Weiße Weihnacht in Wyoming
Ein verzaubertes Weihnachtsfest
Cole Steele ist nicht nur ein stadtbekannter Frauenheld - er steht auch im Verdacht, seinen eigenen Vater ermordet zu haben. Als er kurz vor Weihnachten die Tierärztin Maia trifft, von der manche...
Cole Steele ist nicht nur ein stadtbekannter Frauenheld - er steht auch im Verdacht, seinen eigenen Vater ermordet zu haben. Als er kurz vor Weihnachten die Tierärztin Maia trifft, von der manche...
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Produktinformationen zu „Weiße Weihnacht in Wyoming “
Ein verzaubertes Weihnachtsfest
Cole Steele ist nicht nur ein stadtbekannter Frauenheld - er steht auch im Verdacht, seinen eigenen Vater ermordet zu haben. Als er kurz vor Weihnachten die Tierärztin Maia trifft, von der manche behaupten, sie könne zaubern, verliebt er sich Hals über Kopf in die junge Frau. Tatsächlich scheint es, als könnte Maia nicht nur Pferde, sondern auch Menschen verzaubern. Nicht zuletzt Coles jüngeren Halbbruder Cole, der nach dem Tod des Vaters bei ihm eingezogen ist. Während der Schnee die Farm in Wyoming mit einem weißen Tuch bedeckt, bereiten sich die drei auf ein ganz besonderes Weihnachtsfest vor.
Cole Steele ist nicht nur ein stadtbekannter Frauenheld - er steht auch im Verdacht, seinen eigenen Vater ermordet zu haben. Als er kurz vor Weihnachten die Tierärztin Maia trifft, von der manche behaupten, sie könne zaubern, verliebt er sich Hals über Kopf in die junge Frau. Tatsächlich scheint es, als könnte Maia nicht nur Pferde, sondern auch Menschen verzaubern. Nicht zuletzt Coles jüngeren Halbbruder Cole, der nach dem Tod des Vaters bei ihm eingezogen ist. Während der Schnee die Farm in Wyoming mit einem weißen Tuch bedeckt, bereiten sich die drei auf ein ganz besonderes Weihnachtsfest vor.
Lese-Probe zu „Weiße Weihnacht in Wyoming “
Weiße Weihnacht in Wyoming von Christine FeehanAus dem Amerikanischen von Angela Schumitz
1
Cole Steele hörte die Schreie aus dem Zimmer am anderen Ende des Korridors. Er kannte solche Albträume nur zu gut. Die Dämonen suchten auch ihn heim, sobald er die Augen schloss. Er war ein erwachsener Mann, er war hart und diszipliniert und konnte notfalls eine Nacht durchtrinken. Aber Jase war erst vierzehn, fast noch ein Kind. Coles Zorn war mit Schuldgefühlen durchtränkt, als er sich durch die Dunkelheit zu dem Zimmer des Jungen tastete. Er hätte etwas tun sollen, um seinem Halbbruder das grässliche Vermächtnis seiner eigenen Vergangenheit zu ersparen. Allerdings hatte er die Verbindung zu seinem Vater schon vor vielen Jahren gekappt. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass sein Vater eine viel jüngere Frau heiraten und ein weiteres Kind zeugen würde. Aber natürlich hätte er diese Möglichkeit erwägen und nicht einfach von der Bildfläche verschwinden sollen.
Nun stieß er die Schlafzimmertür auf. Jase war wach. In seinen weit aufgerissenen Augen stand das Grauen der Erinnerungen.
Cole verspürte einen schmerzhaften Stich in seiner Brust. »Ich bin hier, Jase«, verkündete er, auch wenn das nicht nötig gewesen wäre. Er verstand sich nicht besonders gut darauf, den Jungen zu trösten. Er war in einer rauen Umgebung zur Welt gekommen und aufgewachsen, und bis zu diesem Tag fiel es ihm schwer, sanft und freundlich zu sein. Und schlimmer noch: Jase kannte ihn kaum. Er verlangte von dem Teenager, ihm zu vertrauen - ungeachtet seines Rufs und der Gerüchte über einen Mordversuch, die sich ungehindert im ganzen Ort verbreiteten. Kein Wunder, dass der Junge ihn misstrauisch musterte
... mehr
»Ich hasse Weihnachten. Können wir nicht einfach so tun, als gäbe es Weihnachten nicht?«, fragte Jase. Unwirsch schob er die Decke zur Seite und begann, im Zimmer auf und ab zu laufen. In seinem jugendlichen Körper steckte die gleiche nervöse Spannung, die Cole auch als Erwachsener immer noch plagte. Jase war groß und schlaksig wie ein Hengstfohlen. Sein Körper schien überwiegend aus Armen und Beinen zu bestehen. Er sah aus wie eine Vogelscheuche in einem Flanellschlafanzug. Der Junge hatte die gleichen dunklen Haare wie Cole, aber die Augen hatte er bestimmt von seiner Mutter. Sie waren tiefdunkelbraun. Im Moment waren sie vor Entsetzen weit aufgerissen. Jase wandte sich ab, um nicht zu zeigen, dass er zitterte.
Cole hatte das Gefühl, sich selbst in jungen Jahren gegenüberzustehen. Allerdings gab es einen großen Unterschied: Jase vergrub sich in Bücher, er selbst war zu einem Mann der Tat herangewachsen. Doch er wusste nur zu gut, wie es war, die Blutergüsse und das Grauen vor dem Rest der Welt zu verbergen. Er hatte sich in seiner Jugend stets vor den anderen versteckt, und im Grunde führte er noch immer ein sehr abgeschiedenes, zurückgezogenes Leben. Aber er wollte alles tun, um dem Jungen dieses Schicksal zu ersparen.
»Hat er an Weihnachten deinen Hund erschossen?«, fragte er ohne Umschweife. »Das hat er nämlich bei mir getan, als ich zum letzten Mal den Feiertag so verbringen wollte wie meine Bekannten. Seitdem habe ich nie mehr Weihnachten gefeiert. Er hat mich damals auch nach Strich und Faden verprügelt. Aber das war mir egal in Anbetracht dessen, was er meinem Hund angetan hatte.«
Jase drehte sich langsam zu ihm um. Das Grauen stand noch immer deutlich in seinen Augen. »Ich hatte eine Katze.«
»Ich wette, er hat gemeint, du wärst nicht hart genug, und nur Weicheier bräuchten ein Haustier und Weihnachten. Er wollte, dass du dich verhärtest und ein Mann wirst. Einer, der sein Herz an nichts hängt.«
Jase nickte und schluckte schwer gegen den Kloß in seiner Kehle an. »Er hat viel dafür getan.«
»Hast du Brandnarben? Narben von Messerschnitten? Mich hat er immer gern mit einem Kleiderbügel vermöbelt. Und wenn ich nicht weinte, hat er zu anderen Dingen gegriffen.«
»Ich habe geweint«, gab Jase zu.
»Anfangs habe ich das auch. Er war ein widerlicher Schuft, Jase. Ich bin froh, dass er tot ist. Jetzt bist du vor ihm sicher. Ich werde dich nicht anlügen und behaupten, dass die Albträume verschwinden. Das tun sie nämlich nicht. Sie plagen mich noch heute. Wir haben beide die Hölle durchlebt, und er hatte zu viel Geld. Keiner wollte uns unsere Geschichten abnehmen. « Cole fuhr sich mit den Händen durch das dichte schwarze Haar. »Er war krank, Jase. Ich bin abgehauen und habe meinen Namen geändert in der Hoffnung, dass er mich nicht aufstöbert. Und dann habe ich mich von ihm ferngehalten, so fern wie nur irgend möglich. Das ist allerdings keine Entschuldigung. Ich hätte mich erkundigen sollen, was er so treibt. Vielleicht hätte ich es dann geschafft, dich von ihm wegzuholen.«
Jase schüttelte den Kopf. »Er hätte mich nie gehen lassen.«
»Du weißt, was hier alle sagen, oder? Sie glauben, ich hätte etwas mit seinem Tod zu tun.«
Jase nickte. Plötzlich wurde sein Blick wachsam. »Das ist mir zu Ohren gekommen. Warum bist du zurückgekehrt?«
»Er hat mich zu deinem Vormund bestimmt. Es war das erste Mal, dass ich etwas von dir erfuhr. Bis vor fünf Monaten wusste ich nicht einmal, dass es dich gibt. Dann allerdings war ich sicher, dass er dir und deiner Mutter dasselbe antat wie mir und meiner Mutter. Ich dachte, ich könnte dich beschützen, zumindest so lange, bis du alt genug bist, um auf eigenen Füßen zu stehen. Ich dachte, ich wäre ein besserer Vormund als jeder, den ein Gericht bestellen würde oder den unser Vater noch vorgeschlagen hatte, falls ich die Vormundschaft abgelehnt hätte.«
Das trübe Licht der Morgendämmerung drang durch das große Fenster. Cole starrte hinaus und beobachtete den Sonnenaufgang. Es war eisig kalt, und der Schnee lag mehrere Fuß hoch. Er funkelte auf den Hügeln und Bergen wie ein Teppich aus Kristallen. »Hast du Hunger?«
»Kannst du kochen?«
Cole brachte ein träges Schulterzucken zustande, obwohl er am liebsten etwas zertrümmert hätte. Der Vulkan, der in ihm brodelte, stand ständig kurz vor dem Ausbruch. Die Gedanken an seinen Vater und dann noch diese Jahreszeit - da trat die Wut nur allzu leicht an die Oberfläche. »Ich dachte, wir fahren in die Stadt. Dann können sie sich dort wieder die Mäuler zerreißen.«
Jase sah Cole in die Augen. »Sie sagen, dass du den Alten umgebracht hast, und dass du vorhast, mich als Nächsten umzubringen. Vierundsechzig Millionen Dollar sind ein Haufen Geld, doppelt so viel wie zweiunddreißig.«
»Sagen sie das?«, fragte Cole. »Vergiss nicht die Ranch. Sie ist bestimmt noch mal gut das Doppelte wert, vielleicht sogar mehr, mit all den Öl- und Gasfeldern. Ich habe mich noch nicht nach ihrem derzeitigen Wert erkundigt.« Sein Blick war kalt, die blauen Augen starrten den Jungen an, als wollten sie ihn durchbohren. »Was meinst du, Jase? Letztlich bist du der Einzige, dessen Meinung mir wichtig ist.«
Es dauerte eine Weile, bis Jase erwiderte: »Ich bin froh, dass du zurückgekommen bist. Aber ich verstehe nicht, warum er uns das Geld und die Ranch hinterlassen hat, obwohl er uns so gehasst hat. Das leuchtet mir nicht ein.« Er verzog das Gesicht und sah sich in dem riesigen Zimmer um. »Ich erwarte immer noch, dass er mitten in der Nacht auftaucht. Ich habe Angst, die Augen aufzuschlagen, weil ich denke, dass er an meinem Bett steht und wartet.«
»Mit diesem grauenhaften Lächeln«, fügte Cole grimmig hinzu.
Jase nickte. Ein kleines Zittern verriet, dass er nicht so ruhig war, wie er zu sein vorgab. »Mit diesem grauenhaften Lächeln.« Er sah Cole wieder direkt in die Augen. »Was machst du, wenn du einen Albtraum hast?« Er drosch mit der Faust auf sein Kopfkissen ein. Ein Mal, zwei Mal. »Ich hasse diese Zeit im Jahr.«
Cole verspürte einen scharfen Stich im Brustkorb und ein vertrautes Rumoren im Bauch. Auch er ballte die Faust, aber dem Jungen zuliebe bezwang er die schwelende Wut ein weiteres Mal und beherrschte sich. »Ich trinke. Als dein Vormund muss ich dir sagen, dass du das nicht darfst. Zumindest nicht, solange du nicht ein bisschen älter bist.«
»Hilft das denn?«
»Nein«, erwiderte Cole schroff. »Doch wenigstens überstehe ich damit die Nacht. Manchmal gehe ich in den Fitnessraum, manchmal in die Scheune. Ich habe an beiden Orten Sandsäcke aufgehängt, und auf die schlage ich ein, bis mir die Hände wehtun. Oder ich nehme das wildeste Pferd, das wir haben, und reite in die Berge. Ich renne auf Wildpfaden über die Hügel. Ich tue irgendetwas, was mich so müde macht, dass ich nicht mehr denken kann.«
»Aber all das hilft nicht auf Dauer, oder?« Auch Jase hatte es mit körperlichen Strapazen versucht. Doch jetzt stellte er fest, dass das Reden mit seinem Halbbruder ihm besser half, ja, so gut wie sonst nichts, was er ausprobiert hatte. Wenigstens ein Mensch glaubte ihm. Ein Mensch hatte die gleiche Folter erlebt. Irgendwie fühlte er sich ihm dadurch verbunden, trotz der hässlichen Gerüchte, die sich um seinen knallharten Halbbruder rankten.
Cole schüttelte den Kopf. »Nein, nichts davon hilft wirklich. Aber man übersteht die Nacht damit. Eine Nacht nach der anderen. Er ist tot, Jase. Das ist das Einzige, was zählt.«
Jase holte tief Luft. »Hast du ihn getötet?«
»Nein, habe ich nicht. Aber ich wünschte, ich hätte es getan. Nachts bin ich oft wach im Bett gelegen und habe mir ausgemalt, wie ich es tun würde. Das war, bevor Mom starb. Danach wollte ich nur noch weg.« Cole sah dem Jungen eindringlich ins Gesicht. »Hast du ihn getötet?« Er beobachtete ihn ganz genau, nahm jede Nuance, jeden Ausdruck, seinen Atem wahr. Den unsteten Blick, die zitternden Hände.
Jase schüttelte den Kopf. »Ich hatte zu viel Angst vor ihm.«
Cole atmete langsam aus. Die Fähigkeit, zu erkennen, was in anderen vorging, hatte ihm schon mehrmals das Leben gerettet. Er war sich ziemlich sicher, dass Jase die Wahrheit sagte. Jase war im Haus gewesen, als Brett Steele in seinem Büro erschossen wurde. Cole wollte zu gern glauben, dass der Junge mit dem Tod des Alten nichts zu tun hatte. Er war sich nicht sicher, wie er sich verhalten hätte, wenn Jase die Tat gestanden hätte. Für einen Mann mit Coles Beruf war eine solche Unsicherheit nicht gut.
»Cole, hat er deine Mutter umgebracht?« Zum ersten Mal klang Jase wie ein Kind und nicht wie ein Vierzehnjähriger, der versuchte, ein Mann zu sein. Er sank aufs Bett, und seine mageren Schultern begannen zu beben. »Ich glaube, er hat meine Mutter getötet. Es hieß, sie hätte getrunken und sei deshalb ausgerechnet auf der Brücke von der Straße abgekommen. Aber sie hat niemals auch nur einen Tropfen Alkohol angerührt. Niemals. Sie hatte Angst davor. Sie wollte immer ganz genau wissen, was los ist. Du weißt ja, wie er war - in einem Moment war er ganz nett, im nächsten hat er sich auf dich gestürzt.«
Brett Steele war ein Sadist gewesen. Cole war davon überzeugt, dass er aus reiner Lust an der Macht über Leben und Tod eines anderen Lebewesens, ob Mensch oder Tier, getötet hatte. Er hatte es genossen, anderen Schmerzen zuzufügen. Er hatte seine Ehefrauen und Kinder und alle seine Angestellten gequält. Die Ranch war riesig, mit Hilfe von außen konnte hier keiner rechnen. Sobald der Alte die Kontrolle über die Menschen, die auf seinem Land lebten, an sich gerissen hatte, gab er sie nie mehr aus den Händen. Cole wusste, wie viel Glück er gehabt hatte, dass ihm die Flucht gelungen war.
»Möglicherweise. Ich glaube, der Alte hat jeden geschmiert, vom Leichenbeschauer bis hin zum Polizisten. Er hatte zu viel Geld und zu viel Macht. Niemand wagte es, ihm in die Quere zu kommen. Es ist nicht schwer, einen medizinischen Gutachter dazu zu bringen, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen, solange das Schmiergeld nur hoch genug ist. Und wenn das nicht funktionierte, hatte er andere Möglichkeiten, den Menschen zu drohen. Wir wissen beide, dass er keine leeren Drohungen ausstieß. Er setzte sie immer in die Tat um.«
Jase sah seinem Bruder in die Augen. »Er hat deine Mutter umgebracht, oder?«
»Vielleicht. Ziemlich wahrscheinlich sogar.« Cole brauchte einen Drink. »Fahren wir in die Stadt und besorgen uns ein Frühstück.«
»Okay.« Jase zog eine Jeans aus dem Schrank. Sie war dort ordentlich aufgehängt und makellos sauber, wie alles in diesem Zimmer. »Wer, glaubst du, hat ihn getötet? Wenn es keiner von uns war, muss es ein anderer getan haben.«
»Er hat sich viele Feinde gemacht. Er hat Unternehmen zerstört und die Ehefrauen seiner sämtlichen Bekannten verführt. Wenn er tatsächlich jemanden getötet hat, was ich stark vermute, hat das vielleicht einer mitbekommen und sich nun gerächt. Es hat ihm Spaß gemacht, Menschen wehzutun, Jase. Es konnte kaum ausbleiben, dass er eines gewaltsamen Todes starb.«
»Warst du überrascht, dass er dir das Geld und die Vormundschaft über mich überlassen hat?«
»Ja, anfangs schon. Aber später habe ich es mir so erklärt: Er wollte, dass wir so werden wie er. Er hat nach mir geforscht und herausgefunden, dass ich im Gefängnis gelandet war. Ich denke, er glaubte, dass ich genauso war wie er. Außerdem hätte er die Vormundschaft nur noch einem einzigen anderen übertragen können - deinem Onkel. Du weißt, wie sehr sie einander verachtet haben.«
Jase seufzte. »Onkel Mike ist genauso verrückt, wie Dad es war. Er redet ständig nur von Schuld und Sühne. Er glaubt, mir müsse man den Teufel austreiben.«
Cole fluchte ausgiebig. Er kannte ziemlich viele Flüche. »Das ist gequirlte Kacke, Jase. Mach dir keine Sorgen, mit dir ist alles in Ordnung.« Er brauchte Bewegung. Er wollte etwas hart hernehmen, egal, was - ein Pferd, ein Motorrad, eine Frau, irgendetwas, das die Knoten in seinem Bauch auflöste. »Machen wir uns auf den Weg.«
Er wandte sich von dem Jungen ab. Eine kalte Wut loderte in ihm. Er verabscheute Weihnachten, er verabscheute alles daran. Doch egal, wie sehr er sich dagegen sträubte, die Weihnachtstage rückten unerbittlich näher. Fast jede Nacht wachte er schweißgebadet auf. Boshaftes Lachen schrillte in seinen Ohren. Einen Großteil des Jahres schaffte er es, gegen die Dämonen anzukämpfen, aber nicht, wenn im Radio und in jedem Laden, den er betrat, Weihnachtslieder dudelten. Nicht, wenn alle Straßen und Häuser geschmückt waren und die Leute sich ständig »Frohe Weihnachten« wünschten. Das wollte er nicht für Jase. Er musste einen Weg finden, dem Jungen ein anderes Leben zu ermöglichen.
Eine Therapie hatte ihm nicht geholfen, und sie würde auch dem Jungen nicht helfen. Wenn einem niemand auch nur ein Wort glaubte, was man sagte, oder - schlimmer noch - dafür bezahlt worden war, es nicht zu glauben, dann lernte man, den Menschen nicht mehr zu vertrauen. Selbst wenn es das Einzige war, was Cole in seinem Leben richtig machte - er wollte der Mensch sein, dem Jase immer vertrauen konnte. Und er wollte alles in seiner Macht Stehende tun, dass der Junge nicht so wurde wie er. Oder so wie ihr Vater.
Die Brüder liefen durch das weiträumige Haupthaus der Ranch. Die funkelnden Holzböden waren frisch gebohnert, die Decken waren hoch, die Dachbalken lagen frei. Brett Steele hatte nur das Beste haben wollen, und er hatte es bekommen. Sein Geschmack war das Einzige, was Cole ihm nicht zum Vorwurf machen konnte.
»Cole«, fragte Jase, »warum warst du im Gefängnis?«
Cole geriet auf seinem eiligen Weg durch das geräumige Haus nicht aus dem Tritt. Manchmal hätte er die Bude am liebsten in Brand gesteckt. Es war keine Wärme in diesem Haus, und so sehr er sich bemühte, dieses Museum in ein Heim für Jase zu verwandeln, es blieb kalt und leer.
Draußen war es beißend kalt. Der Frost verzauberte Hügel und Wiesen in eine funkelnde Kristallwelt, die die Augen blendete. Cole war immun gegen den Zauber. Unwirsch setzte er seine Sonnenbrille auf. Er ignorierte die riesige Garage, in der Dutzende Autos herumstanden - Brett Steeles Spielsachen, die er kaum benutzt hatte - und steuerte seinen Pick-up an.
»Ich hätte dich nicht fragen sollen«, murrte Jase und schlug die Tür unnötig laut zu. »Ich hasse Fragen.«
Cole hielt inne. Der Zündschlüssel steckte schon im Schloss. Er warf einen Blick auf das gerötete Gesicht des Jungen. »Das ist es nicht, Jase. Du kannst mich alles fragen. Aber ich habe beschlossen, dich nie zu belügen, und ich bin mir noch nicht sicher, wie ich dir meine Zeit im Knast erklären soll. Lass mich noch ein Weilchen darüber nachdenken.«
Jase nickte. »Es ist mir egal, dass du im Gefängnis warst. Es macht mir nur Sorgen, weil Onkel Mike angekündigt hat, dass er gegen dich prozessieren und die Vormundschaft für mich gerichtlich einklagen will. Wenn ich bei ihm wohnen würde, müsste ich mein Leben lang auf Knien um meine Seele beten. Lieber würde ich abhauen.«
»Er wird es nicht schaffen, dich mir wegzunehmen«, versprach Cole grimmig. Seine Kiefer waren verspannt. Er richtete seinen durchdringenden blauen Blick direkt auf seinen jungen Halbbruder. »Das eine verspreche ich dir: Ich werde um dich kämpfen, Jase. Nur über meine Leiche kommen sie an dich ran.« In seiner Miene stand tödliche, gnadenlose Entschlossenheit. »Keiner wird dich mir wegnehmen. Hast du das verstanden?«
Jase entspannte sich sichtlich. Er nickte kurz, während er sich bemühte, seine Gefühle in Schach zu halten. Cole wusste nicht, ob das gut oder schlecht war. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn der Junge sich die Augen aus dem Kopf geweint hätte, auch wenn Cole das nie getan hatte. Diese Befriedigung hatte er seinem Vater nicht gegönnt, nicht einmal damals, als der Mistkerl ihn beinahe getötet hatte.
Es war ein langer Weg bis zur nächsten Stadt. Zu Lebzeiten seines Vaters hatte es auf der Ranch zahlreiche Wächter gegeben, angeblich der Sicherheit wegen. Aber Cole kannte den wahren Grund. Brett Steele hatte sein privates Königreich haben wollen, eine Welt, über die er mit eiserner Faust herrschen konnte. Als Erstes hatte Cole all die Hilfskräfte auf der Ranch gefeuert, die Sicherheitsleute, die Haushälterin. Wenn er eine Handhabe gehabt hätte, sie für ihre Mitwirkung an Bretts sadistischem Treiben vor Gericht zu stellen, hätte er es getan. Jase brauchte ein Gefühl der Sicherheit, und das wollte Cole ihm um jeden Preis verschaffen. Sie hatten die neuen Mitarbeiter gemeinsam ausgewählt. Eine Haushälterin fehlte noch.
»Weißt du, was mir aufgefallen ist, Jase? Du hast dir nie ein besonderes Pferd ausgesucht, mit dem du gern reitest«, meinte Cole.
Jase beugte sich vor und spielte am Radio herum. Die Fahrerkabine wurde mit Weihnachtsliedern überschwemmt. Hastig durchsuchte Jase alle Sender. Überall kamen Weihnachtslieder. Schließlich gab er verbittert auf. »Es ist mir egal, auf welchem ich reite«, erwiderte er und drehte den Kopf zum Fenster, um die Landschaft zu mustern. Seine Stimme klang gewollt gleichgültig.
»Du hast bestimmt eines, das du lieber magst als die anderen «, beharrte Cole. »Ich habe mitbekommen, dass du dem großen Braunen, Celtic High, ab und zu eine Karotte zugesteckt hast.« Der Junge hatte das Pferd jeden Tag ein wenig gestriegelt und ihm etwas zugeflüstert, aber er ritt nie auf ihm.
Jase' Miene verschloss sich, sein Blick wurde wachsam. »Die Pferde sind mir alle gleich lieb«, wiederholte er stur.
Stirnrunzelnd steckte Cole eine CD in den Player. »Du weißt doch, worum es dem Alten hauptsächlich ging, Jase, oder? Er wollte nicht, dass wir Zuneigung zu etwas oder jemandem fassten. Weder zu unseren Müttern, noch zu unseren Freunden oder Tieren. Die Tiere hat er vor unseren Augen getötet, um uns eine Lehre zu erteilen. Aus demselben Grund hat er unsere Freundschaften zerstört. Unsere Mütter hat er beseitigt, um uns zu isolieren und völlig von ihm abhängig zu machen. Er wollte nicht, dass wir etwas empfinden, vor allem keine Zuneigung und keine Liebe, weder zu Menschen noch zu Tieren. Wenn er das bei dir geschafft hat, hat er gewonnen. Du darfst ihn nicht gewinnen lassen! Such dir ein Pferd aus und kümmere dich um das Tier. Wenn du einen Hund willst, besorgen wir dir einen Hund oder meinetwegen auch eine Katze. Jedes Tier, das du gern haben möchtest. Aber lass deine Gefühle zu, und wenn unser Vater dich in deinen Albträumen heimsucht, sagst du ihm, er soll zur Hölle fahren.«
»Du hast das nicht getan«, stellte Jase fest. »Du hast dir keinen Hund besorgt. Du hast nie einen gehabt in all der Zeit, in der du weg warst. Und du hast auch nicht geheiratet. Ich wette, du hast nicht einmal mit einer Frau zusammengelebt. Bestimmt vergnügst du dich immer nur eine Nacht mit einer, mehr nicht. Und das nur, weil du die Leute aus deinem Leben aussperren willst.«
Mit dieser Vermutung lag er ziemlich richtig. Cole zählte stumm bis zehn. Er versuchte, den Jungen zu erforschen, aber es war ihm gar nicht recht, dass der Junge das nun auch bei ihm tat. »Das ist ein schreckliches Leben, Jase. Glaub mir, ich tauge nicht als Vorbild. Ich kann dir vieles nahelegen, was du nicht tun solltest, aber leider nicht sehr vieles, was du tun solltest. Es wird dich teuer zu stehen kommen, wenn du dich von allem Lebendigen fernhältst. Lass es nicht zu, dass er dir das antut. Fang klein an, wenn du willst. Such dir einfach ein Pferd aus, und dann reiten wir morgens gemeinsam aus.«
Jase sah weiterhin stumm aus dem Fenster. Aber Cole wusste, dass er über seinen Vorschlag nachdachte. Ihn anzunehmen erforderte natürlich eine Menge Vertrauen; Vertrauen, das Jase vielleicht nicht bereit war, ihm zu schenken. Cole war ein einziges Fragezeichen für alle, vor allem für Jase. Er konnte es dem Jungen nicht verübeln. Er wusste, wie er auf andere wirkte. Knallhart und skrupellos, einer, der anderen nicht viel Sicherheit zu bieten schien. Er stand im Ruf eines gnadenlosen Kämpfers, eines Mannes, der in einer gewalttätigen Umgebung geboren und aufgewachsen war. Die sanfte, freundliche Art, die der Junge gebraucht hätte, lag ihm wahrhaftig fern. Aber er konnte Jase beschützen.
»Denk einfach noch ein bisschen darüber nach«, meinte er, das Thema beendend. Die Zeit arbeitete für ihn. Er wollte Jase sein Leben zurückgeben. Wenn er das schaffte, konnte er es sich vielleicht verzeihen, dass er den Alten nicht eigenhändig umgebracht hatte, wie er es schon vor Jahren hätte tun sollen. Jase hatte eine Mutter gehabt, eine liebevolle, fröhliche Frau. Sehr wahrscheinlich hatte Brett Steele sie umgebracht, weil er Jase nicht dazu bringen konnte, sich von ihr abzuwenden. Jase' Mutter hatte ihrem Sohn bestimmt ein Vermächtnis der Liebe hinterlassen.
Cole hatte niemanden. Seine Mutter war das genaue Gegenteil von Jase' Mutter gewesen. Sie hatte nur ein Kind bekommen, weil Brett es von ihr verlangt hatte. Aber danach hatte sie sofort alles getan, um wieder so schlank zu werden wie ein Mannequin, und sich hemmungslos ihrer Kokainsucht hingegeben.
Ihren Sohn hatte sie ihrem brutalen Ehemann überlassen. Schließlich war sie an einer Überdosis gestorben. Cole hatte immer vermutet, dass sein Vater etwas mit ihrem Tod zu tun gehabt hatte. Es war interessant, dass Jase das auch bei dem Tod seiner Mutter vermutete.
Ein paar Schneeflocken rieselten herab und verstärkten die Stimmung der Jahreszeit, gegen die sie beide sich nach Kräften wehrten. Jase trat heftig auf den Boden des Trucks - ein kleines Zeichen von Wut -, blickte jedoch sofort entschuldigend auf Cole.
»Vielleicht hätten wir doch lieber in den Fitnessraum gehen sollen«, meinte Cole.
»Ich habe ständig Kohldampf«, gab Jase zu. »Wir können später in den Fitnessraum, nachdem wir gegessen haben. Wer hat Weihnachten überhaupt erfunden? Was für eine blöde Idee - allen Leuten Geschenke zu machen, ohne dass sie Geburtstag haben. Und für die Umwelt ist es bestimmt auch nicht gut, wenn all die Bäume gefällt werden.«
Cole ließ den Jungen reden. Offenbar schien sich Jase endlich so wohlzufühlen, dass er mit ihm redete. Darüber war Cole überaus froh.
»Mom hat Weihnachten geliebt. Sie hat mir immer heimlich kleine Geschenke zugesteckt. Sie hat sie in meinem Zimmer versteckt. Aber er hatte überall seine Spione, und die haben es ihm gesagt. Dann hat er Mom bestraft. Aber sie hat trotzdem weitergemacht. Ich wusste, dass sie bestraft worden war, und sie wusste, dass ich es wusste. Aber sie hat mir trotzdem weiter heimlich etwas geschenkt.« Jase kurbelte das Fenster herunter. Frische, kühle Luft wehte herein. »Sie hat mir Weihnachtslieder vorgesungen. Als er einmal um Weihnachten herum auf einer Geschäftsreise war, haben wir gemeinsam Plätzchen gebacken. Sie fand es toll. Wir wussten beide, dass die Haushälterin uns verpetzen würde, aber wir hatten so viel Spaß, dass es uns egal war.«
Cole räusperte sich. Schon allein bei dem Gedanken, zu versuchen, Weihnachten zu feiern, wurde ihm speiübel. Aber der Junge schien sich danach zu sehnen. Vielleicht brauchte er es sogar, ohne zu wissen, dass er deshalb so nervös darüber plauderte. Cole nahm sich vor, eine Weihnachtsfeier zu veranstalten, auch wenn er noch nicht wusste, wie er das schaffen sollte. Er hatte keinerlei glückliche Kindheitserinnerungen, die das Unheil aufgewogen hätten, das sein Vater angerichtet hatte.
»Wir haben versucht, ihm zu entkommen, aber er hat uns immer gefunden«, fuhr Jase fort.
»Er ist tot, Jase«, wiederholte Cole. Er atmete tief durch und wagte den Sprung. Es kam ihm vor, als stürze er sich von einer hohen Klippe in die Tiefe. »Wenn wir einen riesigen Baum in sein Haus schaffen und ihn schmücken wollen, dann können wir das tun. Er kann uns nicht mehr daran hindern.«
»Vielleicht hätte er sie gehen lassen, wenn sie bereit gewesen wäre, mich bei ihm zu lassen.«
Jase' Stimme klang tränenerstickt, aber er vergoss keine Träne. Cole fl uchte stumm und rang um eine passende Erwiderung. »Deine Mutter war bestimmt eine ganz außergewöhnliche Frau, Jase. Menschen wie sie gibt es nicht viele auf dieser Welt. Du warst ihr wichtig, nicht das Geld oder das Prestige, Mrs Brett Steele zu sein. Sie hat um dich gekämpft, und sie hat versucht, dir trotz des Alten ein gutes Leben zu ermöglichen. Ich wünschte, ich hätte die Chance gehabt, sie kennenzulernen. «
Jase schloss stumm die Augen und lehnte den Kopf an den Sitz. Er konnte sich noch gut an die Stimme seiner Mutter erinnern. An ihren Geruch, an ihr Lächeln. Er rieb sich die Stirn. Am deutlichsten erinnerte er sich an ihre Schreie, wenn sein Vater sie schlug.
»Ich denke mal über deinen Weihnachtsvorschlag nach, Cole«, meinte er schließlich. Irgendwie gefällt mir die Vorstellung, das Haus zu schmücken. Das hat er nämlich immer strikt verboten.«
Cole beließ es dabei. Die vergangenen Wochen waren sehr lang gewesen. Aber jetzt stand Weihnachten vor der Tür, und bald würde es vorüber sein. Bald hatte er einen weiteren Dezember hinter sich gebracht. Wenn das Weihnachtsgetue dem Jungen das Leben lebenswerter machte, dann würde er schon einen Weg finden, es zu überstehen.
Der Ort war ziemlich groß. Mehrere Restaurants waren von früh bis spät geöffnet. Cole entschied sich für einen Diner, den er kannte, und stellte den Truck auf dem Parkplatz ab. Verärgert stellte er fest, dass der Parkplatz schon ziemlich voll war. Er schälte sich aus dem Wagen, richtete sich zu voller Größe auf und wartete auf Jase.
»Du hast deine Jacke vergessen«, meinte er.
»Nein. Ich hasse das Ding«, sagte Jase.
Cole machte sich nicht die Mühe, ihn nach dem Grund zu fragen. Er kannte die Antwort bereits und nahm sich vor, den Jungen demnächst neu einzukleiden. Er stieß die Eingangstür auf und ließ Jase den Vortritt. Doch schon nach zwei Schritten blieb der Junge abrupt stehen und verkroch sich hinter der hohen Wand aus künstlichem Efeu. »Sie reden über dich, Cole«, wisperte er. »Gehen wir wieder.«
Die lauten Stimmen waren überall in dem kleinen Raum zu hören. Cole legte die Hand auf die Schulter des Jungen, um ihm Halt zu geben. Jase würde lernen müssen, mit Klatsch zu leben, so wie er gelernt hatte, den Albtraum zu überleben, in den er hineingeboren worden war.
»Du irrst dich, Randy. Cole Steele hat seinen Vater ermordet, und nun wird er den Jungen ermorden. Er ist hinter dem Geld her. Er ist hier erst aufgetaucht, um den Jungen zu sehen, als sein Vater tot war.«
»Er war im Knast, Jim. Er konnte seine Verwandten gar nicht besuchen«, stellte eine zweite männliche Stimme fest. Gelächter erhob sich.
Cole kannte Randy Smythe. Er führte einen Laden für Landwirtschaftsbedarf. Doch bevor Cole entscheiden konnte, ob er Jase die Peinlichkeiten ersparen und gehen sollte oder aber dem Jungen zeigte, welche Heuchler die lokalen Ladenbesitzer waren, wurde eine dritte Stimme laut.
»Spiel dich doch nicht so auf, Jim Begley«, unterbrach eine weibliche Stimme den Streit der beiden Männer. »Jeden Morgen kommst du hier rein und lästerst über Cole Steele. Der Verdacht gegen ihn wurde schon vor einiger Zeit fallen gelassen, und er hat die Vormundschaft über seinen Halbbruder übertragen bekommen, was ich völlig richtig finde. Du ärgerst dich doch nur, weil deine Saufkumpane ihre bequemen Jobs verloren haben. Nur deshalb trägst du dazu bei, die hässlichen Gerüchte zu verbreiten, die sie in die Welt gesetzt haben. Ihr klingt wie ein Haufen missgünstiger alter Weiber.«
Die Frau erhob an keiner Stelle die Stimme, im Gegenteil, ihre Stimme klang sanft, leise und sehr angenehm. Cole spürte, wie sie in ihm vibrierte. Ihm wurde warm. Der Zauber dieser Stimme war stärker als die Tatsache, dass die Frau für ihn eintrat. Unwillkürlich verspannte sich seine Hand auf Jase' Schulter. So weit er sich erinnern konnte, war dies das erste Mal, dass jemand für ihn eintrat.
»Er hat im Knast gesessen, Maia«, wiederholte Jim Begley, doch nun klang er fast beschwichtigend.
»So geht es vielen Leuten, selbst wenn sie gar nicht dorthin gehören, Jim. Und viele Leute hätten ins Gefängnis gehört, sind jedoch nie dort gelandet. Das heißt gar nichts. Du beneidest den Mann um sein Geld und um seinen Ruf, dass er jede Frau bekommen kann, die er haben will. Was du von dir kaum behaupten kannst.«
Gelächter ertönte. Cole rechnete damit, dass Begley die Frau anfahren würde, doch überraschenderweise tat er das nicht. »Ach, Maia, reg dich bitte wieder ab«, erwiderte Begley beschwichtigend. »Hast du etwa vor, etwas gegen mich zu unternehmen? Zum Beispiel meinen ... mich verhexen?«
Das Lachen wurde lauter, und diesmal stimmte die Frau darin ein. Auch ihr Lachen klang wie Musik in Coles Ohren. Noch nie hatte er so auf eine Frau reagiert. Und dabei hatte er sie noch nicht einmal zu Gesicht bekommen.
»Man kann sich bei mir nie sicher sein, stimmt's, Jim?«, neckte sie ihn. Offenbar war sie ihm nicht böse. »Bald ist Weihnachten. Das ist die schönste Zeit im Jahr. Glaubst du, du könntest aufhören, Gerüchte zu verbreiten? Könntest du nicht einfach warten, bis sich ein paar Tatsachen zeigen? Gib dem Mann eine Chance. Ihr seid alle scharf auf sein Geld. Ihr seid euch alle einig, dass die Stadt ihn braucht. Und trotzdem verurteilt ihr ihn von vornherein. Ist das nicht ein bisschen heuchlerisch?«
Cole war verblüfft über die Macht, die diese Frau zu haben schien. Sie konnte ihren Standpunkt klarmachen, ohne auch nur ein einziges Mal die Stimme zu erheben. Und seltsamerweise hörten ihr alle zu. Wer war sie? Warum hingen diese normalerweise groben Kerle an ihren Lippen und versuchten, es ihr recht zu machen? Cole stellte fest, dass er auf diese wildfremde Frau sehr neugierig war.
»Okay, okay«, lenkte Jim ein. »Ich gebe auf, Maia. Wenn es dich glücklich macht, werde ich Cole Steele nie mehr erwähnen. Also sei mir bitte nicht mehr böse.«
Maia lachte wieder. Das unbekümmerte Geräusch neckte Coles Sinne. Er spürte seinen Körper und dessen Bedürfnisse. »Also dann, bis später. Auf mich wartet Arbeit.«
Cole verspannte sich. Als die Frau um den künstlichen Efeu trat, stockte ihm der Atem. Sie war eher klein, hatte aber eine wunderbare Figur. Ihre Jeans schmiegte sich an ein wohlgeformtes Hinterteil, der Pullover an einladende Brüste. Die dichten, dunklen, sehr glatten Haare, die sorglos zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden waren, glänzten wie das Gefieder eines Raben. Ihr Gesicht sah exotisch aus. Die zart gemeißelten Züge erinnerten Cole an eine Fee.
Die Frau warf den Kopf zurück, und ihr breites Lächeln verschwand, als sie Cole und Jase erblickte. Sie blieb stehen und musterte Cole. Er machte sich tatsächlich ein bisschen kleiner. In seinem Kopf begannen Hämmerchen zu schlagen, und sein Körper reagierte mit einem drängenden, elementaren Bedürfnis. Ein Mann konnte in diesen Augen ertrinken, sich verlieren oder auch nur jeden Dämon verlieren, der ihn quälte. Ihre großen, von dichten Wimpern gerahmten Augen hatten eine ganz besondere Farbe. Sie waren nicht blau, vielleicht eher türkis - eine Mischung aus Blau und Grün, so lebendig und schön, dass es Cole wehtat, in sie zu blicken.
Jase versetzte ihm einen kleinen Stoß in die Rippen.
Cole reagierte sofort. »Entschuldigung, Ma'am.« Aber er rührte sich nicht vom Fleck. »Ich bin Cole Steele, und das hier ist mein Bruder Jase.«
Jase zuckte unter seiner Hand zusammen, offenbar deshalb, weil Cole ihn in aller Öffentlichkeit als seinen Bruder anerkannt hatte.
Die Frau nickte Cole zu und schenkte Jase ein Lächeln. Dann trat sie an den beiden vorbei, stieß die Tür auf und verschwand.
»Heiliger Bimbam!«, murmelte Jase. »Hast du gesehen, wie sie gelächelt hat?« Er warf einen Blick auf Cole. »Ja, du hast es gesehen.«
»Habe ich sie angestarrt?«, fragte Cole.
»Du hast ausgesehen, als ob du sie gern zum Frühstück verspeisen würdest«, erwiderte Jase. »Du kannst ganz schön furchterregend ausschauen, Cole. Manchmal bekommt man es bei dir wirklich mit der Angst zu tun.«
Cole wäre der Frau beinahe gefolgt, aber bei dem letzten Satz des Jungen drehte er sich zu ihm um. »Hast du Angst vor mir, Jase?«
Der Junge zuckte mit den Schultern. »Gelegentlich. Aber ich gewöhne mich an dich. Trotzdem habe ich dich noch nie lächeln sehen. Niemals.«
Cole hob die Brauen. »Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich je gelächelt hätte. Vielleicht muss ich das üben. Du kannst es mit mir üben.«
»Lächelst du Frauen nicht an?«
»Das habe ich nicht nötig.«
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg.
»Ich hasse Weihnachten. Können wir nicht einfach so tun, als gäbe es Weihnachten nicht?«, fragte Jase. Unwirsch schob er die Decke zur Seite und begann, im Zimmer auf und ab zu laufen. In seinem jugendlichen Körper steckte die gleiche nervöse Spannung, die Cole auch als Erwachsener immer noch plagte. Jase war groß und schlaksig wie ein Hengstfohlen. Sein Körper schien überwiegend aus Armen und Beinen zu bestehen. Er sah aus wie eine Vogelscheuche in einem Flanellschlafanzug. Der Junge hatte die gleichen dunklen Haare wie Cole, aber die Augen hatte er bestimmt von seiner Mutter. Sie waren tiefdunkelbraun. Im Moment waren sie vor Entsetzen weit aufgerissen. Jase wandte sich ab, um nicht zu zeigen, dass er zitterte.
Cole hatte das Gefühl, sich selbst in jungen Jahren gegenüberzustehen. Allerdings gab es einen großen Unterschied: Jase vergrub sich in Bücher, er selbst war zu einem Mann der Tat herangewachsen. Doch er wusste nur zu gut, wie es war, die Blutergüsse und das Grauen vor dem Rest der Welt zu verbergen. Er hatte sich in seiner Jugend stets vor den anderen versteckt, und im Grunde führte er noch immer ein sehr abgeschiedenes, zurückgezogenes Leben. Aber er wollte alles tun, um dem Jungen dieses Schicksal zu ersparen.
»Hat er an Weihnachten deinen Hund erschossen?«, fragte er ohne Umschweife. »Das hat er nämlich bei mir getan, als ich zum letzten Mal den Feiertag so verbringen wollte wie meine Bekannten. Seitdem habe ich nie mehr Weihnachten gefeiert. Er hat mich damals auch nach Strich und Faden verprügelt. Aber das war mir egal in Anbetracht dessen, was er meinem Hund angetan hatte.«
Jase drehte sich langsam zu ihm um. Das Grauen stand noch immer deutlich in seinen Augen. »Ich hatte eine Katze.«
»Ich wette, er hat gemeint, du wärst nicht hart genug, und nur Weicheier bräuchten ein Haustier und Weihnachten. Er wollte, dass du dich verhärtest und ein Mann wirst. Einer, der sein Herz an nichts hängt.«
Jase nickte und schluckte schwer gegen den Kloß in seiner Kehle an. »Er hat viel dafür getan.«
»Hast du Brandnarben? Narben von Messerschnitten? Mich hat er immer gern mit einem Kleiderbügel vermöbelt. Und wenn ich nicht weinte, hat er zu anderen Dingen gegriffen.«
»Ich habe geweint«, gab Jase zu.
»Anfangs habe ich das auch. Er war ein widerlicher Schuft, Jase. Ich bin froh, dass er tot ist. Jetzt bist du vor ihm sicher. Ich werde dich nicht anlügen und behaupten, dass die Albträume verschwinden. Das tun sie nämlich nicht. Sie plagen mich noch heute. Wir haben beide die Hölle durchlebt, und er hatte zu viel Geld. Keiner wollte uns unsere Geschichten abnehmen. « Cole fuhr sich mit den Händen durch das dichte schwarze Haar. »Er war krank, Jase. Ich bin abgehauen und habe meinen Namen geändert in der Hoffnung, dass er mich nicht aufstöbert. Und dann habe ich mich von ihm ferngehalten, so fern wie nur irgend möglich. Das ist allerdings keine Entschuldigung. Ich hätte mich erkundigen sollen, was er so treibt. Vielleicht hätte ich es dann geschafft, dich von ihm wegzuholen.«
Jase schüttelte den Kopf. »Er hätte mich nie gehen lassen.«
»Du weißt, was hier alle sagen, oder? Sie glauben, ich hätte etwas mit seinem Tod zu tun.«
Jase nickte. Plötzlich wurde sein Blick wachsam. »Das ist mir zu Ohren gekommen. Warum bist du zurückgekehrt?«
»Er hat mich zu deinem Vormund bestimmt. Es war das erste Mal, dass ich etwas von dir erfuhr. Bis vor fünf Monaten wusste ich nicht einmal, dass es dich gibt. Dann allerdings war ich sicher, dass er dir und deiner Mutter dasselbe antat wie mir und meiner Mutter. Ich dachte, ich könnte dich beschützen, zumindest so lange, bis du alt genug bist, um auf eigenen Füßen zu stehen. Ich dachte, ich wäre ein besserer Vormund als jeder, den ein Gericht bestellen würde oder den unser Vater noch vorgeschlagen hatte, falls ich die Vormundschaft abgelehnt hätte.«
Das trübe Licht der Morgendämmerung drang durch das große Fenster. Cole starrte hinaus und beobachtete den Sonnenaufgang. Es war eisig kalt, und der Schnee lag mehrere Fuß hoch. Er funkelte auf den Hügeln und Bergen wie ein Teppich aus Kristallen. »Hast du Hunger?«
»Kannst du kochen?«
Cole brachte ein träges Schulterzucken zustande, obwohl er am liebsten etwas zertrümmert hätte. Der Vulkan, der in ihm brodelte, stand ständig kurz vor dem Ausbruch. Die Gedanken an seinen Vater und dann noch diese Jahreszeit - da trat die Wut nur allzu leicht an die Oberfläche. »Ich dachte, wir fahren in die Stadt. Dann können sie sich dort wieder die Mäuler zerreißen.«
Jase sah Cole in die Augen. »Sie sagen, dass du den Alten umgebracht hast, und dass du vorhast, mich als Nächsten umzubringen. Vierundsechzig Millionen Dollar sind ein Haufen Geld, doppelt so viel wie zweiunddreißig.«
»Sagen sie das?«, fragte Cole. »Vergiss nicht die Ranch. Sie ist bestimmt noch mal gut das Doppelte wert, vielleicht sogar mehr, mit all den Öl- und Gasfeldern. Ich habe mich noch nicht nach ihrem derzeitigen Wert erkundigt.« Sein Blick war kalt, die blauen Augen starrten den Jungen an, als wollten sie ihn durchbohren. »Was meinst du, Jase? Letztlich bist du der Einzige, dessen Meinung mir wichtig ist.«
Es dauerte eine Weile, bis Jase erwiderte: »Ich bin froh, dass du zurückgekommen bist. Aber ich verstehe nicht, warum er uns das Geld und die Ranch hinterlassen hat, obwohl er uns so gehasst hat. Das leuchtet mir nicht ein.« Er verzog das Gesicht und sah sich in dem riesigen Zimmer um. »Ich erwarte immer noch, dass er mitten in der Nacht auftaucht. Ich habe Angst, die Augen aufzuschlagen, weil ich denke, dass er an meinem Bett steht und wartet.«
»Mit diesem grauenhaften Lächeln«, fügte Cole grimmig hinzu.
Jase nickte. Ein kleines Zittern verriet, dass er nicht so ruhig war, wie er zu sein vorgab. »Mit diesem grauenhaften Lächeln.« Er sah Cole wieder direkt in die Augen. »Was machst du, wenn du einen Albtraum hast?« Er drosch mit der Faust auf sein Kopfkissen ein. Ein Mal, zwei Mal. »Ich hasse diese Zeit im Jahr.«
Cole verspürte einen scharfen Stich im Brustkorb und ein vertrautes Rumoren im Bauch. Auch er ballte die Faust, aber dem Jungen zuliebe bezwang er die schwelende Wut ein weiteres Mal und beherrschte sich. »Ich trinke. Als dein Vormund muss ich dir sagen, dass du das nicht darfst. Zumindest nicht, solange du nicht ein bisschen älter bist.«
»Hilft das denn?«
»Nein«, erwiderte Cole schroff. »Doch wenigstens überstehe ich damit die Nacht. Manchmal gehe ich in den Fitnessraum, manchmal in die Scheune. Ich habe an beiden Orten Sandsäcke aufgehängt, und auf die schlage ich ein, bis mir die Hände wehtun. Oder ich nehme das wildeste Pferd, das wir haben, und reite in die Berge. Ich renne auf Wildpfaden über die Hügel. Ich tue irgendetwas, was mich so müde macht, dass ich nicht mehr denken kann.«
»Aber all das hilft nicht auf Dauer, oder?« Auch Jase hatte es mit körperlichen Strapazen versucht. Doch jetzt stellte er fest, dass das Reden mit seinem Halbbruder ihm besser half, ja, so gut wie sonst nichts, was er ausprobiert hatte. Wenigstens ein Mensch glaubte ihm. Ein Mensch hatte die gleiche Folter erlebt. Irgendwie fühlte er sich ihm dadurch verbunden, trotz der hässlichen Gerüchte, die sich um seinen knallharten Halbbruder rankten.
Cole schüttelte den Kopf. »Nein, nichts davon hilft wirklich. Aber man übersteht die Nacht damit. Eine Nacht nach der anderen. Er ist tot, Jase. Das ist das Einzige, was zählt.«
Jase holte tief Luft. »Hast du ihn getötet?«
»Nein, habe ich nicht. Aber ich wünschte, ich hätte es getan. Nachts bin ich oft wach im Bett gelegen und habe mir ausgemalt, wie ich es tun würde. Das war, bevor Mom starb. Danach wollte ich nur noch weg.« Cole sah dem Jungen eindringlich ins Gesicht. »Hast du ihn getötet?« Er beobachtete ihn ganz genau, nahm jede Nuance, jeden Ausdruck, seinen Atem wahr. Den unsteten Blick, die zitternden Hände.
Jase schüttelte den Kopf. »Ich hatte zu viel Angst vor ihm.«
Cole atmete langsam aus. Die Fähigkeit, zu erkennen, was in anderen vorging, hatte ihm schon mehrmals das Leben gerettet. Er war sich ziemlich sicher, dass Jase die Wahrheit sagte. Jase war im Haus gewesen, als Brett Steele in seinem Büro erschossen wurde. Cole wollte zu gern glauben, dass der Junge mit dem Tod des Alten nichts zu tun hatte. Er war sich nicht sicher, wie er sich verhalten hätte, wenn Jase die Tat gestanden hätte. Für einen Mann mit Coles Beruf war eine solche Unsicherheit nicht gut.
»Cole, hat er deine Mutter umgebracht?« Zum ersten Mal klang Jase wie ein Kind und nicht wie ein Vierzehnjähriger, der versuchte, ein Mann zu sein. Er sank aufs Bett, und seine mageren Schultern begannen zu beben. »Ich glaube, er hat meine Mutter getötet. Es hieß, sie hätte getrunken und sei deshalb ausgerechnet auf der Brücke von der Straße abgekommen. Aber sie hat niemals auch nur einen Tropfen Alkohol angerührt. Niemals. Sie hatte Angst davor. Sie wollte immer ganz genau wissen, was los ist. Du weißt ja, wie er war - in einem Moment war er ganz nett, im nächsten hat er sich auf dich gestürzt.«
Brett Steele war ein Sadist gewesen. Cole war davon überzeugt, dass er aus reiner Lust an der Macht über Leben und Tod eines anderen Lebewesens, ob Mensch oder Tier, getötet hatte. Er hatte es genossen, anderen Schmerzen zuzufügen. Er hatte seine Ehefrauen und Kinder und alle seine Angestellten gequält. Die Ranch war riesig, mit Hilfe von außen konnte hier keiner rechnen. Sobald der Alte die Kontrolle über die Menschen, die auf seinem Land lebten, an sich gerissen hatte, gab er sie nie mehr aus den Händen. Cole wusste, wie viel Glück er gehabt hatte, dass ihm die Flucht gelungen war.
»Möglicherweise. Ich glaube, der Alte hat jeden geschmiert, vom Leichenbeschauer bis hin zum Polizisten. Er hatte zu viel Geld und zu viel Macht. Niemand wagte es, ihm in die Quere zu kommen. Es ist nicht schwer, einen medizinischen Gutachter dazu zu bringen, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen, solange das Schmiergeld nur hoch genug ist. Und wenn das nicht funktionierte, hatte er andere Möglichkeiten, den Menschen zu drohen. Wir wissen beide, dass er keine leeren Drohungen ausstieß. Er setzte sie immer in die Tat um.«
Jase sah seinem Bruder in die Augen. »Er hat deine Mutter umgebracht, oder?«
»Vielleicht. Ziemlich wahrscheinlich sogar.« Cole brauchte einen Drink. »Fahren wir in die Stadt und besorgen uns ein Frühstück.«
»Okay.« Jase zog eine Jeans aus dem Schrank. Sie war dort ordentlich aufgehängt und makellos sauber, wie alles in diesem Zimmer. »Wer, glaubst du, hat ihn getötet? Wenn es keiner von uns war, muss es ein anderer getan haben.«
»Er hat sich viele Feinde gemacht. Er hat Unternehmen zerstört und die Ehefrauen seiner sämtlichen Bekannten verführt. Wenn er tatsächlich jemanden getötet hat, was ich stark vermute, hat das vielleicht einer mitbekommen und sich nun gerächt. Es hat ihm Spaß gemacht, Menschen wehzutun, Jase. Es konnte kaum ausbleiben, dass er eines gewaltsamen Todes starb.«
»Warst du überrascht, dass er dir das Geld und die Vormundschaft über mich überlassen hat?«
»Ja, anfangs schon. Aber später habe ich es mir so erklärt: Er wollte, dass wir so werden wie er. Er hat nach mir geforscht und herausgefunden, dass ich im Gefängnis gelandet war. Ich denke, er glaubte, dass ich genauso war wie er. Außerdem hätte er die Vormundschaft nur noch einem einzigen anderen übertragen können - deinem Onkel. Du weißt, wie sehr sie einander verachtet haben.«
Jase seufzte. »Onkel Mike ist genauso verrückt, wie Dad es war. Er redet ständig nur von Schuld und Sühne. Er glaubt, mir müsse man den Teufel austreiben.«
Cole fluchte ausgiebig. Er kannte ziemlich viele Flüche. »Das ist gequirlte Kacke, Jase. Mach dir keine Sorgen, mit dir ist alles in Ordnung.« Er brauchte Bewegung. Er wollte etwas hart hernehmen, egal, was - ein Pferd, ein Motorrad, eine Frau, irgendetwas, das die Knoten in seinem Bauch auflöste. »Machen wir uns auf den Weg.«
Er wandte sich von dem Jungen ab. Eine kalte Wut loderte in ihm. Er verabscheute Weihnachten, er verabscheute alles daran. Doch egal, wie sehr er sich dagegen sträubte, die Weihnachtstage rückten unerbittlich näher. Fast jede Nacht wachte er schweißgebadet auf. Boshaftes Lachen schrillte in seinen Ohren. Einen Großteil des Jahres schaffte er es, gegen die Dämonen anzukämpfen, aber nicht, wenn im Radio und in jedem Laden, den er betrat, Weihnachtslieder dudelten. Nicht, wenn alle Straßen und Häuser geschmückt waren und die Leute sich ständig »Frohe Weihnachten« wünschten. Das wollte er nicht für Jase. Er musste einen Weg finden, dem Jungen ein anderes Leben zu ermöglichen.
Eine Therapie hatte ihm nicht geholfen, und sie würde auch dem Jungen nicht helfen. Wenn einem niemand auch nur ein Wort glaubte, was man sagte, oder - schlimmer noch - dafür bezahlt worden war, es nicht zu glauben, dann lernte man, den Menschen nicht mehr zu vertrauen. Selbst wenn es das Einzige war, was Cole in seinem Leben richtig machte - er wollte der Mensch sein, dem Jase immer vertrauen konnte. Und er wollte alles in seiner Macht Stehende tun, dass der Junge nicht so wurde wie er. Oder so wie ihr Vater.
Die Brüder liefen durch das weiträumige Haupthaus der Ranch. Die funkelnden Holzböden waren frisch gebohnert, die Decken waren hoch, die Dachbalken lagen frei. Brett Steele hatte nur das Beste haben wollen, und er hatte es bekommen. Sein Geschmack war das Einzige, was Cole ihm nicht zum Vorwurf machen konnte.
»Cole«, fragte Jase, »warum warst du im Gefängnis?«
Cole geriet auf seinem eiligen Weg durch das geräumige Haus nicht aus dem Tritt. Manchmal hätte er die Bude am liebsten in Brand gesteckt. Es war keine Wärme in diesem Haus, und so sehr er sich bemühte, dieses Museum in ein Heim für Jase zu verwandeln, es blieb kalt und leer.
Draußen war es beißend kalt. Der Frost verzauberte Hügel und Wiesen in eine funkelnde Kristallwelt, die die Augen blendete. Cole war immun gegen den Zauber. Unwirsch setzte er seine Sonnenbrille auf. Er ignorierte die riesige Garage, in der Dutzende Autos herumstanden - Brett Steeles Spielsachen, die er kaum benutzt hatte - und steuerte seinen Pick-up an.
»Ich hätte dich nicht fragen sollen«, murrte Jase und schlug die Tür unnötig laut zu. »Ich hasse Fragen.«
Cole hielt inne. Der Zündschlüssel steckte schon im Schloss. Er warf einen Blick auf das gerötete Gesicht des Jungen. »Das ist es nicht, Jase. Du kannst mich alles fragen. Aber ich habe beschlossen, dich nie zu belügen, und ich bin mir noch nicht sicher, wie ich dir meine Zeit im Knast erklären soll. Lass mich noch ein Weilchen darüber nachdenken.«
Jase nickte. »Es ist mir egal, dass du im Gefängnis warst. Es macht mir nur Sorgen, weil Onkel Mike angekündigt hat, dass er gegen dich prozessieren und die Vormundschaft für mich gerichtlich einklagen will. Wenn ich bei ihm wohnen würde, müsste ich mein Leben lang auf Knien um meine Seele beten. Lieber würde ich abhauen.«
»Er wird es nicht schaffen, dich mir wegzunehmen«, versprach Cole grimmig. Seine Kiefer waren verspannt. Er richtete seinen durchdringenden blauen Blick direkt auf seinen jungen Halbbruder. »Das eine verspreche ich dir: Ich werde um dich kämpfen, Jase. Nur über meine Leiche kommen sie an dich ran.« In seiner Miene stand tödliche, gnadenlose Entschlossenheit. »Keiner wird dich mir wegnehmen. Hast du das verstanden?«
Jase entspannte sich sichtlich. Er nickte kurz, während er sich bemühte, seine Gefühle in Schach zu halten. Cole wusste nicht, ob das gut oder schlecht war. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn der Junge sich die Augen aus dem Kopf geweint hätte, auch wenn Cole das nie getan hatte. Diese Befriedigung hatte er seinem Vater nicht gegönnt, nicht einmal damals, als der Mistkerl ihn beinahe getötet hatte.
Es war ein langer Weg bis zur nächsten Stadt. Zu Lebzeiten seines Vaters hatte es auf der Ranch zahlreiche Wächter gegeben, angeblich der Sicherheit wegen. Aber Cole kannte den wahren Grund. Brett Steele hatte sein privates Königreich haben wollen, eine Welt, über die er mit eiserner Faust herrschen konnte. Als Erstes hatte Cole all die Hilfskräfte auf der Ranch gefeuert, die Sicherheitsleute, die Haushälterin. Wenn er eine Handhabe gehabt hätte, sie für ihre Mitwirkung an Bretts sadistischem Treiben vor Gericht zu stellen, hätte er es getan. Jase brauchte ein Gefühl der Sicherheit, und das wollte Cole ihm um jeden Preis verschaffen. Sie hatten die neuen Mitarbeiter gemeinsam ausgewählt. Eine Haushälterin fehlte noch.
»Weißt du, was mir aufgefallen ist, Jase? Du hast dir nie ein besonderes Pferd ausgesucht, mit dem du gern reitest«, meinte Cole.
Jase beugte sich vor und spielte am Radio herum. Die Fahrerkabine wurde mit Weihnachtsliedern überschwemmt. Hastig durchsuchte Jase alle Sender. Überall kamen Weihnachtslieder. Schließlich gab er verbittert auf. »Es ist mir egal, auf welchem ich reite«, erwiderte er und drehte den Kopf zum Fenster, um die Landschaft zu mustern. Seine Stimme klang gewollt gleichgültig.
»Du hast bestimmt eines, das du lieber magst als die anderen «, beharrte Cole. »Ich habe mitbekommen, dass du dem großen Braunen, Celtic High, ab und zu eine Karotte zugesteckt hast.« Der Junge hatte das Pferd jeden Tag ein wenig gestriegelt und ihm etwas zugeflüstert, aber er ritt nie auf ihm.
Jase' Miene verschloss sich, sein Blick wurde wachsam. »Die Pferde sind mir alle gleich lieb«, wiederholte er stur.
Stirnrunzelnd steckte Cole eine CD in den Player. »Du weißt doch, worum es dem Alten hauptsächlich ging, Jase, oder? Er wollte nicht, dass wir Zuneigung zu etwas oder jemandem fassten. Weder zu unseren Müttern, noch zu unseren Freunden oder Tieren. Die Tiere hat er vor unseren Augen getötet, um uns eine Lehre zu erteilen. Aus demselben Grund hat er unsere Freundschaften zerstört. Unsere Mütter hat er beseitigt, um uns zu isolieren und völlig von ihm abhängig zu machen. Er wollte nicht, dass wir etwas empfinden, vor allem keine Zuneigung und keine Liebe, weder zu Menschen noch zu Tieren. Wenn er das bei dir geschafft hat, hat er gewonnen. Du darfst ihn nicht gewinnen lassen! Such dir ein Pferd aus und kümmere dich um das Tier. Wenn du einen Hund willst, besorgen wir dir einen Hund oder meinetwegen auch eine Katze. Jedes Tier, das du gern haben möchtest. Aber lass deine Gefühle zu, und wenn unser Vater dich in deinen Albträumen heimsucht, sagst du ihm, er soll zur Hölle fahren.«
»Du hast das nicht getan«, stellte Jase fest. »Du hast dir keinen Hund besorgt. Du hast nie einen gehabt in all der Zeit, in der du weg warst. Und du hast auch nicht geheiratet. Ich wette, du hast nicht einmal mit einer Frau zusammengelebt. Bestimmt vergnügst du dich immer nur eine Nacht mit einer, mehr nicht. Und das nur, weil du die Leute aus deinem Leben aussperren willst.«
Mit dieser Vermutung lag er ziemlich richtig. Cole zählte stumm bis zehn. Er versuchte, den Jungen zu erforschen, aber es war ihm gar nicht recht, dass der Junge das nun auch bei ihm tat. »Das ist ein schreckliches Leben, Jase. Glaub mir, ich tauge nicht als Vorbild. Ich kann dir vieles nahelegen, was du nicht tun solltest, aber leider nicht sehr vieles, was du tun solltest. Es wird dich teuer zu stehen kommen, wenn du dich von allem Lebendigen fernhältst. Lass es nicht zu, dass er dir das antut. Fang klein an, wenn du willst. Such dir einfach ein Pferd aus, und dann reiten wir morgens gemeinsam aus.«
Jase sah weiterhin stumm aus dem Fenster. Aber Cole wusste, dass er über seinen Vorschlag nachdachte. Ihn anzunehmen erforderte natürlich eine Menge Vertrauen; Vertrauen, das Jase vielleicht nicht bereit war, ihm zu schenken. Cole war ein einziges Fragezeichen für alle, vor allem für Jase. Er konnte es dem Jungen nicht verübeln. Er wusste, wie er auf andere wirkte. Knallhart und skrupellos, einer, der anderen nicht viel Sicherheit zu bieten schien. Er stand im Ruf eines gnadenlosen Kämpfers, eines Mannes, der in einer gewalttätigen Umgebung geboren und aufgewachsen war. Die sanfte, freundliche Art, die der Junge gebraucht hätte, lag ihm wahrhaftig fern. Aber er konnte Jase beschützen.
»Denk einfach noch ein bisschen darüber nach«, meinte er, das Thema beendend. Die Zeit arbeitete für ihn. Er wollte Jase sein Leben zurückgeben. Wenn er das schaffte, konnte er es sich vielleicht verzeihen, dass er den Alten nicht eigenhändig umgebracht hatte, wie er es schon vor Jahren hätte tun sollen. Jase hatte eine Mutter gehabt, eine liebevolle, fröhliche Frau. Sehr wahrscheinlich hatte Brett Steele sie umgebracht, weil er Jase nicht dazu bringen konnte, sich von ihr abzuwenden. Jase' Mutter hatte ihrem Sohn bestimmt ein Vermächtnis der Liebe hinterlassen.
Cole hatte niemanden. Seine Mutter war das genaue Gegenteil von Jase' Mutter gewesen. Sie hatte nur ein Kind bekommen, weil Brett es von ihr verlangt hatte. Aber danach hatte sie sofort alles getan, um wieder so schlank zu werden wie ein Mannequin, und sich hemmungslos ihrer Kokainsucht hingegeben.
Ihren Sohn hatte sie ihrem brutalen Ehemann überlassen. Schließlich war sie an einer Überdosis gestorben. Cole hatte immer vermutet, dass sein Vater etwas mit ihrem Tod zu tun gehabt hatte. Es war interessant, dass Jase das auch bei dem Tod seiner Mutter vermutete.
Ein paar Schneeflocken rieselten herab und verstärkten die Stimmung der Jahreszeit, gegen die sie beide sich nach Kräften wehrten. Jase trat heftig auf den Boden des Trucks - ein kleines Zeichen von Wut -, blickte jedoch sofort entschuldigend auf Cole.
»Vielleicht hätten wir doch lieber in den Fitnessraum gehen sollen«, meinte Cole.
»Ich habe ständig Kohldampf«, gab Jase zu. »Wir können später in den Fitnessraum, nachdem wir gegessen haben. Wer hat Weihnachten überhaupt erfunden? Was für eine blöde Idee - allen Leuten Geschenke zu machen, ohne dass sie Geburtstag haben. Und für die Umwelt ist es bestimmt auch nicht gut, wenn all die Bäume gefällt werden.«
Cole ließ den Jungen reden. Offenbar schien sich Jase endlich so wohlzufühlen, dass er mit ihm redete. Darüber war Cole überaus froh.
»Mom hat Weihnachten geliebt. Sie hat mir immer heimlich kleine Geschenke zugesteckt. Sie hat sie in meinem Zimmer versteckt. Aber er hatte überall seine Spione, und die haben es ihm gesagt. Dann hat er Mom bestraft. Aber sie hat trotzdem weitergemacht. Ich wusste, dass sie bestraft worden war, und sie wusste, dass ich es wusste. Aber sie hat mir trotzdem weiter heimlich etwas geschenkt.« Jase kurbelte das Fenster herunter. Frische, kühle Luft wehte herein. »Sie hat mir Weihnachtslieder vorgesungen. Als er einmal um Weihnachten herum auf einer Geschäftsreise war, haben wir gemeinsam Plätzchen gebacken. Sie fand es toll. Wir wussten beide, dass die Haushälterin uns verpetzen würde, aber wir hatten so viel Spaß, dass es uns egal war.«
Cole räusperte sich. Schon allein bei dem Gedanken, zu versuchen, Weihnachten zu feiern, wurde ihm speiübel. Aber der Junge schien sich danach zu sehnen. Vielleicht brauchte er es sogar, ohne zu wissen, dass er deshalb so nervös darüber plauderte. Cole nahm sich vor, eine Weihnachtsfeier zu veranstalten, auch wenn er noch nicht wusste, wie er das schaffen sollte. Er hatte keinerlei glückliche Kindheitserinnerungen, die das Unheil aufgewogen hätten, das sein Vater angerichtet hatte.
»Wir haben versucht, ihm zu entkommen, aber er hat uns immer gefunden«, fuhr Jase fort.
»Er ist tot, Jase«, wiederholte Cole. Er atmete tief durch und wagte den Sprung. Es kam ihm vor, als stürze er sich von einer hohen Klippe in die Tiefe. »Wenn wir einen riesigen Baum in sein Haus schaffen und ihn schmücken wollen, dann können wir das tun. Er kann uns nicht mehr daran hindern.«
»Vielleicht hätte er sie gehen lassen, wenn sie bereit gewesen wäre, mich bei ihm zu lassen.«
Jase' Stimme klang tränenerstickt, aber er vergoss keine Träne. Cole fl uchte stumm und rang um eine passende Erwiderung. »Deine Mutter war bestimmt eine ganz außergewöhnliche Frau, Jase. Menschen wie sie gibt es nicht viele auf dieser Welt. Du warst ihr wichtig, nicht das Geld oder das Prestige, Mrs Brett Steele zu sein. Sie hat um dich gekämpft, und sie hat versucht, dir trotz des Alten ein gutes Leben zu ermöglichen. Ich wünschte, ich hätte die Chance gehabt, sie kennenzulernen. «
Jase schloss stumm die Augen und lehnte den Kopf an den Sitz. Er konnte sich noch gut an die Stimme seiner Mutter erinnern. An ihren Geruch, an ihr Lächeln. Er rieb sich die Stirn. Am deutlichsten erinnerte er sich an ihre Schreie, wenn sein Vater sie schlug.
»Ich denke mal über deinen Weihnachtsvorschlag nach, Cole«, meinte er schließlich. Irgendwie gefällt mir die Vorstellung, das Haus zu schmücken. Das hat er nämlich immer strikt verboten.«
Cole beließ es dabei. Die vergangenen Wochen waren sehr lang gewesen. Aber jetzt stand Weihnachten vor der Tür, und bald würde es vorüber sein. Bald hatte er einen weiteren Dezember hinter sich gebracht. Wenn das Weihnachtsgetue dem Jungen das Leben lebenswerter machte, dann würde er schon einen Weg finden, es zu überstehen.
Der Ort war ziemlich groß. Mehrere Restaurants waren von früh bis spät geöffnet. Cole entschied sich für einen Diner, den er kannte, und stellte den Truck auf dem Parkplatz ab. Verärgert stellte er fest, dass der Parkplatz schon ziemlich voll war. Er schälte sich aus dem Wagen, richtete sich zu voller Größe auf und wartete auf Jase.
»Du hast deine Jacke vergessen«, meinte er.
»Nein. Ich hasse das Ding«, sagte Jase.
Cole machte sich nicht die Mühe, ihn nach dem Grund zu fragen. Er kannte die Antwort bereits und nahm sich vor, den Jungen demnächst neu einzukleiden. Er stieß die Eingangstür auf und ließ Jase den Vortritt. Doch schon nach zwei Schritten blieb der Junge abrupt stehen und verkroch sich hinter der hohen Wand aus künstlichem Efeu. »Sie reden über dich, Cole«, wisperte er. »Gehen wir wieder.«
Die lauten Stimmen waren überall in dem kleinen Raum zu hören. Cole legte die Hand auf die Schulter des Jungen, um ihm Halt zu geben. Jase würde lernen müssen, mit Klatsch zu leben, so wie er gelernt hatte, den Albtraum zu überleben, in den er hineingeboren worden war.
»Du irrst dich, Randy. Cole Steele hat seinen Vater ermordet, und nun wird er den Jungen ermorden. Er ist hinter dem Geld her. Er ist hier erst aufgetaucht, um den Jungen zu sehen, als sein Vater tot war.«
»Er war im Knast, Jim. Er konnte seine Verwandten gar nicht besuchen«, stellte eine zweite männliche Stimme fest. Gelächter erhob sich.
Cole kannte Randy Smythe. Er führte einen Laden für Landwirtschaftsbedarf. Doch bevor Cole entscheiden konnte, ob er Jase die Peinlichkeiten ersparen und gehen sollte oder aber dem Jungen zeigte, welche Heuchler die lokalen Ladenbesitzer waren, wurde eine dritte Stimme laut.
»Spiel dich doch nicht so auf, Jim Begley«, unterbrach eine weibliche Stimme den Streit der beiden Männer. »Jeden Morgen kommst du hier rein und lästerst über Cole Steele. Der Verdacht gegen ihn wurde schon vor einiger Zeit fallen gelassen, und er hat die Vormundschaft über seinen Halbbruder übertragen bekommen, was ich völlig richtig finde. Du ärgerst dich doch nur, weil deine Saufkumpane ihre bequemen Jobs verloren haben. Nur deshalb trägst du dazu bei, die hässlichen Gerüchte zu verbreiten, die sie in die Welt gesetzt haben. Ihr klingt wie ein Haufen missgünstiger alter Weiber.«
Die Frau erhob an keiner Stelle die Stimme, im Gegenteil, ihre Stimme klang sanft, leise und sehr angenehm. Cole spürte, wie sie in ihm vibrierte. Ihm wurde warm. Der Zauber dieser Stimme war stärker als die Tatsache, dass die Frau für ihn eintrat. Unwillkürlich verspannte sich seine Hand auf Jase' Schulter. So weit er sich erinnern konnte, war dies das erste Mal, dass jemand für ihn eintrat.
»Er hat im Knast gesessen, Maia«, wiederholte Jim Begley, doch nun klang er fast beschwichtigend.
»So geht es vielen Leuten, selbst wenn sie gar nicht dorthin gehören, Jim. Und viele Leute hätten ins Gefängnis gehört, sind jedoch nie dort gelandet. Das heißt gar nichts. Du beneidest den Mann um sein Geld und um seinen Ruf, dass er jede Frau bekommen kann, die er haben will. Was du von dir kaum behaupten kannst.«
Gelächter ertönte. Cole rechnete damit, dass Begley die Frau anfahren würde, doch überraschenderweise tat er das nicht. »Ach, Maia, reg dich bitte wieder ab«, erwiderte Begley beschwichtigend. »Hast du etwa vor, etwas gegen mich zu unternehmen? Zum Beispiel meinen ... mich verhexen?«
Das Lachen wurde lauter, und diesmal stimmte die Frau darin ein. Auch ihr Lachen klang wie Musik in Coles Ohren. Noch nie hatte er so auf eine Frau reagiert. Und dabei hatte er sie noch nicht einmal zu Gesicht bekommen.
»Man kann sich bei mir nie sicher sein, stimmt's, Jim?«, neckte sie ihn. Offenbar war sie ihm nicht böse. »Bald ist Weihnachten. Das ist die schönste Zeit im Jahr. Glaubst du, du könntest aufhören, Gerüchte zu verbreiten? Könntest du nicht einfach warten, bis sich ein paar Tatsachen zeigen? Gib dem Mann eine Chance. Ihr seid alle scharf auf sein Geld. Ihr seid euch alle einig, dass die Stadt ihn braucht. Und trotzdem verurteilt ihr ihn von vornherein. Ist das nicht ein bisschen heuchlerisch?«
Cole war verblüfft über die Macht, die diese Frau zu haben schien. Sie konnte ihren Standpunkt klarmachen, ohne auch nur ein einziges Mal die Stimme zu erheben. Und seltsamerweise hörten ihr alle zu. Wer war sie? Warum hingen diese normalerweise groben Kerle an ihren Lippen und versuchten, es ihr recht zu machen? Cole stellte fest, dass er auf diese wildfremde Frau sehr neugierig war.
»Okay, okay«, lenkte Jim ein. »Ich gebe auf, Maia. Wenn es dich glücklich macht, werde ich Cole Steele nie mehr erwähnen. Also sei mir bitte nicht mehr böse.«
Maia lachte wieder. Das unbekümmerte Geräusch neckte Coles Sinne. Er spürte seinen Körper und dessen Bedürfnisse. »Also dann, bis später. Auf mich wartet Arbeit.«
Cole verspannte sich. Als die Frau um den künstlichen Efeu trat, stockte ihm der Atem. Sie war eher klein, hatte aber eine wunderbare Figur. Ihre Jeans schmiegte sich an ein wohlgeformtes Hinterteil, der Pullover an einladende Brüste. Die dichten, dunklen, sehr glatten Haare, die sorglos zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden waren, glänzten wie das Gefieder eines Raben. Ihr Gesicht sah exotisch aus. Die zart gemeißelten Züge erinnerten Cole an eine Fee.
Die Frau warf den Kopf zurück, und ihr breites Lächeln verschwand, als sie Cole und Jase erblickte. Sie blieb stehen und musterte Cole. Er machte sich tatsächlich ein bisschen kleiner. In seinem Kopf begannen Hämmerchen zu schlagen, und sein Körper reagierte mit einem drängenden, elementaren Bedürfnis. Ein Mann konnte in diesen Augen ertrinken, sich verlieren oder auch nur jeden Dämon verlieren, der ihn quälte. Ihre großen, von dichten Wimpern gerahmten Augen hatten eine ganz besondere Farbe. Sie waren nicht blau, vielleicht eher türkis - eine Mischung aus Blau und Grün, so lebendig und schön, dass es Cole wehtat, in sie zu blicken.
Jase versetzte ihm einen kleinen Stoß in die Rippen.
Cole reagierte sofort. »Entschuldigung, Ma'am.« Aber er rührte sich nicht vom Fleck. »Ich bin Cole Steele, und das hier ist mein Bruder Jase.«
Jase zuckte unter seiner Hand zusammen, offenbar deshalb, weil Cole ihn in aller Öffentlichkeit als seinen Bruder anerkannt hatte.
Die Frau nickte Cole zu und schenkte Jase ein Lächeln. Dann trat sie an den beiden vorbei, stieß die Tür auf und verschwand.
»Heiliger Bimbam!«, murmelte Jase. »Hast du gesehen, wie sie gelächelt hat?« Er warf einen Blick auf Cole. »Ja, du hast es gesehen.«
»Habe ich sie angestarrt?«, fragte Cole.
»Du hast ausgesehen, als ob du sie gern zum Frühstück verspeisen würdest«, erwiderte Jase. »Du kannst ganz schön furchterregend ausschauen, Cole. Manchmal bekommt man es bei dir wirklich mit der Angst zu tun.«
Cole wäre der Frau beinahe gefolgt, aber bei dem letzten Satz des Jungen drehte er sich zu ihm um. »Hast du Angst vor mir, Jase?«
Der Junge zuckte mit den Schultern. »Gelegentlich. Aber ich gewöhne mich an dich. Trotzdem habe ich dich noch nie lächeln sehen. Niemals.«
Cole hob die Brauen. »Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich je gelächelt hätte. Vielleicht muss ich das üben. Du kannst es mit mir üben.«
»Lächelst du Frauen nicht an?«
»Das habe ich nicht nötig.«
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg.
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Autoren-Porträt von Christine Feehan
Christine Feehan lebt gemeinsam mit ihrem Mann und ihren elf Kindern in Kalifornien. Sie schreibt seit ihrer frühesten Kindheit. Ihre Romane stürmen regelmäßig die amerikanischen Bestsellerlisten, und sie wurde in den USA bereits mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet. Auch in Deutschland erfreut sich die Autorin einer stetig wachsenden Fangemeinde. Mehr über Autorin und Werk erfahren Sie unter www.christinefeehan.com
Bibliographische Angaben
- Autor: Christine Feehan
- 2013, 1, 240 Seiten, Maße: 12,3 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863656644
- ISBN-13: 9783863656645
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