Am Hang
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Was als Gespräch zwischen Zufallsbekannten beginnt, gerät zu einem abgründigen Verwirrspiel, das fasziniert und verstört. Es sind zweifelhafte Umstände, unter denen Loos seine geliebte, fast vergötterte Frau verloren hat. Und dieser Verlust trägt dazu bei, ihm die Welt zu verdunkeln. Clarin hingegen lebt leicht und gern. Ferner könnten zwei Menschen einander nicht sein.
Wie nah sie sich sind, stellt sich erst spät heraus.
Am Hang von Markus Werner
LESEPROBE
Alles dreht sich. Und alles dreht sich um ihn. Verrückterweisebin ich sogar versucht mir einzubilden, er schleiche in diesem Augenblick umsHaus - mit oder ohne Dolch. Dabei ist er ja abgereist, heißt es, und ich hörenur Grillen und aus der Ferne nächtliches Hundegebell.
Da fährt man über Pfingsten ins Tessin, um sich in Ruhe zuvertiefen in die Geschichte des Scheidungsrechts, und dann kommt einem dieserUnbekannte in die Quere, dieser Loos, und bringt es fertig, mich so aufzuwühlen,daß alle Sammlung hin ist. Den Rest hat mir Eva gegeben, drüben in Cademario,heute, ich bin in ziemlicher Verwirrung hierher zurückgefahren und habe dieJuristen-Zeitung angerufen beziehungsweise, da ja Pfingstsonntag ist, den Redaktorprivat, um mitzuteilen, daß ich mich außerstande sähe, den Beitragtermingerecht abzuliefern. Eine akute, von Fieber begleiteteStirnhöhlenentzündung lege mich lahm, habe ich gesagt und mir während des kurzenGesprächs mit Daumen und Zeigefinger die Nase zugehalten. Man höre förmlich,hat der Redaktor gesagt, wie bös es um mich stehe.
Ja, eher bös. Zwar sind die Höhlen intakt, auch bin ichfieberfrei, und doch könnte ich das, was mir zusetzt, als eine Art Stirnfieberbezeichnen. Die Schläfen jedenfalls, auf die ich meine Finger presse, um denTumult dahinter zu dämpfen, sind heiß, so als erzeugten die hektisch ums immerGleiche kreisenden Gedanken Reibungswärme.
Schlafen wär schön jetzt, Loos abschütteln, Loos' Sätze, diewie Fusseln haften, aus dem Gehirn ausbürsten. Er selber hat zu mir gesagt:Vergessen Sie das Vergessen nicht, sonst werden Sie verrückt. - Er muß eswissen. Er sagte aber auch, freilich in einem anderen Zusammenhang, von allenSeuchen der Jetztzeit sei die Vergeßlichkeit die schleichendste und alsoschlimmste.
Nun gut und so oder so, ich werde diesen Mann nicht los,indem ich mir befehle, nicht mehr an ihn zu denken. So würde er sich nur nochbreiter machen und mein Bewußtsein noch irritierender verengen. Ich kenne dasPhänomen, seit mich Andrea, es ist fünfzehn Jahre her und ich war zwanzig, wie einenSchirm hat stehenlassen. Inzwischen weiß ich eigentlich, wie man denMechanismus unterläuft und wie mit einem Durcheinander von verfilzten Fädenmethodisch zu verfahren wäre. Den Anfang suchen. Den Knäuel sorgsam entknoten,entwirren. Das Garn abwickeln, ohne Hast, und zugleich ordentlich und straffaufwickeln auf eine Spule.
Leicht gesagt, nicht wahr, mein lieber Loos? Dir jedenfallsist das gründlich mißlungen, falls du es überhaupt versucht hast. Hast du? Oderbist du mit deinem Knäuel, deinem Garn schon immer so - wie sollich sagen - so wunderlich umgegangen wie auf der Bellevue-Terrasse?
Am Freitag vor Pfingsten hat sich der Stau am Gotthard inGrenzen gehalten, ich bin schon gegen sechs hier angekommen, habe wie üblichzuerst den Wasserhaupthahn aufgedreht, die Sicherungsschalter gekippt, Boilerund Kühlschrank angestellt und mich dann kalt geduscht. Wie üblich habe ich dieleeren Flaschen, die mein Anwaltskollege und Miteigentümer des Hauses anOstern hier zurückgelassen hat, entsorgt. Ein Feuer im Kamin zu machen hat sichnicht aufgedrängt, der Juniabend war lau. So lau, daß ich um acht nochmals insAuto stieg, von Agra hinunter nach Montagnola fuhr und vor dem Hotel Bellevueoder Bellavista parkte. Enttäuscht habe ich feststellen müssen, daß es auf derTerrasse keinen freien Tisch mehr gab, und da ich mich nicht in den verglastenVorbau habe setzen wollen, blieb ich unschlüssig stehen, Ausschau haltend nachstühlerückenden Gästen. Da habe ich ihn entdeckt. Er saß als einziger allein,und zwar an einem Vierertisch in der linken Terrassenecke, ich habe michaufgerafft, bin zu ihm hingegangen - er studierte die Speisekarte - und habeihn auf italienisch gefragt, ob er gestatte. Er hat kurz aufgeschaut und nichtsgesagt. Ich habe die Frage auf deutsch wiederholt und nach seinem abwesendenNicken ihm gegenüber Platz genommen. (...)
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2004
- Autor: Markus Werner
- 2004, 10. Aufl., 192 Seiten, Maße: 13,3 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100910664
- ISBN-13: 9783100910660
- Erscheinungsdatum: 28.07.2004
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