Arkadi Renko Band 8: Tatjana
Thriller
Ermittler-Ikone Arkadi Renko im Kampf gegen die russische Mafia
Martin Cruz Smith hat mit Arkadi Renko einen der legendärsten Ermittler der zeitgenössischen Literatur erschaffen: Er hat den Wandel der Sowjetunion ins Neue...
Martin Cruz Smith hat mit Arkadi Renko einen der legendärsten Ermittler der zeitgenössischen Literatur erschaffen: Er hat den Wandel der Sowjetunion ins Neue...
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Produktinformationen zu „Arkadi Renko Band 8: Tatjana “
Ermittler-Ikone Arkadi Renko im Kampf gegen die russische Mafia
Martin Cruz Smith hat mit Arkadi Renko einen der legendärsten Ermittler der zeitgenössischen Literatur erschaffen: Er hat den Wandel der Sowjetunion ins Neue Russland miterlebt, das weiterhin geprägt ist von Brutalität und Geheimniskrämerei.
Die furchtlose Moskauer Journalistin Tatjana Petrowna stürzt aus dem sechsten Stock in den Tod, in der gleichen Woche, in der ein milliardenschwerer Mafiosi erschossen wird. Die beiden Fälle scheinen nichts miteinander zu tun zu haben, doch Arkadi entdeckt Tonbänder, auf denen Tatjana schreckliche Verbrechen dokumentiert hat. Die Spur führt nach Kaliningrad, dem Heimathafen der Baltischen Flotte, Hunderte von Kilometern vom restlichen Russland entfernt.
Mit seinem neuesten Thriller zeichnet Martin Cruz Smith ein überzeugend realistisches, überaus düsteres Porträt des heutigen Russlands.
Martin Cruz Smith hat mit Arkadi Renko einen der legendärsten Ermittler der zeitgenössischen Literatur erschaffen: Er hat den Wandel der Sowjetunion ins Neue Russland miterlebt, das weiterhin geprägt ist von Brutalität und Geheimniskrämerei.
Die furchtlose Moskauer Journalistin Tatjana Petrowna stürzt aus dem sechsten Stock in den Tod, in der gleichen Woche, in der ein milliardenschwerer Mafiosi erschossen wird. Die beiden Fälle scheinen nichts miteinander zu tun zu haben, doch Arkadi entdeckt Tonbänder, auf denen Tatjana schreckliche Verbrechen dokumentiert hat. Die Spur führt nach Kaliningrad, dem Heimathafen der Baltischen Flotte, Hunderte von Kilometern vom restlichen Russland entfernt.
Mit seinem neuesten Thriller zeichnet Martin Cruz Smith ein überzeugend realistisches, überaus düsteres Porträt des heutigen Russlands.
Klappentext zu „Arkadi Renko Band 8: Tatjana “
Ermittler-Ikone Arkadi Renko im Kampf gegen die russische MafiaMartin Cruz Smith hat mit Arkadi Renko einen der legendärsten Ermittler der zeitgenössischen Literatur erschaffen: Er hat den Wandel der Sowjetunion ins Neue Russland miterlebt, das weiterhin geprägt ist von Brutalität und Geheimniskrämerei.
Die furchtlose Moskauer Journalistin Tatjana Petrowna stürzt aus dem sechsten Stock in den Tod, in der gleichen Woche, in der ein milliardenschwerer Mafiosi erschossen wird. Die beiden Fälle scheinen nichts miteinander zu tun zu haben, doch Arkadi entdeckt Tonbänder, auf denen Tatjana schreckliche Verbrechen dokumentiert hat. Die Spur führt nach Kaliningrad, dem Heimathafen der Baltischen Flotte, Hunderte von Kilometern vom restlichen Russland entfernt.
Mit seinem neuesten Thriller zeichnet Martin Cruz Smith ein überzeugend realistisches, überaus düsteres Porträt des heutigen Russlands.
Lese-Probe zu „Arkadi Renko Band 8: Tatjana “
Tatjana von Martin Cruz SmithDeutsch von Susanne Aeckerle
PROLOG
Das Wetter wusste nicht, was es wollte. Der Hochsommer war vorbei, aus dem tief hängenden Himmel war alle Farbe gewichen, und erste welke Blätter säumten die Straße wie Kreppbänder. In diesen Stillstand sauste ein Radfahrer in roten Radlerhosen, trat kraftvoll in die Pedale, nutzte das flache Gelände.
Joseph beherrschte sechs Sprachen. In Restaurants sprach er Französisch, mit Geschäftsleuten bevorzugte er Chinesisch, und er träumte auf Thai. Er war alles in einer Person. Das bedeutete, er konnte reisen und überall Arbeit finden. Die Vereinten Nationen schickten ihn hierhin, die Europäische Union dorthin. Immer nahm er sein schwarzes, maßgefertigtes Fahrrad mit, sein Designertrikot und die gepolsterte Hose, den geformten Sattel und den tränenförmigen Helm. Er hatte zu spät mit dem Radfahren begonnen, um erfolgreich an Rennen teilnehmen zu können, doch bei den meisten konnte er die Einheimischen in Staunen versetzen. Wobei es ihm nicht aufs Gewinnen ankam. Die Spannung war es, das Gefühl eines gespannten Bogens, das ihn am meisten befriedigte. Inzwischen, schätzte er, war er zweimal um die Welt geradelt. Er hatte nie geheiratet. Sein Terminplan erlaubte es nicht. Die Einfaltspinsel, die auf ihren Tandemrädern klebten, taten ihm leid.
... mehr
Joseph liebte Wortspiele. Er hatte ein fotografisches Gedächtnis - ein eidetisches Gedächtnis, um genau zu sein. Nach einem Blick auf ein Kreuzworträtsel konnte er es beim Radfahren im Kopf lösen, diese Wörter herauskitzeln, die nur in Kreuzworträtseln existierten: ekru, falb, amo, amas, amat. Fragen, die nicht auf Englisch waren, machten es ihm umso leichter. Ein Tort war eine Kränkung, ein Verdruss; eine Torte ein Stück Kuchen. Ein ausgewachsenes Anagramm konnte ihn von Toulon bis Aix-en- Provence beschäftigen. An diesem Nachmittag hatte er frei, und das war auch nötig, nachdem er zwischen Russen und Chinesen vermittelt hatte. Als beide Seiten früh Schluss machten, packte der Dolmetscher die Gelegenheit beim Schopf und schwang sich auf sein Rad.
Er war stolz darauf, außergewöhnliche Routen zu finden. Für ihn war es die Hölle, in der Toskana oder der Provence hinter Touristen festzuhängen, die sich auf Leihfahrrädern in Schlangenlinien ihr Mittagsmahl aus Käse und Wein abstrampelten. Elastische Taschen an der Rückseite seines Trikots enthielten Wasserflaschen, Energieriegel, Karte und Flickzeug. Er war bereit, hin und wieder einen Reifen zu flicken, wenn er dadurch neue Aussichten ganz für sich allein genießen konnte. Kaliningrad hatte den Ruf, hässlich und voller Kriminalität zu sein, eine Stadt, die eine Waise war, ein Hurenkind oder beides. Kaum war man jedoch der Stadt entflohen, hatte man, voilà, eine ländliche Idylle vor sich.
Joseph war zum Dolmetschen geboren; sein Vater war Russe, seine Mutter Französin, und beide unterrichteten an der Berlitz-Sprachschule. Als er das Gerücht verbreitete, seine Eltern seien tot, tragischerweise bei einem Autounfall in Monte Carlo ums Leben gekommen, wurde Joseph der Junge, der von wohlhabenden Klassenkameraden am häufigsten für die Ferien eingeladen wurde. Er machte sich beliebt und stellte sich manchmal vor, sein Leben als Gast in einer Villa nicht weit vom Meer zu verbringen. Seinen Eltern schickte er nach wie vor eine Karte zu Weihnachten, hatte sie aber seit Jahren nicht mehr gesehen.
Er dolmetschte für Filmstars und Staatsoberhäupter, doch am lukrativsten waren Verhandlungen zwischen Unternehmen. Für gewöhnlich wurden sie von kleinen Teams streng vertraulich durchgeführt, und ein Dolmetscher hatte omnipräsent, jedoch so gut wie unsichtbar zu sein. Vor allem musste er diskret sein, zuverlässig alles vergessen, was er gehört hatte, alles vollkommen aus dem Gedächtnis löschen, nachdem der Auftrag beendet war.
Als die breitere Straße in eine Landstraße überging, flog er an vereinzelten, von Fliederbüschen überwucherten Ziegelsteinruinen vorbei. Zum Glück gab es fast keinen Verkehr. Er kurvte um ein Schlagloch nach dem anderen und holperte an einer Stelle über Asphalt, der zu Wellen aufgeworfen war. Ein Metzgerwagen mit einem Plastikschwein auf dem Dach kam ihm entgegen und schien direkt auf ihn zuzuhalten, bis sie einander passierten wie Schiffe auf hoher See.
Allerdings hatte der Dolmetscher nicht alles ausgelöscht. Da waren noch seine Notizen. Selbst wenn sie gestohlen wurden, bestand keine Gefahr, denn außer ihm konnte niemand sie entziffern.
Die Straße endete an einem einsamen Parkplatz mit einem verrammelten Kiosk und einer Anzeigetafel für vergangene Veranstaltungen. Ein Eiswagen lag umgekippt da. Alles zeugte vom Ennui der Nachsaison. Dennoch stieg er vom Rad, als er Möwen kreischen hörte, trug es über einen Dünenkamm und sah vor sich einen Strand, der sich zu beiden Seiten ins Unendliche erstreckte. Sanfte Wellen schwappten ans Ufer, Nebel verwandelte das Meer und den Himmel in lichte, blaue Bänder. Sand wirbelte im Wind auf und schmiegte sich an den Strandhafer zwischen den Dünen. Grob gezimmerte Sonnenschirme ohne Bespannung standen Wache, doch kein Mensch war zu sehen, perfekt für Joseph.
Er legte das Rad in den Sand und nahm seinen Helm ab. Das hier war ein echter Fund. Die Art von Miniabenteuer, aus dem sich eine gute Geschichte für einen Abend am Kamin machen ließ, mit einem Glas Rotwein und faszinierten Zuhörern. Ein wenig Wagemut, um seine Karriere zu krönen. Ihr »Bedeutung« zu verleihen, das war das richtige Wort.
Trotz der kühlen Luft war es Joseph warm vom Radeln, und er zog seine Radfahrschuhe und Socken aus. Der Sand war fein, nicht wie die steinigen Strände vieler Urlaubsorte, und unverschmutzt, vielleicht weil Kaliningrad während des Kalten Krieges eine geschlossene Stadt gewesen war. Wasser rauschte heran, zischte um seine Füße und zog sich wieder zurück.
Seine Träumerei wurde durch das Näherkommen eines Fahrzeugs unterbrochen, das wie ein betrunkener Seemann über den Strand torkelte. Der Metzgerwagen. Das Plastikschwein, rosa und grinsend, wackelte hin und her, bis der Kastenwagen zum Stehen kam und ein Mann ausstieg, etwa dreißig Jahre alt, mit einem Homburg auf dem Kopf und strähnigem Haar. Eine dreckige Schürze umflatterte ihn.
»Suchen Sie Bernstein?«
»Warum sollte ich Bernstein suchen?«, fragte Joseph.
»Hier ist genau die richtige Stelle. Aber Sie müssen auf einen Sturm warten. Sie müssen auf einen Sturm warten, der den Bernstein aufwühlt.«
»Hochwühlt«, nicht »aufwühlt«, dachte Joseph, behielt es aber für sich. Er spürte nichts, was ihn mit diesem Mann verband, keinen Intellekt, für den sich die Anstrengung lohnen würde. Früher oder später würde der Kerl Geld für Wodka von ihm verlangen, und das wär's dann.
»Ich warte auf Freunde«, sagte Joseph.
Der schief sitzende Homburg verlieh dem Metzger etwas Groteskes. Er wirkte benommen oder betrunken, jedenfalls so belustigt über einen privaten Witz, dass er über das Fahrrad stolperte.
»Idiot! Passen Sie doch auf, wo Sie hintreten!«, knurrte Joseph.
»Tut mir leid, wirklich. Sagen Sie, ist das ein italienisches? « Der Metzger hob das Fahrrad am Vorderrad hoch. »Ist ja wunderschön. Von denen sieht man nicht viele in Kaliningrad.«
»Woher soll ich das wissen?«
»Sie können's mir glauben.«
Joseph bemerkte, dass die Hände des Metzgers vom Umgang mit Gefrierfleisch zerschrammt und aufgerissen waren und seine Schürze die entsprechenden dunklen Flecken aufwies, obwohl seine Sandalen kaum das geeignete Schuhwerk für rutschige Kühlräume waren.
»Können Sie mir bitte das Fahrrad geben? Sand in der Gangschaltung kann ich wirklich nicht gebrauchen.«
»Kein Problem.« Der Metzger ließ das Rad fallen und fragte strahlend: »Urlaub?«
»Wie bitte?«
»War nur eine Frage. Machen Sie hier Urlaub, oder sind Sie geschäftlich da?«
»Urlaub.«
Das Gesicht des Metzgers zeigte ein breites Grinsen. »Wirklich? Sie sind nach Kaliningrad gekommen, um Urlaub zu machen? Sie verdienen einen Orden.« Er tat so, als heftete er Joseph einen Orden an die Brust. »Was sind die Highlights von Kaliningrad? Na los, erzählen Sie mir, was Sie sich heute Morgen angeschaut haben.«
Joseph hatte den ganzen Morgen gearbeitet, wobei das zwar niemanden etwas anging, aber der Metzger hatte eine vernickelte Pistole gezogen, die er wie loses Kleingeld in der Hand wog. Was Joseph als kühlende Brise empfunden hatte, ließ ihn jetzt frösteln, und Sandkörner klebten am Schweiß auf seiner Haut. Vielleicht ging es hier nur um eine gewöhnliche Erpressung. Kein Problem. Er würde zahlen, was immer verlangt wurde, und es sich vom Kunden ersetzen lassen.
»Sind Sie von der Polizei?«
»Sehe ich aus wie die verdammte Polizei?«
»Nein.« Joseph sank der Mut. Er war dazu ausgebildet, bei Geiselnahmen ruhig und kooperativ zu sein. Die Statistiken waren insgesamt beruhigend. Menschen kamen nur um, wenn jemand versuchte, sich als Held aufzuspielen. »Was wollen Sie?«
»Ich hab Sie im Hotel mit diesen Leuten gesehen. Die sind umgeben von Leibwächtern und haben ein ganzes Stockwerk für sich.« Der Metzger wurde vertraulich. »Wer sind die?«
»Geschäftsleute.«
»Internationale Geschäfte, sonst würden die ja keinen Dolmetscher brauchen, stimmt's? Ohne Sie kommt alles zum Stillstand. Das Räderwerk bleibt stehen, nicht wahr? Das große Rad wird vom kleinen Rad gestoppt, ist es nicht so?«
Joseph wurde unbehaglich zumute. Schließlich war das hier Kaliningrad. Das Schwein leuchtete, frohen Mutes bereit für den Gang zur Schlachtbank. Joseph erwog, vor diesem Verrückten wegzulaufen. Selbst wenn nicht auf ihn geschossen wurde, würde er sein Fahrrad zurücklassen müssen. Der Sand war zu tief und zu weich für die Reifen. Die ganze Sache war erniedrigend.
»Ich dolmetsche nur«, sagte Joseph. »Für die Inhalte bin ich nicht verantwortlich.«
»Und machen sich Notizen bei geheimen Treffen.«
»Völlig legal. Die Notizen dienen mir bloß als Gedächtnisstütze. «
»Geheime Treffen, sonst wären Sie nicht in Kaliningrad. Sie würden sich in Paris amüsieren.«
»Die Sache ist heikel«, gab Joseph zu.
»Darauf wette ich. Sie haben eine echte Gabe. Die Leute reden wie ein Wasserfall, und Sie übersetzen es Wort für Wort. Wie können Sie sich das alles merken?«
»Dazu sind die Notizen da.«
»Die möchte ich gerne sehen.«
»Sie würden sie nicht verstehen.«
»Ich kann lesen.«
Rasch fügte Joseph an: »Das bezweifle ich auch nicht, nur ist der Inhalt höchst technisch. Und die Notizen sind vertraulich. Wir würden uns strafbar machen.«
»Zeigen Sie her.«
»Das kann ich wirklich nicht.« Joseph blickte sich um und sah nichts als Möwen, die am Strand patrouillierten, falls etwas zu fressen auftauchte. Niemand hatte den Möwen mitgeteilt, dass die Saison zu Ende war.
»Sie kapieren's nicht. Von den Einzelheiten muss ich nichts wissen. Ich bin ein Pirat, genau wie diese Afrikaner, die Tanker entführen. Die haben nicht den blassesten Schimmer von Öl. Sind einfach ein paar schwarze Drecksäcke mit Maschinenpistolen, aber wenn sie einen Tanker kapern, haben sie alle Karten in der Hand. Reedereien zahlen Millionen, um ihre Schiffe wiederzubekommen. Die Entführer ziehen nicht in den Krieg, sie werfen dem System nur Knüppel zwischen die Beine. Tanker sind ihre Gelegenheitsziele, und genau das sind Sie, mein Gelegenheitsziel. Ich verlange bloß zehntausend Dollar für ein Notizbuch. Habgierig bin ich nicht.«
»Wenn Sie nur der Laufbursche sind, ändert das alles.« Sofort merkte Joseph, dass er das Falsche gesagt hatte und auf die falsche Weise. Als hätte er eine Kobra gepiekst. »Lassen Sie mich ... Ihnen zeigen ...« Joseph griff hinter sich und kämpfte mit den Taschen seines Trikots, fummelte Wasserflasche und Energieriegel heraus, bis er ein Notizbuch und Bleistifte fand.
»Ist es das?«, fragte der Metzger.
»Ja, nur nicht, was Sie erwarten.«
Der Metzger öffnete das Notizbuch auf der ersten Seite, schlug die zweite auf, die dritte und vierte. Schließlich blätterte er es bis zum Schluss durch.
»Was, zum Teufel, ist das? Zeichnungen von Katzen? Kritzeleien?«
»So mache ich mir Notizen.« Joseph konnte seinen Stolz nicht ganz verbergen.
»Woher soll ich wissen, ob das die Notizen sind?«
»Ich lese Sie Ihnen vor.«
»Sie könnten mir ja den letzten Scheiß erzählen. Und was soll ich denen zeigen?«
»Wer ist denen?«
»Was glauben Sie wohl? Kommt man diesen Leuten quer, ist man im Arsch.«
Seine Arbeitgeber? Wenn er es doch nur erklären könnte.
»Meine Notizen ...«
»Sind ein Witz? Ich zeige Ihnen, was ein Witz ist.« Der Metzger zerrte Joseph zum Kastenwagen und öffnete die Laderaumtür. Aus seinen vielen Sprachen kam dem Dolmetscher nur ein Wort in den Sinn: »Jesus.« Im Kastenwagen hingen zwei enthäutete Lämmer, kopfüber, kalt und blau.
Mehr Worte fand Joseph nicht. Ihm hatte es den Atem verschlagen.
»Sollen die Vögel das doch lesen.« Der Metzger schleuderte das Notizbuch in den Wind, stieß Joseph in den Laderaum und kletterte hinter ihm hinein.
Von überall kamen Möwen. Ganze Schwärme von Dieben stießen herab und beraubten sich gegenseitig. Jeder kleinste Fetzen aus Josephs Taschen wurde aufgepickt und untersucht. Um einen halb gegessenen Energieriegel entstand ein Tauziehen. Ein Schuss schreckte die Vögel kurz auf, und der Gewinner flog davon, verfolgt von anderen Möwen und wütendem Gekreisch. Die restlichen ließen sich in mürrischer Eintracht nieder, die Köpfe in den Wind gedreht. Als sich der Nebel lichtete, tauchte der Horizont auf, Wellen schwappten mit dem Geräusch von Perlen heran, die über einen Marmorboden kullern.
1
A uf dem Wagankowoer Friedhof stand die Zeit nicht still, doch sie verlangsamte sich. Blätter, die von Pappeln und Eschen herabwehten, vermittelten ein Gefühl von Erleichterung, Ungezwungenheit und Verfall. Viele Grabstätten waren bescheiden, ein Stein und eine Bank, umzäunt von allmählich rostendem Schmiedeeisen. Ein Einmachglas mit Blumen oder ein Päckchen Zigaretten waren Beweise der Zuwendung für Geister, denen endlich erlaubt war zu genießen.
Von Grischa Grigorenko ließe sich behaupten, dass er stets dem Genuss zugeneigt war. Er hatte auf großem Fuß gelebt und verließ diese Welt auf die gleiche Weise. Tagelang hatten der Leitende Ermittler Arkadi Renko und Kriminalleutnant Viktor Orlow den Toten durch Moskau verfolgt. Begonnen hatten sie mit dem ausgeweideten Grischa im Leichenschauhaus, gefolgt von einer Kräuterwaschung und Schminksitzung in einer Wellnessoase. Schließlich, bekleidet und aromatisiert, war die Leiche in einem goldbeschlagenen Sarg, auf Rosen gebettet, in der Basilika der Christ-Erlöser-Kathedrale aufgebahrt worden. Alle waren sich einig, dass Grischa, abgesehen von dem Loch in seinem Hinterkopf, wirklich gut aussah.
Für einen Leitenden Ermittler wie Renko und einen Kriminalleutnant wie Orlow war eine Überwachung dieser Art ziemlich erniedrigend, eine Aufgabe, die ein Kartenabreißer im Kino hätte übernehmen können. Der Staatsanwalt hatte angeordnet, sie sollten »Notizen und Fotos machen. Halten Sie sich von der Trauergemeinde fern und beobachten Sie bloß. Verhalten Sie sich diskret und nehmen Sie keinen Kontakt auf«.
Die beiden waren schon ein sonderbares Paar. Arkadi war ein dünner Mann mit strähnigem, dunklem Haar und wirkte ohne Zigarette unvollkommen. Viktor war ein Wrack mit blutunterlaufenen Augen. Wegen seiner Trinkerei wagte außer Arkadi niemand, mit ihm zu arbeiten. Solange er einen Fall verfolgte, blieb er nüchtern und war ein guter Kriminalbeamter. Er war wie ein Reifen, der aufrecht blieb, solange er rollte, und umfiel, wenn er anhielt.
»Keinen Kontakt aufnehmen«, murrte Viktor. »Das hier ist ein Begräbnis. Was erwartet er denn, Armdrücken? He, da ist die Wetterfee.« Eine Blondine in Schwarz schälte sich aus einem Maserati.
»Wenn du winkst, erschieße ich dich.«
»Siehst du, auch bei dir ist es schon angekommen. ›Verhalten Sie sich diskret.‹ Wegen Grischa? Er mag zwar ein Milliardär gewesen sein, aber er war trotzdem nur ein besserer Knochenbrecher.«
Es gab zwei Grischas. Der eine war ein öffentlicher Wohltäter, Schirmherr von Wohltätigkeitsorganisationen und Mäzen der Künste, ein führendes Mitglied der Moskauer Handelskammer. Der andere war der Grischa, der seine Finger in Drogen, Waffenhandel und Prostitution hatte.
Die Trauergemeinde war ähnlich gemischt. Arkadi entdeckte Milliardäre, deren Arme das Nutzholz und die Erdgasvorkommen der Nation umschlangen, Abgeordnete, die sich ohne Hemmungen aus der Staatskasse bedienten, Boxer, die zu Gangstern geworden waren, Popen so rund wie Mistkäfer, Models auf wackeligen Stilettos und Schauspieler, die nur Attentäter spielten, Schulter an Schulter mit den echten. Ein grüner Teppich war vor der ersten Reihe ausgerollt, in der die Köpfe der Moskauer Unterwelt in ganzer Bandbreite auftauchten, von den alten Knaben wie Ape Beledon, genannt der Affe, ein Zwerg mit Affengesicht in einem Mantel und einer Persianermütze, und seinen beiden vierschrötigen Söhnen, über Boris und Valentina Schagelmann, Experten für insolvente Banken, bis hin zu Abdul, der sich von einem tschetschenischen Rebellen zu einem Autoschmuggler und, in einem weiteren Karrieresprung, zu einem Hip-Hop-Künstler entwickelt hatte. Als Viktor die Kamera hob, versperrte ihm einer von Beledons Söhnen die Sicht.
»Oh, Scheiße.« Das war Viktors Lieblingsausdruck. Egal, ob es um ein Fußballturnier ging, ein Kartenspiel oder einen Salat - alles war Scheiße. »Weißt du, was mich ankotzt?«
»Was kotzt dich an?«
»Wir kommen mit zweihundert Digitalbildern von diesem Scheißloch in der Erde zurück, und der Revierkommandant wird nur sagen, ›Vielen Dank‹, und sie dann vor meinen Augen löschen.«
»Überspiel sie vorher auf den Laptop.«
»Darum geht es nicht. Es geht darum, dass wir nicht gewinnen können. Wir laufen uns nur tot. Ich hätte einen netten Tag im Bett verbringen können, vollkommen hinüber und sturzbesoffen.«
»Und ich habe dich davon abgehalten?«
»Hast du. Ich weiß, dass du es gut meinst.«
Ein Pope dröhnte: »Wohl denen, die ohne Tadel leben, die im Gesetz des Herrn wandeln.« Ein goldenes Kruzifix baumelte auf Bauchhöhe, an seinem Handgelenk schimmerte eine goldene Rolex.
Arkadi brauchte eine Pause. Er drehte eine Runde über den Friedhof und betrachtete die Grabsteine. Seine Lieblingsstatuen, könnte man sagen. In schwarzem Marmor brütete ein Großmeister über einem Schachbrett. In weißem Marmor schwebte eine Ballerina durch die Luft. Auch Kurioses gab es. Vom Grab eines Schriftstellers erhob sich eine Wald elfe. Ein in Bronze gegossener Komödiant bot eine frische Nelke dar. Bescheidene Grasflecken luden die Lebenden ein, sich auf eine Bank zu setzen und mit einem längst Verstorbenen zu plaudern.
Alexi Grigorenko trat Arkadi in den Weg. »Kann mein Vater nicht in Frieden beerdigt werden? Müssen Sie ihn bis ins Grab verfolgen?«
»Mein Beileid«, sagte Arkadi.
»Sie stören eine Beerdigung.«
Die Aussegnung war unterbrochen, während Alexi zeigen musste, wie taff er war, Verteidiger der Familienehre und all das.
»Wir sind hier auf einem Friedhof, Alexi«, sagte Arkadi. »Jeder ist willkommen.«
»Das ist reine Schikane, und es ist eine fucking Entweihung. «
»Ist das der Umgangston in der amerikanischen Business School?«
»Sie waren nicht eingeladen«, fauchte Alexi.
Alexi war eine geschniegeltere Version seines Vaters, modisch unrasiert, das Haar am Kragen mit Gel gelockt. Er gehörte zu einer neuen Generation, die Wirtschaftsforen in Aspen besuchten und in Chamonix Ski liefen, und er ließ keinen Zweifel daran, dass er davon ausging, die Familie auf die nächste Stufe der Legitimität zu führen. Arkadi fragte sich, ob Alexi die nächste Woche überleben würde.
Am Friedhofstor gab es eine echte Störung. Totengräber verscheuchten eine Gruppe mit Transparenten. Arkadi konnte nicht erkennen, worum es ging, erhaschte jedoch einen Blick auf eine Fotojournalistin, die er kannte. Anja Walidowa wohnte auf der anderen Seite seines Flurs und teilte manchmal das Bett mit ihm. Sie war jung und voller Leben, und was sie in Arkadi sah, war ihm ein Rätsel. Er hatte keine Ahnung, was sie auf dem Friedhof wollte, und sie warf ihm einen warnenden Blick zu, nicht näher zu kommen. Kein Bezug zur Mafia. Anjas Freunde waren Schriftsteller und Intellektuelle, durchaus zu Torheiten fähig, aber nicht zu Verbrechen, und nach ein bisschen Hin und Her verschwanden sie die Straße hinunter. Anja blieb bei ihnen.
Der Pope räusperte sich und meinte zu Alexi: »Vielleicht sollten wir jetzt zur Grabrede kommen, bevor, na ja, noch irgendwas passiert.«
Eine Grabrede würde nicht reichen, dachte Arkadi. Hier ging es um Alexis Inthronisierung durch viele der Trauergäste, ein knallhartes Publikum. Sie würden ihn eher köpfen als krönen.
»Wenn er gescheit ist, nutzt er die Gelegenheit, ihnen zum Abschied zuzuwinken und um sein Leben zu laufen«, sagte Viktor.
Alexi fing bedächtig an. »Mein Vater Grischa Iwanowitsch Grigorenko war aufrichtig und gerecht, ein Visionär in Geschäftsdingen, ein Mäzen der Künste. Frauen wussten, was für ein Gentleman er war. Trotzdem war er ein Mann unter Männern. Nie ließ er einen Freund im Stich oder wich einem Kampf aus, trotz aller Angriffe auf seinen Charakter und der Verunglimpfung seines Rufes. Mein Vater begrüßte Veränderung. Er begriff, dass eine neue Zeit begonnen hatte. Er beriet eine neue Unternehmergeneration und war wie eine Vater für alle, die seiner Hilfe bedurften. Er war ein gläubiger Mensch mit einem tiefen Gemeinschaftsgefühl, entschlossen, die Lebensqualität sowohl in seiner zweiten Heimat Kaliningrad als auch in seiner Geburtsstadt Moskau zu verbessern. Ich habe meinem Vater versprochen, seinen Traum zu erfüllen. Ich weiß, dass seine echten Freunde mir folgen werden, um diesen Traum wahr werden zu lassen.«
»Und vielleicht schlitzen sie ihn von oben bis unten auf«, flüsterte Viktor.
Alexi fügte hinzu: »Um zu etwas Erfreulicherem zu kommen, möchte ich Sie alle einladen, die Gastfreundschaft der Familie Grigorenko auf Grischas Jacht zu genießen, die am Kreml-Pier vor Anker liegt.«
Trauergäste defilierten am offenen Grab vorbei und ließen rote Rosen auf den Sarg fallen. Niemand verharrte. Die Aussicht auf ein Bankett an Bord einer Weltklassejacht war unwiderstehlich, und nach wenigen Minuten standen nur noch Arkadi, Viktor und die Totengräber am Grab. Erde prasselte hinab. Grischa Grigorenko und seine Rosen verschwanden.
»Hast du das gesehen?« Viktor deutete auf den Grabstein.
Arkadi richtete seinen Blick auf den Stein. Offenbar war nur auf ein Datum gewartet worden, denn in den glänzenden Granit war bereits ein lebensgroßes, fotorealistisches Porträt von Grischa eingemeißelt. Er trug eine Kapitänsmütze, und unter dem offenen Hemdkragen waren ein Kruzifix und Ketten zu sehen. Der eine Fuß ruhte auf der Stoßstange eines Jeep Cherokee. In der Hand hielt er einen echten Autoschlüssel.
»Dieser Stein kostet mehr, als ich in einem Jahr verdiene «, sagte Viktor.
»Tja, ihm wurde der Kopf weggepustet, falls dich das tröstet.«
»Ein bisschen.«
»Aber warum wurde er erschossen?«, fragte Arkadi.
»Warum nicht? Gangster haben ein begrenztes Haltbarkeitsdatum. Jetzt, da Grischa aus dem Weg ist, steht Kaliningrad weit offen. Niemand glaubt, dass Alexi das Zeug hat, die Stadt zu halten. Das sind keine Schuljungen. Wenn Alexi klug ist, kehrt er auf die Business School zurück. Willst du auf die Jacht?«
»Nein, ich glaube nicht, dass ich meinen Neid noch länger unterdrücken kann. Ich würde gerne ein bisschen bleiben. «
Viktor schaute sich um. »Ruhig, friedlich, die ganze ländliche Idylle. Mach das nur. Ich werde nach der Jacht suchen und in den Fluss pissen.«
Sobald Viktor verschwunden war, wandte sich Arkadi an die Totengräber. Sie waren immer noch verärgert über die Reiberei mit Anjas Freunden.
»Das war eine Demonstration. Man darf nicht ohne Genehmigung demonstrieren.«
Arkadi wollte sich keinesfalls in Anjas Angelegenheiten einmischen, konnte sich die Frage aber nicht verkneifen: »Eine Demonstration wogegen?«
»Wir haben denen gesagt, dass es keine Rolle spielt, wie berühmt jemand ist. Eine Selbstmörderin bleibt eine Selbstmörderin und kann nicht in geweihter Erde begraben werden.«
»Selbstmord?«
»Fragen Sie die. Die ganze Gruppe läuft auf den Taganskaja zu. Sie können sie noch einholen.«
»Wessen Selbstmord?«
»Der von Tatjana.«
Der andere Totengräber nickte zustimmend. »Eine Unruhestifterin bis zuletzt.«
Vor dem Tor teilten sich Ape Beledons Söhne einen Joint.
»Der Alte lässt uns warten, als wäre er die verdammte Königin von England und wir der Prinz von Wales. Wann lässt er uns übernehmen? Ich sag dir, wann. Nie.«
»Echte Autorität.«
»Echte Autorität wird dir nicht übertragen.«
»Man nimmt sie sich. Man übt sie aus.«
»Man zeigt sie wie, du weißt schon, ›Noch eine tolle Nacht hier in Babylon‹.«
»Scarface. Tony Montana. Nennst du das einen kubanischen Akzent?«
»›Willst du mich verarschen? Willst du was auf die Fresse? Okay. Sag Hallo zu meinem kleinen Freund.‹ Und dann pustet er sie weg.«
»Ich muss die DVD schon hundertmal gesehen haben.«
Ein Husten.
»Lass dich nicht von Ape dabei erwischen, dass du den Scheiß rauchst.«
»Führt sich auf wie ein beschissener Schulmeister.«
»Scheiß auf Ape.«
»Und scheiß auf Alexi. Kriegt alles auf dem Silbertablett serviert.«
2
Als Arkadi die Demonstranten eingeholt hatte, waren sie auf über hundert angewachsen und hatten ihren Zielort erreicht, die Sackgasse, in der die Journalistin Tatjana Petrowna vor einer Woche in den Tod gestürzt war. Die Häuser waren alle gleich: sechs Stockwerke trister Beton, mit abgestorbenen Bäumchen, die eingepflanzt und vergessen worden waren. Eine Bank und eine Wippe waren mit Vogelkot bekleckert, doch die Eingangsstufen, auf denen sie gelandet war, hatte man geschrubbt und mit Bleiche behandelt.
Niemand war verhaftet worden, obwohl ein Fernsehreporter, der bei den Demonstranten geblieben war, atemlos spekulierte, Petrownas konfrontativer Reportagestil habe seine Risiken. Er könne die Möglichkeit nicht ausschließen, dass die Journalistin sich aus Publicitygründen das Leben genommen habe. Offiziell wurde es als Selbstmord dargestellt.
Arkadi war auf die Angelegenheit aufmerksam geworden, weil Tatjana Petrownas Nachbarn sie hatten schreien hören. Selbstmord erforderte normalerweise Konzentration. Menschen, die Selbstmord begingen, zählten Tabletten, starrten fasziniert auf das ausströmende Blut, sprangen schweigend aus großer Höhe. Sie schrien nur selten. Außerdem sah Arkadi keine Nachbarn. Aufläufe wie dieser hätten die Glotzer an ihre Fenster treiben sollen.
Die Demonstranten entzündeten Kerzen und trugen Fotos, die Tatjana als nachlässig hübsche Frau an einem Schreibtisch zeigten, lesend in einer Hängematte, beim Spaziergang mit einem Hund, an vorderster Front in einem Kriegsgebiet. Sergei Obolenski, ihr ehemaliger Chefredakteur, war an der Spitze der Demonstranten. Dank seines geschorenen Schädels, des gepflegten Bartes und der Nickelbrille war er leicht zu erkennen. Arkadi und er waren sich einmal begegnet und hatten einander absolut nicht leiden können. Durch ein Megafon rief der Chefredakteur: »Wo ist Tatjana? Was versucht man uns zu verheimlichen? «
Anja und ihre Kamera schienen überall auf einmal zu sein. Arkadi musste sie am Ärmel packen.
»Du hast mir nichts davon erzählt.«
»Weil du doch nur gesagt hättest, ich solle nicht mitgehen «, gab sie zurück. »Auf diese Weise haben wir Streit vermieden. Die Polizei behauptet, sie sei vom Balkon gesprungen und habe sich das Leben genommen. Wir haben eine unabhängige Autopsie verlangt, und jetzt behaupten sie, die Leiche sei unauffindbar. Wie können sie eine Leiche verlieren?«
»Sie verlieren schon seit Jahren Leichen. Das ist eine ihrer Funktionen. Viel wichtiger ist, ob ihr eine Genehmigung für diese Demonstration habt. Ohne Genehmigung könnte sie als Provokation betrachtet werden.«
»Sie ist eine Provokation, Arkadi. Im Geiste von Tatjana Petrowna soll sie genau das sein. Warum machst du nicht mit?«
Während Arkadi noch zögerte, tauchte Obolenski auf. »Was tust du hier hinten, Anja? Ich brauche dich vorne, um Fotos zu machen.«
»Moment, Sergei. Erinnerst du dich an Ermittler Renko? Er marschiert mit uns.«
»Ach ja? Der eine gute Apfel unter all den verfaulten. Wir werden ja sehen, ob das stimmt.« Obolenski salutierte spöttisch vor Arkadi und wandte sich dann einer Gruppe Studenten zu, die sich der Demonstration anschließen wollten.
»Wir haben mindestens zweihundert Demonstranten«, berichtete Anja.
»Du hättest es mir sagen sollen.«
»Ich kannte deine Antwort, und du hast mich nicht enttäuscht. «
Für sie war alles einfach, dachte er, tiefschwarz oder schneeweiß. Sie war im Vorteil, da er nie diese Reinheit der Überzeugung besessen hatte. Wenn sie ein verwöhntes Kind war, dann war er ein Miesmacher, ein Spielverderber. Als Journalistin wollte Anja nahe beim Geschehen sein, während Arkadi ein Mann auf dem Rückzug war. Sie gab nicht vor, treu zu sein, und er erwartete es auch nicht. Ihre Liebesbeziehung war flüchtig. Durch reinen Zufall überlappten sich die Ränder ihres jeweiligen Lebens. Erwartungen gab es nicht.
»Geh nach Hause, Arkadi«, sagte Anja.
Obolenski kam zurück, legte ihr besitzergreifend die Hand auf den Arm und führte sie zu einer Bank, auf der ein Mann mit Megafon gegen den Wind anbrüllte. Arkadi dachte, Tatjana Petrowna hätte beim Anblick dieser Leute gelächelt, die ihr hier die letzte Ehre erweisen wollten. Alles Intellektuelle mittleren Alters. Chefredakteure, die ihre Autoren im Stich ließen, Autoren, die für die Schublade schrieben, Künstler, die wohlhabend geworden waren, weil sie Sozialrealismus in Kitsch verwandelten.
Er überlegte, welche Anschuldigungen man ihnen sonst noch entgegenschleudern könnte. Dass sie einst eine besondere Generation gewesen waren, die das tote Gewicht eines Imperiums abgeworfen hatte? Dass sie Romantiker waren, die über ein Stelldichein mit der Geschichte lamentierten, die nie stattgefunden hatte? Dass sie so matschig geworden waren wie ein verfaulter Kürbis? Dass sie alt waren? Dass sie sich um Tatjana scharten, nachdem sie tot war, sich aber von ihr ferngehalten hatten, als sie noch lebte?
Arkadi kam es so vor, als brauchte Obolenski keine Hunderte Demonstranten, er brauchte Tausende. Wo waren die jungen Menschen, die twitterten und texteten und mit ihren iPhones Tausende zu Demonstrationen zusammentrommelten? Wo waren die Liberalen, Kommunisten, Putin-Gegner, Lesben und Schwulen? Im Vergleich dazu war Obolenskis Demonstration eine Gartenparty. Ein Altersheimausflug.
Wenn es nach Arkadi gegangen wäre, hätte er jetzt alle nach Hause geschickt. Nichts, worauf er den Finger hätte legen können, nur ein atmosphärisches Ungleichgewicht, das auf Entladung wartete. Ein Protest war passend, weil Tatjana eine Unruhestifterin gewesen war. Sie hatte Korruption unter Politikern und bei der Polizei angegriffen. Ihr Lieblingsziel waren die ehemaligen KGBler, die wie Fledermäuse im Kreml hausten.
Arkadi trennte sich von der Menge und ging um das Gebäude herum. Auf der einen Seite befand sich eine Reihe heruntergekommener Mietshäuser, auf der anderen ein Maschendrahtzaun und eine Baustelle, die noch kaum in Gang gekommen war. Stapel von Moniereisen rosteten vor sich hin. Bauwagen standen verlassen da, die Fenster eingeschlagen, die Türen besprüht mit Hakenkreuzen. Männer hatten sich um einen Zementmischer versammelt. Alle hatten kahl geschorene Köpfe und trugen Rot, die Farbe der Fans des Fußballklubs Spartak. Bei Spartak-Spielen wurden sie oft in einen abgegrenzten Teil der Tribüne gepfercht. Arkadi sah, wie einer nach einer Eisenstange griff und sie probeweise schwang.
Als er zurückkehrte, war die Kundgebung in vollem Gange. Eine richtige Organisation gab es nicht. Die Leute wechselten sich am Megafon ab und redeten sich ihr schlechtes Gewissen von der Seele. Alle hatten irgendwann ihre Karriere durch das Kippen eines Artikels befördert, für den Tatjana Petrowna Kopf und Kragen riskiert hatte. Gleichzeitig erinnerten sie daran, dass Tatjana gewusst habe, wie sie enden würde. Sie besaß kein Auto, weil es, wie sie sagte, nur in die Luft gesprengt worden wäre, und das sei Verschwendung eines einwandfreien Wagens. Sie hätte in eine größere Wohnung ziehen, hätte sich den Weg zu materiellem Luxus erpressen können, war jedoch zufrieden mit ihrer Sackgassenbude gewesen, dem klapprigen Aufzug und den dürftigen Türen.
»Jede Schnecke zieht ihr eigenes Haus vor«, hatte Tatjana gesagt. Aber sie wusste es. So oder so, es war nur eine Frage der Zeit.
Der Nachmittag ging in die Dämmerung über, und das Fernsehteam war abgezogen, bevor der Dichter Maxim Dal vortrat. Maxim war sofort zu erkennen, größer als alle anderen, mit einem gelbweißen Pferdeschwanz, einem Schaffellmantel und von derart heroischer Hässlichkeit, dass er beinahe schön war. Kaum hielt er das Megafon in Händen, verurteilte er den mangelnden Fortschritt der Ermittlungen.
»Tolstoi schrieb, ›Gott kennt die Wahrheit, aber er wartet‹. « Maxim wiederholte: »Gott kennt die Wahrheit, aber er wartet, um das Böse zu korrigieren, das Menschen anrichten. Tatjana Petrowna hatte diese Geduld nicht. Sie hatte nicht die Geduld Gottes. Sie wollte, dass das Böse, das Menschen tun, sofort korrigiert wird. Heute. Sie war eine ungeduldige Frau, und daher war ihr klar, dass dieser Tag kommen könnte. Sie wusste, sie war eine Gezeichnete. Sie war klein, doch für gewisse Elemente im Staat so gefährlich, dass sie zum Schweigen gebracht werden musste, genau wie so viele andere russische Journalisten bedroht, angegriffen und ermordet wurden. Sie wusste, sie stand als Nächste auf der Liste der Märtyrer, und auch aus diesem Grund war sie eine ungeduldige Frau.«
Einer der Demonstranten fiel auf die Knie. Arkadi dachte, der Mann sei gestolpert, bis eine Straßenlaterne zersplitterte. Einem allgemeinen Luftanhalten folgten erschrockene Schreie.
Vom Rand der Menge hatte Arkadi freie Sicht auf die Skinheads, die über den Maschendrahtzaun setzten wie Wikinger über eine Bordwand. Nur eine Handvoll, nicht mehr als zwanzig. Sie schwangen ihre Eisenstäbe wie Breitschwerter.
Chefredakteure mit sitzender Lebensweise konnten es nicht mit jungen Rowdys aufnehmen, die ihre Tage damit verbrachten, Gewichte zu stemmen und Karateschläge in die Nieren oder die Kniekehlen zu trainieren. Professoren gaben Fersengeld und nahmen ihre Würde mit, während sie versuchten, die Schläge abzuwehren. Transparente sackten zusammen, als Appelle zur Vernunft mit Tritten beantwortet wurden. Ein Schlag in den Rücken nahm einem die Luft. Ein Stein auf den Schädel schrammte die Kopfhaut auf. Rettung schien nahe, als ein Polizeibus eintraf und Bereitschaftspolizei auslud. Arkadi erwartete, dass sie den Demonstranten zu Hilfe kommen würden, doch stattdessen stürmten sie mit Gummiknüppeln auf sie los.
Arkadi sah sich einem riesigen Polizisten gegenüber. Klar unterlegen, versetzte er dem Mann einen Hieb gegen die Luftröhre, eher eine billige Nummer als ein K.-O. Schlag, doch der Polizist torkelte im Kreis, rang nach Luft. Anja war mitten im Schlachtgetümmel und machte Fotos, während Maxim sie schützte und das Megafon wie einen Knüppel einsetzte. Arkadi erhaschte einen Blick auf Obolenski, der ebenfalls wacker standhielt.
Doch Arkadi ging zu Boden. Bei einem Straßenkampf ist das der schlimmste Ort, an dem man landen kann, aber genau darauf stürzte er zu. Über wessen Fuß er stolperte, wusste er nicht, nur dass zwei Einsatzpolizisten auf seinen Rippen zu tanzen begannen. Tja, dachte er mit Viktors Worten, das ist wirklich Scheiße.
Er kam auf die Füße, ohne zu wissen, wie, und zeigte seinen Ermittlerausweis.
»Der gehört zu uns?« Der eine Polizist ließ seine Faust sinken. »Wäre ich nie drauf gekommen.«
In Minutenschnelle war die Schlacht vorbei. Die Skinheads sprangen über den Zaun und verschwanden. Die Polizisten machten ihre Runde unter den Verletzten und sammelten Ausweise ein. Arkadi sah aufgeplatzte Lippen und blutige Nasen, doch der wahre Schaden war den Lebensgeistern der Demonstranten zugefügt worden. Den ganzen Nachmittag hatten sie die Leidenschaft ihrer Jugend wiederaufleben lassen, standen wieder mit Jelzin auf einem Panzer, trotzten erneut dem Apparat des KGB. Diese berauschenden Tage waren vorbei, in sich zusammengefallen, und alles, was die Demonstranten davongetragen hatten, waren Blutergüsse und Schrammen.
Arkadis Auge war zugeschwollen, und nach Anjas Reaktion war er froh, sich nicht sehen zu können. Sie wiederum sah aus, als hätte sie höchstens eine Achterbahnfahrt hinter sich. Obolenski hatte sich verdrückt. Der Dichter Maxim war ebenfalls verschwunden. Zu dumm.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 beim C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
Joseph liebte Wortspiele. Er hatte ein fotografisches Gedächtnis - ein eidetisches Gedächtnis, um genau zu sein. Nach einem Blick auf ein Kreuzworträtsel konnte er es beim Radfahren im Kopf lösen, diese Wörter herauskitzeln, die nur in Kreuzworträtseln existierten: ekru, falb, amo, amas, amat. Fragen, die nicht auf Englisch waren, machten es ihm umso leichter. Ein Tort war eine Kränkung, ein Verdruss; eine Torte ein Stück Kuchen. Ein ausgewachsenes Anagramm konnte ihn von Toulon bis Aix-en- Provence beschäftigen. An diesem Nachmittag hatte er frei, und das war auch nötig, nachdem er zwischen Russen und Chinesen vermittelt hatte. Als beide Seiten früh Schluss machten, packte der Dolmetscher die Gelegenheit beim Schopf und schwang sich auf sein Rad.
Er war stolz darauf, außergewöhnliche Routen zu finden. Für ihn war es die Hölle, in der Toskana oder der Provence hinter Touristen festzuhängen, die sich auf Leihfahrrädern in Schlangenlinien ihr Mittagsmahl aus Käse und Wein abstrampelten. Elastische Taschen an der Rückseite seines Trikots enthielten Wasserflaschen, Energieriegel, Karte und Flickzeug. Er war bereit, hin und wieder einen Reifen zu flicken, wenn er dadurch neue Aussichten ganz für sich allein genießen konnte. Kaliningrad hatte den Ruf, hässlich und voller Kriminalität zu sein, eine Stadt, die eine Waise war, ein Hurenkind oder beides. Kaum war man jedoch der Stadt entflohen, hatte man, voilà, eine ländliche Idylle vor sich.
Joseph war zum Dolmetschen geboren; sein Vater war Russe, seine Mutter Französin, und beide unterrichteten an der Berlitz-Sprachschule. Als er das Gerücht verbreitete, seine Eltern seien tot, tragischerweise bei einem Autounfall in Monte Carlo ums Leben gekommen, wurde Joseph der Junge, der von wohlhabenden Klassenkameraden am häufigsten für die Ferien eingeladen wurde. Er machte sich beliebt und stellte sich manchmal vor, sein Leben als Gast in einer Villa nicht weit vom Meer zu verbringen. Seinen Eltern schickte er nach wie vor eine Karte zu Weihnachten, hatte sie aber seit Jahren nicht mehr gesehen.
Er dolmetschte für Filmstars und Staatsoberhäupter, doch am lukrativsten waren Verhandlungen zwischen Unternehmen. Für gewöhnlich wurden sie von kleinen Teams streng vertraulich durchgeführt, und ein Dolmetscher hatte omnipräsent, jedoch so gut wie unsichtbar zu sein. Vor allem musste er diskret sein, zuverlässig alles vergessen, was er gehört hatte, alles vollkommen aus dem Gedächtnis löschen, nachdem der Auftrag beendet war.
Als die breitere Straße in eine Landstraße überging, flog er an vereinzelten, von Fliederbüschen überwucherten Ziegelsteinruinen vorbei. Zum Glück gab es fast keinen Verkehr. Er kurvte um ein Schlagloch nach dem anderen und holperte an einer Stelle über Asphalt, der zu Wellen aufgeworfen war. Ein Metzgerwagen mit einem Plastikschwein auf dem Dach kam ihm entgegen und schien direkt auf ihn zuzuhalten, bis sie einander passierten wie Schiffe auf hoher See.
Allerdings hatte der Dolmetscher nicht alles ausgelöscht. Da waren noch seine Notizen. Selbst wenn sie gestohlen wurden, bestand keine Gefahr, denn außer ihm konnte niemand sie entziffern.
Die Straße endete an einem einsamen Parkplatz mit einem verrammelten Kiosk und einer Anzeigetafel für vergangene Veranstaltungen. Ein Eiswagen lag umgekippt da. Alles zeugte vom Ennui der Nachsaison. Dennoch stieg er vom Rad, als er Möwen kreischen hörte, trug es über einen Dünenkamm und sah vor sich einen Strand, der sich zu beiden Seiten ins Unendliche erstreckte. Sanfte Wellen schwappten ans Ufer, Nebel verwandelte das Meer und den Himmel in lichte, blaue Bänder. Sand wirbelte im Wind auf und schmiegte sich an den Strandhafer zwischen den Dünen. Grob gezimmerte Sonnenschirme ohne Bespannung standen Wache, doch kein Mensch war zu sehen, perfekt für Joseph.
Er legte das Rad in den Sand und nahm seinen Helm ab. Das hier war ein echter Fund. Die Art von Miniabenteuer, aus dem sich eine gute Geschichte für einen Abend am Kamin machen ließ, mit einem Glas Rotwein und faszinierten Zuhörern. Ein wenig Wagemut, um seine Karriere zu krönen. Ihr »Bedeutung« zu verleihen, das war das richtige Wort.
Trotz der kühlen Luft war es Joseph warm vom Radeln, und er zog seine Radfahrschuhe und Socken aus. Der Sand war fein, nicht wie die steinigen Strände vieler Urlaubsorte, und unverschmutzt, vielleicht weil Kaliningrad während des Kalten Krieges eine geschlossene Stadt gewesen war. Wasser rauschte heran, zischte um seine Füße und zog sich wieder zurück.
Seine Träumerei wurde durch das Näherkommen eines Fahrzeugs unterbrochen, das wie ein betrunkener Seemann über den Strand torkelte. Der Metzgerwagen. Das Plastikschwein, rosa und grinsend, wackelte hin und her, bis der Kastenwagen zum Stehen kam und ein Mann ausstieg, etwa dreißig Jahre alt, mit einem Homburg auf dem Kopf und strähnigem Haar. Eine dreckige Schürze umflatterte ihn.
»Suchen Sie Bernstein?«
»Warum sollte ich Bernstein suchen?«, fragte Joseph.
»Hier ist genau die richtige Stelle. Aber Sie müssen auf einen Sturm warten. Sie müssen auf einen Sturm warten, der den Bernstein aufwühlt.«
»Hochwühlt«, nicht »aufwühlt«, dachte Joseph, behielt es aber für sich. Er spürte nichts, was ihn mit diesem Mann verband, keinen Intellekt, für den sich die Anstrengung lohnen würde. Früher oder später würde der Kerl Geld für Wodka von ihm verlangen, und das wär's dann.
»Ich warte auf Freunde«, sagte Joseph.
Der schief sitzende Homburg verlieh dem Metzger etwas Groteskes. Er wirkte benommen oder betrunken, jedenfalls so belustigt über einen privaten Witz, dass er über das Fahrrad stolperte.
»Idiot! Passen Sie doch auf, wo Sie hintreten!«, knurrte Joseph.
»Tut mir leid, wirklich. Sagen Sie, ist das ein italienisches? « Der Metzger hob das Fahrrad am Vorderrad hoch. »Ist ja wunderschön. Von denen sieht man nicht viele in Kaliningrad.«
»Woher soll ich das wissen?«
»Sie können's mir glauben.«
Joseph bemerkte, dass die Hände des Metzgers vom Umgang mit Gefrierfleisch zerschrammt und aufgerissen waren und seine Schürze die entsprechenden dunklen Flecken aufwies, obwohl seine Sandalen kaum das geeignete Schuhwerk für rutschige Kühlräume waren.
»Können Sie mir bitte das Fahrrad geben? Sand in der Gangschaltung kann ich wirklich nicht gebrauchen.«
»Kein Problem.« Der Metzger ließ das Rad fallen und fragte strahlend: »Urlaub?«
»Wie bitte?«
»War nur eine Frage. Machen Sie hier Urlaub, oder sind Sie geschäftlich da?«
»Urlaub.«
Das Gesicht des Metzgers zeigte ein breites Grinsen. »Wirklich? Sie sind nach Kaliningrad gekommen, um Urlaub zu machen? Sie verdienen einen Orden.« Er tat so, als heftete er Joseph einen Orden an die Brust. »Was sind die Highlights von Kaliningrad? Na los, erzählen Sie mir, was Sie sich heute Morgen angeschaut haben.«
Joseph hatte den ganzen Morgen gearbeitet, wobei das zwar niemanden etwas anging, aber der Metzger hatte eine vernickelte Pistole gezogen, die er wie loses Kleingeld in der Hand wog. Was Joseph als kühlende Brise empfunden hatte, ließ ihn jetzt frösteln, und Sandkörner klebten am Schweiß auf seiner Haut. Vielleicht ging es hier nur um eine gewöhnliche Erpressung. Kein Problem. Er würde zahlen, was immer verlangt wurde, und es sich vom Kunden ersetzen lassen.
»Sind Sie von der Polizei?«
»Sehe ich aus wie die verdammte Polizei?«
»Nein.« Joseph sank der Mut. Er war dazu ausgebildet, bei Geiselnahmen ruhig und kooperativ zu sein. Die Statistiken waren insgesamt beruhigend. Menschen kamen nur um, wenn jemand versuchte, sich als Held aufzuspielen. »Was wollen Sie?«
»Ich hab Sie im Hotel mit diesen Leuten gesehen. Die sind umgeben von Leibwächtern und haben ein ganzes Stockwerk für sich.« Der Metzger wurde vertraulich. »Wer sind die?«
»Geschäftsleute.«
»Internationale Geschäfte, sonst würden die ja keinen Dolmetscher brauchen, stimmt's? Ohne Sie kommt alles zum Stillstand. Das Räderwerk bleibt stehen, nicht wahr? Das große Rad wird vom kleinen Rad gestoppt, ist es nicht so?«
Joseph wurde unbehaglich zumute. Schließlich war das hier Kaliningrad. Das Schwein leuchtete, frohen Mutes bereit für den Gang zur Schlachtbank. Joseph erwog, vor diesem Verrückten wegzulaufen. Selbst wenn nicht auf ihn geschossen wurde, würde er sein Fahrrad zurücklassen müssen. Der Sand war zu tief und zu weich für die Reifen. Die ganze Sache war erniedrigend.
»Ich dolmetsche nur«, sagte Joseph. »Für die Inhalte bin ich nicht verantwortlich.«
»Und machen sich Notizen bei geheimen Treffen.«
»Völlig legal. Die Notizen dienen mir bloß als Gedächtnisstütze. «
»Geheime Treffen, sonst wären Sie nicht in Kaliningrad. Sie würden sich in Paris amüsieren.«
»Die Sache ist heikel«, gab Joseph zu.
»Darauf wette ich. Sie haben eine echte Gabe. Die Leute reden wie ein Wasserfall, und Sie übersetzen es Wort für Wort. Wie können Sie sich das alles merken?«
»Dazu sind die Notizen da.«
»Die möchte ich gerne sehen.«
»Sie würden sie nicht verstehen.«
»Ich kann lesen.«
Rasch fügte Joseph an: »Das bezweifle ich auch nicht, nur ist der Inhalt höchst technisch. Und die Notizen sind vertraulich. Wir würden uns strafbar machen.«
»Zeigen Sie her.«
»Das kann ich wirklich nicht.« Joseph blickte sich um und sah nichts als Möwen, die am Strand patrouillierten, falls etwas zu fressen auftauchte. Niemand hatte den Möwen mitgeteilt, dass die Saison zu Ende war.
»Sie kapieren's nicht. Von den Einzelheiten muss ich nichts wissen. Ich bin ein Pirat, genau wie diese Afrikaner, die Tanker entführen. Die haben nicht den blassesten Schimmer von Öl. Sind einfach ein paar schwarze Drecksäcke mit Maschinenpistolen, aber wenn sie einen Tanker kapern, haben sie alle Karten in der Hand. Reedereien zahlen Millionen, um ihre Schiffe wiederzubekommen. Die Entführer ziehen nicht in den Krieg, sie werfen dem System nur Knüppel zwischen die Beine. Tanker sind ihre Gelegenheitsziele, und genau das sind Sie, mein Gelegenheitsziel. Ich verlange bloß zehntausend Dollar für ein Notizbuch. Habgierig bin ich nicht.«
»Wenn Sie nur der Laufbursche sind, ändert das alles.« Sofort merkte Joseph, dass er das Falsche gesagt hatte und auf die falsche Weise. Als hätte er eine Kobra gepiekst. »Lassen Sie mich ... Ihnen zeigen ...« Joseph griff hinter sich und kämpfte mit den Taschen seines Trikots, fummelte Wasserflasche und Energieriegel heraus, bis er ein Notizbuch und Bleistifte fand.
»Ist es das?«, fragte der Metzger.
»Ja, nur nicht, was Sie erwarten.«
Der Metzger öffnete das Notizbuch auf der ersten Seite, schlug die zweite auf, die dritte und vierte. Schließlich blätterte er es bis zum Schluss durch.
»Was, zum Teufel, ist das? Zeichnungen von Katzen? Kritzeleien?«
»So mache ich mir Notizen.« Joseph konnte seinen Stolz nicht ganz verbergen.
»Woher soll ich wissen, ob das die Notizen sind?«
»Ich lese Sie Ihnen vor.«
»Sie könnten mir ja den letzten Scheiß erzählen. Und was soll ich denen zeigen?«
»Wer ist denen?«
»Was glauben Sie wohl? Kommt man diesen Leuten quer, ist man im Arsch.«
Seine Arbeitgeber? Wenn er es doch nur erklären könnte.
»Meine Notizen ...«
»Sind ein Witz? Ich zeige Ihnen, was ein Witz ist.« Der Metzger zerrte Joseph zum Kastenwagen und öffnete die Laderaumtür. Aus seinen vielen Sprachen kam dem Dolmetscher nur ein Wort in den Sinn: »Jesus.« Im Kastenwagen hingen zwei enthäutete Lämmer, kopfüber, kalt und blau.
Mehr Worte fand Joseph nicht. Ihm hatte es den Atem verschlagen.
»Sollen die Vögel das doch lesen.« Der Metzger schleuderte das Notizbuch in den Wind, stieß Joseph in den Laderaum und kletterte hinter ihm hinein.
Von überall kamen Möwen. Ganze Schwärme von Dieben stießen herab und beraubten sich gegenseitig. Jeder kleinste Fetzen aus Josephs Taschen wurde aufgepickt und untersucht. Um einen halb gegessenen Energieriegel entstand ein Tauziehen. Ein Schuss schreckte die Vögel kurz auf, und der Gewinner flog davon, verfolgt von anderen Möwen und wütendem Gekreisch. Die restlichen ließen sich in mürrischer Eintracht nieder, die Köpfe in den Wind gedreht. Als sich der Nebel lichtete, tauchte der Horizont auf, Wellen schwappten mit dem Geräusch von Perlen heran, die über einen Marmorboden kullern.
1
A uf dem Wagankowoer Friedhof stand die Zeit nicht still, doch sie verlangsamte sich. Blätter, die von Pappeln und Eschen herabwehten, vermittelten ein Gefühl von Erleichterung, Ungezwungenheit und Verfall. Viele Grabstätten waren bescheiden, ein Stein und eine Bank, umzäunt von allmählich rostendem Schmiedeeisen. Ein Einmachglas mit Blumen oder ein Päckchen Zigaretten waren Beweise der Zuwendung für Geister, denen endlich erlaubt war zu genießen.
Von Grischa Grigorenko ließe sich behaupten, dass er stets dem Genuss zugeneigt war. Er hatte auf großem Fuß gelebt und verließ diese Welt auf die gleiche Weise. Tagelang hatten der Leitende Ermittler Arkadi Renko und Kriminalleutnant Viktor Orlow den Toten durch Moskau verfolgt. Begonnen hatten sie mit dem ausgeweideten Grischa im Leichenschauhaus, gefolgt von einer Kräuterwaschung und Schminksitzung in einer Wellnessoase. Schließlich, bekleidet und aromatisiert, war die Leiche in einem goldbeschlagenen Sarg, auf Rosen gebettet, in der Basilika der Christ-Erlöser-Kathedrale aufgebahrt worden. Alle waren sich einig, dass Grischa, abgesehen von dem Loch in seinem Hinterkopf, wirklich gut aussah.
Für einen Leitenden Ermittler wie Renko und einen Kriminalleutnant wie Orlow war eine Überwachung dieser Art ziemlich erniedrigend, eine Aufgabe, die ein Kartenabreißer im Kino hätte übernehmen können. Der Staatsanwalt hatte angeordnet, sie sollten »Notizen und Fotos machen. Halten Sie sich von der Trauergemeinde fern und beobachten Sie bloß. Verhalten Sie sich diskret und nehmen Sie keinen Kontakt auf«.
Die beiden waren schon ein sonderbares Paar. Arkadi war ein dünner Mann mit strähnigem, dunklem Haar und wirkte ohne Zigarette unvollkommen. Viktor war ein Wrack mit blutunterlaufenen Augen. Wegen seiner Trinkerei wagte außer Arkadi niemand, mit ihm zu arbeiten. Solange er einen Fall verfolgte, blieb er nüchtern und war ein guter Kriminalbeamter. Er war wie ein Reifen, der aufrecht blieb, solange er rollte, und umfiel, wenn er anhielt.
»Keinen Kontakt aufnehmen«, murrte Viktor. »Das hier ist ein Begräbnis. Was erwartet er denn, Armdrücken? He, da ist die Wetterfee.« Eine Blondine in Schwarz schälte sich aus einem Maserati.
»Wenn du winkst, erschieße ich dich.«
»Siehst du, auch bei dir ist es schon angekommen. ›Verhalten Sie sich diskret.‹ Wegen Grischa? Er mag zwar ein Milliardär gewesen sein, aber er war trotzdem nur ein besserer Knochenbrecher.«
Es gab zwei Grischas. Der eine war ein öffentlicher Wohltäter, Schirmherr von Wohltätigkeitsorganisationen und Mäzen der Künste, ein führendes Mitglied der Moskauer Handelskammer. Der andere war der Grischa, der seine Finger in Drogen, Waffenhandel und Prostitution hatte.
Die Trauergemeinde war ähnlich gemischt. Arkadi entdeckte Milliardäre, deren Arme das Nutzholz und die Erdgasvorkommen der Nation umschlangen, Abgeordnete, die sich ohne Hemmungen aus der Staatskasse bedienten, Boxer, die zu Gangstern geworden waren, Popen so rund wie Mistkäfer, Models auf wackeligen Stilettos und Schauspieler, die nur Attentäter spielten, Schulter an Schulter mit den echten. Ein grüner Teppich war vor der ersten Reihe ausgerollt, in der die Köpfe der Moskauer Unterwelt in ganzer Bandbreite auftauchten, von den alten Knaben wie Ape Beledon, genannt der Affe, ein Zwerg mit Affengesicht in einem Mantel und einer Persianermütze, und seinen beiden vierschrötigen Söhnen, über Boris und Valentina Schagelmann, Experten für insolvente Banken, bis hin zu Abdul, der sich von einem tschetschenischen Rebellen zu einem Autoschmuggler und, in einem weiteren Karrieresprung, zu einem Hip-Hop-Künstler entwickelt hatte. Als Viktor die Kamera hob, versperrte ihm einer von Beledons Söhnen die Sicht.
»Oh, Scheiße.« Das war Viktors Lieblingsausdruck. Egal, ob es um ein Fußballturnier ging, ein Kartenspiel oder einen Salat - alles war Scheiße. »Weißt du, was mich ankotzt?«
»Was kotzt dich an?«
»Wir kommen mit zweihundert Digitalbildern von diesem Scheißloch in der Erde zurück, und der Revierkommandant wird nur sagen, ›Vielen Dank‹, und sie dann vor meinen Augen löschen.«
»Überspiel sie vorher auf den Laptop.«
»Darum geht es nicht. Es geht darum, dass wir nicht gewinnen können. Wir laufen uns nur tot. Ich hätte einen netten Tag im Bett verbringen können, vollkommen hinüber und sturzbesoffen.«
»Und ich habe dich davon abgehalten?«
»Hast du. Ich weiß, dass du es gut meinst.«
Ein Pope dröhnte: »Wohl denen, die ohne Tadel leben, die im Gesetz des Herrn wandeln.« Ein goldenes Kruzifix baumelte auf Bauchhöhe, an seinem Handgelenk schimmerte eine goldene Rolex.
Arkadi brauchte eine Pause. Er drehte eine Runde über den Friedhof und betrachtete die Grabsteine. Seine Lieblingsstatuen, könnte man sagen. In schwarzem Marmor brütete ein Großmeister über einem Schachbrett. In weißem Marmor schwebte eine Ballerina durch die Luft. Auch Kurioses gab es. Vom Grab eines Schriftstellers erhob sich eine Wald elfe. Ein in Bronze gegossener Komödiant bot eine frische Nelke dar. Bescheidene Grasflecken luden die Lebenden ein, sich auf eine Bank zu setzen und mit einem längst Verstorbenen zu plaudern.
Alexi Grigorenko trat Arkadi in den Weg. »Kann mein Vater nicht in Frieden beerdigt werden? Müssen Sie ihn bis ins Grab verfolgen?«
»Mein Beileid«, sagte Arkadi.
»Sie stören eine Beerdigung.«
Die Aussegnung war unterbrochen, während Alexi zeigen musste, wie taff er war, Verteidiger der Familienehre und all das.
»Wir sind hier auf einem Friedhof, Alexi«, sagte Arkadi. »Jeder ist willkommen.«
»Das ist reine Schikane, und es ist eine fucking Entweihung. «
»Ist das der Umgangston in der amerikanischen Business School?«
»Sie waren nicht eingeladen«, fauchte Alexi.
Alexi war eine geschniegeltere Version seines Vaters, modisch unrasiert, das Haar am Kragen mit Gel gelockt. Er gehörte zu einer neuen Generation, die Wirtschaftsforen in Aspen besuchten und in Chamonix Ski liefen, und er ließ keinen Zweifel daran, dass er davon ausging, die Familie auf die nächste Stufe der Legitimität zu führen. Arkadi fragte sich, ob Alexi die nächste Woche überleben würde.
Am Friedhofstor gab es eine echte Störung. Totengräber verscheuchten eine Gruppe mit Transparenten. Arkadi konnte nicht erkennen, worum es ging, erhaschte jedoch einen Blick auf eine Fotojournalistin, die er kannte. Anja Walidowa wohnte auf der anderen Seite seines Flurs und teilte manchmal das Bett mit ihm. Sie war jung und voller Leben, und was sie in Arkadi sah, war ihm ein Rätsel. Er hatte keine Ahnung, was sie auf dem Friedhof wollte, und sie warf ihm einen warnenden Blick zu, nicht näher zu kommen. Kein Bezug zur Mafia. Anjas Freunde waren Schriftsteller und Intellektuelle, durchaus zu Torheiten fähig, aber nicht zu Verbrechen, und nach ein bisschen Hin und Her verschwanden sie die Straße hinunter. Anja blieb bei ihnen.
Der Pope räusperte sich und meinte zu Alexi: »Vielleicht sollten wir jetzt zur Grabrede kommen, bevor, na ja, noch irgendwas passiert.«
Eine Grabrede würde nicht reichen, dachte Arkadi. Hier ging es um Alexis Inthronisierung durch viele der Trauergäste, ein knallhartes Publikum. Sie würden ihn eher köpfen als krönen.
»Wenn er gescheit ist, nutzt er die Gelegenheit, ihnen zum Abschied zuzuwinken und um sein Leben zu laufen«, sagte Viktor.
Alexi fing bedächtig an. »Mein Vater Grischa Iwanowitsch Grigorenko war aufrichtig und gerecht, ein Visionär in Geschäftsdingen, ein Mäzen der Künste. Frauen wussten, was für ein Gentleman er war. Trotzdem war er ein Mann unter Männern. Nie ließ er einen Freund im Stich oder wich einem Kampf aus, trotz aller Angriffe auf seinen Charakter und der Verunglimpfung seines Rufes. Mein Vater begrüßte Veränderung. Er begriff, dass eine neue Zeit begonnen hatte. Er beriet eine neue Unternehmergeneration und war wie eine Vater für alle, die seiner Hilfe bedurften. Er war ein gläubiger Mensch mit einem tiefen Gemeinschaftsgefühl, entschlossen, die Lebensqualität sowohl in seiner zweiten Heimat Kaliningrad als auch in seiner Geburtsstadt Moskau zu verbessern. Ich habe meinem Vater versprochen, seinen Traum zu erfüllen. Ich weiß, dass seine echten Freunde mir folgen werden, um diesen Traum wahr werden zu lassen.«
»Und vielleicht schlitzen sie ihn von oben bis unten auf«, flüsterte Viktor.
Alexi fügte hinzu: »Um zu etwas Erfreulicherem zu kommen, möchte ich Sie alle einladen, die Gastfreundschaft der Familie Grigorenko auf Grischas Jacht zu genießen, die am Kreml-Pier vor Anker liegt.«
Trauergäste defilierten am offenen Grab vorbei und ließen rote Rosen auf den Sarg fallen. Niemand verharrte. Die Aussicht auf ein Bankett an Bord einer Weltklassejacht war unwiderstehlich, und nach wenigen Minuten standen nur noch Arkadi, Viktor und die Totengräber am Grab. Erde prasselte hinab. Grischa Grigorenko und seine Rosen verschwanden.
»Hast du das gesehen?« Viktor deutete auf den Grabstein.
Arkadi richtete seinen Blick auf den Stein. Offenbar war nur auf ein Datum gewartet worden, denn in den glänzenden Granit war bereits ein lebensgroßes, fotorealistisches Porträt von Grischa eingemeißelt. Er trug eine Kapitänsmütze, und unter dem offenen Hemdkragen waren ein Kruzifix und Ketten zu sehen. Der eine Fuß ruhte auf der Stoßstange eines Jeep Cherokee. In der Hand hielt er einen echten Autoschlüssel.
»Dieser Stein kostet mehr, als ich in einem Jahr verdiene «, sagte Viktor.
»Tja, ihm wurde der Kopf weggepustet, falls dich das tröstet.«
»Ein bisschen.«
»Aber warum wurde er erschossen?«, fragte Arkadi.
»Warum nicht? Gangster haben ein begrenztes Haltbarkeitsdatum. Jetzt, da Grischa aus dem Weg ist, steht Kaliningrad weit offen. Niemand glaubt, dass Alexi das Zeug hat, die Stadt zu halten. Das sind keine Schuljungen. Wenn Alexi klug ist, kehrt er auf die Business School zurück. Willst du auf die Jacht?«
»Nein, ich glaube nicht, dass ich meinen Neid noch länger unterdrücken kann. Ich würde gerne ein bisschen bleiben. «
Viktor schaute sich um. »Ruhig, friedlich, die ganze ländliche Idylle. Mach das nur. Ich werde nach der Jacht suchen und in den Fluss pissen.«
Sobald Viktor verschwunden war, wandte sich Arkadi an die Totengräber. Sie waren immer noch verärgert über die Reiberei mit Anjas Freunden.
»Das war eine Demonstration. Man darf nicht ohne Genehmigung demonstrieren.«
Arkadi wollte sich keinesfalls in Anjas Angelegenheiten einmischen, konnte sich die Frage aber nicht verkneifen: »Eine Demonstration wogegen?«
»Wir haben denen gesagt, dass es keine Rolle spielt, wie berühmt jemand ist. Eine Selbstmörderin bleibt eine Selbstmörderin und kann nicht in geweihter Erde begraben werden.«
»Selbstmord?«
»Fragen Sie die. Die ganze Gruppe läuft auf den Taganskaja zu. Sie können sie noch einholen.«
»Wessen Selbstmord?«
»Der von Tatjana.«
Der andere Totengräber nickte zustimmend. »Eine Unruhestifterin bis zuletzt.«
Vor dem Tor teilten sich Ape Beledons Söhne einen Joint.
»Der Alte lässt uns warten, als wäre er die verdammte Königin von England und wir der Prinz von Wales. Wann lässt er uns übernehmen? Ich sag dir, wann. Nie.«
»Echte Autorität.«
»Echte Autorität wird dir nicht übertragen.«
»Man nimmt sie sich. Man übt sie aus.«
»Man zeigt sie wie, du weißt schon, ›Noch eine tolle Nacht hier in Babylon‹.«
»Scarface. Tony Montana. Nennst du das einen kubanischen Akzent?«
»›Willst du mich verarschen? Willst du was auf die Fresse? Okay. Sag Hallo zu meinem kleinen Freund.‹ Und dann pustet er sie weg.«
»Ich muss die DVD schon hundertmal gesehen haben.«
Ein Husten.
»Lass dich nicht von Ape dabei erwischen, dass du den Scheiß rauchst.«
»Führt sich auf wie ein beschissener Schulmeister.«
»Scheiß auf Ape.«
»Und scheiß auf Alexi. Kriegt alles auf dem Silbertablett serviert.«
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Als Arkadi die Demonstranten eingeholt hatte, waren sie auf über hundert angewachsen und hatten ihren Zielort erreicht, die Sackgasse, in der die Journalistin Tatjana Petrowna vor einer Woche in den Tod gestürzt war. Die Häuser waren alle gleich: sechs Stockwerke trister Beton, mit abgestorbenen Bäumchen, die eingepflanzt und vergessen worden waren. Eine Bank und eine Wippe waren mit Vogelkot bekleckert, doch die Eingangsstufen, auf denen sie gelandet war, hatte man geschrubbt und mit Bleiche behandelt.
Niemand war verhaftet worden, obwohl ein Fernsehreporter, der bei den Demonstranten geblieben war, atemlos spekulierte, Petrownas konfrontativer Reportagestil habe seine Risiken. Er könne die Möglichkeit nicht ausschließen, dass die Journalistin sich aus Publicitygründen das Leben genommen habe. Offiziell wurde es als Selbstmord dargestellt.
Arkadi war auf die Angelegenheit aufmerksam geworden, weil Tatjana Petrownas Nachbarn sie hatten schreien hören. Selbstmord erforderte normalerweise Konzentration. Menschen, die Selbstmord begingen, zählten Tabletten, starrten fasziniert auf das ausströmende Blut, sprangen schweigend aus großer Höhe. Sie schrien nur selten. Außerdem sah Arkadi keine Nachbarn. Aufläufe wie dieser hätten die Glotzer an ihre Fenster treiben sollen.
Die Demonstranten entzündeten Kerzen und trugen Fotos, die Tatjana als nachlässig hübsche Frau an einem Schreibtisch zeigten, lesend in einer Hängematte, beim Spaziergang mit einem Hund, an vorderster Front in einem Kriegsgebiet. Sergei Obolenski, ihr ehemaliger Chefredakteur, war an der Spitze der Demonstranten. Dank seines geschorenen Schädels, des gepflegten Bartes und der Nickelbrille war er leicht zu erkennen. Arkadi und er waren sich einmal begegnet und hatten einander absolut nicht leiden können. Durch ein Megafon rief der Chefredakteur: »Wo ist Tatjana? Was versucht man uns zu verheimlichen? «
Anja und ihre Kamera schienen überall auf einmal zu sein. Arkadi musste sie am Ärmel packen.
»Du hast mir nichts davon erzählt.«
»Weil du doch nur gesagt hättest, ich solle nicht mitgehen «, gab sie zurück. »Auf diese Weise haben wir Streit vermieden. Die Polizei behauptet, sie sei vom Balkon gesprungen und habe sich das Leben genommen. Wir haben eine unabhängige Autopsie verlangt, und jetzt behaupten sie, die Leiche sei unauffindbar. Wie können sie eine Leiche verlieren?«
»Sie verlieren schon seit Jahren Leichen. Das ist eine ihrer Funktionen. Viel wichtiger ist, ob ihr eine Genehmigung für diese Demonstration habt. Ohne Genehmigung könnte sie als Provokation betrachtet werden.«
»Sie ist eine Provokation, Arkadi. Im Geiste von Tatjana Petrowna soll sie genau das sein. Warum machst du nicht mit?«
Während Arkadi noch zögerte, tauchte Obolenski auf. »Was tust du hier hinten, Anja? Ich brauche dich vorne, um Fotos zu machen.«
»Moment, Sergei. Erinnerst du dich an Ermittler Renko? Er marschiert mit uns.«
»Ach ja? Der eine gute Apfel unter all den verfaulten. Wir werden ja sehen, ob das stimmt.« Obolenski salutierte spöttisch vor Arkadi und wandte sich dann einer Gruppe Studenten zu, die sich der Demonstration anschließen wollten.
»Wir haben mindestens zweihundert Demonstranten«, berichtete Anja.
»Du hättest es mir sagen sollen.«
»Ich kannte deine Antwort, und du hast mich nicht enttäuscht. «
Für sie war alles einfach, dachte er, tiefschwarz oder schneeweiß. Sie war im Vorteil, da er nie diese Reinheit der Überzeugung besessen hatte. Wenn sie ein verwöhntes Kind war, dann war er ein Miesmacher, ein Spielverderber. Als Journalistin wollte Anja nahe beim Geschehen sein, während Arkadi ein Mann auf dem Rückzug war. Sie gab nicht vor, treu zu sein, und er erwartete es auch nicht. Ihre Liebesbeziehung war flüchtig. Durch reinen Zufall überlappten sich die Ränder ihres jeweiligen Lebens. Erwartungen gab es nicht.
»Geh nach Hause, Arkadi«, sagte Anja.
Obolenski kam zurück, legte ihr besitzergreifend die Hand auf den Arm und führte sie zu einer Bank, auf der ein Mann mit Megafon gegen den Wind anbrüllte. Arkadi dachte, Tatjana Petrowna hätte beim Anblick dieser Leute gelächelt, die ihr hier die letzte Ehre erweisen wollten. Alles Intellektuelle mittleren Alters. Chefredakteure, die ihre Autoren im Stich ließen, Autoren, die für die Schublade schrieben, Künstler, die wohlhabend geworden waren, weil sie Sozialrealismus in Kitsch verwandelten.
Er überlegte, welche Anschuldigungen man ihnen sonst noch entgegenschleudern könnte. Dass sie einst eine besondere Generation gewesen waren, die das tote Gewicht eines Imperiums abgeworfen hatte? Dass sie Romantiker waren, die über ein Stelldichein mit der Geschichte lamentierten, die nie stattgefunden hatte? Dass sie so matschig geworden waren wie ein verfaulter Kürbis? Dass sie alt waren? Dass sie sich um Tatjana scharten, nachdem sie tot war, sich aber von ihr ferngehalten hatten, als sie noch lebte?
Arkadi kam es so vor, als brauchte Obolenski keine Hunderte Demonstranten, er brauchte Tausende. Wo waren die jungen Menschen, die twitterten und texteten und mit ihren iPhones Tausende zu Demonstrationen zusammentrommelten? Wo waren die Liberalen, Kommunisten, Putin-Gegner, Lesben und Schwulen? Im Vergleich dazu war Obolenskis Demonstration eine Gartenparty. Ein Altersheimausflug.
Wenn es nach Arkadi gegangen wäre, hätte er jetzt alle nach Hause geschickt. Nichts, worauf er den Finger hätte legen können, nur ein atmosphärisches Ungleichgewicht, das auf Entladung wartete. Ein Protest war passend, weil Tatjana eine Unruhestifterin gewesen war. Sie hatte Korruption unter Politikern und bei der Polizei angegriffen. Ihr Lieblingsziel waren die ehemaligen KGBler, die wie Fledermäuse im Kreml hausten.
Arkadi trennte sich von der Menge und ging um das Gebäude herum. Auf der einen Seite befand sich eine Reihe heruntergekommener Mietshäuser, auf der anderen ein Maschendrahtzaun und eine Baustelle, die noch kaum in Gang gekommen war. Stapel von Moniereisen rosteten vor sich hin. Bauwagen standen verlassen da, die Fenster eingeschlagen, die Türen besprüht mit Hakenkreuzen. Männer hatten sich um einen Zementmischer versammelt. Alle hatten kahl geschorene Köpfe und trugen Rot, die Farbe der Fans des Fußballklubs Spartak. Bei Spartak-Spielen wurden sie oft in einen abgegrenzten Teil der Tribüne gepfercht. Arkadi sah, wie einer nach einer Eisenstange griff und sie probeweise schwang.
Als er zurückkehrte, war die Kundgebung in vollem Gange. Eine richtige Organisation gab es nicht. Die Leute wechselten sich am Megafon ab und redeten sich ihr schlechtes Gewissen von der Seele. Alle hatten irgendwann ihre Karriere durch das Kippen eines Artikels befördert, für den Tatjana Petrowna Kopf und Kragen riskiert hatte. Gleichzeitig erinnerten sie daran, dass Tatjana gewusst habe, wie sie enden würde. Sie besaß kein Auto, weil es, wie sie sagte, nur in die Luft gesprengt worden wäre, und das sei Verschwendung eines einwandfreien Wagens. Sie hätte in eine größere Wohnung ziehen, hätte sich den Weg zu materiellem Luxus erpressen können, war jedoch zufrieden mit ihrer Sackgassenbude gewesen, dem klapprigen Aufzug und den dürftigen Türen.
»Jede Schnecke zieht ihr eigenes Haus vor«, hatte Tatjana gesagt. Aber sie wusste es. So oder so, es war nur eine Frage der Zeit.
Der Nachmittag ging in die Dämmerung über, und das Fernsehteam war abgezogen, bevor der Dichter Maxim Dal vortrat. Maxim war sofort zu erkennen, größer als alle anderen, mit einem gelbweißen Pferdeschwanz, einem Schaffellmantel und von derart heroischer Hässlichkeit, dass er beinahe schön war. Kaum hielt er das Megafon in Händen, verurteilte er den mangelnden Fortschritt der Ermittlungen.
»Tolstoi schrieb, ›Gott kennt die Wahrheit, aber er wartet‹. « Maxim wiederholte: »Gott kennt die Wahrheit, aber er wartet, um das Böse zu korrigieren, das Menschen anrichten. Tatjana Petrowna hatte diese Geduld nicht. Sie hatte nicht die Geduld Gottes. Sie wollte, dass das Böse, das Menschen tun, sofort korrigiert wird. Heute. Sie war eine ungeduldige Frau, und daher war ihr klar, dass dieser Tag kommen könnte. Sie wusste, sie war eine Gezeichnete. Sie war klein, doch für gewisse Elemente im Staat so gefährlich, dass sie zum Schweigen gebracht werden musste, genau wie so viele andere russische Journalisten bedroht, angegriffen und ermordet wurden. Sie wusste, sie stand als Nächste auf der Liste der Märtyrer, und auch aus diesem Grund war sie eine ungeduldige Frau.«
Einer der Demonstranten fiel auf die Knie. Arkadi dachte, der Mann sei gestolpert, bis eine Straßenlaterne zersplitterte. Einem allgemeinen Luftanhalten folgten erschrockene Schreie.
Vom Rand der Menge hatte Arkadi freie Sicht auf die Skinheads, die über den Maschendrahtzaun setzten wie Wikinger über eine Bordwand. Nur eine Handvoll, nicht mehr als zwanzig. Sie schwangen ihre Eisenstäbe wie Breitschwerter.
Chefredakteure mit sitzender Lebensweise konnten es nicht mit jungen Rowdys aufnehmen, die ihre Tage damit verbrachten, Gewichte zu stemmen und Karateschläge in die Nieren oder die Kniekehlen zu trainieren. Professoren gaben Fersengeld und nahmen ihre Würde mit, während sie versuchten, die Schläge abzuwehren. Transparente sackten zusammen, als Appelle zur Vernunft mit Tritten beantwortet wurden. Ein Schlag in den Rücken nahm einem die Luft. Ein Stein auf den Schädel schrammte die Kopfhaut auf. Rettung schien nahe, als ein Polizeibus eintraf und Bereitschaftspolizei auslud. Arkadi erwartete, dass sie den Demonstranten zu Hilfe kommen würden, doch stattdessen stürmten sie mit Gummiknüppeln auf sie los.
Arkadi sah sich einem riesigen Polizisten gegenüber. Klar unterlegen, versetzte er dem Mann einen Hieb gegen die Luftröhre, eher eine billige Nummer als ein K.-O. Schlag, doch der Polizist torkelte im Kreis, rang nach Luft. Anja war mitten im Schlachtgetümmel und machte Fotos, während Maxim sie schützte und das Megafon wie einen Knüppel einsetzte. Arkadi erhaschte einen Blick auf Obolenski, der ebenfalls wacker standhielt.
Doch Arkadi ging zu Boden. Bei einem Straßenkampf ist das der schlimmste Ort, an dem man landen kann, aber genau darauf stürzte er zu. Über wessen Fuß er stolperte, wusste er nicht, nur dass zwei Einsatzpolizisten auf seinen Rippen zu tanzen begannen. Tja, dachte er mit Viktors Worten, das ist wirklich Scheiße.
Er kam auf die Füße, ohne zu wissen, wie, und zeigte seinen Ermittlerausweis.
»Der gehört zu uns?« Der eine Polizist ließ seine Faust sinken. »Wäre ich nie drauf gekommen.«
In Minutenschnelle war die Schlacht vorbei. Die Skinheads sprangen über den Zaun und verschwanden. Die Polizisten machten ihre Runde unter den Verletzten und sammelten Ausweise ein. Arkadi sah aufgeplatzte Lippen und blutige Nasen, doch der wahre Schaden war den Lebensgeistern der Demonstranten zugefügt worden. Den ganzen Nachmittag hatten sie die Leidenschaft ihrer Jugend wiederaufleben lassen, standen wieder mit Jelzin auf einem Panzer, trotzten erneut dem Apparat des KGB. Diese berauschenden Tage waren vorbei, in sich zusammengefallen, und alles, was die Demonstranten davongetragen hatten, waren Blutergüsse und Schrammen.
Arkadis Auge war zugeschwollen, und nach Anjas Reaktion war er froh, sich nicht sehen zu können. Sie wiederum sah aus, als hätte sie höchstens eine Achterbahnfahrt hinter sich. Obolenski hatte sich verdrückt. Der Dichter Maxim war ebenfalls verschwunden. Zu dumm.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 beim C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
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Autoren-Porträt von Martin Cruz Smith
Martin Cruz Smith, 1943 als Sohn einer Indianerin und eines Jazz-Musikers in Philadelphia geboren, gelang mit dem Roman 'Gorki Park' ein Welterfolg. Seither hat der russische Chefinspektor Arkadi Renko eine große Fan-Gemeinde, die nach 'Polar Star' und 'Das Labyrinth' jetzt endlich ihren unvergleichlichen und abgeklärten Helden wiederhat.Susanne Aeckerle, geb. 1942 in Lindau/Bodensee. 1975 Mitbegründerin des ersten deutschen Frauenbuchladens in München. Später Geschäftsführerin eines Schallplattenvertriebs und Herausgeberin einer Frauenmusikzeitschrift. Von 1981-90 Redakteurin und Chefin vom Dienst bei der Zeitschrift ''Emma'. Sie lebt heute als Übersetzerin, Herausgeberin und freie Lektorin in München.
Bibliographische Angaben
- Autor: Martin Cruz Smith
- 2013, 320 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Aeckerle, Susanne
- Übersetzer: Susanne Aeckerle
- Verlag: C. Bertelsmann
- ISBN-10: 3570101916
- ISBN-13: 9783570101919
- Erscheinungsdatum: 11.11.2013
Rezension zu „Arkadi Renko Band 8: Tatjana “
"Brillantes Porträt von Russland unter Putin. Renko, seit 'Gorki Park' Ermittlerikone der Literaturszene, fasziniert und fesselt wie eh und je." Hörzu
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