verwandtschaft und häufig Besuch. Kurt spielte außerdem Skat und sammelte Briefmarken, und Hilde ging regelmäßig zu ihren Damenkegelabenden. Natürlich gab es auch gelegentlich Streit. Manchmal ließen sich Hildes Temperament und Kurts eher bedächtige Art nur schwer vereinbaren, manchmal sorgte auch Kurts Neigung zur Eifersucht für Unmut zwischen den beiden. Alles in allem aber war es ein weitgehend harmonisches und sorgenfreies Leben, das die Familie Siebeck führte - ein Leben, das vor allem darauf ausgerichtet war, den Kindern eine glückliche Kindheit zu schenken und ihnen mit Zuneigung und Unterstützung den Weg in eine aussichtsreiche Zukunft zu ebnen.
Kapitel 4
Auch Margot Knappe hatte alles andere als schöne Erinnerungen an ihre Kindheit. »Mit meinem Vater hat irgendetwas nicht gestimmt. Den haben die Nazis weggeholt, als ich noch ganz klein war, und dann haben sie ihn in eine Klinik gesteckt. Er ist nie wieder zurückgekommen.« Das war so gut wie alles, was sie über ihren Vater wusste. Ganz dunkel und verschwommen glaubte sie sich aber doch noch an zwei Dinge erinnern zu können: dass sie den Vater geschlagen hatten, als sie ihn holten, und dass da ein Hund gewesen war, den sie getötet hatten. Vermutlich handelte es sich um eine psychiatrische Klinik, in die ihr Vater eingeliefert wurde. Aber was genau es mit ihm auf sich gehabt hatte, ob er tatsächlich geisteskrank gewesen war oder wodurch er den Nazis aufgefallen war, darüber wurde eisern geschwiegen. Niemand in der Familie sprach auch nur ein einziges Mal mehr über ihn. Auch Fotos gab es von ihm nicht. Es war, als hätte es den Vater nie gegeben. Margots Mutter war mit den sechs Kindern allein geblieben, hatte nie wieder geheiratet. Mithilfe von Verwandten brachte sie ihre Kinder irgendwie durch, und so früh wie möglich musste jedes von ihnen zu arbeiten beginnen. Solch einen Luxus wie höhere Schulbildung konnten sie sich nicht leisten, das allernötigste Grundwissen musste reichen. Die junge Margot fand in ihrem Heimatort Hilmen eine Stelle als Haushaltshilfe. Sie war ein ausgesprochen ruhiges und sehr einfaches Mädchen, sie hatte vielleicht das, was man als schlichtes Gemüt bezeichnen würde. Und sie hatte gelernt, sich den Umständen zu fügen und keine Ansprüche zu stellen. Fleißig und klaglos verrichtete sie ihre Arbeit. Dann lernte sie beim Tanz Rudolf Knappe kennen. Gegensätze ziehen sich an, dieses Sprichwort traf auf die beiden wirklich zu. Margot war klein, zierlich und still, und Rudolf war groß, vital und laut. Er war als einer von drei Brüdern in einer typischen Bergmannsfamilie aufgewachsen und auch selbst Bergmann geworden. Den rauen Umgangston, der bei der Arbeit herrschte, legte er auch privat nicht ab - ausgenommen in seinem Elternhaus. Seine Mutter Gertrud war streng katholisch und hatte die drei Söhne auch in diesem Sinne erzogen. Ein gottesfürchtiges Leben zu führen stand für sie an erster Stelle, und sie war unerbittlich im Einhalten der religiösen Rituale. Undenkbar, eine Messe zu versäumen oder einmal das Tischgebet zu vergessen, und ausgeschlossen, den Söhnen einmal ein lockeres Wort über Mädchen oder Frauen zu erlauben. Durch diese religiöse Erziehung war Rudolf stark geprägt worden. Auch ihm war die Verbundenheit zur katholischen Kirche ausgesprochen wichtig. Als Margot von ihm schwanger wurde und die beiden heiraten mussten, war es für ihn keine Frage, dass die evangelische Margot noch vor der Hochzeit zu seinem katholischen Glauben überzutreten hatte. Mit einer Protestantin verheiratet zu sein war für ihn unvorstellbar, und erst recht nicht konnte er zulassen, dass seine künftigen Kinder womöglich evangelisch erzogen würden. Rudolfs sonstiges Verhalten allerdings stand in krassem Gegensatz zu alledem. In seinem täglichen Leben deutete rein gar nichts auf eine christliche Grundeinstellung hin. Für ihn drehte sich alles nur um eines: um ihn selbst. Seinem Wohlbefinden hatte sich alles und jeder unterzuordnen. Die einzige Person, von der er sich etwas sagen ließ, war seine Mutter. Ihr gegenüber verhielt er sich manchmal geradezu unterwürfig. Bei allen anderen Menschen war es das genaue Gegenteil. Nur sein Wort und seine Wünsche zählten. Der höchste Ausdruck seiner Rücksichtslosigkeit war, dass er sich zu Hause komplett nackt bewegte. Immer. Sobald er von der Schicht nach Hause kam, zog er sich aus und blieb so, bis er das Haus wieder verließ. Wenn es klingelte, öffnete er ohne jede Hemmung die Haustür und stand vollkommen nackt da - ob draußen nun der Briefträger stand oder eine ahnungslose Nachbarin, die Zucker borgen wollte und dann entsetzt wegrannte. Rudolf amüsierte sich über die fassungslosen Gesichter, er schien die Bestürzung direkt zu genießen. Und niemand konnte ihn von diesem Verhalten abbringen, schon gar nicht seine Frau Margot. »Was willst du von mir, so hat Gott mich doch wohl schließlich erschaffen! Und in meinem Haus mache ich, was ich will!«, blaffte er sie an, wenn sie einen ihrer zaghaften Versuche unternahm, ihn davon abzubringen. Margot schämte sich zutiefst für ihren Mann, und zwar nicht nur für seine Nacktheit. Es waren auch seine ständigen anzüglichen Sprüche und Scherze, die schuld daran waren, dass man Rudolf überall in der Nachbarschaft zu meiden versuchte. Vor allem bei den Frauen war er verschrien, und bei Feiern bemühte man sich, einen Sitzplatz möglichst weit weg von dem »unmöglichen Herrn Knappe« zu ergattern. An Rudolf selbst schienen diese Antipathien abzuprallen, vielleicht bemerkte er sie nicht einmal. Natürlich war es für jemanden wie Rudolf eine Selbstverständlichkeit, dass sein Erstgeborener nach ihm benannt wurde. Rudolf Knappe junior kam 1957 zur Welt. Zur besseren Unterscheidung wurde er von allen Rudi genannt. Rudi war ein schwarzhaariger, schmaler Junge und damit ganz nach seinen Eltern geraten - und er war in allem das genaue Gegenteil von der kleinen Gabi, die gut zwei Jahre nach Rudis Geburt als seine Schwester in die Familie Knappe kam. Gabi war ein unkompliziertes Kind, rund und fröhlich. Sie schien immer zufrieden zu sein, und nur selten verlangte sie Beschäftigung. Stundenlang konnte sie allein mit einer Puppe spielen oder etwas basteln, sie aß, was man ihr vorsetzte, und sie schlief von Anfang an die Nächte durch. Vielleicht war Gabi schon von Natur aus eher anspruchslos, vielleicht aber hatte sie auch einfach früh gemerkt, dass ihr ohnehin niemand viel Aufmerksamkeit schenken würde. Zu sehr hielt nämlich Rudi alle und ganz besonders seine Mutter auf Trab. Rudi war ein ausgesprochen anstrengender Junge, zappelig, fahrig und kaum in der Lage still zu sitzen.
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Frau Siebeck wartete schon. Regungslos stand sie im Vorgarten vor dem grauen Reihenhaus und sah Gabi entgegen. Die Hände hatte sie in die Taschen ihrer blauen Strickweste gesteckt. Gabi winkte ihr vom Fahrrad aus zu. Frau Siebeck antwortete mit einem kurzen, stummen Nicken. Es war ein warmer Spätsommertag, dieser letzte Samstag im September 1996, und es war der Tag, der Gabis Leben für immer verändern sollte. Sie stieg von ihrem Fahrrad und lehnte es an die Hecke. Frau Siebeck beobachtete jede ihrer Bewegungen. Gabi nahm ihre Handtasche vom Lenker und ging am Jägerzaun entlang auf die kleine Gartentür zu. Sie zog den Riegel an der Innenseite hoch und sah, wie ihre Hände zitterten. Die ganze Nacht hatte sie kein Auge zugetan, hatte sich stundenlang im Bett hin- und hergewälzt. Schließlich war sie aufgestanden und ins Wohnzimmer gegangen. Die letzten Stunden bis zum Morgengrauen hatte sie dort in eine Decke gehüllt auf dem Sofa gesessen und gegrübelt. ›War es wirklich richtig, was sie heute vorhatte? Wenn sie sich nun irrte mit ihrem Verdacht? Wie würde sie dann dastehen? Und was, wenn sie wirklich recht hatte? Wie sollte es denn dann weitergehen? Sie würden doch nicht einfach so weitermachen können wie bisher?‹ Gegessen hatte sie heute auch noch nichts; schon nach dem ersten Bissen hatte sie das Brötchen über den Küchentisch zu ihrem Mann geschoben. Der hatte nur stumm den Kopf über sie geschüttelt. Er brauchte auch nichts zu sagen, sie kannte seine Meinung schließlich. »Doch, ich fahr da jetzt hin«, hatte sie auf sein Schweigen geantwortet, »ich muss es endlich wissen.« Gabi schob die Gartentür auf und ging den gepflasterten Weg entlang auf Frau Siebeck zu, die noch immer an derselben Stelle stand. Mit ihrer rauen Stimme sagte Frau Siebeck: »Hallo, Gabi«, und Gabi sagte: »Hallo, Frau Siebeck«, und sie gaben sich die Hand. Dann sahen sie sich an. Warum sagte Frau Siebeck denn jetzt nichts? So etwas wie: »Schön, dass du da bist. Wir haben uns ja so lange nicht mehr gesehen. Komm doch rein, ich mach uns einen Kaffee.« So in der Art hatte Gabi es sich vorgestellt. Doch Frau Siebeck blieb stumm. Sie schien darauf zu warten, dass Gabi den Anfang machte. Also gut. Aber auf keinen Fall würde sie gleich mit der Tür ins Haus fallen, das hatte sich Gabi fest vorgenommen. Erst einmal ein bisschen plaudern wollte sie mit der Nachbarin aus ihren Kindertagen, sie fragen, wie es ihr ginge nach all den Jahren. Sehr verändert hatte sich Frau Siebeck nicht seit damals; vielleicht hatte sie noch etwas zugenommen, und vielleicht waren da auch ein paar neue Falten, doch sie wirkte sehr gepflegt, und das kurze Haar war noch immer hellblond und sorgfältig frisiert. Gabi überlegte, war nahe daran, ihr ein Kompliment für das gute Aussehen zu machen. Aber vielleicht sollte sie besser erst einmal mit einer Bemerkung über das schöne Spätsommerwetter anfangen, das war noch unverfänglicher. Oder sie könnte etwas Nettes über die Blumenpracht hier im Garten sagen. Gabi holte Luft. »Wissen Sie, warum ich hier bin, Frau Siebeck?«, hörte sie sich im selben Moment herausplatzen. »Wissen Sie, warum ich mit Ihnen reden will?« Hilde Siebeck sah Gabi noch immer ausdruckslos an. Eine gefühlte Ewigkeit lang. Dann stieß sie einen langen Seufzer aus. »Ja«, sagte sie. »Weil du meine Tochter bist.«
Kapitel 2
Der 21. November 1959 war ein Samstag, und es lag Schnee. Detlef Siebeck rutschte unruhig in der Schulbank hin und her. Die drei Schulstunden erschienen dem Siebenjährigen wie eine Ewigkeit. Er konnte es kaum abwarten, endlich nach draußen zu kommen. Vor drei Tagen hatte er zusammen mit seinem Freund Hans begonnen, ein Iglu zu bauen, und heute wollten sie unbedingt damit fertig werden. Und nun musste er hier sitzen und Buchstaben in sein Heft schreiben! Dabei wusste er doch sowieso schon das meiste von dem, was die Lehrerin erzählte. Seine Mutter Hilde übte so oft und ausgiebig mit ihm, dass er seinen Mitschülern immer ein kleines Stück voraus war. Er sollte unbedingt ein guter Schüler sein und später im Leben etwas erreichen, das predigte sie ihm fast jeden Tag, und vor allem sollte er nie so schwer arbeiten müssen wie sein Vater. Nach der dritten Stunde war die Schule endlich aus. Detlef und Hans schnallten ihre Tornister auf und liefen in die Junkerstraße. Bei dem Haus mit der Nummer 27 hielten sie an. Es war ein graues Zechenhaus, genau wie alle anderen Häuser in der Junkerstraße. Hier wohnte Detlef mit seinen Eltern, und genau gegenüber, auf einem freien Grundstück, stand das halb fertige Iglu. Detlef zog seinen Tornister vom Rücken, ging schnell die paar Schritte zur Haustür und legte ihn dort ab. Hans war schon über die Straße gelaufen, und als Detlef ihm folgte, empfing ihn der Freund mit einem Hagel von Schneebällen. »Uff«, stöhnte Detlef, als ihm eines der Geschosse direkt gegen die Brust flog, und Hans jubelte: »Volltreffer.« Hinter ihnen ging ein Fenster auf. »DEEEtlef!«, rief eine Männerstimme. Detlef drehte sich nicht um. Schließlich kannte er diesen Ruf nur zu gut, und er konnte nur eines bedeuten: Er sollte reinkommen. Aber das sah er überhaupt nicht ein. Es war doch schließlich noch nicht Mittagszeit. Essen gab es immer genau um zwölf Uhr, und das war erst in mehr als einer Stunde. Bis dahin wollten sie doch noch richtig gut vorankommen mit ihrem Iglu. Und vor allem musste er Hans jetzt erst einmal Revanche geben. Er bückte sich, nahm eine Handvoll Schnee und begann eine Kugel zu formen. »DEEEtlef! Aber sofort!«, ertönte die Stimme wieder, und es war klar, dass sie keinen Widerspruch duldete. Detlef ließ den Schneeball enttäuscht fallen, winkte seinem Freund kurz zu und trottete über die Straße auf das graue Haus zu. Er nahm seinen Tornister, drückte die Eingangstür auf und ging durch das enge Treppenhaus eine Etage hoch. Die Tür zu ihrer Wohnung stand schon offen. Im Flur stolperte er beinahe über einen kleinen braunen Koffer. Der gehörte doch seiner Mutter. Was war denn hier los? »Mensch, Junge, beeil dich doch«, rief sein Vater, der aus dem Schlafzimmer auf ihn zukam. In der Hand hielt er die blaue Sporttasche, in der Detlef sonst seine Fußballsachen transportierte. »Hier, nimm, die hat die Mama für dich gepackt. Du gehst jetzt sofort zur Oma Wilma rüber. Deine Mama muss ins Krankenhaus. Sie ist für ein paar Tage weg, und so lange musst du bei Oma und Opa bleiben.« »Kurt! Was machst du denn so lange!?«, hörte Detlef seine Mutter aus dem Schlafzimmer rufen. »Ja, Hilde, Moment noch, geht gleich los. Hier, Junge.« Kurt Siebeck drückte seinem Sohn die Tasche in die Hand und strich ihm verlegen über die kurzen blonden Haare. »Nun lauf schnell los.« Die ganze Situation machte Detlef Angst, aber er traute sich nicht, irgendetwas zu fragen. Stumm nahm er die Tasche, zog die Tür hinter sich zu und machte sich auf den Weg zu Oma Wilma und Opa Erwin, den Eltern seines Vaters. Eigentlich hätte er auch bei seiner anderen Großmutter bleiben können, bei Oma Johanna. Sie war die Mutter seiner Mutter und wohnte im selben Haus wie Detlef und seine Eltern, unten im Erdgeschoss. Aber Oma Johannas zweiter Ehemann, Herr Manske, mochte keine Kinder. Wenn Detlef mit seinen Freunden vor dem Haus oder hinten im Hof spielte, dauerte es keine zwei Minuten, und Herr Manske klopfte an die Fensterscheibe und drohte ihnen mit der Faust. Und Oma Johanna hielt im Zweifel immer zu Herrn Manske und nicht zu Detlef, ihrem Enkel. Aber auch zu Oma Wilma und Opa Erwin war es nicht weit, sie wohnten nur ein paar Straßen weiter. Nach fünf Minuten stand Detlef vor der Tür und klingelte. Oma Wilma öffnete die Tür. »Ach Detlef, Junge, du bist das. Na, dann ist es ja wohl so weit. Nun kriegst du endlich ein Geschwisterchen. Was für ein Glück, dass es doch noch geklappt hat nach all den Jahren.« Detlef war völlig überrascht. Niemand hatte ihn darauf vorbereitet. Schlagartig wurde ihm nun so einiges klar: Warum die Mutter immer dicker geworden war, warum sie Detlefs alte Babysachen wieder herausgeholt und gewaschen hatte, warum der Vater das kleine Kinderbett aus dem Keller geholt und im Schlafzimmer aufgestellt hatte. Vielleicht hatten die Eltern gedacht, er würde sich die Dinge schon selbst zusammenreimen können. Aber zu ihm gesagt hatten sie nichts, nicht einmal eine Andeutung gemacht. Und Detlef hatte auch nicht gefragt. Sowieso redete er nicht allzu viel. Das hätte er vom Vater, sagten immer alle. Vater Kurt und sein Sohn Detlef, die beiden ruhigen Vertreter. Oma Wilma legte den Arm um seine Schultern. »Na, dann komm mal rein, mein Junge. Nun bist du für ein paar Tage bei uns, da machen wir uns eine schöne Zeit. Und wenn du wieder nach Hause darfst, wartet schon ein Brüderchen oder Schwesterchen auf dich.« Das Marienkrankenhaus war ein großer düsterer Bau aus dem Jahr 1875, und es war das einzige Krankenhaus in Hürthen. Es stand unter der Leitung der katholischen Kirche, und auf den Stationen führten strenge Nonnen das Regiment. Die Einhaltung moralischer Grundsätze stand für sie an oberster Stelle, und den von ihnen aufgestellten Regeln und Anweisungen hatte sich jeder in der Klinik widerspruchslos zu fügen. Selbst der kleine Detlef hatte schon seine eigenen Erfahrungen mit den unnachgiebigen Ordensschwestern gemacht. Seine Mutter hatte dafür gesorgt, dass er sich in der Kinder- und Jugendgruppe beim Roten Kreuz engagierte. Er sollte so früh wie möglich lernen, wie wichtig es ist, sich um andere Menschen zu kümmern. Zu seinen Aufgaben gehörte es, regelmäßig an den Wochenenden Krankenhausdienste im Marienkrankenhaus abzuleisten, zusammen mit anderen Kindern. Die Nonnen fürchteten jedoch um deren Moral und verboten den Jungen und Mädchen, in ihren Pausen in der Cafeteria zusammenzusitzen oder auch nur irgendwo miteinander zu reden. Besonders scharf bewacht wurden sie von einer Furcht einflößenden Nonne, die die Kinder hinter vorgehaltener Hand »Schwester Rabiata « nannten. Als Schwester Rabiata dann einmal trotz strengster Anweisung ein Mädchen und einen Jungen miteinander im Gang reden sah, ordnete sie umgehend getrennte Pausen an. Niemand sollte mehr die Gelegenheit dazu haben, ihre Anordnungen missachten zu können. Als Hilde Siebeck am späten Samstagvormittag im Marienkrankenhaus ankam, gab es nicht mehr viel Zeit zu verlieren. Am Eingang verabschiedete sie sich schnell von ihrem Mann, der gleich wieder zurück nach Hause fuhr. Bald fing seine Schicht in der Zeche an, und er hatte ohnehin im Krankenhaus jetzt nichts mehr verloren. Das Kinderkriegen war schließlich reine Frauenangelegenheit. Die Wehen kamen schon in kurzen Abständen, und so brachte man Hilde Siebeck gleich in den Kreißsaal. Hier ging alles schnell und ohne Probleme. Nach weniger als zwei Stunden hatte es Hilde geschafft. »Sie haben ein gesundes Mädchen!«, sagte man ihr. Es war ein kräftiges Kind, das sie auf die Welt gebracht hatte, mit einem runden Gesicht und kaum einem Haar auf dem Kopf. Nur ein Hauch von hellem Flaum ließ vermuten, dass das Mädchen einmal blond werden würde - genau wie seine Mutter, sein Vater und sein Bruder. Nachdem man es gewogen, vermessen und in warme Tücher gepackt hatte, brachte man das Neugeborene auf die Säuglingsstation. Die junge Mutter sollte sich nun erst einmal ausgiebig von den Strapazen der Geburt erholen. Hilde Siebeck wurde auf die Wöchnerinnenstation gebracht. In einem Sechsbettzimmer lagen bereits vier Mütter, mit Hildes Ankunft waren sie zu fünft. Am späten Abend des nächsten Tages war schließlich auch noch das letzte freie Bett belegt. Der Neuzugang hieß Margot Knappe. Sie war eine kleine zierliche Frau mit schwarzem Haar. An diesem Sonntag, den 22. November 1959, hatte sie um kurz nach zehn Uhr abends ebenfalls ein Mädchen geboren. Es war ein zartes Kind, das sie auf die Welt gebracht hatte, und es hatte dichtes schwarzes Haar - genau wie seine Mutter, sein Vater und sein Bruder. Natürlich verband alle sechs Frauen in diesem Zimmer vor allem das eine große Thema: die Geburt ihrer Kinder mit allem, was an Freud und Leid dazugehörte. Doch Hilde Siebeck und Margot Knappe hatten darüber hinaus noch mehr Gemeinsamkeiten. Beide hatten schon einen Sohn, beide Ehemänner arbeiteten im selben Steinkohlebergwerk, und beide Familien wohnten sogar in derselben Straße, nicht viel weiter als 200 Meter voneinander entfernt. Die Knappes lebten am Anfang der Junkerstraße, im Haus Nummer 6. Allerdings waren sie erst zu Beginn des Jahres dort hingezogen. Vorher hatten sie im Nachbarort gelebt. In den ersten Tagen nach der Geburt hatten die Frauen viel Zeit, um sich auszutauschen. Ihre Babys bekamen sie nicht allzu oft zu Gesicht. Die Säuglinge wurden von den Nonnen nur zu genau festgelegten Zeiten zum Füttern ans Bett gebracht; so sollten die Kinder schon früh an feste Essenszeiten gewöhnt werden. Die übrige Zeit verbrachten die Kleinen auf der Säuglingsstation. Gebadet, gecremt, gepudert und gewickelt wurden sie von den Schwestern - und in Ausnahmefällen vielleicht auch einmal tröstend auf den Arm genommen, wenn sie allzu sehr weinten. Die Mütter sollten mit alldem noch nichts zu tun haben, sie sollten sich schonen und wieder zu Kräften kommen, um nach gut einer Woche dann wieder voll und ganz der Familie und dem Haushalt zur Verfügung stehen zu können. Die Kinder wurden auch dann nicht in das Zimmer der Mütter geholt, wenn Besuch da war. Die Verwandten konnten Glück haben und das Kind durch reinen Zufall kurz vor oder nach dem Füttern im Zimmer antreffen - ansonsten mussten sie sich mit einem Blick durch die Scheibe vor der Säuglingsstation begnügen. Dort stand ein paar Tage nach der Geburt auch Detlef gemeinsam mit seiner Oma Wilma. Durch die große Glasscheibe sah er zu, wie die Nonne ein Bündel aus einem der Bettchen nahm und mit dem Gesicht in seine Richtung hob. Näher als durch diese Scheibe getrennt durfte Detlef seiner neuen Schwester nicht kommen. Für Kinder war die gesamte Geburtsstation tabu - man fürchtete die erhöhte Ansteckungsgefahr, die von ihnen ausgeht. Auch seine Mutter durfte er nicht besuchen. »Das ist nun also deine kleine Schwester«, sagte Oma Wilma. Detlef schwieg. Er konnte kaum etwas erkennen, dieses Baby war so dick eingemummelt. Außerdem fiel ihm zu der ganzen Sache sowieso nichts ein. Oma Wilma sah ihn von der Seite an und legte den Arm um ihn. »Na, wenn die Kleine erst bei euch zu Hause ist, dann wird es schon gehen mit euch beiden. Wirst sehen, mein Junge.« Ein paar Tage später holte Kurt Siebeck seinen Sohn Detlef von den Großeltern wieder ab und ging mit ihm nach Hause. Der kleine Koffer von Hilde Siebeck stand noch unausgepackt im Flur. Kurt Siebeck hatte seine Frau gerade erst aus dem Krankenhaus abgeholt. Sie saß im Wohnzimmer auf dem Sofa und schaute auf das Baby in ihrem Arm. Als Detlef das Zimmer betrat, sah sie hoch und lächelte. »Komm mal her zu mir, mein Großer.« Detlef setzte sich mit ein bisschen Abstand vorsichtig neben seine Mutter. Er sah seinen Vater an, der im Türrahmen stehen geblieben war und ihm nun aufmunternd zunickte. Dann drehte sich Detlef zu seiner Mutter um und warf einen schnellen Blick auf das Baby. Ganz dichtes schwarzes Haar hatte es, das fiel Detlef als Erstes auf. Ansonsten gab es für ihn nicht viel Interessantes zu entdecken. Das Baby hatte die Augen geschlossen, es schlief wohl gerade. Detlef war ziemlich enttäuscht von diesem Familienzuwachs. Er hatte nicht erwartet, dass das neue Kind so klein sein würde - und so schwächlich. »Das ist deine kleine Schwester Monika. Du bist nun ihr großer Bruder, und du musst sie ganz, ganz lieb haben. Und immer schön auf sie aufpassen und sie beschützen. Versprichst du das deiner Mama?« Detlef nickte stumm, und seine Eltern lächelten sich zu. Einige Tage später ging Detlef mit seiner Mutter und dem Baby spazieren. Eigentlich konnte er Spaziergänge überhaupt nicht leiden, aber die Mutter hatte ihm versprochen, dass er den Kinderwagen schieben dürfe. Sie gingen die Junkerstraße entlang. Plötzlich blieb seine Mutter stehen. »Du, in dem Haus hier gegenüber, da wohnt die Frau Knappe. Sie hat auch ein Baby bekommen, wir waren zusammen im Krankenhaus. Lass uns mal eben nachsehen, ob sie da ist, dann sagen wir kurz Guten Tag.« Sie lief über die Straße, ging den kleinen Weg vor dem grauen Haus entlang zur Eingangstür und klingelte. Detlef hatte Mühe, mit dem Kinderwagen hinterherzukommen, die Räder blieben auf dem unebenen Pflaster ständig hängen. Die Tür ging auf, und eine kleine schwarzhaarige Frau mit einem Baby auf dem Arm trat einen Schritt nach draußen. »Guten Tag, Frau Knappe. Störe ich?«, fragte Hilde Siebeck. »Ja, also, ehrlich gesagt, mein Mann ist gerade von der Schicht nach Hause gekommen ...«, sagte Frau Knappe und warf einen hektischen Blick über ihre Schulter nach hinten. »Ach schade. Dann gehen wir gleich weiter. Wir sind ja auch nur zufällig vorbeigekommen. Detlef, komm doch mal schnell her, das hier ist die kleine Gabi.« Dieses fremde Baby interessierte Detlef nun wirklich nicht im Geringsten, aber er wollte nicht ungehorsam sein. Er ließ den Kinderwagen stehen und ging auf die beiden Frauen zu. Frau Knappe beugte sich ein wenig zu ihm nach unten, damit er besser sehen konnte. Das Kind, das sie auf dem Arm trug, war viel molliger als Monika. Und es hatte so gut wie gar keine Haare. Nur ein bisschen hellen Flaum. Detlef musste ein Grinsen unterdrücken. Irgendwie sah dieses Baby lustig aus mit seinem beinahe kahlen Kopf. »Kommen Sie doch bald mal wieder vorbei, Frau Siebeck «, sagte Frau Knappe und richtete sich wieder auf. »Ja, das mache ich bestimmt«, sagte Detlefs Mutter, »und der Detlef kommt dann auch gern mit, um die kleine Gabi zu besuchen.« Wozu das nun wieder gut sein sollte, konnte sich Detlef beim besten Willen nicht vorstellen. Aber Widerworte waren zwecklos, das wusste er nur zu genau. Wenn seine Mutter einmal etwas beschlossen hatte, dann wurde es auch so gemacht.
Kapitel 3
Detlefs Mutter Hilde war eine resolute kleine Frau, die das Geschehen zu Hause beherrschte. Sie steckte voller Energie und kümmerte sich nebenbei gern auch noch um die Sorgen und Probleme anderer Leute. Dabei hatte sie selbst in ihrem Leben nicht allzu viel Fürsorge erfahren. Hilde Siebecks Kindheit war alles andere als glücklich und unbeschwert gewesen. Es war vor allem das Schicksal ihres Vaters Heinrich, das auf der ganzen Familie lastete und alles überschattete. Heinrich war als ältestes von acht Kindern in einem kleinen Dorf im ostpreußischen Masuren aufgewachsen. Unter eher ärmlichen Umständen lebte die Familie dort auf einem Hof und versorgte aus dessen Erträgen in erster Linie sich selbst. Als der Erste Weltkrieg ausbrach und der Vater einberufen wurde, musste Heinrich an seine Stelle treten und für den Hof und alle seine Geschwister sorgen. Dann geschah ein Unglück: Beim Holzsammeln im Wald wurde Heinrich vom Blitz getroffen. Rein körperlich trug er keine erkennbaren Schäden davon, doch alle sagten, er hätte sich irgendwie verändert. Ob nun dieser Blitzschlag tatsächlich der Auslöser war für das, was später mit ihm geschah, vermochte aber niemand zu sagen. Zuerst liefen die Dinge noch gut. Heinrich lernte eine junge Frau namens Johanna kennen, und die beiden heirateten bald. Doch in ihrer Heimat Masuren sahen sie für sich keine Zukunft, zu schlecht war die Arbeitslage. Und so folgte Heinrich dem »Ruf der Kohle« aus dem Westen. Gemeinsam mit seiner jungen Ehefrau verließ er die Heimat, um sich im Ruhrgebiet niederzulassen, und fand schnell in dem kleinen Städtchen Hürthen eine Stelle als Bergmann. Heinrich und Johanna bekamen zwei Töchter: zuerst Gisela, zwei Jahre später Hilde. Dann begann der Abstieg. Heinrich verfiel in eine Art religiösen Wahn. Er verlangte, dass zu Hause alle Spiegel verhängt und die Kreuze von den Wänden abgenommen wurden. Immerzu segnete er seine beiden Töchter und weinte dabei bitterlich. Und er betete ohne Unterlass. Dass ihm seine Frau Johanna in seinem religiösen Eifer nicht folgen wollte und das ständige gemeinsame Gebet verweigerte, konnte er einfach nicht begreifen. Also zwang er sie auf Umwegen dazu. Als die kleine Hilde einmal etwas getan hatte, was nicht in Heinrichs Sinn war, sperrte er das Mädchen in den Keller. Hilde weinte und bettelte darum, wieder nach oben ins Helle gelassen zu werden. Doch der Vater blieb hart. »Nicht, bevor deine Mama vor der Tür laut gebetet hat.« Und so fand Hilde ihre Mutter zitternd vor Wut auf den Knien vor einem Kreuz, als der Vater die Tür endlich wieder aufschloss. Heinrich geriet auch immer wieder in unerklärliche Wut. So nahm er vor den Augen seiner verängstigten Familie das Brot vom Tisch und trampelte wild darauf herum. Einen erkennbaren Anlass dafür gab es nicht. An geregelte Arbeit war längst nicht mehr zu denken. Heinrich vernachlässigte sogar die Tiere, die er nebenbei hielt. Hilde und ihre Schwester Gisela hörten die Schweine unten im Hof schreien vor Hunger. Schließlich wurde Heinrich ins Krankenhaus eingeliefert. Als Hilde ihren Vater dort besuchte, umklammerte er seine kleine Tochter heftig und wollte sie nicht mehr loslassen. »Bleib bei mir, mein Engel!«, schrie er. Drei Pfleger mussten kommen und das verstörte Kind von ihm losreißen. Es war das letzte Mal, dass Hilde ihren Vater sah. Die Ärzte diagnostizierten: Schizophrenie, unheilbar. Eine Diagnose, die zu dieser Zeit, im Jahr 1937, schwerwiegende Folgen hatte. Man brachte Heinrich in eine psychiatrische Klinik, die nichts anderes war als eine Euthanasieanstalt, wo man ihn zunächst vor sich hin vegetieren ließ. Dann wurde er weiterverlegt und landete schließlich in einem Hungerlager bei München, wo er im Alter von nur zweiundvierzig Jahren elendig starb. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich seine Frau Johanna längst schon von ihm scheiden lassen. An ihr Ehegelübde von einst fühlte sie sich nicht mehr gebunden. Sie musste vor allem an sich und die Kinder denken und suchte deshalb nach einem Mann, der sie alle versorgen konnte. Den Richtigen hierfür glaubte sie zunächst in einem Nachbarn gefunden zu haben. Er wohnte ein paar Häuser weiter und war mit einer älteren Frau verheiratet - unglücklich verheiratet, wie er sagte. Johanna fing eine Affäre mit ihm an und wurde schnell schwanger. Sie brachte ein Mädchen zur Welt und nannte es Rosemarie. Gisela und Hilde hatten nun eine kleine Halbschwester, doch noch immer keinen neuen Vater, denn der Nachbar hatte sich entgegen seiner ständigen Beteuerungen noch nicht von seiner Frau getrennt. Dann starb Rosemarie plötzlich. Kurze Zeit später wurde der Nachbar schwer krank. Johanna löste die Verbindung kurzerhand auf und beschloss, die Suche nach einem Mann und Versorger nun strategisch anzugehen. In der Tageszeitung gab sie eine Anzeige auf, und es meldete sich ein Herr Manske. Er war Bergmann, verdiente sehr gut und war ledig. Johanna und Herr Manske heirateten. Der neue Mann der Mutter war ein Sonderling. Vielleicht hatte ihn die lange Kriegsgefangenschaft geprägt, vielleicht lagen ein gewisser Egoismus und der Mangel an Rücksicht auf die Kinder auch einfach in seiner Natur. Er wollte vor allem einfach seine Ruhe haben und sich im Übrigen so benehmen, wie es ihm in den Sinn kam - dass die Mädchen mit ansehen mussten, wie er ihre Mutter auf dem Küchentisch nahm, mitten am Tag und bei offener Küchentür, schien ihm egal zu sein. Aber auch die Mutter selbst war ihren Töchtern gegenüber nicht gerade von Liebe beseelt. Wohl niemand hätte Johanna als warmherzige Frau beschrieben. Ihre Stärke lag darin, zu organisieren und für bestmögliche Umstände zu sorgen. Die Kinder auch einmal in den Arm zu nehmen kam ihr dagegen nicht in den Sinn. Für die beiden Mädchen war es furchtbar gewesen, den zunehmenden Wahn ihres Vaters mitzuerleben und ihn dann zu verlieren, eine kleine Schwester zu bekommen und sie sterben zu sehen und sich nun dem sonderbaren Stiefvater unterordnen zu müssen - und mit all ihren Sorgen und Ängsten mussten sie ganz allein fertigwerden. Trost oder liebe Worte von der Mutter gab es nicht. Die Mädchen sollten vor allem eines: nicht stören. Die etwas aufmüpfigere Gisela ließ sich allerdings nicht immer den Mund verbieten - und wurde deshalb so oft wie möglich weit weg zur Verwandtschaft nach Ostpreußen geschickt. Für ihre kleine Schwester Hilde war es eine schreckliche Vorstellung, ebenfalls weggeschickt zu werden. Dann war es doch besser, man begehrte nicht auf und verhielt sich möglichst unauffällig, überlegte sie und verhielt sich dementsprechend. Vielleicht war es das schreckliche Zusammenleben mit Heinrich, das Johanna zu dieser verhärteten Frau hatte werden lassen, vielleicht war sie aber auch einfach von Natur aus ein unterkühlter Mensch. Jedenfalls wurde sie auch in ihren späteren Jahren nicht zugänglicher. Ihr Enkel Detlef erlebte seine Oma Johanna als eine herrische Person, die sich von allen bedienen ließ und zu niemandem aus der Familie ein wirklich herzliches Verhältnis hatte - auch nicht zu ihren drei weiteren Kindern, die sie noch gemeinsam mit Herrn Manske bekam. Hilde blieb bis zu ihrem 21. Lebensjahr bei ihrer Mutter, ihrem Stiefvater und den drei Halbgeschwistern wohnen. Von zu Hause auszuziehen und sich als junge Frau eine eigene Wohnung zu nehmen war Anfang der 50er-Jahre so gut wie undenkbar - und ohne die ausdrückliche Erlaubnis des Vaters nicht einmal erlaubt. Man hatte sich nach einem passenden Ehemann umzusehen und mit diesem dann einen Hausstand zu gründen. Dieses Ziel zu erreichen war für Hilde nicht allzu schwer. Sie hatte sich zu einer sehr schönen jungen Frau entwickelt. Ihr blondes, gewelltes Haar trug sie kinnlang, und mit ihrer drallen Figur und ihrer energischen Art hatte sie so manchen Verehrer. Allerdings konnte sie sich lange für keinen von ihnen wirklich erwärmen. Dann lernte sie Kurt Siebeck kennen. Ihre erste Begegnung fand auf dem Wochenmarkt von Hürthen statt. Hilde arbeitete dort als Verkäuferin an einem Wurststand. Kurt war begeistert von dem schönen Mädchen. Obwohl er ein eher zurückhaltender Mensch war, setzte er alles daran, sie für sich zu gewinnen. Abends stellte er sich vor das Haus ihrer Familie und warf so lange Steinchen an Hildes Fenster, bis sie endlich zu ihm nach draußen kam. Hilde war von dem ruhigen und attraktiven blonden Kurt und seinen schmeichelhaften Umwerbungen mehr als angetan. Allzu lange dauerte es nicht, dann war sie schwanger, und die beiden heirateten. Auch Kurt lebte noch bei seinen Eltern, und fürs Erste zog Hilde dort mit ein. Bald nach Detlefs Geburt wurden die Verhältnisse aber zu beengt. Zu dritt in einem einzigen Zimmer zu wohnen konnte kein dauerhafter Zustand sein. Kurt und Hilde mussten sich nach einer eigenen Wohnung umsehen. Als zu dieser Zeit Herr Manske das Haus Nummer 27 in der Junkerstraße kaufte und die obere Wohnung in diesem Haus frei war, zogen sie kurzerhand dorthin um. Die Wohnung war nicht allzu groß, kaum mehr als 70 Quadratmeter, doch es gab eine große Wohnküche und ein Badezimmer mit einer richtigen Badewanne mit Füßen; keine Selbstverständlichkeit in den 50er-Jahren. Kurt und Hilde waren ausgesprochen stolz auf ihre erste eigene Wohnung. Im Gegensatz zu Hilde hatte Kurt eine harmonische Kindheit verlebt. Auch seine Eltern kamen ursprünglich aus Ostpreußen. Vater Erwin stammte aus Insterburg. Er war eigentlich Bergmann, arbeitete aber zeit seines Lebens nicht unter Tage, sondern war für den Gärtnerei- und Forstbereich der Zechen zuständig. Kurts Mutter Wilma kam von einem Gut aus der Nähe von Königsberg. Erwin und Wilma heirateten noch in Ostpreußen, und auch sie verließen dann die wirtschaftlich schwache Heimat, um in den aussichtsreicheren Westen zu gehen. Über einige Umwege gelangten die beiden schließlich nach Hürthen, wo kurze Zeit später Kurt geboren wurde. Den zweiten Sohn, den sie bekamen, verloren sie durch plötzlichen Kindstod. Dann kam ihr dritter Sohn auf die Welt, und bei diesen zwei Kindern blieb es. Einziger Streitpunkt zwischen Wilma und Erwin war sein Alkoholkonsum. Wenn es auf der Zeche die Lohntüte gab, ging es mit den Kollegen anschließend direkt in die Kneipe, und dort gab es dann kein Halten. Alles Flehen, Schimpfen und Drohen seiner Frau änderte daran nichts. Um ihren Mann überhaupt nach Hause zu bekommen, schickte Wilma ihren Sohn Kurt los, um den Vater zu holen. Später war es ihr Enkel Detlef, der diese Aufgabe zu erfüllen hatte. Schon mit fünf Jahren stand der Junge ganz verloren in der Kneipe und sollte nun seinen Opa Erwin irgendwie nach Hause lotsen. Wenigstens machte der Opa es ihm nicht schwer. Erwin Siebeck war ohnehin ein lieber Mensch, und wenn er dann seinen kleinen Enkel dort stehen sah, sagte er ganz gerührt: »Ach Gott, der Junge«, und ging brav mit. Dieses weiche Herz hatte Kurt Siebeck von seinem Vater geerbt, genauso wie den Hang zum Alkohol. Bei Kurt brachte es allerdings schon die Arbeit mit sich, dass das Trinken zur Selbstverständlichkeit wurde. Er war auf der Hürthener Zeche in der Kokerei beschäftigt. Dort erzeugte man aus Kohle Koks. Für diesen Vorgang musste Rohkohle in einem Koksofen auf über 1000 Grad Celsius erhitzt werden, damit die gasförmigen Bestandteile der Kohle ausgasen konnten. Kurt und seine Kollegen waren also permanent einer unglaublichen Hitze ausgesetzt und mussten dementsprechend ständig trinken - und es war literweise Bier, das sie ihre ausgedörrten Kehlen hinunterlaufen ließen. Die schwere körperliche Arbeit machte Kurt sehr zu schaffen, hinzu kam eine gewisse Enttäuschung darüber, es im Leben nicht wirklich weit gebracht zu haben. Kurt war nur ein schlichter Arbeiter, kein gelernter Bergmann mit gutem Verdienst wie Hildes Stiefvater Herr Manske. Um sich aus seiner Position nach oben zu kämpfen, hätte es einer gehörigen Portion Willens und Ehrgeizes bedurft, doch beides besaß Kurt nicht in ausreichendem Maße. Bis zum Ende seines Berufslebens blieb er der einfache Arbeiter. Auch zu Hause konnte er sich nicht richtig entfalten. Hilde war im Laufe der Jahre immer dominanter geworden. Sie hielt gern die Fäden in der Hand, bestimmte alle häuslichen Angelegenheiten und führte auch bei Tisch oder abends im Wohnzimmer stets das Wort. Mit seiner ruhigen Art stand Kurt dann oft abseits und zog sich zurück. Wenn er allerdings einmal über sein normales Maß hinaus getrunken hatte, auf Festen und Feiern, fiel seine Zurückhaltung plötzlich von ihm ab und konnte in Aggression umschlagen, sobald er sich provoziert fühlte. Manchmal reichte schon ein kleiner Anlass. Kurt sagte: »Es schneit«, ein anderer korrigierte ihn: »Nein, das ist doch Hagel«, und schon kam es zum handfesten Streit. Und nicht selten auch zur Schlägerei. Der eigentlich so ruhige und herzensgute Kurt war dann nicht mehr zu halten. All seine unterdrückte Frustration schien sich so zu entladen. Zu Hause aber zeigte Kurt diese Seite nie. Er war den Kindern immer ein liebevoller Vater, und zusammen mit seiner Frau Hilde bot er ihnen ein schönes und verlässliches Zuhause. Die Familie aß gemeinsam, unternahm am Wochenende Ausflüge, besaß einen Schrebergarten, hatte engen Kontakt zur Verwandtschaft und häufig Besuch. Kurt spielte außerdem Skat und sammelte Briefmarken, und Hilde ging regelmäßig zu ihren Damenkegelabenden. Natürlich gab es auch gelegentlich Streit. Manchmal ließen sich Hildes Temperament und Kurts eher bedächtige Art nur schwer vereinbaren, manchmal sorgte auch Kurts Neigung zur Eifersucht für Unmut zwischen den beiden. Alles in allem aber war es ein weitgehend harmonisches und sorgenfreies Leben, das die Familie Siebeck führte - ein Leben, das vor allem darauf ausgerichtet war, den Kindern eine glückliche Kindheit zu schenken und ihnen mit Zuneigung und Unterstützung den Weg in eine aussichtsreiche Zukunft zu ebnen.
Kapitel 4
Auch Margot Knappe hatte alles andere als schöne Erinnerungen an ihre Kindheit. »Mit meinem Vater hat irgendetwas nicht gestimmt. Den haben die Nazis weggeholt, als ich noch ganz klein war, und dann haben sie ihn in eine Klinik gesteckt. Er ist nie wieder zurückgekommen.« Das war so gut wie alles, was sie über ihren Vater wusste. Ganz dunkel und verschwommen glaubte sie sich aber doch noch an zwei Dinge erinnern zu können: dass sie den Vater geschlagen hatten, als sie ihn holten, und dass da ein Hund gewesen war, den sie getötet hatten. Vermutlich handelte es sich um eine psychiatrische Klinik, in die ihr Vater eingeliefert wurde. Aber was genau es mit ihm auf sich gehabt hatte, ob er tatsächlich geisteskrank gewesen war oder wodurch er den Nazis aufgefallen war, darüber wurde eisern geschwiegen. Niemand in der Familie sprach auch nur ein einziges Mal mehr über ihn. Auch Fotos gab es von ihm nicht. Es war, als hätte es den Vater nie gegeben. Margots Mutter war mit den sechs Kindern allein geblieben, hatte nie wieder geheiratet. Mithilfe von Verwandten brachte sie ihre Kinder irgendwie durch, und so früh wie möglich musste jedes von ihnen zu arbeiten beginnen. Solch einen Luxus wie höhere Schulbildung konnten sie sich nicht leisten, das allernötigste Grundwissen musste reichen. Die junge Margot fand in ihrem Heimatort Hilmen eine Stelle als Haushaltshilfe. Sie war ein ausgesprochen ruhiges und sehr einfaches Mädchen, sie hatte vielleicht das, was man als schlichtes Gemüt bezeichnen würde. Und sie hatte gelernt, sich den Umständen zu fügen und keine Ansprüche zu stellen. Fleißig und klaglos verrichtete sie ihre Arbeit. Dann lernte sie beim Tanz Rudolf Knappe kennen. Gegensätze ziehen sich an, dieses Sprichwort traf auf die beiden wirklich zu. Margot war klein, zierlich und still, und Rudolf war groß, vital und laut. Er war als einer von drei Brüdern in einer typischen Bergmannsfamilie aufgewachsen und auch selbst Bergmann geworden. Den rauen Umgangston, der bei der Arbeit herrschte, legte er auch privat nicht ab - ausgenommen in seinem Elternhaus. Seine Mutter Gertrud war streng katholisch und hatte die drei Söhne auch in diesem Sinne erzogen. Ein gottesfürchtiges Leben zu führen stand für sie an erster Stelle, und sie war unerbittlich im Einhalten der religiösen Rituale. Undenkbar, eine Messe zu versäumen oder einmal das Tischgebet zu vergessen, und ausgeschlossen, den Söhnen einmal ein lockeres Wort über Mädchen oder Frauen zu erlauben. Durch diese religiöse Erziehung war Rudolf stark geprägt worden. Auch ihm war die Verbundenheit zur katholischen Kirche ausgesprochen wichtig. Als Margot von ihm schwanger wurde und die beiden heiraten mussten, war es für ihn keine Frage, dass die evangelische Margot noch vor der Hochzeit zu seinem katholischen Glauben überzutreten hatte. Mit einer Protestantin verheiratet zu sein war für ihn unvorstellbar, und erst recht nicht konnte er zulassen, dass seine künftigen Kinder womöglich evangelisch erzogen würden. Rudolfs sonstiges Verhalten allerdings stand in krassem Gegensatz zu alledem. In seinem täglichen Leben deutete rein gar nichts auf eine christliche Grundeinstellung hin. Für ihn drehte sich alles nur um eines: um ihn selbst. Seinem Wohlbefinden hatte sich alles und jeder unterzuordnen. Die einzige Person, von der er sich etwas sagen ließ, war seine Mutter. Ihr gegenüber verhielt er sich manchmal geradezu unterwürfig. Bei allen anderen Menschen war es das genaue Gegenteil. Nur sein Wort und seine Wünsche zählten. Der höchste Ausdruck seiner Rücksichtslosigkeit war, dass er sich zu Hause komplett nackt bewegte. Immer. Sobald er von der Schicht nach Hause kam, zog er sich aus und blieb so, bis er das Haus wieder verließ. Wenn es klingelte, öffnete er ohne jede Hemmung die Haustür und stand vollkommen nackt da - ob draußen nun der Briefträger stand oder eine ahnungslose Nachbarin, die Zucker borgen wollte und dann entsetzt wegrannte. Rudolf amüsierte sich über die fassungslosen Gesichter, er schien die Bestürzung direkt zu genießen. Und niemand konnte ihn von diesem Verhalten abbringen, schon gar nicht seine Frau Margot. »Was willst du von mir, so hat Gott mich doch wohl schließlich erschaffen! Und in meinem Haus mache ich, was ich will!«, blaffte er sie an, wenn sie einen ihrer zaghaften Versuche unternahm, ihn davon abzubringen. Margot schämte sich zutiefst für ihren Mann, und zwar nicht nur für seine Nacktheit. Es waren auch seine ständigen anzüglichen Sprüche und Scherze, die schuld daran waren, dass man Rudolf überall in der Nachbarschaft zu meiden versuchte. Vor allem bei den Frauen war er verschrien, und bei Feiern bemühte man sich, einen Sitzplatz möglichst weit weg von dem »unmöglichen Herrn Knappe« zu ergattern. An Rudolf selbst schienen diese Antipathien abzuprallen, vielleicht bemerkte er sie nicht einmal. Natürlich war es für jemanden wie Rudolf eine Selbstverständlichkeit, dass sein Erstgeborener nach ihm benannt wurde. Rudolf Knappe junior kam 1957 zur Welt. Zur besseren Unterscheidung wurde er von allen Rudi genannt. Rudi war ein schwarzhaariger, schmaler Junge und damit ganz nach seinen Eltern geraten - und er war in allem das genaue Gegenteil von der kleinen Gabi, die gut zwei Jahre nach Rudis Geburt als seine Schwester in die Familie Knappe kam. Gabi war ein unkompliziertes Kind, rund und fröhlich. Sie schien immer zufrieden zu sein, und nur selten verlangte sie Beschäftigung. Stundenlang konnte sie allein mit einer Puppe spielen oder etwas basteln, sie aß, was man ihr vorsetzte, und sie schlief von Anfang an die Nächte durch. Vielleicht war Gabi schon von Natur aus eher anspruchslos, vielleicht aber hatte sie auch einfach früh gemerkt, dass ihr ohnehin niemand viel Aufmerksamkeit schenken würde. Zu sehr hielt nämlich Rudi alle und ganz besonders seine Mutter auf Trab. Rudi war ein ausgesprochen anstrengender Junge, zappelig, fahrig und kaum in der Lage still zu sitzen.
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Autoren-Porträt von Foline Ullrich
Foline Ullrich lebt und arbeitet in Oldenburg. Hier hat sie sich in ihrem Biographiebüro "Ullrich Biographien" auf das Schreiben von privaten Autobiographien und Familiengeschichten spezialisiert: "Die Geschichte von Gabis vertauschtem Leben lässt einen mit einem fassungslosen Kopfschütteln zurück - und zugleich auch mit einem gewissen Mitgefühl für die Beteiligten. Bis heute zumindest ist es zu der von Gabi erhofften Annäherung nicht gekommen. Es gab weder ein Telefonat noch ein persönliches Gespräch."
Foline Ullrich, September 2010
Bibliographische Angaben
- Autor: Foline Ullrich
- 320 Seiten, Maße: 13,1 x 19,1 cm, Flex. Einband
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863654757
- ISBN-13: 9783863654757
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