Atlantis
Roman
An dem Tag, als Bobby Garfield elf Jahre alt wird, zieht Ted Brautigan in die Nachbarwohnung ein. Der kluge Alte wird bald Bobbys bester Freund, aber der Junge merkt rasch, dass der Mann ständig auf der Hut ist. Schließlich erzählt Ted, dass er von...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Atlantis “
An dem Tag, als Bobby Garfield elf Jahre alt wird, zieht Ted Brautigan in die Nachbarwohnung ein. Der kluge Alte wird bald Bobbys bester Freund, aber der Junge merkt rasch, dass der Mann ständig auf der Hut ist. Schließlich erzählt Ted, dass er von bösartigen, als Menschen getarnten Außerirdischen bedroht wird. Was Bobby anfangs als Hirngespinst seines Freundes abtut, wird jedoch bald zu einer realen Bedrohung, die das Leben in der amerikanischen Kleinstadt Harwich im Nordosten der USA für immer verändert.
Klappentext zu „Atlantis “
Eine verlorene Generation zwischen Verrat, Krieg und SchreckenDie mysteriösen Männer, die an Bobby Garfields elftem Geburtstag in seiner Heimatstadt auftauchen, sind gemeingefährlich. Das Grauen, das mit ihnen Einzug in Bobbys Welt hält, zwingt ihn dazu, sich von den Gewissheiten der Kindheit zu verabschieden - und das ist erst der Anfang.
Grundlage für die Verfilmung "Hearts of Atlantis" mit Oscar-Preisträger Anthony Hopkins.
»Stephen Kings vielschichtigstes und überzeugendstes Buch - sein persönliches Meisterwerk.« Kirkus Review
Lese-Probe zu „Atlantis “
Atlantis von Stephen KingAus dem Amerikanischen von Peter Robert
Kapitel eins
Ein Junge und seine Mutter
Bobbys Geburtstag
Der neue Mieter
Von der Zeit und Fremdlingen
Bobby Garfields Vater hatte zu denen gehört, die schon mit
zwanzig bis dreißig Jahren die Haare zu verlieren beginnen
und so circa mit fünfundvierzig völlig kahl sind. Randall
Garfield blieb dieses Endstadium erspart, weil er mit sechsunddreißig
an einem Herzinfarkt starb. Er war Immobilienmakler
und tat seinen letzten Atemzug auf dem Küchenboden
irgendeines fremden Hauses. Der potenzielle Käufer
war im Wohnzimmer und versuchte, über ein abgemeldetes
Telefon einen Krankenwagen zu rufen, als Bobbys Dad sein
Leben aushauchte. Zu diesem Zeitpunkt war Bobby drei
Jahre alt. Er hatte verschwommene Erinnerungen an einen
Mann, der ihn kitzelte und ihn dann auf Wangen und Stirn
küsste. Er war sich ziemlich sicher, dass dieser Mann sein
Vater gewesen war. SCHMERZLICH VERMISST stand auf
Randall Garfields Grabstein, aber der Schmerz von Bobbys
Mutter schien sich in Grenzen zu halten, und was Bobby
selbst betraf ... nun, wie konnte man jemand vermissen, an
den man sich kaum erinnerte?
... mehr
Acht Jahre nach dem Tod seines Vaters verliebte sich
Bobby heftig in das sechsundzwanzigzöllige Schwinn im
Schaufenster von Harwich Western Auto. Er machte seiner
Mutter gegenüber auf jede erdenkliche Weise Andeutungen
hinsichtlich des Schwinn und zeigte es ihr schließlich eines
Abends auf dem Heimweg vom Kino (sie hatten sich Das
Dunkel am Ende der Treppe angesehen, einen Film, den
Bobby zwar nicht verstanden, aber trotzdem gut gefunden
hatte, besonders den Teil, wo Dorothy McGuire sich auf
ihrem Stuhl nach hinten fallen ließ und ihre langen Beine
zeigte). Als sie an dem Eisenwarenladen vorbeikamen, erwähnte
Bobby beiläufig, dass das Fahrrad im Schaufenster
bestimmt ein tolles Geschenk zum elften Geburtstag wäre -
für irgendeinen glücklichen Jungen.
»Denk nicht mal dran«, sagte sie. »Ich kann's mir nicht
leisten, dir ein Fahrrad zum Geburtstag zu schenken. Dein
Vater hat uns nicht gerade ein Vermögen hinterlassen, weißt
du.«
Obwohl Randall schon zur Zeit von Trumans Präsidentschaft
gestorben war und Eisenhowers achtjähriger Törn
sich auch bereits seinem Ende näherte, war Dein Vater hat
uns nicht gerade ein Vermögen hinterlassen immer noch die
häufigste Antwort seiner Mutter auf jeden Vorschlag von
Bobby, der mit der Ausgabe von mehr als einem Dollar verbunden
sein könnte. Normalerweise wurde die Bemerkung
von einem tadelnden Blick begleitet, als wäre der Mann
weggelaufen und nicht gestorben.
Kein Fahrrad zum Geburtstag. Bobby dachte auf dem
Heimweg betrübt darüber nach. Seine Freude über den seltsamen,
verworrenen Film, den sie gesehen hatten, war weitgehend
verflogen. Er diskutierte nicht mit seiner Mutter
und versuchte auch nicht, sie zu beschwatzen - das würde
einen Gegenangriff auslösen, und wenn Liz Garfield zum
Gegenangriff überging, dann machte sie keine Gefangenen
-, aber er grübelte über dieses verlorene Fahrrad nach ...
und über den verlorenen Vater. Manchmal hasste er seinen
Vater beinahe. Und das Einzige, was ihn davon abhielt, war
das an nichts festzumachende, aber sehr starke Gefühl, dass
seine Mutter sich wünschte, er täte es. Als sie den Commonwealth
Park erreichten und daran entlanggingen - zwei
Blocks weiter vorn würden sie links auf die Broad Street abbiegen,
wo sie wohnten -, warf er seine üblichen Bedenken
über Bord und stellte eine Frage nach Randall Garfield.
»Hat er nichts hinterlassen, Mama? Überhaupt nichts?«
Eine oder zwei Wochen zuvor hatte er einen Nancy-Drew-
Krimi gelesen, in dem das Erbe eines armen Kindes hinter
einer alten Uhr in einem verlassenen Herrenhaus versteckt
gewesen war. Bobby glaubte eigentlich nicht, dass sein Vater
irgendwo Goldmünzen oder seltene Briefmarken gehortet
hatte, aber wenn es überhaupt etwas gab, dann konnten sie
es vielleicht in Bridgeport verkaufen. Möglicherweise in
einem der Pfandhäuser. Bobby wusste nicht genau, wie das
mit dem Verpfänden so ablief, aber er wusste, wie die Pfandhäuser
aussahen - an der Fassade hingen drei goldene Kugeln.
Und er war sich sicher, dass die Leute im Pfandhaus
ihnen gern helfen würden. Natürlich war das nur ein Kindertraum,
aber Carol Gerber ein Stück weiter oben in der Straße
besaß einen ganzen Satz Puppen, den ihr Vater, der bei der
Navy war, ihr aus Übersee geschickt hatte. Wenn Väter einem
was schenkten - was sie taten -, stand zu erwarten, dass
Väter manchmal auch was hinterließen.
Als Bobby die Frage stellte, passierten sie gerade eine
jener Straßenlaternen, die diese Seite des Commonwealth
Park säumten, und Bobby sah, wie der Mund seiner Mutter
sich veränderte, so wie jedes Mal, wenn er es wagte, eine
Frage über seinen verstorbenen Vater zu stellen. Die Veränderung
erinnerte ihn an eine ihrer Handtaschen: Wenn man
an den Schnüren zog, wurde das Loch oben kleiner.
»Ich werde dir sagen, was er hinterlassen hat«, begann
sie, als sie sich an den Aufstieg zum Broad Street Hill machten.
Bobby wünschte bereits, er hätte nicht gefragt, aber
jetzt war es natürlich zu spät. Wenn man sie erst mal in
Gang gesetzt hatte, ließ sie sich nicht mehr stoppen, das
war das Problem. »Er hat die Police einer Lebensversicherung
hinterlassen, die in dem Jahr vor seinem Tod erloschen
war. Ich wusste so gut wie nichts davon, ehe er fort war
und jeder - einschließlich des Leichenbestatters - ein kleines
Stück von dem haben wollte, was ich nicht hatte. Er hat
auch einen großen Stapel unbezahlter Rechnungen hinterlassen,
die ich inzwischen größtenteils abbezahlt habe - die
Leute waren sehr verständnisvoll, was meine Situation betrifft,
besonders Mr. Biderman, das kann man nicht anders
sagen.«
Das waren alles alte Geschichten, ebenso langweilig wie
von Bitterkeit durchsetzt, aber dann erzählte sie Bobby
etwas Neues. »Dein Vater«, sagte sie, als sie sich dem großen
Wohnhaus näherten, das auf halber Höhe des Broad
Street Hill stand, »konnte nie an einem Inside Straight vorbeigehen.«
»Was ist ein Inside Straight, Mama?«
»Unwichtig. Aber eins sag ich dir, Bobby-O: Lass dich
bloß nie von mir beim Kartenspielen um Geld erwischen!
Davon hab ich für den Rest meines Lebens genug.«
Bobby wollte nachfragen, überlegte es sich aber anders;
weitere Fragen hätten wahrscheinlich eine Schimpfkano-
nade ausgelöst. Ihm ging der Gedanke durch den Kopf,
dass der Film, in dem es um unglückliche Ehemänner und
Ehefrauen gegangen war, sie vielleicht auf eine Weise aufgeregt
hatte, die er als Kind nicht verstehen konnte. Er würde
seinen Freund John Sullivan am Montag in der Schule nach
den Inside Straights fragen. Bobby glaubte, dass es dabei
um Poker ging, aber er war sich da nicht ganz sicher.
»In Bridgeport gibt es Häuser, in denen Männer ihr Geld
lassen«, sagte sie, während sie auf die Haustür zusteuerten.
»Da gehen dumme Männer hin. Dumme Männer richten
ein heilloses Schlamassel an, und für gewöhnlich sind's die
Frauen dieser Welt, die hinterher alles wieder in Ordnung
bringen müssen. Tja ...«
Bobby wusste, was als Nächstes kam; es war immer
schon der Lieblingsspruch seiner Mutter gewesen.
»Das Leben ist nun mal nicht fair«, sagte Liz Garfield,
als sie ihren Hausschlüssel herausholte und Anstalten machte,
die Tür von 149 Broad Street in der Stadt Harwich,
Connecticut, aufzuschließen. Es war April 1960, die Nacht
atmete Frühlingsduft, und neben ihr stand ein magerer Junge
mit den verwegenen roten Haaren seines toten Vaters. Sie
strich ihm so gut wie nie durchs Haar; wenn sie einmal
zärtlich zu ihm war, was selten genug vorkam, berührte sie
ihn meistens am Arm oder an der Wange.
»Das Leben ist nicht fair«, wiederholte sie. Dann machte
sie die Tür auf, und sie gingen hinein.
Es stimmte schon, dass seine Mutter nicht wie eine Prinzessin
behandelt worden war, und es war sicher verdammt
schade, dass ihr Mann sein Leben im Alter von sechsunddreißig
Jahren auf dem Linoleumfußboden eines leeren
Hauses beschlossen hatte, aber Bobby dachte manchmal, es
hätte schlimmer kommen können. Sie hätte zum Beispiel
zwei Kinder haben können statt eins. Oder drei. Ja sogar
vier, zum Teufel.
Oder angenommen, sie hätte einen wirklich harten Job
machen müssen, um sie beide zu ernähren? Sullys Mutter
arbeitete in der Tip-Top Bakery in der Innenstadt, und in
den Wochen, in denen sie die Backöfen anheizen musste,
bekamen Sully-John und seine beiden älteren Brüder sie
praktisch nicht zu Gesicht. Außerdem hatte Bobby die Frauen
beobachtet, die aus der Peerless Shoe Company kamen,
wenn um drei Uhr die Sirene heulte (er selber kam um halb
drei aus der Schule), Frauen, die alle viel zu dünn oder
viel zu dick zu sein schienen, Frauen mit bleichen Gesichtern
und schrecklichen, wie altes Blut aussehenden Farbflecken
an den Fingern, Frauen mit gesenktem Blick, die
ihre Arbeitsschuhe und Arbeitshosen in Einkaufstüten von
Total Grocery bei sich trugen. Als er im letzten Herbst mit
Mrs. Gerber, Carol und dem kleinen Ian (den Carol immer
Schnodder-Ian nannte) zu einer Kirchweih gefahren war,
hatte er Männer und Frauen gesehen, die draußen auf dem
Land Äpfel pflückten. Auf seine Frage nach diesen Leuten
hatte Mrs. Gerber erklärt, das seien Migranten, so wie
manche Vogelarten - immer unterwegs, immer dort in Scharen
anzutreffen, wo gerade irgendwelche Früchte reif seien.
Bobbys Mutter hätte eine von ihnen sein können, aber sie
war es nicht.
Sie war jedoch Mr. Donald Bidermans Sekretärin bei Home
Town Real Estate, der Firma, bei der Bobbys Dad gearbeitet
hatte, als er seinen Herzinfarkt hatte. Bobby vermutete,
dass sie den Job vor allem deshalb bekommen hatte, weil
Donald Biderman Randall gemocht hatte und weil sie ihm
leidtat - verwitwet, mit einem kleinen Sohn, der kaum den
Windeln entwachsen war -, aber sie war gut in ihrem Job,
und sie arbeitete hart. Sehr oft bis spät in die Nacht hinein.
Bobby war ein paar Mal mit seiner Mutter und Mr. Biderman
zusammen gewesen - am deutlichsten erinnerte er sich
an das Betriebspicknick, aber auch daran, wie Mr. Biderman
sie zum Zahnarzt in Bridgeport gefahren hatte, als
Bobby beim Spielen in der Pause ein Zahn ausgeschlagen
worden war -, und die beiden Erwachsenen hatten so eine
gewisse Art gehabt, einander anzusehen. Manchmal rief
Mr. Biderman seine Mutter abends an, und in diesen Gesprächen
nannte sie ihn Don. Aber »Don« war alt, und
Bobby dachte nicht viel über ihn nach.
Bobby wusste nicht so genau, was seine Mutter tagsüber
(und abends) im Büro machte, aber er war sich sicher, dass
es besser war, als Schuhe herzustellen oder Äpfel zu pflücken
oder um halb fünf Uhr morgens die Backöfen der Tip-
Top Bakery anzuheizen. Bobby war sich sicher, dass es all
diese Jobs um Längen schlug. Außerdem handelte man sich
bei seiner Mutter Ärger ein, wenn man sie bestimmte Sachen
fragte. Zum Beispiel, wieso sie sich drei neue Kleider
von Sears leisten konnte, eins davon aus Seide, aber keine
drei Monatsraten von 11 Dollar 50 für das Schwinn im
Schaufenster von Western Auto (es war rot und silbern, und
Bobbys Eingeweide krampften sich schon vor Sehnsucht zusammen,
wenn er es bloß ansah). Wenn man sie solche Sachen
fragte, handelte man sich richtigen Ärger ein.
Das tat Bobby nicht. Er machte sich einfach daran, das
Geld für das Fahrrad selbst zu verdienen. Dafür würde er
bis zum Herbst brauchen, vielleicht sogar bis zum Winter,
und dieses spezielle Modell würde bis dahin möglicherweise
aus dem Schaufenster von Western Auto verschwunden
sein, aber er würde nicht aufgeben. Man musste sich
schon dahinterklemmen und sich ordentlich ins Zeug legen.
Das Leben war nicht leicht, und fair war es auch nicht.
Als es am letzten Dienstag im April endlich so weit war und
Bobby elf wurde, schenkte ihm seine Mutter ein kleines,
flaches, in Silberpapier eingeschlagenes Päckchen. Es enthielt
einen orangefarbenen Leserausweis für die Bücherei. Einen
Leserausweis für Erwachsene. Adieu, Nancy Drew, Hardy
Boys und Don Winslow von der Navy - jetzt kamen all die
anderen dran, Geschichten voller geheimnisvoller, verworrener,
leidenschaftlicher Gefühle wie Das Dunkel am Ende
der Treppe. Ganz zu schweigen von blutigen Dolchen in
Turmzimmern. (In den Geschichten mit Nancy Drew oder
den Hardy Boys gab es auch Geheimnisse und Turmzimmer,
aber nur sehr wenig Blut und überhaupt keine leidenschaftlichen
Gefühle.)
»Aber denk dran, dass Mrs. Kelton an der Ausleihe eine
Freundin von mir ist«, sagte seine Mutter in ihrem üblichen
trockenen, warnenden Ton. Sie freute sich jedoch über seine
Freude - sie sah sie ihm an. »Wenn du versuchst, irgendwas
Schlüpfriges auszuleihen - Sachen wie Die Leute von Peyton
Place oder King's Row -, dann werd ich's erfahren.«
Bobby lächelte. Das wusste er.
»Und wenn du an die andere gerätst, Miss Übereifrig,
und sie dich fragt, was du mit einer orangefarbenen Karte
machst, dann sag ihr, sie soll sie umdrehen. Da steht meine
schriftliche Erlaubnis drauf, über meiner Unterschrift.«
»Danke, Mama. Das ist prima.«
Sie bückte sich lächelnd und gab ihm einen trockenen
Lippenwischer auf die Wange, der fast schon vorbei war,
ehe sie ihn überhaupt berührt hatte. »Freut mich, dass es
das Richtige ist. Wenn ich früh genug nach Hause komme,
gehen wir ins Colony und essen gebratene Muscheln und
Eis. Mit deinem Kuchen musst du bis zum Wochenende
warten; vorher hab ich keine Zeit zum Backen. Jetzt zieh
deine Jacke an und dann los, Sohnemann. Sonst kommst
du noch zu spät zur Schule.«
Sie gingen zusammen die Treppe hinunter und auf die
Veranda hinaus. Am Straßenrand stand ein Wagen von Town
Taxi. Ein Mann in einer Popelinejacke lehnte sich durch
das Beifahrerfenster und bezahlte den Fahrer. Hinter ihm
lag ein kleiner Haufen von Gepäckstücken und Papiertüten,
solche mit Henkeln.
»Das muss der Mann sein, der gerade das Zimmer im
zweiten Stock gemietet hat«, sagte Liz. Ihr Mund hatte wieder
seinen Schrumpftrick vollführt. Sie stand auf der obersten
Verandastufe und warf einen abschätzigen Blick auf den
schmalen Po des Mannes, der sich ihnen entgegenstreckte,
während der Mann den Taxifahrer bezahlte. »Ich trau Leuten
nicht, die mit Papiertüten umziehen. Für mich sieht's
einfach schlampig aus, wenn jemand seine Sachen in eine
Papiertüte packt.«
»Er hat ja auch Koffer«, sagte Bobby, aber seine Mutter
brauchte ihn gar nicht erst darauf hinzuweisen, dass
die drei kleinen Koffer des neuen Mieters auch nicht viel
hermachten. Sie passten nicht zueinander und sahen alle
so aus, als wären sie von jemandem, der schlechte Laune
hatte, mit den Füßen von Kalifornien bis hierher befördert
worden.
Bobby und seine Mutter gingen den Zementweg entlang.
Das Taxi fuhr los. Der Mann in der Popelinejacke drehte
sich um. Für Bobby gab es drei Kategorien von Menschen:
Kinder, Erwachsene und alte Leute. Alte Leute waren Erwachsene
mit weißen Haaren. Der neue Mieter gehörte in
diese Kategorie. Sein Gesicht war schmal und müde, nicht
runzlig (außer um die ausgebleichten blauen Augen herum),
aber mit tiefen Furchen. Seine weißen Haare waren so fein
wie die eines Babys, und er hatte eine leichte leberfleckige
Stirnglatze. Mit seinem hochgewachsenen Körper und der
leicht gebeugten Haltung erinnerte er Bobby irgendwie an
Boris Karloff in den Filmen, die sie jeden Freitagabend in
der Reihe Shock Theater um halb zwölf auf WPIX zeigten.
Unter der Popelinejacke trug er billige Arbeitskleidung, die
aussah, als wäre sie ihm zu groß. Seine Füßen steckten in
ausgetretenen Korduanlederschuhen.
»Hallo, Leute«, sagte er mit einem etwas bemüht wirkenden
Lächeln. »Mein Name ist Theodore Brautigan. Ich
werde wohl für eine Weile hier wohnen.«
Er streckte Bobbys Mutter die Hand hin. Diese ergriff sie
nur kurz. »Ich bin Elizabeth Garfield. Das ist mein Sohn,
Robert. Sie müssen uns entschuldigen, Mr. Brattigan ...«
»Brautigan, Ma'am, aber ich würde mich freuen, wenn
Sie und Ihr Junge mich einfach Ted nennen würden.«
»Ja, also, Robert muss zur Schule und ich zur Arbeit,
und wir sind beide spät dran. War nett, Sie kennenzulernen,
Mr. Brattigan. Na los, beeil dich, Bobby. Tempus
fugit.«
Sie setzte sich bergab in Richtung Stadt in Bewegung;
Bobby begann, bergauf zur Harwich Elementary zu gehen,
der Grundschule auf der Asher Avenue, und zwar in lang-
samerem Tempo. Nach drei oder vier Schritten blieb er stehen
und blickte zurück. Er hatte den Eindruck, dass seine
Mutter Mr. Brautigan gegenüber unhöflich und hochnäsig
gewesen war. Hochnäsigkeit war die schlimmste Untugend
in seinem kleinen Freundeskreis. Carol verabscheute hochnäsige
Leute; Sully-John auch. Mr. Brautigan würde inzwischen
wahrscheinlich schon halb bei der Veranda sein, aber
wenn nicht, dann wollte Bobby ihm ein Lächeln schenken,
damit er wusste, dass zumindest einer der Garfields nicht
hochnäsig war.
Seine Mutter war ebenfalls stehen geblieben und blickte
zurück. Nicht, weil sie Mr. Brautigan noch einmal ansehen
wollte; auf die Idee kam Bobby erst gar nicht. Nein, ihr
Blick galt ihrem Sohn. Sie hatte gewusst, dass er sich umdrehen
würde, bevor Bobby es selbst gewusst hatte, und bei
diesem Gedanken merkte er, wie sich sein normalerweise
freundliches Naturell auf einmal verdunkelte. Sie sagte manchmal,
dass es eher in Sarasota schneien würde, als dass Bobby
ihr etwas vormachen könnte, und er glaubte, dass sie da
recht hatte. Wie alt musste man eigentlich sein, um seiner
Mutter etwas vorzumachen? Zwanzig? Dreißig? Oder musste
man vielleicht warten, bis sie alt und ein bisschen matschig
in der Birne war?
Mr. Brautigan hatte sich noch nicht in Bewegung gesetzt.
Er stand am Kopfende des Weges, einen Koffer in jeder Hand
und den dritten unter dem rechten Arm (die drei Papier-
tüten hatte er auf die Rasenfläche vor 149 Broad gestellt),
tiefer gebeugt denn je unter diesem Gewicht. Er war genau
zwischen ihnen, wie ein Schlagbaum oder so.
Liz Garfields Blick flog an ihm vorbei und begegnete
dem ihres Sohnes. Geh, sagte der Blick. Sag kein Wort. Er
ist neu, ein Mann aus Irgendwo oder Nirgendwo, und er
kommt hierher und hat die Hälfte seiner Sachen in Einkaufstüten.
Sag kein Wort, Bobby, geh einfach.
Aber das würde er nicht tun. Vielleicht, weil er einen Leserausweis
statt eines Fahrrads zum Geburtstag bekommen
hatte. »War nett, Sie kennenzulernen, Mr. Brautigan«, sagte
Bobby. »Hoffentlich gefällt's Ihnen hier. Wiedersehn.«
»Und dir einen schönen Tag in der Schule, mein Junge«,
sagte Mr. Brautigan. »Lern ordentlich was. Deine Mutter
hat recht - tempus fugit.«
Bobby sah seine Mutter an, um festzustellen, ob ihm seine
kleine Rebellion angesichts dieser ebenso kleinen Schmeichelei
vielleicht vergeben werden würde, aber Mutters Mund
war unnachgiebig. Sie drehte sich wortlos um und ging weiter
bergab. Bobby ging ebenfalls weiter, froh, dass er mit
dem Fremden gesprochen hatte, selbst wenn seine Mutter
später dafür sorgen würde, dass er es bereute.
Als er sich Carol Gerbers Haus näherte, holte er den
orangefarbenen Leserausweis heraus und sah ihn sich an.
Er war kein sechsundzwanzigzölliges Schwinn, aber trotzdem
ziemlich gut. Sogar richtig toll. Eine ganze Welt von
Büchern, die er erforschen konnte, und was war schon dabei,
wenn er nur zwei oder drei Dollar gekostet hatte? Hieß
es nicht immer, es käme nur auf die Idee an?
Na ja ... das war es jedenfalls, was seine Mutter sagte.
Er drehte den Ausweis um. Auf der Rückseite stand in
ihrer energischen Handschrift: »An die zuständige Bibliothekarin:
Das ist der Leserausweis meines Sohnes. Er hat
meine Erlaubnis, drei Bücher pro Woche aus der Erwachsenenabteilung
der Harwich Public Library auszuleihen.«
Die Unterschrift lautete Elizabeth Penrose Garfield.
Unter ihrem Namen hatte sie wie ein Postskriptum hinzugefügt:
Für seine Mahngebühren ist Robert selbst zu ständig.
»Das Geburtstagskind!«, rief Carol Gerber - und erschreckte
ihn damit gründlich - und kam hinter einem Baum
hervorgestürmt, wo sie auf der Lauer gelegen hatte. Sie
schlang ihm die Arme um den Hals und gab ihm einen kräftigen
Schmatz auf die Wange. Bobby errötete, schaute sich
um, ob jemand zusah - herrje, es war auch ohne Überraschungsküsse
schon schwer genug, mit einem Mädchen befreundet
zu sein -, aber es war alles in Ordnung. Der übliche
morgendliche Strom von Schülern zog auf der Asher
Avenue oben über die Hügelkuppe in Richtung Schule, aber
hier unten waren sie allein.
Bobby rieb sich die Wange.
»Ach komm, du fandest es doch schön«, sagte sie lachend.
»Fand ich nicht«, sagte Bobby, obwohl sie recht hatte.
»Was hast du zum Geburtstag gekriegt?«
»Einen Leserausweis für die Bücherei«, sagte Bobby und
zeigte ihn ihr. »Einen Leserausweis für Erwachsene.«
»Cool!« War das Mitleid, was er da in ihren Augen sah?
Wahrscheinlich nicht. Und selbst wenn, was war schon dabei?
»Hier. Für dich.« Sie gab ihm einen Hallmark-Umschlag,
auf dem sein Name stand. Sie hatte auch ein paar
Herzen und Teddybären dazugeklebt.
Bobby öffnete den Umschlag ein wenig beklommen und
rief sich ins Gedächtnis, dass er die Karte in den Tiefen der
Gesäßtasche seiner khakibraunen Hose verschwinden lassen
konnte, falls sie schmalzig war.
Überarbeitete deutsche Taschenbuchausgabe 03/2011
Copyright © 1999 by Stephen King
Copyright © 1999, 2011 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Printed in Germany 2011
Neubearbeitung: Christina Brombach
Redaktion: Momo Evers
Umschlaggestaltung:
© Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-453-43571-1
www.heyne.de
Acht Jahre nach dem Tod seines Vaters verliebte sich
Bobby heftig in das sechsundzwanzigzöllige Schwinn im
Schaufenster von Harwich Western Auto. Er machte seiner
Mutter gegenüber auf jede erdenkliche Weise Andeutungen
hinsichtlich des Schwinn und zeigte es ihr schließlich eines
Abends auf dem Heimweg vom Kino (sie hatten sich Das
Dunkel am Ende der Treppe angesehen, einen Film, den
Bobby zwar nicht verstanden, aber trotzdem gut gefunden
hatte, besonders den Teil, wo Dorothy McGuire sich auf
ihrem Stuhl nach hinten fallen ließ und ihre langen Beine
zeigte). Als sie an dem Eisenwarenladen vorbeikamen, erwähnte
Bobby beiläufig, dass das Fahrrad im Schaufenster
bestimmt ein tolles Geschenk zum elften Geburtstag wäre -
für irgendeinen glücklichen Jungen.
»Denk nicht mal dran«, sagte sie. »Ich kann's mir nicht
leisten, dir ein Fahrrad zum Geburtstag zu schenken. Dein
Vater hat uns nicht gerade ein Vermögen hinterlassen, weißt
du.«
Obwohl Randall schon zur Zeit von Trumans Präsidentschaft
gestorben war und Eisenhowers achtjähriger Törn
sich auch bereits seinem Ende näherte, war Dein Vater hat
uns nicht gerade ein Vermögen hinterlassen immer noch die
häufigste Antwort seiner Mutter auf jeden Vorschlag von
Bobby, der mit der Ausgabe von mehr als einem Dollar verbunden
sein könnte. Normalerweise wurde die Bemerkung
von einem tadelnden Blick begleitet, als wäre der Mann
weggelaufen und nicht gestorben.
Kein Fahrrad zum Geburtstag. Bobby dachte auf dem
Heimweg betrübt darüber nach. Seine Freude über den seltsamen,
verworrenen Film, den sie gesehen hatten, war weitgehend
verflogen. Er diskutierte nicht mit seiner Mutter
und versuchte auch nicht, sie zu beschwatzen - das würde
einen Gegenangriff auslösen, und wenn Liz Garfield zum
Gegenangriff überging, dann machte sie keine Gefangenen
-, aber er grübelte über dieses verlorene Fahrrad nach ...
und über den verlorenen Vater. Manchmal hasste er seinen
Vater beinahe. Und das Einzige, was ihn davon abhielt, war
das an nichts festzumachende, aber sehr starke Gefühl, dass
seine Mutter sich wünschte, er täte es. Als sie den Commonwealth
Park erreichten und daran entlanggingen - zwei
Blocks weiter vorn würden sie links auf die Broad Street abbiegen,
wo sie wohnten -, warf er seine üblichen Bedenken
über Bord und stellte eine Frage nach Randall Garfield.
»Hat er nichts hinterlassen, Mama? Überhaupt nichts?«
Eine oder zwei Wochen zuvor hatte er einen Nancy-Drew-
Krimi gelesen, in dem das Erbe eines armen Kindes hinter
einer alten Uhr in einem verlassenen Herrenhaus versteckt
gewesen war. Bobby glaubte eigentlich nicht, dass sein Vater
irgendwo Goldmünzen oder seltene Briefmarken gehortet
hatte, aber wenn es überhaupt etwas gab, dann konnten sie
es vielleicht in Bridgeport verkaufen. Möglicherweise in
einem der Pfandhäuser. Bobby wusste nicht genau, wie das
mit dem Verpfänden so ablief, aber er wusste, wie die Pfandhäuser
aussahen - an der Fassade hingen drei goldene Kugeln.
Und er war sich sicher, dass die Leute im Pfandhaus
ihnen gern helfen würden. Natürlich war das nur ein Kindertraum,
aber Carol Gerber ein Stück weiter oben in der Straße
besaß einen ganzen Satz Puppen, den ihr Vater, der bei der
Navy war, ihr aus Übersee geschickt hatte. Wenn Väter einem
was schenkten - was sie taten -, stand zu erwarten, dass
Väter manchmal auch was hinterließen.
Als Bobby die Frage stellte, passierten sie gerade eine
jener Straßenlaternen, die diese Seite des Commonwealth
Park säumten, und Bobby sah, wie der Mund seiner Mutter
sich veränderte, so wie jedes Mal, wenn er es wagte, eine
Frage über seinen verstorbenen Vater zu stellen. Die Veränderung
erinnerte ihn an eine ihrer Handtaschen: Wenn man
an den Schnüren zog, wurde das Loch oben kleiner.
»Ich werde dir sagen, was er hinterlassen hat«, begann
sie, als sie sich an den Aufstieg zum Broad Street Hill machten.
Bobby wünschte bereits, er hätte nicht gefragt, aber
jetzt war es natürlich zu spät. Wenn man sie erst mal in
Gang gesetzt hatte, ließ sie sich nicht mehr stoppen, das
war das Problem. »Er hat die Police einer Lebensversicherung
hinterlassen, die in dem Jahr vor seinem Tod erloschen
war. Ich wusste so gut wie nichts davon, ehe er fort war
und jeder - einschließlich des Leichenbestatters - ein kleines
Stück von dem haben wollte, was ich nicht hatte. Er hat
auch einen großen Stapel unbezahlter Rechnungen hinterlassen,
die ich inzwischen größtenteils abbezahlt habe - die
Leute waren sehr verständnisvoll, was meine Situation betrifft,
besonders Mr. Biderman, das kann man nicht anders
sagen.«
Das waren alles alte Geschichten, ebenso langweilig wie
von Bitterkeit durchsetzt, aber dann erzählte sie Bobby
etwas Neues. »Dein Vater«, sagte sie, als sie sich dem großen
Wohnhaus näherten, das auf halber Höhe des Broad
Street Hill stand, »konnte nie an einem Inside Straight vorbeigehen.«
»Was ist ein Inside Straight, Mama?«
»Unwichtig. Aber eins sag ich dir, Bobby-O: Lass dich
bloß nie von mir beim Kartenspielen um Geld erwischen!
Davon hab ich für den Rest meines Lebens genug.«
Bobby wollte nachfragen, überlegte es sich aber anders;
weitere Fragen hätten wahrscheinlich eine Schimpfkano-
nade ausgelöst. Ihm ging der Gedanke durch den Kopf,
dass der Film, in dem es um unglückliche Ehemänner und
Ehefrauen gegangen war, sie vielleicht auf eine Weise aufgeregt
hatte, die er als Kind nicht verstehen konnte. Er würde
seinen Freund John Sullivan am Montag in der Schule nach
den Inside Straights fragen. Bobby glaubte, dass es dabei
um Poker ging, aber er war sich da nicht ganz sicher.
»In Bridgeport gibt es Häuser, in denen Männer ihr Geld
lassen«, sagte sie, während sie auf die Haustür zusteuerten.
»Da gehen dumme Männer hin. Dumme Männer richten
ein heilloses Schlamassel an, und für gewöhnlich sind's die
Frauen dieser Welt, die hinterher alles wieder in Ordnung
bringen müssen. Tja ...«
Bobby wusste, was als Nächstes kam; es war immer
schon der Lieblingsspruch seiner Mutter gewesen.
»Das Leben ist nun mal nicht fair«, sagte Liz Garfield,
als sie ihren Hausschlüssel herausholte und Anstalten machte,
die Tür von 149 Broad Street in der Stadt Harwich,
Connecticut, aufzuschließen. Es war April 1960, die Nacht
atmete Frühlingsduft, und neben ihr stand ein magerer Junge
mit den verwegenen roten Haaren seines toten Vaters. Sie
strich ihm so gut wie nie durchs Haar; wenn sie einmal
zärtlich zu ihm war, was selten genug vorkam, berührte sie
ihn meistens am Arm oder an der Wange.
»Das Leben ist nicht fair«, wiederholte sie. Dann machte
sie die Tür auf, und sie gingen hinein.
Es stimmte schon, dass seine Mutter nicht wie eine Prinzessin
behandelt worden war, und es war sicher verdammt
schade, dass ihr Mann sein Leben im Alter von sechsunddreißig
Jahren auf dem Linoleumfußboden eines leeren
Hauses beschlossen hatte, aber Bobby dachte manchmal, es
hätte schlimmer kommen können. Sie hätte zum Beispiel
zwei Kinder haben können statt eins. Oder drei. Ja sogar
vier, zum Teufel.
Oder angenommen, sie hätte einen wirklich harten Job
machen müssen, um sie beide zu ernähren? Sullys Mutter
arbeitete in der Tip-Top Bakery in der Innenstadt, und in
den Wochen, in denen sie die Backöfen anheizen musste,
bekamen Sully-John und seine beiden älteren Brüder sie
praktisch nicht zu Gesicht. Außerdem hatte Bobby die Frauen
beobachtet, die aus der Peerless Shoe Company kamen,
wenn um drei Uhr die Sirene heulte (er selber kam um halb
drei aus der Schule), Frauen, die alle viel zu dünn oder
viel zu dick zu sein schienen, Frauen mit bleichen Gesichtern
und schrecklichen, wie altes Blut aussehenden Farbflecken
an den Fingern, Frauen mit gesenktem Blick, die
ihre Arbeitsschuhe und Arbeitshosen in Einkaufstüten von
Total Grocery bei sich trugen. Als er im letzten Herbst mit
Mrs. Gerber, Carol und dem kleinen Ian (den Carol immer
Schnodder-Ian nannte) zu einer Kirchweih gefahren war,
hatte er Männer und Frauen gesehen, die draußen auf dem
Land Äpfel pflückten. Auf seine Frage nach diesen Leuten
hatte Mrs. Gerber erklärt, das seien Migranten, so wie
manche Vogelarten - immer unterwegs, immer dort in Scharen
anzutreffen, wo gerade irgendwelche Früchte reif seien.
Bobbys Mutter hätte eine von ihnen sein können, aber sie
war es nicht.
Sie war jedoch Mr. Donald Bidermans Sekretärin bei Home
Town Real Estate, der Firma, bei der Bobbys Dad gearbeitet
hatte, als er seinen Herzinfarkt hatte. Bobby vermutete,
dass sie den Job vor allem deshalb bekommen hatte, weil
Donald Biderman Randall gemocht hatte und weil sie ihm
leidtat - verwitwet, mit einem kleinen Sohn, der kaum den
Windeln entwachsen war -, aber sie war gut in ihrem Job,
und sie arbeitete hart. Sehr oft bis spät in die Nacht hinein.
Bobby war ein paar Mal mit seiner Mutter und Mr. Biderman
zusammen gewesen - am deutlichsten erinnerte er sich
an das Betriebspicknick, aber auch daran, wie Mr. Biderman
sie zum Zahnarzt in Bridgeport gefahren hatte, als
Bobby beim Spielen in der Pause ein Zahn ausgeschlagen
worden war -, und die beiden Erwachsenen hatten so eine
gewisse Art gehabt, einander anzusehen. Manchmal rief
Mr. Biderman seine Mutter abends an, und in diesen Gesprächen
nannte sie ihn Don. Aber »Don« war alt, und
Bobby dachte nicht viel über ihn nach.
Bobby wusste nicht so genau, was seine Mutter tagsüber
(und abends) im Büro machte, aber er war sich sicher, dass
es besser war, als Schuhe herzustellen oder Äpfel zu pflücken
oder um halb fünf Uhr morgens die Backöfen der Tip-
Top Bakery anzuheizen. Bobby war sich sicher, dass es all
diese Jobs um Längen schlug. Außerdem handelte man sich
bei seiner Mutter Ärger ein, wenn man sie bestimmte Sachen
fragte. Zum Beispiel, wieso sie sich drei neue Kleider
von Sears leisten konnte, eins davon aus Seide, aber keine
drei Monatsraten von 11 Dollar 50 für das Schwinn im
Schaufenster von Western Auto (es war rot und silbern, und
Bobbys Eingeweide krampften sich schon vor Sehnsucht zusammen,
wenn er es bloß ansah). Wenn man sie solche Sachen
fragte, handelte man sich richtigen Ärger ein.
Das tat Bobby nicht. Er machte sich einfach daran, das
Geld für das Fahrrad selbst zu verdienen. Dafür würde er
bis zum Herbst brauchen, vielleicht sogar bis zum Winter,
und dieses spezielle Modell würde bis dahin möglicherweise
aus dem Schaufenster von Western Auto verschwunden
sein, aber er würde nicht aufgeben. Man musste sich
schon dahinterklemmen und sich ordentlich ins Zeug legen.
Das Leben war nicht leicht, und fair war es auch nicht.
Als es am letzten Dienstag im April endlich so weit war und
Bobby elf wurde, schenkte ihm seine Mutter ein kleines,
flaches, in Silberpapier eingeschlagenes Päckchen. Es enthielt
einen orangefarbenen Leserausweis für die Bücherei. Einen
Leserausweis für Erwachsene. Adieu, Nancy Drew, Hardy
Boys und Don Winslow von der Navy - jetzt kamen all die
anderen dran, Geschichten voller geheimnisvoller, verworrener,
leidenschaftlicher Gefühle wie Das Dunkel am Ende
der Treppe. Ganz zu schweigen von blutigen Dolchen in
Turmzimmern. (In den Geschichten mit Nancy Drew oder
den Hardy Boys gab es auch Geheimnisse und Turmzimmer,
aber nur sehr wenig Blut und überhaupt keine leidenschaftlichen
Gefühle.)
»Aber denk dran, dass Mrs. Kelton an der Ausleihe eine
Freundin von mir ist«, sagte seine Mutter in ihrem üblichen
trockenen, warnenden Ton. Sie freute sich jedoch über seine
Freude - sie sah sie ihm an. »Wenn du versuchst, irgendwas
Schlüpfriges auszuleihen - Sachen wie Die Leute von Peyton
Place oder King's Row -, dann werd ich's erfahren.«
Bobby lächelte. Das wusste er.
»Und wenn du an die andere gerätst, Miss Übereifrig,
und sie dich fragt, was du mit einer orangefarbenen Karte
machst, dann sag ihr, sie soll sie umdrehen. Da steht meine
schriftliche Erlaubnis drauf, über meiner Unterschrift.«
»Danke, Mama. Das ist prima.«
Sie bückte sich lächelnd und gab ihm einen trockenen
Lippenwischer auf die Wange, der fast schon vorbei war,
ehe sie ihn überhaupt berührt hatte. »Freut mich, dass es
das Richtige ist. Wenn ich früh genug nach Hause komme,
gehen wir ins Colony und essen gebratene Muscheln und
Eis. Mit deinem Kuchen musst du bis zum Wochenende
warten; vorher hab ich keine Zeit zum Backen. Jetzt zieh
deine Jacke an und dann los, Sohnemann. Sonst kommst
du noch zu spät zur Schule.«
Sie gingen zusammen die Treppe hinunter und auf die
Veranda hinaus. Am Straßenrand stand ein Wagen von Town
Taxi. Ein Mann in einer Popelinejacke lehnte sich durch
das Beifahrerfenster und bezahlte den Fahrer. Hinter ihm
lag ein kleiner Haufen von Gepäckstücken und Papiertüten,
solche mit Henkeln.
»Das muss der Mann sein, der gerade das Zimmer im
zweiten Stock gemietet hat«, sagte Liz. Ihr Mund hatte wieder
seinen Schrumpftrick vollführt. Sie stand auf der obersten
Verandastufe und warf einen abschätzigen Blick auf den
schmalen Po des Mannes, der sich ihnen entgegenstreckte,
während der Mann den Taxifahrer bezahlte. »Ich trau Leuten
nicht, die mit Papiertüten umziehen. Für mich sieht's
einfach schlampig aus, wenn jemand seine Sachen in eine
Papiertüte packt.«
»Er hat ja auch Koffer«, sagte Bobby, aber seine Mutter
brauchte ihn gar nicht erst darauf hinzuweisen, dass
die drei kleinen Koffer des neuen Mieters auch nicht viel
hermachten. Sie passten nicht zueinander und sahen alle
so aus, als wären sie von jemandem, der schlechte Laune
hatte, mit den Füßen von Kalifornien bis hierher befördert
worden.
Bobby und seine Mutter gingen den Zementweg entlang.
Das Taxi fuhr los. Der Mann in der Popelinejacke drehte
sich um. Für Bobby gab es drei Kategorien von Menschen:
Kinder, Erwachsene und alte Leute. Alte Leute waren Erwachsene
mit weißen Haaren. Der neue Mieter gehörte in
diese Kategorie. Sein Gesicht war schmal und müde, nicht
runzlig (außer um die ausgebleichten blauen Augen herum),
aber mit tiefen Furchen. Seine weißen Haare waren so fein
wie die eines Babys, und er hatte eine leichte leberfleckige
Stirnglatze. Mit seinem hochgewachsenen Körper und der
leicht gebeugten Haltung erinnerte er Bobby irgendwie an
Boris Karloff in den Filmen, die sie jeden Freitagabend in
der Reihe Shock Theater um halb zwölf auf WPIX zeigten.
Unter der Popelinejacke trug er billige Arbeitskleidung, die
aussah, als wäre sie ihm zu groß. Seine Füßen steckten in
ausgetretenen Korduanlederschuhen.
»Hallo, Leute«, sagte er mit einem etwas bemüht wirkenden
Lächeln. »Mein Name ist Theodore Brautigan. Ich
werde wohl für eine Weile hier wohnen.«
Er streckte Bobbys Mutter die Hand hin. Diese ergriff sie
nur kurz. »Ich bin Elizabeth Garfield. Das ist mein Sohn,
Robert. Sie müssen uns entschuldigen, Mr. Brattigan ...«
»Brautigan, Ma'am, aber ich würde mich freuen, wenn
Sie und Ihr Junge mich einfach Ted nennen würden.«
»Ja, also, Robert muss zur Schule und ich zur Arbeit,
und wir sind beide spät dran. War nett, Sie kennenzulernen,
Mr. Brattigan. Na los, beeil dich, Bobby. Tempus
fugit.«
Sie setzte sich bergab in Richtung Stadt in Bewegung;
Bobby begann, bergauf zur Harwich Elementary zu gehen,
der Grundschule auf der Asher Avenue, und zwar in lang-
samerem Tempo. Nach drei oder vier Schritten blieb er stehen
und blickte zurück. Er hatte den Eindruck, dass seine
Mutter Mr. Brautigan gegenüber unhöflich und hochnäsig
gewesen war. Hochnäsigkeit war die schlimmste Untugend
in seinem kleinen Freundeskreis. Carol verabscheute hochnäsige
Leute; Sully-John auch. Mr. Brautigan würde inzwischen
wahrscheinlich schon halb bei der Veranda sein, aber
wenn nicht, dann wollte Bobby ihm ein Lächeln schenken,
damit er wusste, dass zumindest einer der Garfields nicht
hochnäsig war.
Seine Mutter war ebenfalls stehen geblieben und blickte
zurück. Nicht, weil sie Mr. Brautigan noch einmal ansehen
wollte; auf die Idee kam Bobby erst gar nicht. Nein, ihr
Blick galt ihrem Sohn. Sie hatte gewusst, dass er sich umdrehen
würde, bevor Bobby es selbst gewusst hatte, und bei
diesem Gedanken merkte er, wie sich sein normalerweise
freundliches Naturell auf einmal verdunkelte. Sie sagte manchmal,
dass es eher in Sarasota schneien würde, als dass Bobby
ihr etwas vormachen könnte, und er glaubte, dass sie da
recht hatte. Wie alt musste man eigentlich sein, um seiner
Mutter etwas vorzumachen? Zwanzig? Dreißig? Oder musste
man vielleicht warten, bis sie alt und ein bisschen matschig
in der Birne war?
Mr. Brautigan hatte sich noch nicht in Bewegung gesetzt.
Er stand am Kopfende des Weges, einen Koffer in jeder Hand
und den dritten unter dem rechten Arm (die drei Papier-
tüten hatte er auf die Rasenfläche vor 149 Broad gestellt),
tiefer gebeugt denn je unter diesem Gewicht. Er war genau
zwischen ihnen, wie ein Schlagbaum oder so.
Liz Garfields Blick flog an ihm vorbei und begegnete
dem ihres Sohnes. Geh, sagte der Blick. Sag kein Wort. Er
ist neu, ein Mann aus Irgendwo oder Nirgendwo, und er
kommt hierher und hat die Hälfte seiner Sachen in Einkaufstüten.
Sag kein Wort, Bobby, geh einfach.
Aber das würde er nicht tun. Vielleicht, weil er einen Leserausweis
statt eines Fahrrads zum Geburtstag bekommen
hatte. »War nett, Sie kennenzulernen, Mr. Brautigan«, sagte
Bobby. »Hoffentlich gefällt's Ihnen hier. Wiedersehn.«
»Und dir einen schönen Tag in der Schule, mein Junge«,
sagte Mr. Brautigan. »Lern ordentlich was. Deine Mutter
hat recht - tempus fugit.«
Bobby sah seine Mutter an, um festzustellen, ob ihm seine
kleine Rebellion angesichts dieser ebenso kleinen Schmeichelei
vielleicht vergeben werden würde, aber Mutters Mund
war unnachgiebig. Sie drehte sich wortlos um und ging weiter
bergab. Bobby ging ebenfalls weiter, froh, dass er mit
dem Fremden gesprochen hatte, selbst wenn seine Mutter
später dafür sorgen würde, dass er es bereute.
Als er sich Carol Gerbers Haus näherte, holte er den
orangefarbenen Leserausweis heraus und sah ihn sich an.
Er war kein sechsundzwanzigzölliges Schwinn, aber trotzdem
ziemlich gut. Sogar richtig toll. Eine ganze Welt von
Büchern, die er erforschen konnte, und was war schon dabei,
wenn er nur zwei oder drei Dollar gekostet hatte? Hieß
es nicht immer, es käme nur auf die Idee an?
Na ja ... das war es jedenfalls, was seine Mutter sagte.
Er drehte den Ausweis um. Auf der Rückseite stand in
ihrer energischen Handschrift: »An die zuständige Bibliothekarin:
Das ist der Leserausweis meines Sohnes. Er hat
meine Erlaubnis, drei Bücher pro Woche aus der Erwachsenenabteilung
der Harwich Public Library auszuleihen.«
Die Unterschrift lautete Elizabeth Penrose Garfield.
Unter ihrem Namen hatte sie wie ein Postskriptum hinzugefügt:
Für seine Mahngebühren ist Robert selbst zu ständig.
»Das Geburtstagskind!«, rief Carol Gerber - und erschreckte
ihn damit gründlich - und kam hinter einem Baum
hervorgestürmt, wo sie auf der Lauer gelegen hatte. Sie
schlang ihm die Arme um den Hals und gab ihm einen kräftigen
Schmatz auf die Wange. Bobby errötete, schaute sich
um, ob jemand zusah - herrje, es war auch ohne Überraschungsküsse
schon schwer genug, mit einem Mädchen befreundet
zu sein -, aber es war alles in Ordnung. Der übliche
morgendliche Strom von Schülern zog auf der Asher
Avenue oben über die Hügelkuppe in Richtung Schule, aber
hier unten waren sie allein.
Bobby rieb sich die Wange.
»Ach komm, du fandest es doch schön«, sagte sie lachend.
»Fand ich nicht«, sagte Bobby, obwohl sie recht hatte.
»Was hast du zum Geburtstag gekriegt?«
»Einen Leserausweis für die Bücherei«, sagte Bobby und
zeigte ihn ihr. »Einen Leserausweis für Erwachsene.«
»Cool!« War das Mitleid, was er da in ihren Augen sah?
Wahrscheinlich nicht. Und selbst wenn, was war schon dabei?
»Hier. Für dich.« Sie gab ihm einen Hallmark-Umschlag,
auf dem sein Name stand. Sie hatte auch ein paar
Herzen und Teddybären dazugeklebt.
Bobby öffnete den Umschlag ein wenig beklommen und
rief sich ins Gedächtnis, dass er die Karte in den Tiefen der
Gesäßtasche seiner khakibraunen Hose verschwinden lassen
konnte, falls sie schmalzig war.
Überarbeitete deutsche Taschenbuchausgabe 03/2011
Copyright © 1999 by Stephen King
Copyright © 1999, 2011 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Printed in Germany 2011
Neubearbeitung: Christina Brombach
Redaktion: Momo Evers
Umschlaggestaltung:
© Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-453-43571-1
www.heyne.de
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Autoren-Porträt von Stephen King
Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Bislang haben sich seine Bücher weltweit über 400 Millionen Mal in mehr als 50 Sprachen verkauft. Für sein Werk bekam er zahlreiche Preise, darunter 2003 den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk und 2015 mit dem Edgar Allan Poe Award den bedeutendsten kriminalliterarischen Preis für Mr. Mercedes. 2015 ehrte Präsident Barack Obama ihn zudem mit der National Medal of Arts. 2018 erhielt er den PEN America Literary Service Award für sein Wirken, gegen jedwede Art von Unterdrückung aufzubegehren und die hohen Werte der Humanität zu verteidigen.Seine Werke erscheinen im Heyne-Verlag.
Bibliographische Angaben
- Autor: Stephen King
- 2011, 624 Seiten, 8 Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 11,8 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Peter Robert
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453435710
- ISBN-13: 9783453435711
- Erscheinungsdatum: 04.02.2011
Kommentar zu "Atlantis"