Abendland
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Kluger, witziger und lebensfroher Generationenroman!
Abendland von MichaelKöhlmeier
LESEPROBE
Carl war mein Pate, das heißt, er war mein Taufpate nach katholischemRitus, aber er war viel mehr: Er war mein Schutzengel. Dabei kann ich nichteinmal für mich in Anspruch nehmen, im Kernschatten seiner Flügel gestanden zuhaben; denn dieser Platz war ausschließlich für meinen Vater reserviertgewesen. Meine Mutter und ich, die wir uns an meinen Vater klammerten, damit ernicht umstürzte, hatten lediglich die Ränder des Schattens bezogen. Ob der Schutzengeldas beabsichtigte? Oder hat er es bloß in Kauf genommen? Die Lukassers - Agnes, Georg, Sebastian - riefen nach ihm, under verließ sein Institut in Innsbruck, um sich ihr Gejammer und Geschrei, ihr Herumgedruckse, ihre Empörungen, Ressentiments, Proteste,ihre Neid- und Mißgunstanfälle, ihre Aggressionen und
Geldsorgen, ihren Weltschmerz und ihre Frustrationen anzuhören.
Für uns war das Leben eine andauernde Aufeinanderfolge von Problemen; erbot die Lösungen an. Durften wir darauf vertrauen, dass er sich nicht von unsabwandte? Es sei das Geheimnis des
Charismatikers, sagt derenglische Schriftsteller Gilbert Keith Chestertonsinngemäß, daß große Gunst zu gewähren und große Gunstvorzuenthalten aus seinen Händen zu ein und derselben Geste
werden. Das Vertrauen, das uns Carl entgegenbrachte, hätten wir uns selbstniemals entgegengebracht; es war entweder übermenschlich oder unglaubwürdig. Imersten Fall hätten wir nur enttäuschen können; im zweiten wäre sein Umgang mituns nichts weiter als ein Spiel gewesen, bei dem wir, weil wir Figur oder Würfeloder beides waren, logischerweise nicht nachvollziehen hätten können, was daranlustig sein sollte.
Am Anfang unserer Familie war Carl; ihr Keim war gepflanzt in seinerersten Begegnung mit meinem Vater. Als er meinen Vater zum erstenmalgesehen habe, erzählte Carl, sei nach wenigen Minuten in
ihm beschlossen gewesen, dass er sich mit ihm anfreunden wollte, dass erihm - er betonte - »demütig« folgen und alle Schwierigkeiten beiseite räumenwollte, die sich mit Sicherheit über dem Weg dieses Mannes türmen würden.
Carl und mein Vater waren so verschieden, wie zwei Menschen nur verschiedensein können. Sie lernten einander in Wien nach dem Krieg kennen; mein Vater warvierundzwanzig, Carl bereits vierzig.
Wer schon einmal ein Bild des amerikanischen Folksängers Woody Guthriegesehen hat, dem brauche ich meinen Vater nicht zu beschreiben - klein, sehnig,zäh, widerborstige dunkle Locken, das
Gesicht hager und blaß, im unteren Teil grauvon den unbändig nachdrängenden Bartstoppeln, ernste alte Augen, ernster Mund,sogar wenn er bis über die Stockzähne lachte, was ansteckend war, aber
immer auch etwas Konspiratives, Rattenhaftes ansich hatte. Irgendwann in den sechziger Jahren zeigte ich ihm ein Bild von WoodyGuthrie, und er glaubte selbst, er sei es. Guthrie hatte auf dem
Foto eine Gitarre im Arm -
»Was ist das für eine Gitarre? Ichhab doch nicht so eine Gitarre!« -; an der Gitarre erkannte er, daß es ein anderer war; meine Mutter und ich haben uns schiefgelacht. Wie Woody Guthrie war mein Vater Musiker, und er war nie etwas anderesgewesen. Während des Krieges hatte er Miete, Essen und Versicherungen für sichund meine Großmutter verdient, indem er als der Contragitarrist in einemSchrammelquartett in den Heurigenlokalen auftrat, in Grinzing und Döbling, nach dem Krieg auch in den vom Bombenschuttfreigelegten Kaffeehäusern und Schanigärten der Innenstadt. Mein Großvaterlebte nicht mehr. Auch er war Musiker gewesen, auch er hatte die Contragitarregespielt; das
Lukasser-Quartett war inden dreißiger und vierziger Jahren die erfolgreichste Schrammelformation derStadt gewesen. Mein Vater hatte eine Handelsschule besucht, aber vorzeitigabgebrochen und
sich ab seinem sechzehnten Lebensjahr ganz der Musik verschrieben; nachdem Tod meines Großvaters übernahm er das Quartett. Er mochte es übrigensnicht, wenn man ihn einen Musiker nannte, er sagte:
»Ich bin ein Musikant. Mein Vater war ein Musikant, und ich bin einMusikant.« Später, als er längst schon keine Schrammelmusik mehr spielte,bildete er sich eines Tages aus heiterem Himmel ein,
die »Fachwelt« (ein Wort, das er stets mit einer für mich beschämendenUnterwürfigkeit aussprach) lache über Musikant als Berufsbezeichnung - von daan bestand er darauf, Musiker genannt
zu werden.
Hauptsächlich aber trat er nach dem Krieg in den diversen Jazzlokalenauf, die vor allem in den amerikanisch besetzten Bezirken der Stadt eröffneten -in den ersten Monaten 1946 jede Woche eines. Die bekanntesten Lokale waren imKeller vom Café Landtmann, im Souterrain vomRondell-Kino in der Riemergasse und die Bijou-Bar in der Naglergasse;der Embassy-Club in der Siebensterngasse im siebtenBezirk war der vornehmste Club, er wurde von einem Amerikaner geführt und warausschließlich für amerikanische Soldaten gedacht. (Die Musiker, die hierspielten,
waren fast alle schwarz, die Zuhörer ohne Ausnahme weiß.) Österreicherdurften das Lokal nur in Begleitung oder unter Vorlage einer schriftlichenEmpfehlung eines (weißen) US-Bürgers besuchen.
Aber nur wenige Einheimische konnten sich Eintritt und Getränke leisten,gern gesehen waren sie in jedem Fall nicht.
Im Embassy-Club hörte Carl meinen Vater zum erstenmal. Mein Vater betrat allein die Bühne, für seineMusik ließ sich nicht so ohne weiteres eine Band zusammenstellen. Der Besitzerbat die Gäste, ihre Unterhaltungen, und die Kellnerinnen, ihre Arbeit zuunterbrechen.
»Ladies and Gentlemen, George Lukasser, the Genius!« »Ein schwer definierbares Widerstreben gingvon ihm aus«, erzählte Carl.
»Der Zauber öffentlich zur Schau gestellter schlechter Laune. Er wirkteso hilflos. Wie ein Anfänger wirkte er. Als würde er zum erstenmalvor einem Publikum spielen und niemand hätte ihm gezeigt, wie das geht. Er warschon ein schlauer Hund und berechnend! Er tat alles, um die Aufmerksamkeit aufsich zu lenken. Und wenn ihn die Leute auch nur deshalb anstarrten, weil siedarauf warteten, daß er das Übergewicht bekommt undvornüber von der Bühne fällt, solange sie still waren und nicht in eine andereRichtung schauten, war es ihm recht.«
Mein Vater war die Sensation des Abends; er war die Sensation des Clubs fürüber ein Jahr.
Am Anfang galt er wohl als eine Kuriosität; er spielte ein Instrument, wiedie Amerikaner noch nie eines gesehen hatten, eine Gitarre mit zwei Hälsen, miteinem normalen Gitarrenhals für sechs Seiten und einem, der weiter oben aus demResonanzkasten trat, an dem sieben Baßsaitenaufgespannt waren, die aber nicht über ein Griffbrett liefen, also nicht gedrücktwurden, sondern nur angeschlagen oder gezupft. Carl, der in Wien aufgewachsenund seit seiner Kindheit selbstverständlich immer wieder in Heurigenlokalengewesen war, war dieses Instrument vertraut, darüber staunte er nicht; aber überdie Musik, die er zu hören bekam, staunte er.
© Hanser Verlag
Autorenporträt von Michael Köhlmeier
Michael(Johannes Maria) Köhlmeier, geb. am 15. 10. 1949 in Hard(Vorarlberg).
Michael Köhlmeier studierte 1970 bis 1978 Politikwissenschaft undGermanistik in Marburg sowie Mathematik und Philosophie in Gießen und Frankfurtam Main.
Bereits mitseinem Debütroman "Der Peverl Toni und seineabenteuerliche Reise durch meinen Kopf" (1982) fand Köhlmeiergroße Beachtung, es folgten Romane wie "Moderne Zeiten" (1984) und"Spielplatz der Helden" (1988). Im Zentrum steht die Frage nach demVerhältnis von Fiktion und Wirklichkeit. Neubearbeitungen homerischer Mythenstellen die Romane "Telemach" (1995) und "Kalypso"(1997) dar. Gemeinsam mit Reinhold Bilgeri verfassteer Kabarettsendungen und Liedtexte, die sie als Duo Bilgeri& Köhlmeier der Öffentlichkeit präsentierten.Auch durch den erzählerischen Vortrag griechischer Mythen im österreichischenRundfunk erlangte Köhlmeier hohe Popularität.
- Autor: Michael Köhlmeier
- 2007, 775 Seiten, Maße: 15,5 x 22 cm, Leinen, Deutsch
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446209131
- ISBN-13: 9783446209138
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