Alt, aber Polt
Schluss mit dem gemütlichen Weinbauern-Leben, endlich! Simon Polt, ehemaliger Gendermerieinspektor, kann es nicht lassen. Nachdem er eines Abends Zeuge eines Schauspiels wird,...
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Schluss mit dem gemütlichen Weinbauern-Leben, endlich! Simon Polt, ehemaliger Gendermerieinspektor, kann es nicht lassen. Nachdem er eines Abends Zeuge eines Schauspiels wird, das in seinem weiteren Verlauf schrecklich endet, entlässt er sich kurzerhand aus dem Ruhestand, um dem Rätsel auf die Spur zu gehen. Wer Polt kennt, weiß, dass er gar nicht anders kann, denn Polt bleibt eben Polt. Vielleicht ist er sogar so sehr Polt wie nie zuvor.
Alfred Komarek beschenkt seine Leserinnen und Leser mit einem neuen Polt-Roman, der es erneut schafft, ein selten authentisches Bild des Weinviertels und seiner Kellergassen zu zeichnen. Im Mittelpunkt steht Inspektor Simon Polt, der sich mit unbändigem Gerechtigkeitssinn für seine Weinviertler Dörfer und die Menschen darin einsetzt. Und das selbst dann noch, wenn es besonders gefährlich wird.
Simon Polt hing seinen Gedanken nach, und weil er
vertraut mit ihnen war, ließ er sie achtlos laufen, eins
werden mit den schütteren Schatten ringsum. Obwohl
es draußen noch einigermaßen hell war an
diesem späten Nachmittag im Oktober, hatte Polt
die Tür seines Presshauses zugemacht, weil er Ruhe
haben wollte. Nur eine kleine Fensterö(nung ließ
Licht herein, und oben waren dort, wo die Dachziegel
lose aneinanderlagen, helle, dünne Streifen im
Dunkel zu sehen.
Der gewesene Gendarm saß da, schaute auf seine
Hände und war sich selbst genug. Genug? Ja doch,
hier schon, in einem Gebäude, das ihm gehörte, umgeben
von Dingen, die er mochte. Aber zwischen den
Menschen und in den Dörfern war vieles verloren gegangen,
das auch für sein Leben wichtig und erfreulich
war. Na und? Polt spürte etwas wie zärtliche Wut
in sich. Der Kirchenwirt hatte zugesperrt. Ja, dann
galt es eben, ihn mit Hilfe tatkräftiger Freunde trotzdem
o(en zu halten, wenigstens an Wochenenden.
Aloisia Habesam, die unbestritten gut sortierte Anbieterin
von gemischten Waren und Gerüchten, war
gestorben. Jetzt handelte Simon Polt an ihrer Stelle,
und zwar erfolgreich, zum eigenen Erstaunen. Es gab
kaum noch Weinbauern in den Kellergassen. Was blieb
ihm demnach anderes übrig, als unter kundiger Anleitung
selbst Weinbauer zu werden, und zwar einer,
der die hölzerne Weinpresse in Ehren hielt und das
Fass im Keller?
Polt hob den Kopf. Die Presshaustür bewegte sich
und gemessenen Schrittes traten Friedrich Kurzbacher,
Sepp Räuschl und Christian Wolfinger ein.
Unziemliche Eile war ohnehin nicht am Platz und
hätte die drei Männer wohl auch ein wenig überfordert.
Sepp Räuschl hatte vor ein paar Wochen seinen
fünfundachtzigsten Geburtstag gefeiert, dachte allerdings
nicht daran, in brüchiger Würde zu vergreisen.
Zwar war er schon seit einiger Zeit mit einem Gehstock
unterwegs, verwendete ihn aber hauptsächlich
als Ausdrucksmittel seines cholerischen Temperaments.
Wenn er im Wirtshaus wacker getrunken
hatte, drosch er gerne mit dem Stock auf den Tisch
ein, krächzte: „Die Jungen halten nichts aus!", und
bestellte einen Schnaps, um die Sache abzurunden.
Friedrich Kurzbacher hingegen, kaum ein Jahr jünger,
hatte in den vergangenen Monaten mit erstaunlicher
Tatkraft und mürrischem Eifer Simon Polt die
Grundlagen des Weinbaus beigebracht. Jetzt war das
kleine Fass im Keller gefüllt und die Gärung abgeschlossen.
Feierlich hatten Lehrer und Schüler den
jungen, noch trüben Wein verkostet. Nach einer guten
Weile vielsagenden Schweigens war dann Kurzbachers
Urteil zu hören gewesen: „Viel bringst nicht
zusammen, Simon. Aber trinken kann man ihn." Polt
hatte diesen derben Ritterschlag mit großer Erleichterung
empfangen. Immerhin sah er seinen Siebziger
vor sich, und es war an der Zeit, endlich das zu tun,
was er schon immer tun wollte.
Christian Wolfinger, eben erst fünfundsechzig
geworden, also unverschämt jung, war indes schon
immer mit Leib und Seele Jäger gewesen. Seine mit
bemerkenswerter Beiläufigkeit ausgeübten Brotberufe
hatten aber am Ende sogar eine bescheidene Pension
gebracht. Jetzt konnte er endlich ohne lästige
Zeitvergeudung das scheue Wild hegen, pflegen und
lustvoll erlegen. Ein einziges Indiz deutete darauf hin,
dass es auch Wolfinger ein wenig gemächlicher an"
ging: Früher hatte er, auf dem Fahrrad zwischen Dorf
und Kellergasse unterwegs, seine drei Hunde an den
Leinen hinter sich hergezogen. In letzter Zeit liefen
sie immer öfter voran und der Jäger hielt auch einmal
inne und ließ sich ein Stück des Weges ziehen.
Die Männer nickten einander zu, redeten aber
nicht, weil es vorerst nichts zu sagen gab. In den letzten
Jahren hatte sich ein stummes Ritual eingetieft:
Jeden ersten Sonntag im Monat trafen die vier Freunde
in Polts Presshaus zusammen. Friedrich Kurzbacher
holte aus seiner hellbraunen Kunstleder-Einkaufstasche
Brot, scharfe Ölsardinen, Räucherspeck und
fetten, stark riechenden Käse. Sepp Räuschl deckte
den Tisch mit Gläsern, hölzernen Schneidbrettern
und Messern, Christian Wolfinger tat vorerst nichts.
Als dann die beiden anderen fertig waren, stellte er
seinen Rucksack auf die Sitzbank, stieß einen bedeutungsvollen
Pfi( aus, lächelte geheimnisvoll und holte
endlich zur geringen Überraschung seiner Freunde
eine Flasche Trebernschnaps hervor.
„Da schau her", brach dann der Kurzbacher das
Schweigen. Polt zündete eine Kerze an und gri( zum
Weinheber. Er freute sich schon lange auf diesen Augenblick.
Bisher hatte er immer irgendeine Flasche
aus dem Keller geholt. Diesmal war es sein eigener
Wein, der erste, den er gekeltert hatte.
Er trat ins Freie. Sein Presshaus stand am oberen
Ende der langen, sacht ansteigenden Kellergasse
von Burgheim. Aus einiger Entfernung war Musik
zu hören. Polt achtete nicht darauf, nahm von welkem
Laub bedeckte Stufen vorsichtig unter die Füße,
ö(nete die Kellertür und holte tief Atem. Der Geruch
hier war ihm natürlich vertraut: So rochen alte
Kirchen und alte Wirtshäuser, wenn sie eins wurden
unter der Erde. Seit ein paar Wochen war in seinem
Keller aber auch junger, ungebärdiger Wein im Spiel,
brachte Leben ins stille, kühle Dunkel. Das hatte es
seit vielen Jahren nicht mehr gegeben.
Unten angekommen, stellte Polt die Kerze auf den
Lössboden, nahm den Spund vom Fass, füllte den geräumigen
Weinheber, verschloss die Ö(nung des Glasrohres
mit dem Zeigefinger und ging nach oben. Dort
ließ er ruhig und gekonnt den Grünen Veltliner in die
Gläser rinnen, setzte sich, nahm den Weinheber in die
linke Hand und lehnte ihn an den Oberkörper. Er hob
sein Glas. „Prost, alle miteinander!" Die vier senkten
die Nasen, kosteten und tranken. Sepp Räuschl, der
Durstigste in der Runde, hatte sein kleines Glas bald
geleert. Polt füllte es wieder. „Und? Was sagst?"
„Nichts sag ich." Sepp Räuschl trank und neigte
den Kopf.
„Warum?"
„Weil ich ihn sonst loben müsste, deinen Wein.
Bist du am Nachmittag in der Kellergasse gewesen,
Simon?"
„Nein. Heute war ich ja im Kirchenwirt an der
Reihe. Um fünf hab ich dann zugesperrt und bin gleich
hierher gegangen. Zu laut für mich, das alles."
„Was jetzt? Dann jammerst du wieder, dass es viel
zu still geworden ist in der Kellergasse."
„Stimmt schon. Aber die blöde Musik aus den Lautsprechern
passt nicht hierher und die Marktfahrer
könnten ihr Zeug ruhig anderswo verkaufen. Bauernmarkt?
Sehr originell. Hast irgendeinen Bauern
aus dem Dorf gesehen, Sepp?"
„Lass mich nachdenken. Der alte Karl Haupt hat
ein paar Säcke Erdäpfel vor sein Presshaus gestellt.
Das letzte Mal, hat er mir erzählt. Er tut sich das nicht
mehr an. Ich hab nicht aufgesperrt, weil's ja keinen
Flaschenwein bei mir gibt. Und auf die siebengschei$
ten Bemerkungen von ein paar dahergelaufenen Weinkennern
kann ich verzichten. Der Höllenbauer hat
Gäste im Presshaus und im Keller gehabt. Der weiß
schon, wie's geht, und versteht was vom Wein. Aber
die großen Fässer in seinem Keller ... alle leer, Simon,
alle leer, nichts wie Stahlzisternen und technisches
Zeug in der Halle hinten im Hof. Ja, und der Hannes
Eichinger, unser Größter und Bester und Gscheitester,
der war sich zu gut für die Kellergasse. Nur
seine Tochter, die Laura, hat Einladungen verteilt:
in die Weinlauntsch oder wie das heißt. Aber sonst
war schon viel los. Autobusse sind gekommen und
dann sind die Leute scharenweise durch die Kellergasse
gezogen."
„Aber schon auch welche aus Burgheim?"
„So ziemlich alle, glaub ich. Die kommen halt, weil
endlich wieder einmal was los ist in unserer ruhigen
Gegend. Sogar die strammen Greise vom Kameradschaftsbund
sind ausgerückt, streng auf Kommando, in
Reih und Glied. Vor dem Presshaus vom Bayer Bertl,
ihrem Vereinslokal, hat's dann ‚rührt euch!‘ geheißen.
Der Befehl zum Kampftrinken, verstehst, Simon?"
„Und sonst?"
„Na, die Dorfmusik ist aufgetreten und war bald
einmal weg und beleidigt, weil keiner daran gedacht
hat, die Lautsprechermusik auszuschalten. Der Bürgermeister
hat geredet, der Pfarrer ist gekommen,
hat aber nichts sagen wollen, und im Weinstadl hat's
was für die Jungen gegeben. Dann war da noch ein
Feuerwerk, sehr schön und sehr teuer, denk ich mir.
Und noch allerhand hat sich abgespielt, frag mich
nicht, was genau. Was ist da im Heimatblatt gestanden,
Christian?"
„‚Herbstzauber. Ein unvergesslicher Event in der
Burgheimer Kellergasse‘. Alles ist heutzutage ein
Event. Der Feuerwehrheurige, die Sparvereinssitzung
und das Ka(eekränzchen vom Kleintierzüchterverband.
Mir egal. Aber es muss halt englisch sein,
sonst ist es nichts. Die Kellergasse ist ja auch nicht
mehr, was sie war, sondern eine Lokeischn. Kommst
du da mit, Simon? Du hast ja eine gscheite Frau und
zwei Kinder, die was lernen."
„Hab ich derzeit nicht, Christian. Zwei Wochen
Schulreise nach London, und die Karin ist mitgefahren,
weil sie ihr Englisch au(rischen will."
„Für wen und für was?"
„Frag mich was Leichteres."
Friedrich Kurzbacher stellte hörbar sein Glas auf
den Tisch. „Eine andere Zeit. Früher war jedes Dorf
im Wiesbachtal seine eigene Welt. Jetzt ist die Welt
wie ein Dorf, und die Amerikaner, die Eskimos und
die Chineser sind unsere Nachbarn. Und alle reden's
Englisch."
Räuschl grinste. „Die Krimmel Hilda und der
Georg, ihr Mann, haben heute Nachmittag aber auf
Deutsch gestritten, dass die Fetzen nur so geflogen
sind. An ihrem Stand hat's Zwiebelschmalzbrote und
Punsch gegeben. Alle, die nicht mehr auf die Sauferei
im Advent warten wollten, waren also schon jetzt
besinnlich, aber ordentlich. Einer hat dann der Hilda
auf den Hintern gegri(en, obwohl sich das nicht gehört
und es sich auch nicht wirklich auszahlt bei ihr.
Der Georg hat ihm brennheißen Punsch ins Gesicht
geschüttet, die Hilda wollt sich das Geschäft nicht
verderben lassen und hat ihren Mann einen blöden
Hund geschimpft, der sowieso nichts mehr zusammenbringt.
Das hat der Georg nicht auf sich sitzen
lassen und ihr ein paar Watschen verpasst, worauf ihn
die anderen Männer verprügelt haben, bis er still dagelegen
ist. Als er wieder bei sich war, haben sie ihm
einen Punsch eingeflößt, zur Belebung. Ich möcht
nicht wissen, wie das noch weitergeht, heute."
„Und ich bin froh, dass ich damit nichts mehr zu
tun habe." Simon Polt schaute auf den leeren Weinheber,
stand auf und begab sich in den Keller.
Traumzeit
Wie an jedem dieser Abende gab es irgendwann nichts
Neues mehr zu bereden und nichts Altes mehr aufzuwärmen.
Ein behäbiges, aber doch drängendes
Schweigen machte sich breit. Zeit demnach, das anfängliche
Ritual in umgekehrter Reihenfolge abzuwickeln.
Christian Wolfinger hob grinsend die Flasche
mit dem Trebernschnaps, schenkte ein und steckte sie
dann in den Rucksack. Nachdem alle getrunken hatten,
räumte Sepp Räuschl die Jausenbretter, Messer
und Gläser in einen blauen Plastikbottich, Friedrich
Kurzbacher packte die übriggebliebenen Nahrungsmittel
in seine Einkaufstasche und Simon Polt stand
auf, um den Weinheber an einen Nagel neben der Tür
zu hängen. Dann bat er seine Gäste hinaus und die
Nacht herein. Das gefiel ihm gut so: In seinem Presshaus
gab es kein elektrisches Licht und die Kerzen
scha(ten die Dunkelheit nicht ab, sondern schufen in
ihr eine kleine Höhle, groß wie die Welt. Polt ließ die
Zeit verrinnen. Er hatte mehr als genug davon.
Endlich entsann er sich seiner häuslichen Pflichten
und nahm mit gebotener Vorsicht einen museumsreifen
Spirituskocher in Betrieb. Dieses Gerät gehörte zu
jenen unzähligen Merkwürdigkeiten, die Ignaz Reiter
in seinem Presshaus angehäuft hatte. Jetzt war Simon
Polt hier zuhause und lebte auf seine Weise ein erloschenes
Leben weiter. Er stellte einen mit Wasser
gefüllten Topf auf die Flamme und wartete geduldig,
bis Dunst aufstieg.
Bald darauf walteten wieder Sauberkeit und Ordnung
zwischen seinen vier Wänden. Polt nickte zufrieden,
löschte die Kerzenflammen aus und wandte
sich zum Gehen. In der geö(neten Tür zögerte er.
Irgendetwas hielt ihn zurück, zog ihn gebieterisch
ins dunkle Presshaus. Auch gut. Er gri( zum Weinheber,
dem „Dupfa". Im Keller angekommen, ging er
nicht gleich zum Fass, sondern verharrte dort, wo er
dereinst „Eigen: Simon Polt" in die Lösswand geritzt
hatte. Gut zwanzig Jahre war das her. Oder noch länger?
Damals war er Gendarm gewesen. Heute war
er Weinbauer. Mit dem Daumennagel grub er einen
dicken Strich unter die Inschrift.
Er ging nach oben, setzte sich an den Tisch, füllte
sein Glas, kostete nunmehr ganz ruhig und ungestört,
trank und schloss die Augen, weil er sich dabei
zuschauen wollte, wie er still Zwiesprache hielt mit
seinem Presshaus und seinem Wein. Oh ja, dieses
Bild konnte ihm gefallen. Er ö(nete die Augen und
schaute sich um. Alles hier war für ihn im schönsten
Sinne wunderlich. Unzählige Bilder gab es: herausgetrennte
Seiten aus alten Kinderbüchern, Kalenderheilige,
vergilbte Ansichtskarten. Der gute alte Kaiser
blickte backenbärtig auf Polt hernieder, schnörkelige
Urkunden ehrten die Verdienste längst Verstorbener,
im Halbdunkel war bäuerliches Arbeitsgerät zu erahnen.
Polt hatte sich redlich bemüht, Ignaz Reiters
Erbe zu bewahren. Mit einer besonderen Arglist des
alten Spitzbuben hatte er allerdings aufgeräumt: Wer
dereinst das Presshaus betrat, sah sich einem gusseisernen
Grabkreuz gegenüber, umringt von sehr
gottesfürchtigen und hohlwangigen Asketen. Hinter
der Weinpresse verbargen sich allerdings Bilder von
aufreizend leicht geschürzten Damen. Jetzt schauten
die Schönen, neckisch die Röcke ra(end, ins Licht
und das Grabkreuz mit seinem Gefolge verharrte in
angemessener Demut im Dunkel.
Nach einer gar nicht so kleinen Ewigkeit entschloss
sich Polt dann doch zum Au7ruch und trat ins Freie.
Die Tür des Presshauses ö(nete sich zu einer Wiesenfläche,
die an eine kleine Steilwand aus Löss grenzte.
Darüber zeichneten sich Rebstöcke schwarz gegen
den helleren Himmel ab. Polt atmete tief die kühle
Nachtluft ein und spürte feinen Rauch in der Nase,
Rauch von Buchenholzscheitern, mit denen die Bäuerinnen
im Dorf ihre Küchenherde fütterten. Talwärts
führte ein an den Rändern dicht bewachsener Hohlweg
an den Rückseiten der Presshäuser vorbei zur
Kellergasse. Dort angekommen, blieb Polt erst einmal
stehen. Vereinzelt waren Stimmen zu hören, aber die
Musik aus den Lautsprechern war verstummt. Einige
von den kleinen Fensterö(nungen der Presshäuser
waren noch hell, da und dort fiel Licht aus geö(neten
Türen. Die Fackeln, mit denen man glaubte, die
Kellergasse dekorieren zu müssen, waren fast alle
erloschen. Unten im Tal sah Polt die langgezogenen
Lichterketten der Dörfer, daneben kleinere Gruppen
neu gebauter Häuser. Ein wenig abseits der Kellergasse,
ungefähr dort, wo der Friedhof lag, bewegten
sich helle Punkte in der Dunkelheit, dazwischen bemerkte
Polt ein merkwürdig farbiges Au8ackern.
Wahrscheinlich irgend so ein elektronisches Spielzeug.
Seine Frau erzählte ihm ja hin und wieder, was
es da so alles gab, auch schon im Kindergarten. Wozu
selbst spielen, wenn man ein Gerät hatte, das einem
was vorspielte?
Langsam setzte Polt seinen Weg fort. Derzeit gab
es ja niemanden, der auf ihn wartete. Frau und Kinder
würden erst in knapp zwei Wochen heimkehren. Und
sein ebenso dicker wie selbstbewusster Kater, Czernohorsky
mit Namen, war schon vor einigen Jahren für
immer gegangen. Seiner ausgeprägten Wesensart folgend,
hatte er das an sich betrübliche Lebensende
durchaus stilvoll und lustbetont inszeniert. Als eine
seiner vierbeinigen Favoritinnen merklich Sehnsucht
verspürte, näherte sich Czernohorsky, wartete gelassen
das hitzige Treiben jüngerer Nebenbuhler ab,
um endlich mit gereifter Leidenschaft ans Werk zu
gehen. Anschließend kam er ermattet nach Hause,
schlief ein und wachte nicht mehr auf.
Der Klang einer dünnen, melancholisch verirrten
Frauenstimme holte Polt aus seinen Gedanken. Er ging
neugierig auf ein Presshaus zu, von dem er wusste,
dass es einer Wienerin gehörte, die ins Wiesbachtal
gezogen war: eine Schauspielerin, angeblich berühmt
gewesen und nunmehr bemüht, das flache Land mit
ihrer Kunst zu erhöhen. Mira Martell nannte sie sich.
Polt schaute durch den Türspalt, sah leere Sesselreihen
und einen Lehnstuhl, in dem die ältere Frau saß.
„Und warf den heil'gen Becher hinunter in die
Flut", hörte er sie singen. Dann kippte ihre Stimme,
brach ab, der Kopf sank an die Brust. Polt erschrak ein
wenig, klopfte und trat ein. „Ist was? Kann ich helfen?"
Frau Martell hob den Kopf und lächelte dem Besucher
zu. „Die Augen täten ihm sinken. Trank nie
einen Tropfen mehr." Sie schaute auf das leere Glas
in ihrer Hand. „Wenn Sie in der Schule aufgepasst
haben, Herr Polt, kennen Sie diese Zeilen: ‚Es war
ein König in Thule ...‘"
„Ja, ich kann mich so ungefähr erinnern. Vor allem,
weil ich mich als Bub immer gefragt habe, was eine
‚Buhle‘ ist."
„Das wissen Sie inzwischen ho(entlich. Ich wollte
heute mit einer Soiree diesem seltsamen Fest eine
künstlerische Note geben. Wenn es ums Trinken geht
in den Texten, werden die Leute schon kommen, hab
ich gedacht. Ein Irrtum, mein Lieber. Na gut, die Laura
hat mir ein paar Minuten zugehört. Aber auch nur
aus Mitgefühl, vermute ich."
„Die Laura vom Eichinger?"
„Ja, die. Irgendwie eine verwandte Seele."
„Da schau her. Sehr enttäuscht, wegen heute
Abend?"
„Ach wo. Aber leicht angesäuselt, das Leben durchs
Veltlinerglas betrachtend."
„Ja dann ..."
„Ja dann!"
Polt hatte eine sterbende Buhle und einen goldenen
Becher vor seinem inneren Auge, als ihm ein Geruch
in die Nase stieg, der nicht so recht ins Bild passte:
verbranntes Papier. Er schaute sich um und sah in
einem schmalen Durchgang zwischen Mira Martells
Presshaus und dem Gebäude daneben ein Häufchen
Asche, dazwischen einen noch glosenden Stapel. Er
zog ein halb verkohltes Blatt heraus: Hannes Eichingers
Einladung in die Weinlounge. Laura hatte o(enbar
bald die Lust am Zettelverteilen verloren. Und
da war noch was: eine kleine, bunte, aus Wollfäden
gewickelte Puppe lag in der Asche. Ohne viel nachzudenken,
steckte Polt sie ein. Und Laura? Die zog
jetzt wohl mit Freundinnen und Freunden durch die
Gegend. Polt gönnte ihr den Spaß, so wie er seinen
Heimweg durch eine Kellergasse genoss, in der ausnahmsweise
ein wenig Leben war.
Als er sich dem Presshaus von Bertl Bayer näherte,
begegnete ihm dieses Leben ein weiteres Mal als Gesangsdarbietung.
Ein martialisch-elegischer Altherrenchor
intonierte mit hörbar schweren Zungen „Ich
hatt' einen Kameraden". Doch schon während der ersten
Strophe mischten sich Störgeräusche ins Klangbild.
Das Lied erstarb, Polt war akustischer Zeuge einer kurzen,
aber heftigen Kamp9andlung. Als er vor der Tür
stand, wurde sie aufgestoßen. Junge Leute, nicht mehr
ganz sicher auf den Beinen, drängten nach draußen,
schoben ihn rücksichtslos zur Seite. Laura war unter
ihnen. Die Tür wurde zugeschlagen, innen drehte sich
ein Schlüssel im Schloss. Polt klopfte, so laut er konnte,
nannte seinen Namen, die Tür blieb zu. Als er den offenbar
ungebetenen Besuchern nachschaute, sah er, ein
paar Schritte zurückgeblieben, einen, den er zu kennen
glaubte. Er rief ihm nach. Der junge Mann stutzte, ging
dann aber schneller und verschwand in der Gruppe.
Jetzt erst bemerkte Polt starken, um nicht zu sagen
aufdringlichen Blütenduft. Er drehte sich zur Seite
und sah Mira Martell, diesmal in einen Kaschmirschal
von monströser Eleganz gehüllt. „Sie hier?"
„Wo sonst? Immer noch auf der Suche nach Publikum
... Diesmal als ‚femme entretenue‘."
„Als was?"
„Als Halbseidene, vulgär gesagt. Sie sehen in mir
und riechen an mir die ‚Kameliendame‘, die beste
unter meinen sehr vielen, sehr guten Rollen. Sarah
Bernhardt war ich vielleicht keine. Aber verdammt
nahe dran."
Polt musterte sie argwöhnisch. „Sie haben viel zu
wenig an bei der Kälte. Und morgen sind Sie dann
krank."
„Morgen? Ich zitiere: ‚Was liegt daran, ob ein Mädchen
wie ich mehr oder weniger in der Welt ist?‘"
„Unsinn! Und jetzt kommen S' mit. Wenn Sie möchten,
gibt's einen heißen Tee bei mir."
Schweigend gingen die beiden nebeneinander her.
Nach ein paar Minuten zupfte die Schauspielerin Polt
am Rockärmel. „Da, schauen Sie: ein Geisterballett!
Elben, Elfen, wie ich vermute, von ein paar Faunen
bedrängt."
Tatsächlich sah nun auch Polt bewegte Schatten
auf einer weiß gekalkten Mauer. Aber es war doch
windstill ...? Kurz darauf erlosch hinter den Presshäusern
eine Straßenlaterne und das Spiel versank
im Dunkel. Polt hielt rasch Nachschau, konnte aber
nichts entdecken. Langsam gingen sie weiter. Dort,
wo die letzten Presshäuser standen und hinter einer
dunklen Ackerfläche die Lichter von Burgheim schon
nahe waren, blieb Mira Martell stehen und lehnte sich
an Polt. „Sie entschuldigen schon, mon cher."
„Ist Ihnen nicht gut?"
„Ganz im Gegenteil. Aber ich hätte gerne mehr
Freunde in meinem selbst gewählten Exil. Na ja. Man
kann nicht alles haben. Oder vielleicht doch?"
Weiter oben in der Kellergasse zerriss plötzlich
laute, verzerrte Musik die Stille. Wenig später sah Polt
ein Polizeiauto mit Blaulicht, doch in mäßigem Tempo
vom Dorf her in die Kellergasse einbiegen. „Schöner
Herbstzauber, das alles", murmelte Polt.
Mira Martell lächelte fein. „Sie waren doch einmal
Gendarm, mon cher Polt. Wollen Sie nicht wissen,
was los ist?"
„Muss mich nicht mehr interessieren. Außerdem
kann ich's mir fast denken."
Dann wurde es still und die Nacht blieb ungestört.
Frau Martell hatte sich untergehakt. An der Brücke,
die über den schmalen Wiesbach führte, blieb sie stehen.
„Darf ich Sie küssen?"
„Nein."
„Dann will ich auch keinen Tee."
Spätnachts stand Polt dann vor dem Haus, das ihm
Aloisia Habesam vererbt hatte. Er wohnte seit Jahren
mit seiner Familie darin, fühlte sich aber immer noch
als Gast. Derzeit, so ganz ohne Mitbewohner, war viel
zu viel Platz um ihn, auch zu viel Stille, obwohl er es
doch gerne ruhig hatte. Seltsam: Hier war ihm auch
nicht nach Wein. Der gehörte ins Presshaus, das jetzt
verlassen in der Kellergasse stand. Im Schlafzimmer
strich Polt mit der Hand über Karins Bett, wandte
sich unschlüssig ab und begab sich in die Gemischtwarenhandlung.
Hier war er wenigstens von vielen
Bildern und Gerüchen umgeben, wusste sich irgendwie
geborgen.
Er nahm hinter dem Verkaufspult Platz, holte eine
Schokobanane aus dem Glas, steckte sie in den Mund
und spürte, wie er ruhiger wurde. Er war fast eingeschlafen,
als er glaubte, ein Geräusch zu hören. „Ja,
Frau Aloisia?" Er schaute sich um. Da war nichts, da
war niemand. Nur das Bild einer alten Frau mit jungen
Augen war in ihm, so lebendig wie stets. „Na, Frau
Aloisia", murmelte Polt, „was halten Sie vom Herbstzauber
in der Kellergasse?"
Wie zu erwarten, bekam er eine Antwort: „Bsoffene
Gschicht, Simon. Und du bist auch nicht mehr
nüchtern. Ins Bett mit dir!"
Zwischenzeit
Pünktlich um acht ö(nete Simon Polt unter den
wachsamen Augen der verblichenen Aloisia Habesam
seine Gemischtwarenhandlung. Für ihre machtvolle
Präsenz im Diesseits sorgte ein feierlich gerahmtes
Gemälde. Polt hatte sich nichts dabei gedacht,
als ihn sein Sohn eines Tages um ein Foto von
der ehemaligen Dienstgeberin gebeten hatte. Peter,
in den Weiten und Tiefen des Internet nicht minder
zuhause als im Wiesbachtal, hatte herausgefunden,
dass Ölbilder, nach irgendwelchen Vorlagen gemalt,
erstaunlich preiswert zu bekommen waren. Damit
hatte er ein schönes Geschenk zum 60. Geburtstag
seines Vaters gefunden. Seit damals schaute die
Kau(rau hoch über Polt hinweg gebieterisch jedem
Kunden entgegen und ließ keinen Zweifel daran,
wer hier das Sagen hatte, auch wenn es schweigend
geschah.
Dennoch hatte Polt einiges verändert, nichts
Grundlegendes natürlich: Frau Habesams Lagerhaltung
hatte einer in genialischem Überschwang schwelgenden
Krämerseele entsprochen. Polts Lagerhaltung
begnügte sich mit einem immerhin irgendwie überschaubaren
Chaos. Frau Habesams Geschäftsprinzip
war hartnäckige Habgier gewesen, Polt begnügte sich
mit bescheidenem Gewinnstreben. Außerdem gab es
nunmehr ein eigenes Regal mit Produkten aus dem
Wiesbachtal und der näheren Umgebung. Natürlich
gehörte auch Karins Quittenkäse dazu: sehr fest, mit
einer fast schon erschreckenden Zitronennote. Wenn
Polt, wie üblich, wochenlang nichts davon verkauft
hatte, verzehrte er ihn heimlich und berichtete seiner
Frau dann vom reißenden Absatz ihrer Köstlich'
keit, nicht ohne anzumerken, dass sie sich mit der
Nachlieferung ruhig Zeit lassen könne, er wolle sie
ja nicht überfordern.
„Und jetzt nimmst den Besen und kehrst auf. Ein
reines Herz und ein sauberer Fußboden gehören zusammen,
sag ich immer!" Polt hatte die morgendliche
Befehlsausgabe im Hause Habesam noch gut im Ohr.
Er murmelte: „Ja, Frau Aloisia", und ging ans Werk.
Nach getaner Arbeit warf er einen prüfenden Blick
auf das Bildnis der Kau(rau selig und hätte schwören
können, dass ihre Miene Anzeichen widerwilligen
Wohlwollens zeigte. Dann sah er Friedrich Kurz bacher
durch die Tür kommen, diesmal ohne Einkaufs tasche.
Der alte Weinbauer schaute sich um. „Wie geht das
Gschäft, Simon?"
„Heute bin ich noch schwer im Minus. Die einzige
Kundschaft bis jetzt war ich: eine Käswurstsemmel."
„Mit Gurkerl?"
„Mit Gurkerl. Und was willst einkaufen, Friedrich?"
„Wir haben morgen Hochzeitstag, den 50., die Frieda
und ich."
„Also dass du an so was denkst ..."
„Ich nicht. Die Frieda denkt dran. ‚Ich sag's dir lieber‘,
hat sie gesagt, ‚weil du ja sonst darauf vergisst.
Dann müsst ich beleidigt sein, und die Umständ kann
ich mir ersparen.‘"
„Eine gescheite Frau, die du da hast. Und was soll
es sein?"
„Ich hab mir gedacht, du weißt was."
„Seit wann weiß ich was? Das erfordert eine gemeinsame
Geistesanstrengung."
„Trinken wir was?"
„Trinken wir was. Aber Ka(ee, um die Tageszeit.
Komm mit nach hinten, Friedrich."
Nach eingehender Beratung war Polt in die Tiefe
seiner Lagerräume getaucht und kam mit einem sittsam
langen Nachthemd aus wärmendem Flanell zurück.
„Eigentlich schade, dass nur du sie darin siehst."
„Du musst nicht alles haben, Simon. Warst noch
lang im Presshaus, gestern?"
„Ja, schon ... eine Stunde vielleicht. Und auf dem
Heimweg ist mir dann diese Schauspielerin untergekommen,
Miratel oder so ähnlich."
„Kenn ich nicht, muss neu sein bei uns."
„Seit drei Jahren ungefähr ist sie in der Gegend."
„Sag ich's doch. Wir waren noch beim Höllenbauer
im Presshaus und nachher haben wir uns beim Punschstandl
umgeschaut, du weißt ja. Die Krimmel Hilda hat
ein paar Zähne weniger im Mund gehabt und ihr Mann
ein Messer im Bauch, aber nur ein kleines. Als die Polizei
mit dem Arzt gekommen ist, haben sich die zwei
schon wieder vertragen." Friedrich Kurzbacher stand
mit einiger Mühe auf. „Alt sollt man nicht werden."
„Wem sagst du das?" Polt schaute zur Ladentür hin.
„Und der da passt irgendwie zum Thema."
„Wer da?"
„Der Erwin Städtner. Unser Totengräber."
Jetzt hatte es Kurzbacher eilig. „Ich geh dann."
„Ganz ruhig, Friedrich. Der Erwin ist ja auch noch
Schulwart, Obmann des Radwandervereins und Heurigenwirt
in seinem Presshaus."
„Aber den Geruch wird er nicht los, Simon." Kurzbacher
versetzte im Vorbeigehen dem vielseitig jenseitigen
Mann einen friedlichen Rempler und suchte
das Weite. Erwin Städtner grinste und stellte eine
große Schachtel auf das Verkaufspult. „Neue Lieferung
von der Elisabeth: Marmelade aus eigenen
Äpfeln und Weingartenpfirsichen. Mit Zimt, mein
Lieber! Wie ich dich kenn, magst kosten."
„Na klar! Das gehört zu den Pflichten eines gewissenhaften
Gemischtwarenhändlers."
„Und? Wie schmeckt die Pflicht?"
„Nach mehr. Warst du übrigens gestern bei diesem
Kellergassenfest?"
„Keine Zeit. ‚O(ene Kellertür‘ in Brunndorf, und
ich war an der Reihe. Jedenfalls ist es schon recht,
wenn sich wenigstens irgendwas tut. Die alten Zeiten
in der Kellergasse kommen so und so nicht wieder.
Nur mit dem Friedhof vertragen sich solche Feste
ganz und gar nicht. Fast jedes Mal gibt es Ärger und
Arbeit für mich, unbezahlt natürlich. Diesmal waren
die Grablichter nicht mehr dort, wo sie hingehören.
Vor der Kapelle hab ich die leergebrannten Gläser
gefunden und noch ein paar Reste von Feuerwerkskörpern
dazu. Wenn junge Leute genug Alkohol oder
noch Ärgeres in sich haben, passieren solche Blödheiten.
Die Alten saufen ja um nichts weniger. Aber
die Toten lassen sie in Frieden ruhen."
„Dann hab ich mich doch nicht getäuscht in der
Nacht. Ich möcht nur wissen, was an einem Friedhof
so unterhaltsam ist."
„Keine Ahnung, Simon. Aber vielleicht ist denen
das normale Leben einfach nicht genug. Es muss halt
noch mehr sein, überdrüber, wie mein Bub, der Martin,
sagt. Und dann wird auf dem Friedhof gefeiert,
todlustig, sozusagen. Und ich darf aufräumen."
„Gehst zur Polizei deswegen?"
„Das werd ich schön bleiben lassen. Die legen
einen Akt an, und den begraben sie unter anderen
Akten. Ein Aktenfriedhof für den Friedhofsakt. Dem
leuchtet garantiert kein ewiges Licht, sag ich dir.
Und ich geh dann. Schließlich hab ich ja ein paar
Berufe."
„Bring halt nichts durcheinander, Erwin."
Es war dann wenig los, an diesem Montagvormittag.
Freitag und Samstag hatten Familien eingekauft, die
ins Wiesbachtal kamen, um dort von den unverfälschten
Freuden des Landlebens zu kosten, und
sich mit bemühter Herzlichkeit wichtig machten
unter den schlichten, aber ehrlichen Leuten hier. Das
Kau9aus Habesam gehörte für sie zur heimischen
Folklore, mit Simon Polt als verschrobenem Ladenhüter.
Sie redeten ihn mit dem Vornamen an und
beugten sich vertraulich über den Ladentisch, wenn
sie Polt betont beiläufig von der Bedeutsamkeit ihres
Daseins draußen in der Welt erzählten. Sie klopften
ihm auf die Schultern, nahmen ihn an den Oberarmen,
grinsten endlich breit und abschiednehmend.
Auch jüngere Menschen aus der Gegend kauften
bei ihm ein, weil es hier Waren gab, die nicht im Supermarkt
zu finden waren. An gewöhnlichen Wochentagen
war Polt aber auf jene angewiesen, für die der
Einkauf im Kau9aus Habesam seit Jahrzehnten ein
wenig Farbe und Nähe in ihren einsamen Alltag brachte.
Und sogar der Bürgermeister ließ sich zuweilen
blicken, weil er Polt mochte, seinen Beitrag zur Nahversorgung
schätzte und weil er auf keine Wählerstimme
verzichten konnte.
Gegen Mittag stahl sich ein begehrliches Lächeln
in Polts kaufmännisch beflissene Züge. Er holte aus
der Kühlvitrine Speck vom Herbert Gassl, einem
der wenigen im Tal, die noch Schweine hielten.
Ohne nachdenkliche Blicke seiner gesundheitsbewussten
Frau fürchten zu müssen, schnitt er ein gut
daumendickes Stück ab. In seinem kleinen Büro, in
dem auch ein Herd stand, hatte er schon vorsorglich
Erdäpfel weichgekocht, die er nun schälte und
zerteilte. Dann legte er den Speck vor sich hin und
hielt inne: Schneeweiß lag er da, reines, kerniges
Fett, die pure Sünde, fern jeder Fleischeslust. Polt
dachte nicht daran, der Versuchung zu widerstehen,
trennte ein paar hauchdünne Scheiben ab, zerdrückte
sie zwischen Zunge und Gaumen. Dann rief
er sich zur Pflicht, schnitt kleine Würfel, häufte sie
in die Pfanne und schaute zu, wie das Weiß glasig,
dann goldbraun wurde. Er stellte die knusprigen
Würfel zur Seite - nicht alle, versteht sich, weil das
Kosten nun einmal zum Kochen gehört. Das flüssige
Fett goss er mit ein wenig Suppe auf, die ihm vom
Vortag geblieben war, und gab Salz, Pfe(erkörner
und ein Lorbeerblatt dazu. Polt ließ die Sauce einkochen,
staubte sie mit ein wenig Mehl und rundete
sie endlich mit einem Spritzer Essig ab. Die Erdäpfel
kamen dazu, behutsam wurde erwärmt und noch einmal
aufgekocht. Endlich saß der Koch als sein Gast
vor dem dampfenden Teller, überhöhte sein derbes
Kunstwerk mit einer unverschämt großen Menge von
Speckwürfeln, holte ein Bier aus dem Kühlschank
und ließ sich Zeit für eine dichte, luftig aufgewölbte
Schaumkrone. Da saß er denn, von grausamer Hand
in sein früheres einschichtiges Junggesellendasein
gestoßen, und genierte sich nicht, sein bedauerliches
Schicksal hemmungslos zu genießen. Dann hörte er
ein Geräusch und sah seine nächtliche Begleiterin
in der Tür stehen.
„Verzeihen Sie mein freches Eindringen, sozu sagen
hinter die Kulissen."
„Ist schon recht. Was führt Sie zu mir?"
„Darf ich Ihnen was vorspielen, Herr Polt?"
„Meinetwegen."
„Ja dann! Vorhang auf für den schäbigen Rest einer
theatralischen Nacht ohne Applaus. Also: Die Bühne
ist leer, viel zu leer. Gelangweilte Schatten fressen
gleichgültige Lichter auf. Ach was. Ich habe keine
Lust mehr. Das Stück ist aus. Was hat es denn zu Mittag
gegeben? Riecht ja fantastisch."
„Erdäpfel mit Speck."
„Das passt zu Ihnen."
„Frechheit oder Kompliment?"
„Beides. So bin ich eben. Wie lebt es sich denn so
im Gemischtwarenmuseum?"
„Ganz gut, Frau ..."
„Martell, Mira Martell. Geboren wurde ich als
Helga Hinterstoisser. Vielleicht wäre ich besser dabei
geblieben. Darf ich mich als solche zu Ihnen setzen,
ganz ohne blöde Allüren?"
„Ja, schon."
„Wie schau ich denn aus heute?"
„Anders als gestern jedenfalls. Aber da war's ja
finster."
„Also klein, zerknittert, weniger als unscheinbar."
„Das haben Sie gesagt."
„‚Das Alter ist der erste Tod der Buhlerinnen.‘"
„Ist der Satz von Ihnen?"
„Klug gefragt. Nein, schon wieder diese Kameliendame."
„Was ist das für eine?"
„Macht die Männer zu Narren, wenn sie nicht gerade
Blut spuckt. Beides geht an die Substanz und
führt zum frühen Tod. Wie gehen die Geschäfte?"
„Es geht."
„Und wie sind die Kritiken zu dieser Schmierenkomödie
in der Kellergasse?"
„Gemischt."
„Wie es Ihrem gemischten Gewerbe entspricht. Sie
wissen also auch nicht mehr als ich? Natürlich nicht.
Blöde Frage. Und jetzt kaufe ich bei Ihnen ein. Endlich
wieder eine Premiere!"
„Muss aber nicht sein."
„Also vor allem möchte ich Ihr Mittagessen nachkochen.
Erdäpfel hab ich zuhause. Was brauche ich
noch?"
Nach geraumer Zeit wandte sie sich mit zwei prall
gefüllten Taschen zum Gehen. In der o(enen Tür verharrte
sie zögernd. „Herr Polt?"
„Ja?"
„Nur noch eine Frage, damit ich weiß, woran ich
bin: Würden Sie noch einmal mit mir ein Stück des
Weges durch die Nacht gehen, nur so weit, bis wir
uns beide auskennen?"
„Wenn sich's ergibt ..."
„Es wird sich ergeben."
Aussee, feiert am 5. Oktober seinen
70. Geburtstag! Komarek ist Autor zahlreicher
Bücher, in denen er sich als literarischer
Wegbegleiter durch österreichische und europäische
Kulturlandschaften erweist, aber auch
als Essayist und Erzähler, sowie als Gestalter
von Features und Feuilletons, Drehbüchern
und Dokumentationen fürs Fernsehen. Seine
Krimis der Polt-Serie schafften alle den Sprung
in die Bestseller-Listen und wurden für das
Fernsehen verfi lmt, ebenso seine Roman-
Tetralogie, die im Salzkammergut spielt. 2011
wurde Alfred Komarek mit dem „Ehrenpreis
des österreichischen Buchhandels für Toleranz
in Denken und Handeln“ ausgezeichnet.
Der Autor lebt als freier Schriftsteller in Wien,
Bad Aussee und Niederösterreich.
- Autor: Alfred Komarek
- 2015, 5. Aufl., 184 Seiten, 1 Schwarz-Weiß-Abbildungen, 1 Abbildungen, Maße: 13,7 x 21,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Haymon Verlag
- ISBN-10: 3709971772
- ISBN-13: 9783709971772
- Erscheinungsdatum: 23.09.2015
4.5 von 5 Sternen
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