Altern wie ein Gentleman
Zwischen Müßiggang und Engagement
Nachdenklich und selbstironisch. Sven Kuntze vollbringt das Kunststück, den Leser für das Alter einzunehmen.
Der renommierte Journalist Sven Kuntze zieht nach drei Jahren "Lehrzeit" eine erste Zwischenbilanz seines...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Altern wie ein Gentleman “
Nachdenklich und selbstironisch. Sven Kuntze vollbringt das Kunststück, den Leser für das Alter einzunehmen.
Der renommierte Journalist Sven Kuntze zieht nach drei Jahren "Lehrzeit" eine erste Zwischenbilanz seines Ruhestands: Wie man vom rasenden Reporter zum entschleunigten Genießer wird. Was er in drei Jahren mit sich und anderen erlebte, gibt auch allen Nachgeborenen Anlass, sich Gedanken über den anstrengenden Schneller-Höher-Weiter-Alltag zu machen.
"Ein herrliches, wirklich großartiges Buch, das mir das erste Mal ein bisschen die Angst vorm Älterwerden genommen hat."
Markus Lanz
Klappentext zu „Altern wie ein Gentleman “
Die Lebensbilanz des bekannten und beliebten JournalistenDer Ernst des Arbeitslebens sitzt uns tief unter der Haut das merkt man spätestens mit der ersten Rentenrate, meint Sven Kuntze, renommierter Journalist im Ruhestand. Denn mit dem Ende geregelter Arbeit drohen Verlust des Selbstwertgefühls und Lebensunordnung. Kuntze erinnert sich zu Beginn seiner neuen Zeitrechnung, dass über Jahrhunderte Muße unser Lebensziel war, nicht Arbeit. Wie aus dem Arbeitenden ein Flaneur, ein entschleunigter Genießer wird, verfolgt er an sich und einigen Altersgenossen. Um die Freiheit von Arbeit schätzen zu lernen, muss er sich neu erfinden, dabei alle unerbetenen Ratschläge genauso in den Wind schlagen wie frühes Aufstehen und Tagesplanung. Was Sven Kuntze in drei Jahren Ruhestand mit sich und anderen erlebt, mit Witz, Nachdenklichkeit und Lebensfreude kommentiert, gibt jedem Anlass, lange vor dem Ruhestand das "Schneller Höher Weiter" des Alltags kritisch zu beleuchten.
Zugleich ein weises Buch, das zum Nachdenken über die Werte und Ziele des Lebens anregt.
'Sven Kuntzes sehr persönliches, faktenreiches und gut erzähltes Buch über den letzten Lebensabschnitt vollbringt das Kunststück, den Leser für das Alter einzunehmen, ihn existentiell und nicht nur statistisch für den demographischen Wandel zu interessieren.' -- Frankfurter Allgemeine Zeitung
"Ein herrliches, wirklich großartiges Buch, das mir das erste Mal ein bisschen die Angst vorm Älterwerden genommen hat." -- Markus Lanz
"Ein ebenso nachdenkliches wie selbstironisch-amüsantes Buch." -- west.art Magazin
"Ein herrliches, wirklich großartiges Buch, das mir das erste Mal ein bisschen die Angst vorm Älterwerden genommen hat." -- Markus Lanz
"Ein ebenso nachdenkliches wie selbstironisch-amüsantes Buch." -- west.art Magazin
Lese-Probe zu „Altern wie ein Gentleman “
Altern wie ein Gentleman von Sven Kuntze... mehr
Dies ist kein Ratgeber und möchte es auch nicht sein. Die gibt es in großer Zahl, und sie werden wöchentlich mehr. Recht besehen, geben sie alle den gleichen Rat: täglich zwei Gläser Rotwein, Hände weg von Zigaretten, gesunde Ernährung, regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen, soziale Nähe, häufigen Sport und Lebenssinn, wo immer man ihn kriegen kann. Ich bin jedoch der Überzeugung, dass die Vergangenheit meiner Generation ihr vor allem eine Reihe von Pflichten auch im Rentenalter auferlegt hat. Von denen handelt neben anderem dieses Buch.
Mit Arbeitsende beginnt für die »Vierziger« ein Leben, das sich tiefgreifend von dem vergangener Rentnergenerationen unterscheiden wird. Es teilt sich in zwei Phasen: die des »Voralters«, das bis Ende siebzig dauert, und das anschließende »klassische Greisenalter«, das sich lange hinziehen kann und sich überdies statistisch jedes Jahr um weitere drei Monate verlängert. An diejenigen, die in die historisch neue und unerhörte Phase des »Vor-alters« eintreten, wende ich mich.
Woher aber weiß ich, was ich zu wissen vorgebe?
Ich bin selbst im Alter. Ich habe zahlreiche Gespräche geführt und ebenso viele Bücher und Artikel gelesen, deren Autoren ich viele Anregungen und manche Einsicht verdanke. Sie werden im Folgenden nicht im Einzelnen zitiert, denn dies ist keine wissenschaftliche Arbeit, sondern eine persönliche Grille, die unberechenbar kreuz und quer durch die Gefilde streift.
Zahlreiche Einsichten verdanke ich meiner Mutter, die ich in einem Heim für Gutbetuchte bis in ihre letzten Stunden begleitete. Ich habe außerdem in den Vereinigten Staaten recherchiert, wo zukünftige Entwicklungen oft vorweggenommen werden, und mich im Rahmen eines Filmprojekts für drei Monate in der Senioren resi denz »Rosenpark« einquartiert. Diese Einrichtung liegt in Zollstock, einem Kölner Arbeiterviertel. Der lang gestreckte, in sanftem Gelb getünchte Bau aus solidem, hellhörigem Beton ist zehn Stockwerke hoch und beherbergt etwa dreihundertfünfzig Mieter in Apartments verschiedener Größe. Jede Einheit verfügt über einen Balkon. An dessen Begrünung lassen sich treffsichere Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand der Mieter ziehen.
»Neu Zugezogene machen aus ihren Terrassen bunte, üppig blühende Oasen, durchsetzt mit Nutzkräutern. Das lässt dann mit der Zeit nach. Wenn nur noch einzelne verdorrte Zweige übrig geblieben sind, die zu entsorgen sich keiner mehr die Mühe macht, dann weiß man, dass es dem Ende zugeht«, erläutert mir eine Heimangestellte den subtilen Zusammenhang zwischen Geranienpracht und körperlichem Verfall.
Ich bin furchtsam und zögerlich eingezogen. Die tägliche, oft trostlose Praxis des Alterns wurde freilich übertroffen durch die Reaktionen von Freunden und Bekannten, denen ich von meinem Vorhaben erzählte. Die einen glaubten, ich hätte den Verstand verloren, mich freiwillig solchen Erfahrungen auszusetzen. Andere wiederum hielten mich für einen Helden, der das Wagnis eingeht, unbewaffnet in die Höhle des Löwen einzudringen oder, wie einer es plastisch formulierte, mit einem Zahnstocher bewaffnet in den Irakkrieg zu ziehen. Interessierte Nachfragen und neugieriges Insistieren waren die seltene Ausnahme.
Ich habe in dieser Zeit oft überlegt, was das wohl für ein fremder und gefährlicher Volksstamm sein mochte, der da gleichermaßen Entsetzen und Furcht hervorrief. Es sind unsere Eltern und Großeltern, die wir in Heime abgeschoben haben, oft in der Hoffnung, dass sie dort still und unauffällig ihr Leben zu Ende leben.
Ich habe mit ihnen geschwätzt, gelitten, gelacht und abends manche Flasche Rotwein geleert. Sie haben mich ohne Scheu am Älterwerden in seinen ruhigen und tröstlichen Momenten, aber auch in qualvollen Augenblicken teilnehmen lassen. Wir haben über das Fernsehprogramm geschimpft, das Essen und den ständig überfüllten Aufzug. Wir waren uns einig, dass Alter weder gnadenvoll noch erstrebenswert ist, sondern eine unvermeidbare Pflicht, die man zu ertragen und zu bewältigen hat. Wir haben ausgiebig von der Vergangenheit berichtet, aber die Zukunft vermieden und keine Pläne mehr geschmiedet. Wir waren froh, in der Gegenwart vorläufig ein Auskommen zu haben.
Das waren tapfere Menschen, die ohne zu klagen die oft elenden letzten Jahre hinter sich brachten. Wer stille Helden sucht, findet sie in diesem wie in jedem anderen Altenheim. Sie haben mich viel über menschliche Würde gelehrt, aber deren rätselhaftes Auftreten angesichts oft unvorstellbaren Leidens auch nicht erklären können.
Die Tapferkeit anderer angesichts von Leid und Tod tröstet und stärkt: »Was die krebskranke alte Frau Kehrer aus dem dritten Stock kann, die immer noch lacht und guter Dinge ist, das kann ich auch!«, behauptete mein Nachbar, der links von mir wohnte, entschlossen, als wir zur späten Stunde zusammensaßen.
Was im Augenblick des Todes geschieht, wissen wir natürlich nicht, und es lohnt auch nicht, darüber nachzudenken, selbst wenn die Sprache Worte dafür hat. Aber das Sterben kennen wir. Selbst wenn es schmerzvoll ist, entwickeln die Betroffenen häufig eine Haltung von erschütternder Würde und Gelassenheit während der Strapazen der letzten Wochen, Tage und Stunden. Zum Ende wirken sie oft wie befreit und empfinden Genugtuung, die große, abschließende Herausforderung bewältigt zu haben. Thomas Mann notiert verunsichert angesichts des eigenen Alters: »Es gab wohl selten ein solches Ineinander von Qual und Glanz.« Es ist da etwas in uns verborgen, das ganz gegen Ende zum Vorschein kommt. Wir wissen nicht genau, was es ist, denn die Eigentümer haben das Geheimnis stets noch mit in ihr Grab genommen.
Der »Rosenpark« war ursprünglich einmal als Studentenheim geplant gewesen. Folglich wurde in dem engen Treppenhaus ein schmaler Aufzug eingebaut, der jungen Leuten gute Dienste erwies, nicht jedoch Senioren, die mit Gehhilfen unterwegs sind.
Einer rätselhaften Neigung folgend, drängten die Alten stets gemeinsam in die kleine Aufzugskabine, gerade so, als ob sie alle zur selben Stunde Unaufschiebbares zu verrichten hätten. Von Gelassenheit und Altersweisheit keine Spur. Mir hat keiner die Ursache dieser lästigen Gleichzeitigkeit, die jeden Tag aufs Neue zu Zank und Chaos führte, erklären können.
»Warten Sie, die Frau Kohrs muss erst raus!«
»Wo ist die?«
»Hinten.«
»Da ist sie gut aufgehoben, wenn sie als Erste raus muss.«
»Ich kann nicht, die Frau Eberts steckt mit ihrem Rollator in meinem!«
»Frau Eberts, ziehen Sie Ihren halt zurück!«
»Geht nicht, ich steh schon mit dem Rücken zur Wand!« »Vorsicht, die Tür geht zu!«
»Kann sich einer in die Lichtschranke stellen?«
»Was ist das?«
»Wo ist die?«
»Schreien Sie nicht so laut!«
»Ich schrei nicht. Sie haben Ihr Hörgerät falsch eingestellt!« »Frau Schmitz, passen Sie doch auf, in meiner Tasche sind Eier!«
»Warum hängt die auch seitlich!«
»Weil an dem Korb die rechte Schraube fehlt.«
»Ich will raus!«
»Jetzt warten Sie doch!«
»O Gott! Da hinten kommt der Höhner.«
»Haben Sie mitbekommen, wie dem gestern besoffen die Hose runtergerutscht ist?«
»Da schauen Sie natürlich hin!«
So geht das täglich hin und her, während die alten Leute in panischer Angst, den Ausstieg zu verpassen, an ihren verkeilten Rollatoren zerren.
Weitere Erfahrungen habe ich während meiner Berufsjahre in den USA gesammelt, als ich die Seniorenresidenz »Steps to Heaven« südlich von Orlando (Florida) besuchte. Steve Hodges, ein Heimbewohner, der für Gästebetreuung und Außendarstellung der Einrichtung verantwortlich war, führte mich durch die zweistöckige Anlage, die sich ausufernd zwischen Bougainvilleen, Palmen und sattem Rasen hinzog. Ich plante damals einen Film über Sterbehilfe und wollte mich in den folgenden Tagen mit einzelnen Bewohnern über das Thema unterhalten. Vorläufig jedoch machte mich Steve mit dem Gelände vertraut und erklärte, dass jeder Heimbewohner nach Maßgabe seiner Kräfte in Verwaltung und Küche, bei Gartenarbeit und Sterbebegleitung mithelfen müsse, um die eigene und die Lebensqualität der Mitbewohner zu erhöhen und die Kosten für die Allgemeinheit zu senken.
In dieser Einrichtung habe ich erfahren, dass es ein vergnügliches Leben im Altenheim geben kann und dass dessen Architektur sich nicht an der von Gefängnissen orientieren muss. Nicht die Altenheime, sondern ihre Unwirtlichkeit sind das Problem.
Und schließlich war ich Zeuge des langen Abschieds meiner Mutter. Sie kam aus einem guten Stall, wie man in ihren Kreisen zu sagen pflegte, und aus einer Zeit, in der die häuslichen Angestellten noch Gesinde hießen. Sie lehrte mich Bridge, den Unterschied zwischen Weißwein- und Rotweingläsern und den Gebrauch eines Austernmessers und entließ mich ins Leben mit dem Hinweis: »Vorne ist Platz, hinten drängeln sich die kleinen Leute.« Eine Einsicht, die zwar etwas altertümlich daherkommt, aber durchaus gute Dienste leisten kann.
Als sie mit Ende Siebzig aus freien Stücken in ein Heim zog, wollte sie sich dort in der kleinen Bibliothek nützlich machen. Die Bitte wurde ihr abgeschlagen. Sie hätte genug gearbeitet und nun das Recht und vermutlich auch die Pflicht, in ihrem gemütlichen Lehnstuhl zu sitzen und auf das Ende zu warten. Das tat sie dann auch.
In den letzten Jahren verlor sie ein wenig den Überblick und entwickelte eine dadaeske Listigkeit. Eines Tages, als ich sie am späten Vormittag besuchte, saß sie aufrecht im Bett und las verkehrt herum die Frankfurter Allgemeine.
»Mama, du liest Zeitung, recht so!«
»Auch eine alte Frau darf erfahren, was vor sich geht.«
»Aber du kannst doch kein Wort entziffern, wenn die Zeitung auf dem Kopf steht.«
»Und wenn schon - wen interessiert, was ich noch weiß?«
Von ihr habe ich viel über Gelassenheit und jene kalte Illusionslosigkeit gelernt, die Agnostikern angesichts der Vergänglichkeit eigen sein kann.
Ich habe mich schwergetan mit diesem Buch. Ständig kam Wichtiges dazwischen. Ich begann plötzlich, überaus gewissenhaft Tageszeitungen und Wochenmagazine zu lesen, und schaute die Fernsehseiten sorgfältig auf interessante Sendungen durch. Bei Telefonanrufen verzichtete ich fortan auf die Überprüfung der Teilnehmernummer, bevor ich den Hörer abnahm, und verwickelte jeden Anrufer in endlose Gespräche. Ich trieb mich oft ziellos und lange in Buchläden, Kaufhäusern und Einkaufspassagen herum und wurde selbst beim Erwerb von Seife oder einer Tube Tomatenmark seltsam sorgfältig. Unvermittelt entwickelte ich eine verblüffend emotionale Nähe zum Abwasch und der Suche nach Krümeln auf dem Küchentisch. Als ich jedoch begann, idiotische Patiencen auf meinem elektronischen Schreibgerät zu spielen und die Ecken meiner Wohnung mit Wattestäbchen zu säubern, wurde mir klar, dass etwas aus dem Ruder gelaufen war.
Ein befreundeter Psychologe hatte bald die Ursache meiner bizarren Geschäftigkeit erkannt: »Du schwächst durch das Buch den Verdrängungsschutz zu deinem Thema«, erklärte er, »deswegen flüchtest du in Ersatzhandlungen, die du zwar für sinnvoll hältst, die dich aber lediglich von der Beschäftigung mit dem Alter abhalten sollen.«
»Warum sollte ich das tun?«
»Weil die Verdrängung zu den wichtigsten Werkzeugen der Psyche gehört, um, neben vielem anderen, das Altern zu ertragen. Ohne Verdrängung würden wir nicht sehr weit kommen.«
»Und was verdräng ich so?«
»Das Morgengrauen.«
Das war eine ebenso hübsche wie trostlose Verdichtung eines komplexen Sachverhalts.
Nun hatte Verdrängung in meiner Generation eine miserable Presse gehabt angesichts der gigantischen Verdrängungsleistung unserer Eltern, die das erstaunliche Kunststück fertiggebracht hatten, sechs Millionen ermordeter Juden aus ihrem Gedächtnis zu tilgen, bis meine Generation sie unsanft daran erinnerte.
Um zu verhindern, dass unschöne Erinnerungen oder Vorstellungen uns mit der Zeit die Lebensfreude rauben, hat die Natur der menschlichen Psyche die Fähigkeit zur Verdrängung beigemischt. Durch die Jahrtausende war sie ein stiller, wenig beachteter Wegbegleiter durch die Generationen. Man bediente sich ihrer je nach Anlass, ohne sie bewusst wahrzunehmen. Diese Bewusstlosigkeit war eine wichtige Voraussetzung ihrer Wirkung. Die Einsicht in die Arbeitsweise der Verdrängung hätte vermutlich ihre segensreiche Fähigkeit beschädigt, die Gegenwart von einer quälenden Vergangenheit oder einer ungewissen Zukunft zu entlasten.
Wer ins Alter kommt, benötigt den Abwehrmechanismus der Verdrängung mehr denn je. Die Vielzahl der drohenden Verluste und Beschädigungen, die in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen keinem von uns erspart bleiben, wären bei ständiger Präsenz in unserem Bewusstsein schwer zu ertragen. Wir wissen zwar, was auf uns zukommen kann, und kennen die geringen Chancen, dem zu entrinnen, aber wir verdrängen gottlob die drohenden Gefahren stets aufs Neue. Angesichts der Katastrophen unter den Gleichaltrigen, wenn Schicksalsschläge nicht mehr wie einst die Ausnahme sind, sondern zum Regelfall werden, ist das oft mühsames Tagewerk.
Die mit Büchern zum Thema gut gefüllten Buchhandlungs- regale versprechen auf den ersten Blick schonungslosen Durchblick, sind aber, bis auf wenige Ausnahmen, Dokumente der kollektiven Verdrängung des Alterns. Sie bezeugen damit auf ihre Weise, wie wichtig dieser psychische Mechanismus ist. In der Mehrzahl geben die angebotenen Werke ihren betagten Käufern reichlich guten Rat zur korrekten Lebensführung. Wer die ungezählten Empfehlungen zur Vorsorge, Gesundheit, Ernährung, Sinnsuche und Körperertüchtigung gewissenhaft befolgt, dem soll das Alter wie der Vorhof zum Paradies werden, wenn man davon absieht, dass ein Vierundzwanzigstundentag nicht ausreicht, um auch nur einem kleinen Teil der Vorschriften nachzukommen. Die beschwerlichen Begleiterscheinungen der letzten Dekaden indes kommen meist nur am Rande vor und scheinen nach Meinung der Autoren das Schicksal einer bedauernswerten Minderheit zu sein.
Kürzlich hielt ich ein Buch mit dem Titel Älterwerden ist nichts für Feiglinge in Händen. Dieser berühmt-berüchtigte Satz von Mae West zählt in seiner Vielschichtigkeit zu den kostbarsten Einsichten in Bezug auf das Alter. Es braucht demnach das Gegenteil von Feigheit, nämlich Heldentum, um dem Alter würdevoll zu begegnen. Heldentum gehört jedoch kaum zu unseren Alltagserfahrungen, sondern ist seltenen, meist ausweglosen Situationen vorbehalten. Nur in Ausnahmefällen wird die Vergangenheit von uns Heldentum abverlangt haben, nun, im Alter, soll es zum ständigen Begleiter der letzten Jahre werden. Keiner meiner Generation hat Held gelernt. Heldentum war außer Mode gekommen und stand im Verdacht, Verbündeter allerlei dunkler Kräfte zu sein.
Mae Wests düsterer Satz über die Zumutungen des Alterns appel liert an unseren Stolz: Wer ist schon gerne feige! Einer Situation, die unausweichlich ist, kann man zwar nicht entkommen, aber sie wird erträglicher, wenn man sich ihr bewusst stellt und jene kleinen Chancen wahrnimmt, die jede Situation bereithält. Altwerden ist zu schaffen, wenn wir zu Helden werden. Freilich handelt es sich dabei nicht um offizielles Heldentum, über das Medien berichten und das im Ausnahmefall bis in die Repräsentationsräume der höchsten Staatsinstanz führen kann, sondern um ein stilles, unauffälliges Heldentum, das im Alter auf Dauer gestellt werden muss.
Klassisches Heldentum spielt sich sichtbar in der Öffentlichkeit ab und gehört zum Unterfutter nationalen Selbstbewusstseins. Unsere Helden hingegen, die Alten, bleiben bescheiden und halten sich verborgen. Gelegentlich erahnen die nächsten Angehörigen oder Freunde den langen, einsamen Kampf, den viele alte Menschen kämpfen und an dessen Ende jeder alles verliert.
Zu den ergreifenden Erfahrungen gehörten für mich deshalb jene Augenblicke, in denen sich der Vorhang ihrer Selbstdisziplin öffnete und einen kurzen Einblick in die Seelenlage erlaubte, die sie in der Regel vor fremden Augen sorgfältig versteckt hielten.
»Ich kann nicht mehr schlafen und wache jeden Tag vor Morgengrauen auf«, erzählte mir meine Nachbarin im »Rosenpark«. »Das ist zwar lästig, aber das Schlimmste sind die Gedanken, die in den langen Stunden bis Sonnenaufgang über mich kommen.«
Was das für Gedanken seien, wollte ich wissen.
»Ach lassen Sie, das verstehen Sie nicht. Dafür sind Sie noch zu jung.«
Der Vorhang hatte sich wieder geschlossen.
»Das Alter gehört abgeschafft«, vertraute mit der alte Herr Rautenberg in einem Moment der Unachtsamkeit an.
Wie das gehen solle, wo doch jeder alt werden wolle?
»Das muss jeder für sich entscheiden. Ich für meine Person denke oft darüber nach.« Er schaute mich erschrocken an und starrte dann schweigend auf die verdorrten Blumen vor seinem Fenster.
In Bemerkungen solcher Art kommt kurz jene innere Agonie zum Ausdruck, die meinen neuen Bekannten im »Rosenpark« zur ständigen Begleitung geworden war, und man ahnt, welches Maß an Disziplin und Heroismus sie fortwährend aufbringen mussten, um der Umwelt ihre Ängste und Albträume vorzuenthalten. Trotz der frivolen Geschwätzigkeit dieser Tage gibt es mitten unter uns ein unermessliches Terrain von Kümmernissen, Befürchtungen und körperlichem Schmerz, zu dem uns der Zutritt verwehrt bleibt. Wir suchen ihn auch nicht.
Wer die Einsicht von Mae West mit kecker Geste zum Titel seines Buches macht, läuft Gefahr, einen unwirtlichen Pfad zwischen Demut, stillem Leid und tapferer Gegenwehr zu beschreiten. Die Autorin, vermutlich erschrocken über diese Abgründe, ergänzt ihre kesse Titelwahl deswegen mit einem Untertitel: »Jung, schön und gesund bleiben - alles, was man wissen muss«, und versucht auf diesem Weg, die dunkle und gefahrvolle Vieldeutigkeit ihres Haupttitels zu tilgen. Das Buch befindet sich damit in guter Gesellschaft der Mehrzahl der Veröffentlichungen zum Thema. Aber selbst wenn weitere hundert Bücher mit derselben Tendenz erscheinen, und das steht zu befürchten - man bleibt weder jung noch schön und selten gesund. Ein einziger Satz von Woody Allen räumt dieses Beschwichtigungsgerümpel unnachsichtig zur Seite: »Alt werden ist eine lausige Idee. Du wirst nicht klüger, schöner, freundlicher. Dein Rücken tut weh, du brauchst ein Hörgerät. Es ist wie im Film. Es ist einfach besser, jung zu sein und das Mädchen zu kriegen.«
Die Verdrängung hat in diesen Werken selbstredend keinen guten Ruf. Würden sie deren gewichtige Präsenz dulden, dann müssten sie eingestehen, dass sich hinter dem Tand ihrer Altersdekorationen ein dunkles, bedrohliches Geheimnis verbirgt.
Nachdem meine Generation mit Hilfe Sigmund Freuds die Verdrängung entdeckt hatte, wurde sie zur ständigen Begleiterin durch unseren Beziehungsalltag. Jedoch nicht mehr in jener besänftigenden Funktion, die ihr einst eigen gewesen war, sondern als Kampfbegriff und Werkzeug der Kritik bei persönlichen Auseinandersetzungen, die es trotz neuer Empfindsamkeit auch in unseren Beziehungen reichlich gab. Der Vorwurf der Verdrängung wurde damals zu einer beachtlichen Allzweckwaffe, denn mit ihr verband sich zwangsläufig der Verdacht auf Manipulation, verborgene Motive und psychischen Defekt. Wer nicht weiterwusste im täglichen Kleinkrieg um Treue, Ordnung und das Fernsehprogramm, der warf dem Gegner Verdrängung vor und konnte im Handumdrehen schönen Vorteil erlangen. Die Gefahr dieser Strategie lag in der Radikalisierung der Streitigkeiten, denn wer vorhat, in die Psyche des anderen einzudringen, riskiert eine schwer kontrollierbare Ausweitung der Kampfzone.
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© 2011 by C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Dies ist kein Ratgeber und möchte es auch nicht sein. Die gibt es in großer Zahl, und sie werden wöchentlich mehr. Recht besehen, geben sie alle den gleichen Rat: täglich zwei Gläser Rotwein, Hände weg von Zigaretten, gesunde Ernährung, regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen, soziale Nähe, häufigen Sport und Lebenssinn, wo immer man ihn kriegen kann. Ich bin jedoch der Überzeugung, dass die Vergangenheit meiner Generation ihr vor allem eine Reihe von Pflichten auch im Rentenalter auferlegt hat. Von denen handelt neben anderem dieses Buch.
Mit Arbeitsende beginnt für die »Vierziger« ein Leben, das sich tiefgreifend von dem vergangener Rentnergenerationen unterscheiden wird. Es teilt sich in zwei Phasen: die des »Voralters«, das bis Ende siebzig dauert, und das anschließende »klassische Greisenalter«, das sich lange hinziehen kann und sich überdies statistisch jedes Jahr um weitere drei Monate verlängert. An diejenigen, die in die historisch neue und unerhörte Phase des »Vor-alters« eintreten, wende ich mich.
Woher aber weiß ich, was ich zu wissen vorgebe?
Ich bin selbst im Alter. Ich habe zahlreiche Gespräche geführt und ebenso viele Bücher und Artikel gelesen, deren Autoren ich viele Anregungen und manche Einsicht verdanke. Sie werden im Folgenden nicht im Einzelnen zitiert, denn dies ist keine wissenschaftliche Arbeit, sondern eine persönliche Grille, die unberechenbar kreuz und quer durch die Gefilde streift.
Zahlreiche Einsichten verdanke ich meiner Mutter, die ich in einem Heim für Gutbetuchte bis in ihre letzten Stunden begleitete. Ich habe außerdem in den Vereinigten Staaten recherchiert, wo zukünftige Entwicklungen oft vorweggenommen werden, und mich im Rahmen eines Filmprojekts für drei Monate in der Senioren resi denz »Rosenpark« einquartiert. Diese Einrichtung liegt in Zollstock, einem Kölner Arbeiterviertel. Der lang gestreckte, in sanftem Gelb getünchte Bau aus solidem, hellhörigem Beton ist zehn Stockwerke hoch und beherbergt etwa dreihundertfünfzig Mieter in Apartments verschiedener Größe. Jede Einheit verfügt über einen Balkon. An dessen Begrünung lassen sich treffsichere Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand der Mieter ziehen.
»Neu Zugezogene machen aus ihren Terrassen bunte, üppig blühende Oasen, durchsetzt mit Nutzkräutern. Das lässt dann mit der Zeit nach. Wenn nur noch einzelne verdorrte Zweige übrig geblieben sind, die zu entsorgen sich keiner mehr die Mühe macht, dann weiß man, dass es dem Ende zugeht«, erläutert mir eine Heimangestellte den subtilen Zusammenhang zwischen Geranienpracht und körperlichem Verfall.
Ich bin furchtsam und zögerlich eingezogen. Die tägliche, oft trostlose Praxis des Alterns wurde freilich übertroffen durch die Reaktionen von Freunden und Bekannten, denen ich von meinem Vorhaben erzählte. Die einen glaubten, ich hätte den Verstand verloren, mich freiwillig solchen Erfahrungen auszusetzen. Andere wiederum hielten mich für einen Helden, der das Wagnis eingeht, unbewaffnet in die Höhle des Löwen einzudringen oder, wie einer es plastisch formulierte, mit einem Zahnstocher bewaffnet in den Irakkrieg zu ziehen. Interessierte Nachfragen und neugieriges Insistieren waren die seltene Ausnahme.
Ich habe in dieser Zeit oft überlegt, was das wohl für ein fremder und gefährlicher Volksstamm sein mochte, der da gleichermaßen Entsetzen und Furcht hervorrief. Es sind unsere Eltern und Großeltern, die wir in Heime abgeschoben haben, oft in der Hoffnung, dass sie dort still und unauffällig ihr Leben zu Ende leben.
Ich habe mit ihnen geschwätzt, gelitten, gelacht und abends manche Flasche Rotwein geleert. Sie haben mich ohne Scheu am Älterwerden in seinen ruhigen und tröstlichen Momenten, aber auch in qualvollen Augenblicken teilnehmen lassen. Wir haben über das Fernsehprogramm geschimpft, das Essen und den ständig überfüllten Aufzug. Wir waren uns einig, dass Alter weder gnadenvoll noch erstrebenswert ist, sondern eine unvermeidbare Pflicht, die man zu ertragen und zu bewältigen hat. Wir haben ausgiebig von der Vergangenheit berichtet, aber die Zukunft vermieden und keine Pläne mehr geschmiedet. Wir waren froh, in der Gegenwart vorläufig ein Auskommen zu haben.
Das waren tapfere Menschen, die ohne zu klagen die oft elenden letzten Jahre hinter sich brachten. Wer stille Helden sucht, findet sie in diesem wie in jedem anderen Altenheim. Sie haben mich viel über menschliche Würde gelehrt, aber deren rätselhaftes Auftreten angesichts oft unvorstellbaren Leidens auch nicht erklären können.
Die Tapferkeit anderer angesichts von Leid und Tod tröstet und stärkt: »Was die krebskranke alte Frau Kehrer aus dem dritten Stock kann, die immer noch lacht und guter Dinge ist, das kann ich auch!«, behauptete mein Nachbar, der links von mir wohnte, entschlossen, als wir zur späten Stunde zusammensaßen.
Was im Augenblick des Todes geschieht, wissen wir natürlich nicht, und es lohnt auch nicht, darüber nachzudenken, selbst wenn die Sprache Worte dafür hat. Aber das Sterben kennen wir. Selbst wenn es schmerzvoll ist, entwickeln die Betroffenen häufig eine Haltung von erschütternder Würde und Gelassenheit während der Strapazen der letzten Wochen, Tage und Stunden. Zum Ende wirken sie oft wie befreit und empfinden Genugtuung, die große, abschließende Herausforderung bewältigt zu haben. Thomas Mann notiert verunsichert angesichts des eigenen Alters: »Es gab wohl selten ein solches Ineinander von Qual und Glanz.« Es ist da etwas in uns verborgen, das ganz gegen Ende zum Vorschein kommt. Wir wissen nicht genau, was es ist, denn die Eigentümer haben das Geheimnis stets noch mit in ihr Grab genommen.
Der »Rosenpark« war ursprünglich einmal als Studentenheim geplant gewesen. Folglich wurde in dem engen Treppenhaus ein schmaler Aufzug eingebaut, der jungen Leuten gute Dienste erwies, nicht jedoch Senioren, die mit Gehhilfen unterwegs sind.
Einer rätselhaften Neigung folgend, drängten die Alten stets gemeinsam in die kleine Aufzugskabine, gerade so, als ob sie alle zur selben Stunde Unaufschiebbares zu verrichten hätten. Von Gelassenheit und Altersweisheit keine Spur. Mir hat keiner die Ursache dieser lästigen Gleichzeitigkeit, die jeden Tag aufs Neue zu Zank und Chaos führte, erklären können.
»Warten Sie, die Frau Kohrs muss erst raus!«
»Wo ist die?«
»Hinten.«
»Da ist sie gut aufgehoben, wenn sie als Erste raus muss.«
»Ich kann nicht, die Frau Eberts steckt mit ihrem Rollator in meinem!«
»Frau Eberts, ziehen Sie Ihren halt zurück!«
»Geht nicht, ich steh schon mit dem Rücken zur Wand!« »Vorsicht, die Tür geht zu!«
»Kann sich einer in die Lichtschranke stellen?«
»Was ist das?«
»Wo ist die?«
»Schreien Sie nicht so laut!«
»Ich schrei nicht. Sie haben Ihr Hörgerät falsch eingestellt!« »Frau Schmitz, passen Sie doch auf, in meiner Tasche sind Eier!«
»Warum hängt die auch seitlich!«
»Weil an dem Korb die rechte Schraube fehlt.«
»Ich will raus!«
»Jetzt warten Sie doch!«
»O Gott! Da hinten kommt der Höhner.«
»Haben Sie mitbekommen, wie dem gestern besoffen die Hose runtergerutscht ist?«
»Da schauen Sie natürlich hin!«
So geht das täglich hin und her, während die alten Leute in panischer Angst, den Ausstieg zu verpassen, an ihren verkeilten Rollatoren zerren.
Weitere Erfahrungen habe ich während meiner Berufsjahre in den USA gesammelt, als ich die Seniorenresidenz »Steps to Heaven« südlich von Orlando (Florida) besuchte. Steve Hodges, ein Heimbewohner, der für Gästebetreuung und Außendarstellung der Einrichtung verantwortlich war, führte mich durch die zweistöckige Anlage, die sich ausufernd zwischen Bougainvilleen, Palmen und sattem Rasen hinzog. Ich plante damals einen Film über Sterbehilfe und wollte mich in den folgenden Tagen mit einzelnen Bewohnern über das Thema unterhalten. Vorläufig jedoch machte mich Steve mit dem Gelände vertraut und erklärte, dass jeder Heimbewohner nach Maßgabe seiner Kräfte in Verwaltung und Küche, bei Gartenarbeit und Sterbebegleitung mithelfen müsse, um die eigene und die Lebensqualität der Mitbewohner zu erhöhen und die Kosten für die Allgemeinheit zu senken.
In dieser Einrichtung habe ich erfahren, dass es ein vergnügliches Leben im Altenheim geben kann und dass dessen Architektur sich nicht an der von Gefängnissen orientieren muss. Nicht die Altenheime, sondern ihre Unwirtlichkeit sind das Problem.
Und schließlich war ich Zeuge des langen Abschieds meiner Mutter. Sie kam aus einem guten Stall, wie man in ihren Kreisen zu sagen pflegte, und aus einer Zeit, in der die häuslichen Angestellten noch Gesinde hießen. Sie lehrte mich Bridge, den Unterschied zwischen Weißwein- und Rotweingläsern und den Gebrauch eines Austernmessers und entließ mich ins Leben mit dem Hinweis: »Vorne ist Platz, hinten drängeln sich die kleinen Leute.« Eine Einsicht, die zwar etwas altertümlich daherkommt, aber durchaus gute Dienste leisten kann.
Als sie mit Ende Siebzig aus freien Stücken in ein Heim zog, wollte sie sich dort in der kleinen Bibliothek nützlich machen. Die Bitte wurde ihr abgeschlagen. Sie hätte genug gearbeitet und nun das Recht und vermutlich auch die Pflicht, in ihrem gemütlichen Lehnstuhl zu sitzen und auf das Ende zu warten. Das tat sie dann auch.
In den letzten Jahren verlor sie ein wenig den Überblick und entwickelte eine dadaeske Listigkeit. Eines Tages, als ich sie am späten Vormittag besuchte, saß sie aufrecht im Bett und las verkehrt herum die Frankfurter Allgemeine.
»Mama, du liest Zeitung, recht so!«
»Auch eine alte Frau darf erfahren, was vor sich geht.«
»Aber du kannst doch kein Wort entziffern, wenn die Zeitung auf dem Kopf steht.«
»Und wenn schon - wen interessiert, was ich noch weiß?«
Von ihr habe ich viel über Gelassenheit und jene kalte Illusionslosigkeit gelernt, die Agnostikern angesichts der Vergänglichkeit eigen sein kann.
Ich habe mich schwergetan mit diesem Buch. Ständig kam Wichtiges dazwischen. Ich begann plötzlich, überaus gewissenhaft Tageszeitungen und Wochenmagazine zu lesen, und schaute die Fernsehseiten sorgfältig auf interessante Sendungen durch. Bei Telefonanrufen verzichtete ich fortan auf die Überprüfung der Teilnehmernummer, bevor ich den Hörer abnahm, und verwickelte jeden Anrufer in endlose Gespräche. Ich trieb mich oft ziellos und lange in Buchläden, Kaufhäusern und Einkaufspassagen herum und wurde selbst beim Erwerb von Seife oder einer Tube Tomatenmark seltsam sorgfältig. Unvermittelt entwickelte ich eine verblüffend emotionale Nähe zum Abwasch und der Suche nach Krümeln auf dem Küchentisch. Als ich jedoch begann, idiotische Patiencen auf meinem elektronischen Schreibgerät zu spielen und die Ecken meiner Wohnung mit Wattestäbchen zu säubern, wurde mir klar, dass etwas aus dem Ruder gelaufen war.
Ein befreundeter Psychologe hatte bald die Ursache meiner bizarren Geschäftigkeit erkannt: »Du schwächst durch das Buch den Verdrängungsschutz zu deinem Thema«, erklärte er, »deswegen flüchtest du in Ersatzhandlungen, die du zwar für sinnvoll hältst, die dich aber lediglich von der Beschäftigung mit dem Alter abhalten sollen.«
»Warum sollte ich das tun?«
»Weil die Verdrängung zu den wichtigsten Werkzeugen der Psyche gehört, um, neben vielem anderen, das Altern zu ertragen. Ohne Verdrängung würden wir nicht sehr weit kommen.«
»Und was verdräng ich so?«
»Das Morgengrauen.«
Das war eine ebenso hübsche wie trostlose Verdichtung eines komplexen Sachverhalts.
Nun hatte Verdrängung in meiner Generation eine miserable Presse gehabt angesichts der gigantischen Verdrängungsleistung unserer Eltern, die das erstaunliche Kunststück fertiggebracht hatten, sechs Millionen ermordeter Juden aus ihrem Gedächtnis zu tilgen, bis meine Generation sie unsanft daran erinnerte.
Um zu verhindern, dass unschöne Erinnerungen oder Vorstellungen uns mit der Zeit die Lebensfreude rauben, hat die Natur der menschlichen Psyche die Fähigkeit zur Verdrängung beigemischt. Durch die Jahrtausende war sie ein stiller, wenig beachteter Wegbegleiter durch die Generationen. Man bediente sich ihrer je nach Anlass, ohne sie bewusst wahrzunehmen. Diese Bewusstlosigkeit war eine wichtige Voraussetzung ihrer Wirkung. Die Einsicht in die Arbeitsweise der Verdrängung hätte vermutlich ihre segensreiche Fähigkeit beschädigt, die Gegenwart von einer quälenden Vergangenheit oder einer ungewissen Zukunft zu entlasten.
Wer ins Alter kommt, benötigt den Abwehrmechanismus der Verdrängung mehr denn je. Die Vielzahl der drohenden Verluste und Beschädigungen, die in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen keinem von uns erspart bleiben, wären bei ständiger Präsenz in unserem Bewusstsein schwer zu ertragen. Wir wissen zwar, was auf uns zukommen kann, und kennen die geringen Chancen, dem zu entrinnen, aber wir verdrängen gottlob die drohenden Gefahren stets aufs Neue. Angesichts der Katastrophen unter den Gleichaltrigen, wenn Schicksalsschläge nicht mehr wie einst die Ausnahme sind, sondern zum Regelfall werden, ist das oft mühsames Tagewerk.
Die mit Büchern zum Thema gut gefüllten Buchhandlungs- regale versprechen auf den ersten Blick schonungslosen Durchblick, sind aber, bis auf wenige Ausnahmen, Dokumente der kollektiven Verdrängung des Alterns. Sie bezeugen damit auf ihre Weise, wie wichtig dieser psychische Mechanismus ist. In der Mehrzahl geben die angebotenen Werke ihren betagten Käufern reichlich guten Rat zur korrekten Lebensführung. Wer die ungezählten Empfehlungen zur Vorsorge, Gesundheit, Ernährung, Sinnsuche und Körperertüchtigung gewissenhaft befolgt, dem soll das Alter wie der Vorhof zum Paradies werden, wenn man davon absieht, dass ein Vierundzwanzigstundentag nicht ausreicht, um auch nur einem kleinen Teil der Vorschriften nachzukommen. Die beschwerlichen Begleiterscheinungen der letzten Dekaden indes kommen meist nur am Rande vor und scheinen nach Meinung der Autoren das Schicksal einer bedauernswerten Minderheit zu sein.
Kürzlich hielt ich ein Buch mit dem Titel Älterwerden ist nichts für Feiglinge in Händen. Dieser berühmt-berüchtigte Satz von Mae West zählt in seiner Vielschichtigkeit zu den kostbarsten Einsichten in Bezug auf das Alter. Es braucht demnach das Gegenteil von Feigheit, nämlich Heldentum, um dem Alter würdevoll zu begegnen. Heldentum gehört jedoch kaum zu unseren Alltagserfahrungen, sondern ist seltenen, meist ausweglosen Situationen vorbehalten. Nur in Ausnahmefällen wird die Vergangenheit von uns Heldentum abverlangt haben, nun, im Alter, soll es zum ständigen Begleiter der letzten Jahre werden. Keiner meiner Generation hat Held gelernt. Heldentum war außer Mode gekommen und stand im Verdacht, Verbündeter allerlei dunkler Kräfte zu sein.
Mae Wests düsterer Satz über die Zumutungen des Alterns appel liert an unseren Stolz: Wer ist schon gerne feige! Einer Situation, die unausweichlich ist, kann man zwar nicht entkommen, aber sie wird erträglicher, wenn man sich ihr bewusst stellt und jene kleinen Chancen wahrnimmt, die jede Situation bereithält. Altwerden ist zu schaffen, wenn wir zu Helden werden. Freilich handelt es sich dabei nicht um offizielles Heldentum, über das Medien berichten und das im Ausnahmefall bis in die Repräsentationsräume der höchsten Staatsinstanz führen kann, sondern um ein stilles, unauffälliges Heldentum, das im Alter auf Dauer gestellt werden muss.
Klassisches Heldentum spielt sich sichtbar in der Öffentlichkeit ab und gehört zum Unterfutter nationalen Selbstbewusstseins. Unsere Helden hingegen, die Alten, bleiben bescheiden und halten sich verborgen. Gelegentlich erahnen die nächsten Angehörigen oder Freunde den langen, einsamen Kampf, den viele alte Menschen kämpfen und an dessen Ende jeder alles verliert.
Zu den ergreifenden Erfahrungen gehörten für mich deshalb jene Augenblicke, in denen sich der Vorhang ihrer Selbstdisziplin öffnete und einen kurzen Einblick in die Seelenlage erlaubte, die sie in der Regel vor fremden Augen sorgfältig versteckt hielten.
»Ich kann nicht mehr schlafen und wache jeden Tag vor Morgengrauen auf«, erzählte mir meine Nachbarin im »Rosenpark«. »Das ist zwar lästig, aber das Schlimmste sind die Gedanken, die in den langen Stunden bis Sonnenaufgang über mich kommen.«
Was das für Gedanken seien, wollte ich wissen.
»Ach lassen Sie, das verstehen Sie nicht. Dafür sind Sie noch zu jung.«
Der Vorhang hatte sich wieder geschlossen.
»Das Alter gehört abgeschafft«, vertraute mit der alte Herr Rautenberg in einem Moment der Unachtsamkeit an.
Wie das gehen solle, wo doch jeder alt werden wolle?
»Das muss jeder für sich entscheiden. Ich für meine Person denke oft darüber nach.« Er schaute mich erschrocken an und starrte dann schweigend auf die verdorrten Blumen vor seinem Fenster.
In Bemerkungen solcher Art kommt kurz jene innere Agonie zum Ausdruck, die meinen neuen Bekannten im »Rosenpark« zur ständigen Begleitung geworden war, und man ahnt, welches Maß an Disziplin und Heroismus sie fortwährend aufbringen mussten, um der Umwelt ihre Ängste und Albträume vorzuenthalten. Trotz der frivolen Geschwätzigkeit dieser Tage gibt es mitten unter uns ein unermessliches Terrain von Kümmernissen, Befürchtungen und körperlichem Schmerz, zu dem uns der Zutritt verwehrt bleibt. Wir suchen ihn auch nicht.
Wer die Einsicht von Mae West mit kecker Geste zum Titel seines Buches macht, läuft Gefahr, einen unwirtlichen Pfad zwischen Demut, stillem Leid und tapferer Gegenwehr zu beschreiten. Die Autorin, vermutlich erschrocken über diese Abgründe, ergänzt ihre kesse Titelwahl deswegen mit einem Untertitel: »Jung, schön und gesund bleiben - alles, was man wissen muss«, und versucht auf diesem Weg, die dunkle und gefahrvolle Vieldeutigkeit ihres Haupttitels zu tilgen. Das Buch befindet sich damit in guter Gesellschaft der Mehrzahl der Veröffentlichungen zum Thema. Aber selbst wenn weitere hundert Bücher mit derselben Tendenz erscheinen, und das steht zu befürchten - man bleibt weder jung noch schön und selten gesund. Ein einziger Satz von Woody Allen räumt dieses Beschwichtigungsgerümpel unnachsichtig zur Seite: »Alt werden ist eine lausige Idee. Du wirst nicht klüger, schöner, freundlicher. Dein Rücken tut weh, du brauchst ein Hörgerät. Es ist wie im Film. Es ist einfach besser, jung zu sein und das Mädchen zu kriegen.«
Die Verdrängung hat in diesen Werken selbstredend keinen guten Ruf. Würden sie deren gewichtige Präsenz dulden, dann müssten sie eingestehen, dass sich hinter dem Tand ihrer Altersdekorationen ein dunkles, bedrohliches Geheimnis verbirgt.
Nachdem meine Generation mit Hilfe Sigmund Freuds die Verdrängung entdeckt hatte, wurde sie zur ständigen Begleiterin durch unseren Beziehungsalltag. Jedoch nicht mehr in jener besänftigenden Funktion, die ihr einst eigen gewesen war, sondern als Kampfbegriff und Werkzeug der Kritik bei persönlichen Auseinandersetzungen, die es trotz neuer Empfindsamkeit auch in unseren Beziehungen reichlich gab. Der Vorwurf der Verdrängung wurde damals zu einer beachtlichen Allzweckwaffe, denn mit ihr verband sich zwangsläufig der Verdacht auf Manipulation, verborgene Motive und psychischen Defekt. Wer nicht weiterwusste im täglichen Kleinkrieg um Treue, Ordnung und das Fernsehprogramm, der warf dem Gegner Verdrängung vor und konnte im Handumdrehen schönen Vorteil erlangen. Die Gefahr dieser Strategie lag in der Radikalisierung der Streitigkeiten, denn wer vorhat, in die Psyche des anderen einzudringen, riskiert eine schwer kontrollierbare Ausweitung der Kampfzone.
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© 2011 by C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Sven Kuntze
Sven Kuntze ist Journalist und Fernsehmoderator. Er studierte Soziologie, Psychologie und Geschichte an der Universität Tübingen. Bis 1984 arbeitet er als Assistent an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Tübingen, bevor er beim WDR anfängt. Nach Stationen in Bonn, New York und Washington begann er 1993 das ARD Morgenmagazin zu moderieren. Mit dem Regierungsumzug ging er nach Berlin, wo er als Hauptstadtkorrespondent arbeitete. 2007 ging Sven Kuntze in den Ruhestand, ist aber seither immer noch als freier Journalist und Moderator tätig. 2008 drehte Kuntze die Reportage "Alt sein auf Probe", in der er von seinen Erfahrungen in einem Altersheim berichtet, in das er für 7 Wochen gezogen war. Hierfür wurde Kuntze 2008 mit dem Deutschen Fernsehpreis in der Kategorie "Beste Reportage" ausgezeichnet. Seine zweite Dokumentation "Gut sein auf Probe" wurde 2009 für den Deutschen Fernsehpreis nominiert. 2010 ging Sven Kuntze erneut auf Reisen und befasste sich diesmal mit dem Glauben im Alter sowie den Möglichkeiten und Grenzen der Weltreligionen. Der Autor lebt in Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sven Kuntze
- 2011, 255 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: C. Bertelsmann
- ISBN-10: 357010091X
- ISBN-13: 9783570100912
Rezension zu „Altern wie ein Gentleman “
"Äußerst lesenswert und mit viel Humor geschrieben."
Kommentare zu "Altern wie ein Gentleman"
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