Bin ich schon erleuchtet?
Jung, skeptisch, kaffee-süchtig und auf der Suche nach dem Yoga-Glück
Eine junge Frau am Rande der Selbstverwirklichung
Suzanne, eine junge New Yorkerin (leicht verrückt-depressive, alkoholtrinkende und rauchende Schauspielerin) reist für zwei Monate zu ihrer Yoga-Lehrerin nach Bali auf der Suche nach der Glückseligkeit....
Suzanne, eine junge New Yorkerin (leicht verrückt-depressive, alkoholtrinkende und rauchende Schauspielerin) reist für zwei Monate zu ihrer Yoga-Lehrerin nach Bali auf der Suche nach der Glückseligkeit....
Leider schon ausverkauft
Taschenbuch
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Bin ich schon erleuchtet? “
Klappentext zu „Bin ich schon erleuchtet? “
Eine junge Frau am Rande der SelbstverwirklichungSuzanne, eine junge New Yorkerin (leicht verrückt-depressive, alkoholtrinkende und rauchende Schauspielerin) reist für zwei Monate zu ihrer Yoga-Lehrerin nach Bali auf der Suche nach der Glückseligkeit. Aber die Lehrerin entpuppt sich als nicht tauglich und Suzanne muss zwei Monate mit Tofu, ungesalzenem Gemüse und zwei Dutzend Yogis verbringen, die Eigenurin trinken, um sich vor Parasiten zu schützen - und das alles vor der malerischen Kulisse Balis. Wird Suzanne sich finden? Oder wird ihre dunkle (städtisch, weltliche) Seite die Oberhand behalten?
»Zum Brüllen komisch und rührend romantisch - Suzanne Morrisons Suche nach dem Sinn des Lebens ist ein wunderbares Leseerlebnis.«
Seattle Weekly
»Bringt den Pfad der Erleuchtung erfrischend ehrlich und humorvoll zurück auf die Erde.«
Kirkus Review
Lese-Probe zu „Bin ich schon erleuchtet? “
Bin ich schon erleuchtet? von Suzanne Morrison1. Indrasana
Heute hat mich eine Yoga-Lehrerin, die wie eine Kreuzung aus Telefonsexdame und Poetry-Slam-Teilnehmerin redete, ganz aus der Fassung gebracht. Am Anfang der Stunde sollten wir uns vorstellen, dass wir auf einer Wolke schweben. Originalton: »Ihr ööö-ffnet euer Herz dieser Wolke, ihr schwebt, ihr erblüht und stimmt euch ein, ihr schwindet dahin, yeah, ihr schwindet dahin.«
Ich zog kurz in Erwägung, der Lehrerin den Yoga-Finger zu zeigen und mich zu verdrücken. Ich praktiziere jetzt seit gut zehn Jahren Yoga und bin mit vierunddreißig zu alt für diesen erleuchteten Schwachsinn. Für mich klingt »auf einer Wolke schweben« nicht gerade nach einer angenehmen spirituellen Erfahrung, sondern nach dem, was du zu erleben glaubst, wenn du im LSD-Rausch aus dem Flugzeug fällst. Aber ich blendete ihre honigsüße, tiefenentspannte Stimme aus und meditierte kurz darauf tatsächlich. Natürlich darüber, wie ich dieser Yoga-Lehrerin eins über die Rübe gebe, aber immerhin.
... mehr
Am Ende des Kurses sollten wir in ihren Gesang einstimmen: gate, gate, paragate, parasamgate ... Das, erklärte sie uns ohne dieses Yoga-Gesäusel in der Stimme, bedeute: gegangen, gegangen, weiter gegangen, ins Verborgene gegangen. Sie war jung, eine echte kleine Zuckerschnecke in ihrem schwarzgrauen Outfit. Ungefähr fünfundzwanzig. Vielleicht auch jünger. Ihre Großmutter sei kürzlich gestorben, erzählte sie, und sie hätte gerne, dass wir für sie und all die lieben Menschen chanten, die schon von uns gegangen sind. In diesem Moment verzieh ich ihr alles, ich hätte ihr am liebsten den Pullover zugeknöpft und eine Tasse Kakao gekocht. Ich sang gegangen, gegangen, weiter gegangen für ihre Lieben und für meine und für die Fünfundzwanzigjährige, die ich einmal war.
Als ich fünfundzwanzig wurde, lag der 11. September gerade gut einen Monat zurück, und man hörte immer und überall von Menschen, die von uns gegangen waren. Ich hatte drei Jobs, weil ich für meinen Umzug von Seattle nach New York sparte, und ganz gleich, wo ich war, in der Anwaltskanzlei, im Pub oder bei meinen Großeltern, um deren Rechnungen ich mich kümmerte - immer liefen die Nachrichten und immer waren sie schlecht. So viele Leute suchten nach den Überresten der Menschen, die sie liebten. So viele Bilder von Flugzeugen, die in Türme krachen, von Rauch und Asche.
Vorher hatte ich nie wirklich Angst vor dem Tod gehabt. Ich dachte, ich hätte das alles mit siebzehn für mich geklärt. Da war ich nämlich zu dem Schluss gekommen, dass man, solange man authentisch lebt, ohne Angst und Bedauern stirbt. Als Teenager schien mir alles so einfach: Wenn ich so lebte, wie mein authentisches Selbst es verlangte, dann konnte ich auf den Tod neugierig sein - er wäre ein weiteres Abenteuer, das ich zu meinen eigenen Bedingungen erleben würde.
Religion war meiner Meinung nach hinderlich für ein authentisches Leben, besonders wenn man sich nur aus einem Grund der katholischen Kirche anschließt - damit einem die eigene Mutter nicht für den Rest des Lebens den Stinkefinger zeigt. Und so verkündete ich meiner Mutter mit siebzehn, ich würde mich nicht firmen lassen. Kierkegaard habe schließlich gesagt, jeder müsse zu seinem eigenen Glauben finden, und den hätte ich nicht gefunden - und sie könne mich nicht dazu zwingen.
Das war alles schön und gut für einen Teenie, der sich insgeheim für unsterblich hielt, wie meine zahllosen Strafzettel für zu schnelles Fahren bewiesen. Aber mit fünfundzwanzig kam mir die Idee vom Tod als Abenteuer idiotisch vor. Kaltschnäuzig, herzlos und vor allem unbedarft. Der Tod war kein Abenteuer; er war ein nahes und immer gegenwärtiges Nichts. Er war der Grund, weshalb mir die Kehle eng wurde, wenn ich sah, wie mein Großvater aus seinem Stuhl aufzustehen versuchte. Er war der Grund, weshalb wir alle bei den Nachrichten die Hände vor das Gesicht schlugen.
Ich hatte vor kurzem das College abgeschlossen, nachdem ich erst mit einundzwanzig mit dem Studium angefangen hatte, weil ich nach der Schule meinem authentischen Selbst nach Europa folgen wollte. Jetzt war für den nächsten Sommer der Umzug nach New York geplant. Schon vor den Angriffen auf Manhattan hatte mich der Gedanke an New York nervös gemacht; nach ihnen erschien mir das, was eigentlich ein schwieriger, aber notwendiger Übergangsritus sein sollte, eher wie ein Flirt mit dem Tod.
Wohin ich auch blickte, überall war Tod. Mein Umzug nach New York war der Tod meines Lebens in Seattle im Kreis meiner Familie und meiner Freunde. In Anbetracht der prekären Sicherheitslage in unserem Land bedeutete ein Umzug womöglich, dass man sich nie wiedersah. Ich weiß noch, dass ich überlegte, wie lange ich wohl zu Fuß von New York nach Hause unterwegs wäre, wenn der Weltuntergang kam. Ganz schön lange. Das machte mir Kummer.
Doch selbst wenn ich mir den Kopf nicht mit paranoiden postapokalyptischen Phantasien zumüllte, war der Tod mir auf den Fersen. In New York wollten mein Freund Jonah und ich zusammenziehen, und ich wusste, was das bedeutete: Heirat, und nach der Heirat Babys. Und nach Babys kommt nur noch eins. Der Tod.
Andauernd kriegte ich Krebs. Gehirntumore, Magenkrebs, Knochenkrebs. Selbst das Nägelschneiden erinnerte mich an das Vergehen der Zeit und das Heranrücken des Todes. Jede Woche lagen diese kleinen Bumerangs aus verbrauchtem Leben im Waschbecken.
Ich maß meine Lebenszeit an meinen abgeschnittenen Fußnägeln.
»Hör auf, so zu denken«, sagte meine Schwester.
»Kann ich nicht.«
»Versuch's. Du hast es nicht mal versucht.«
Meine Schwester Jill war schon immer die Klügste und Vernünftigste von uns vier Geschwistern gewesen. Aber sie konnte mir damals nicht beibringen, wie man im Angesicht des Todes weiterlebt. Indra konnte es.
Indra war eine Frau, eine Yoga-Lehrerin, eine Göttin. Indra brachte mir bei, auf dem Kopf zu stehen und mit dem Rauchen aufzuhören, und hob mich dann aus meinem jüdischchristlichen Kontinent heraus, schickte mich per Flugzeug viele Kilometer weit über den gleichgültigen Ozean und setzte mich zeitgleich mit dem Beginn des Kriegs gegen den Terrorismus auf einer von Hindus bewohnten Insel mitten in einem muslimischen Archipel ab. Indra war meine erste Yoga-Lehrerin, und ich liebte sie. Ich liebte sie mit der Ambivalenz, die ich sonst nur bei Gott - und sämtlichen von mir abservierten Exfreunden - erlebte.
Indra führte mich an das Konzept der Einheit heran. Darum geht es im Hatha-Yoga: Man vereint Körper und Geist, Männliches und Weibliches, und vor allem das individuelle Selbst mit dem unteilbaren Selbst, das manche Gott nennen.
Mit siebzehn war ich stolz darauf, dass ich mich von der katholischen Kirche nicht hatte firmen lassen. Ich ging davon aus, dass alle, denen ich davon erzählte - alle vernunftbegabten Menschen dieser Welt, die nicht meine Freak-DNA hatten -, mir zustimmen würden. Ich hatte recht. Die meisten von ihnen, vor allem meine Künstlerfreunde, waren meiner Meinung. Aber meine Schauspiellehrerin sagte etwas, das ich nie vergessen habe. Sie hörte sich nach der Probe geduldig und leise lächelnd an, wie ich mit meinem fehlenden Glauben protzte. Dann sagte sie: »Es ist okay, dich von der Kirche loszusagen, wenn du jung bist. Du wirst zurückkommen, sobald jemand stirbt.«
Und es starben Menschen. Als hätte meine Schauspiellehrerin in der Kristallkugel aus der Requisite in die Zukunft geblickt, stapelten sich kurz darauf spirituelle Erfahrungsberichte auf dem Fußboden neben meinem Bett. Ich verriet niemandem, was ich las. Und auf keinen Fall hätte ich zugegeben, dass ich diese Bücher las, weil ich Gott zu finden hoffte. Ich hätte erklärt, es handele sich im Grunde um fiktionale Werke, Erlösungsgeschichten im Stil unterschiedlicher Epochen und Länder. Ich hätte nie zugegeben, dass ich sie las, weil ich das befreite Aufatmen brauchte, wenn ein Erzähler nach dem anderen aus seinem Jammertal errettet wurde.
Vielleicht hat mich das zu Indra geführt. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich im Herbst 2001 eines Abends in meinen ersten richtigen Yoga-Kurs spazierte. Ich hatte im Schauspielunterricht und in dem Fitnesscenter, in dem meine Schwester arbeitete, ab und zu Yoga gemacht und kannte die Körperhaltungen schon. Yoga-Übungen hatten mich nie besonders interessiert, aber jetzt pilgerte ich in dieses Studio, als hätte ich wie der heilige Augustinus den ganzen Tag weinend im Garten verbracht und nur darauf gewartet, dass eine körperlose Stimme mir vorsang: Schwing endlich deinen Hintern vom Liegestuhl und schwitz um des lieben Herrgotts willen endlich deine Scheiße aus.
An jenem Abend trat ich aus dem Dunst der Seattler Abenddämmerung in ein warmes, schummriges Studio. Kerzenschein spiegelte sich im Parkettfußboden. Leise, rhythmische Mönchsgesänge tönten aus einem unsichtbaren Lautsprecher, und eine unfassbar schöne Frau mit glatten, honigblonden Haaren saß absolut reglos vor einem niedrigen Altar im vorderen Teil des Raums. Sie trug flachsfarbene Baumwollhosen und ein passendes Tanktop. Sonnengebräunt, blond, groß - für solche Äußerlichkeiten hatte ich bis dahin nie geschwärmt. Es war mehr ihre Haltung, die mich anzog, still und doch geschmeidig. Und ihre warmen braunen Augen, von sympathischen Lachfältchen umgeben, die bis zum Haaransatz reichten.
Bald darauf vollführten wir schwitzend unsere Dehn- und Streckübungen. Die Beleuchtung blieb dämmrig, und ihre Stimme blieb sanft, so dass ich nach einer Weile den Eindruck hatte, ihre Anweisungen kämen aus meinem eigenen Kopf. Gegen Ende der Stunde lagen wir in einer irrsinnig anstrengenden Haltung auf dem Rücken, die Füße zwanzig Zentimeter über dem Boden erhoben, bis meine Bauchmuskeln fast explodierten. Ohne es zu merken, hatte ich die Hände über dem Solarplexus gefaltet.
»Das ist eine gute Idee«, sagte Indra mit Blick auf meine Hände, während sie neben mir kniete, um meine Hüften auszurichten. »Mir hilft Beten auch immer, wenn ich nicht weiß, was ich machen soll.«
Ich musste lachen, weil sie meine Unfähigkeit so trocken kommentierte, aber ich hätte gerne richtiggestellt, dass ich auf keinen Fall beten würde. In Wirklichkeit hatte ich gedacht: Bring mich um. Bitte bring mich um. Ich würde doch nie beten. Zu wem sollte man denn auch beten, um Himmels willen? Oder besser gesagt, um Nichthimmels willen?
Aber am Ende der Klasse dankte ich den Göttern für diese Lehrerin. Bevor ich ging, zahlte ich den Mitgliedsbeitrag für einen Monat und versprach, ich käme bald wieder.
Indra besaß mit ihrem Partner Lou zusammen ein kleines Studio in Capitol Hill. Lou war mindestens zehn Jahre älter als Indra, aber sie waren gleich groß und gleich schwer - beide hochgewachsen und stark. Das erzählte mir Indra sofort, als ich sie nach Lou fragte, als sei es der Beweis, dass sie füreinander geschaffen waren. Ich ging nicht oft in Lous Kurse - meine Sehnen fühlten sich danach zwar wie Gummibänder an, aber er war mir zu intensiv und sein Blick für meinen Geschmack zu durchdringend. Außerdem war der Kurs voll von miefigen Trommelkreis-Typen. In Indras Kursen fühlte ich mich wie zu Hause.
Das ist schon eine ausgesprochen bizarre Feststellung, oder? In Indras Kursen fühlte ich mich wie zu Hause. Bevor ich sie kannte, hätte ich mich gnadenlos über mich selbst mokiert, wenn mir ein solcher Satz entschlüpft wäre. Vor Indra verstand ich unter Fitnesstraining einmal den Hügel hochgehen, um Kippen zu kaufen. Oder meine Bücher umsortieren. Sex. Vielleicht eine besonders anstrengende Schauspielübung. Die meiste Zeit lebte ich nur vom Hals aufwärts.
Ich bin eine Leserin. Das bedeutet, dass ich mich gerne an engen, warmen Orten wie Betten oder Badewannen aufhalte, an denen ich lese oder döse oder die Staubkörnchen in den Sonnenstrahlen beobachte. Mit fünfundzwanzig versetzte mich die Vorstellung körperlicher Betätigung in Panik. Ich wurde manchmal regelrecht wütend, wenn ich Jogger sah, genauso wütend, wie wenn Leute mich aufforderten, an einen Gott zu glauben, der verlangt, dass wir uns andauernd mies fühlen, damit wir in den Himmel kommen. Alle Jogger glauben an ein Leben nach dem Tod. Doch, garantiert, denn warum würden sie sonst in diesem allen Anschein nach kurzen und endlichen Leben so viel Zeit verschwenden? Die Bevölkerung meiner Heimatstadt Seattle war gespalten. Die Hälfte joggte und glaubte an ein Jenseits, die andere Hälfte las und glaubte an die Happy Hour.
Mit fünfundzwanzig war ich ein fester Bestandteil der zweiten Hälfte, deshalb schockierte es meine Bekannten und mich nicht wenig, als ich plötzlich mindestens viermal wöchentlich in Leggins und Tanktop in Indras Yoga-Studio eilte, schwitzte und stretchte und die Erfahrung machte, dass mein Körper noch zu etwas anderem gut war, als mich im Bett umzudrehen. Gewöhnlich hatte ich einen Tag hinter mir, an dem ich von der Stoßstange der Zeit mitgeschleift worden war und mit den Fingernägeln am Boden Halt gesucht hatte. Wenn ich das Studio verließ, ging ich aufrecht, geschmeidig, anmutig, als sei Indra selbst die Haltung, die ich zu meistern hatte. Meine Schauspiellehrer forderten uns häufig auf, uns den Figuren durch ihre Gangart zu nähern. Wenn wir es schafften, in den Körper unserer Charaktere zu schlüpfen, würde sich uns ihre Gefühlslandschaft erschließen. War ich also allein unterwegs, ging ich wie Indra. Mit aufrechtem Rückgrat und gesenktem Kinn. Als Indra bestand ich nur aus geraden Linien - groß und langgestreckt. Meine weicheren Kurven streckten sich, bis sie ihrer Ballerina-Pose glichen. Ich machte bewusste, präzise Schritte. Ich musste den Blick nicht senken. Indra würde dem Untergrund vertrauen.
Beim Unterricht beobachtete ich, wie sie ihren Körper in die jeweilige Position gleiten ließ. Wie schmerzhaft mir die Haltung auch vorkam, wie verdreht und schief ich mich auch fühlte, Indras Gesicht war immer entspannt. Sie schien irgendwo über dem Raum zu schweben und kaum mitzukriegen, wie ihr Körper von einer unsichtbaren Hand geführt wurde, wie diese Hand ihre Arme perfekt ausrichtete, ihren Rumpf drehte und massierte und ihre Füße zärtlich zu eleganten Bögen formte. Ihre Zehen spreizten sich wie die Federn im Fächer einer Striptänzerin.
Indra entfachte in mir den Drang, mir Dinge zu kaufen. Glätt- eisen zum Beispiel. Sogar Indras Haare drückten eine gewisse innere Ruhe aus, wogegen meine wellige, fusselige Mähne, die mir dauernd aus dem Haargummi rutschte, beileibe nichts dergleichen über mich aussagte.
Wegen Indra wollte ich Yoga-Matten und Bücher mit Titeln wie City Karma, Urban Dharma und Brooklyn Kama Sutra haben. Nach dem Unterricht ging ich immer geradewegs zu Trader's Joe, als sei der Kauf von Bio-Käse, Bio-Tomaten und biodynamischem Schaumbad eine Fortsetzung meiner Yoga- Übungen.
Und laut Yoga Journal war das auch der Fall.
Aber am erstaunlichsten war, dass ich Indra zuliebe mit dem Rauchen aufhören wollte. Als ich eines Vormittags nach dem Unterricht den langen Wollmantel anzog, mit dem ich am Abend vorher in die Bar gegangen war, fragte sie mich, ob ich rauchte. Ich sagte ja, schon, manchmal eben, wenn ich was trank oder eine Freundin sich getrennt hatte oder, na ja, überhaupt.
»Aber ich bin gerade dabei aufzuhören«, sagte ich.
Indra lachte tief aus dem Bauch heraus. »Ich weiß, wie das ist«, sagte sie verständnisvoll. Sie senkte die Stimme und beugte sich zu mir, als würde sie mir gleich ein höchst intimes Geheimnis anvertrauen. »Ich hab selbst mal damit aufgehört - ungefähr zwölf Jahre lang.«
»Du machst Witze«, flüsterte ich zurück.
Sie nickte. »Aber mit dem Aufhören ist das so - es ist eigentlich kein Prozess.« Sie lächelte. »Es ist eine Handlung.«
Es war nicht das letzte Mal, dass Indra mich beim Bluffen erwischte. Aber zwischen den Zeilen hörte ich eine noch viel provozierendere, inspirierendere und beängstigendere Botschaft: Ich war einmal du, deshalb kannst du eines Tages ich sein.
Heute frage ich mich, ob das der Anfang meiner ambivalenten Gefühle gegenüber Indra war. In diesem Moment erkannte ich nicht nur mein Potential, wie sie zu sein, sondern auch ihr Potential, ich zu sein. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass bald darauf etwas passierte, was in mir den Wunsch weckte, ihr überallhin zu folgen. Wenn sie mir nur zeigte, wie man richtig lebt.
Es passierte an Thanksgiving. In jenem Jahr war meine Großmutter nicht in der Verfassung, am Familienessen bei meinem Onkel und meiner Tante teilzunehmen, aber mein Großvater ließ sich nach Möglichkeit keine Party entgehen. Im Grunde war er in aller Regel die Seele der Party. Seit meine Großmutter nicht mehr so gesund war, waren wir häufig bei ihm und leisteten ihm Gesellschaft. Nicht selten waren meine Brüder, wenn meine Schwester und ich am Freitagabend zu unseren Eltern kamen, schon dabei, für Opa Scotch und Wasser zu mischen, und das war für uns vier der Start ins Wochenende. Es war keine Pflichtübung. Selbst meine Freunde waren gerne mit meinem Großvater zusammen.
Meine Mom nannte ihren Schwiegervater gerne »altes Haus« - alle fühlten sich wohl mit ihm, man musste ihn einfach lieben. Meine Schwester nannte ihn den »fluchenden Teddybär«. Er war über einen Meter neunzig groß, hatte einen kantigen Schädel, dichtes weißes Haar und leuchtend blaue Augen und war bekannt dafür, dass er das Falsche zur richtigen Zeit sagte. Als er meine Freundin Francesca zum ersten Mal sah, musterte er sie mit einem durchtriebenen Lächeln von oben bis unten und sagte: »Na, Sie sind eine ganz heiße Nummer, was?« Sie musste so lachen, dass sie fast den Wein über den Tisch geprustet hätte.
Als ich ihm erzählte, dass sich meine beste Freundin aus der Grundschule geoutet hatte, sagte er: »Das ist okay, aber was zum Teufel treiben diese Lesben miteinander, Suzie? Was machen sie?«
»Sie machen alles, was ein Mann und eine Frau auch machen, Opa.«
Er wackelte mit dem erhobenen Zeigefinger und machte ein sehr selbstzufriedenes Gesicht.
»Ah, ja ... alles außer einem.«
Politisch korrekt war er nicht.
Opa ging es nicht besonders gut. Wir versuchten alle, ihn auf seinen Hometrainer zu scheuchen, und manchmal tat er uns den Gefallen und trat fünf Minuten lang halbherzig in die Pedale. Anschließend forderte er eine Büchse Sardinen als Belohnung. Am liebsten saß er in seinem großen roten Fernsehsessel, sah sich Gerichtsshows und alte britische Filme an oder hörte über Kopfhörer Verdi und Wagner und pfiff bei den eingängigen Stellen mit.
Nachdem wir uns ausgiebig mit Truthahn und Kartoffelbrei vollgestopft hatten, halfen mein Vater und mein älterer Bruder Opa ins Auto. Auf einmal gab er beim Atmen ein pfeifendes Geräusch von sich. Das war nicht ungewöhnlich. Das Auf stehen und Hinsetzen fiel ihm seit einiger Zeit schwer. Sich beim Einsteigen ins Auto gleichzeitig zu drehen, vorzubeugen und in die Knie zu gehen, war eine schwierige Übung für ihn. Wir wussten alle, dass er laut summte, um das Ächzen zu übertönen, das ihm beim Binden seiner Schnürsenkel entfuhr. Aber an diesem Abend keuchte er bereits, als ihn seine beiden Namensvettern die kurze Auffahrt zum Auto begleiteten. Dort angekommen, klang das Geräusch, das aus seiner Brust drang, so, als würde er an einer straff gespannten Zellophan-Folie saugen, und als er zum Einsteigen einen Fuß hob, taumelte er gegen meinen Vater. Ich lief um das Fahrzeug herum und half, ihn auf den Sitz zu hieven, während sein Atem immer flacher ging und er wie ein Flötenspieler mit gespitzten Lippen die Luft in kleinen Portionen einsog. Er blickte uns angstvoll an. Ich hielt ihn am Arm und wollte ihn durch pure Willenskraft zum Atmen zwingen. Dazu atmete ich selbst tief ein und aus, um ihm zu zeigen, wie er den Weg zurück zu meinem Gesicht, dem Auto und einer weiteren Nacht finden konnte. »Weiter, Opa«, drängte ich, während ich seinen Arm streichelte. Ich atmete ein und aus, immer wieder, so macht man das, mach es mir einfach nach. Aber bald bekam auch ich Atemnot und spürte, dass mein Gesicht ganz nass war. Ich schluchzte. Oder hyperventilierte. Oder beides.
Ich weiß nicht mehr, was dann passierte, nur dass ich vor dem Auto stand und mein Cousin Mike, der Priester, mich im Arm hielt, weil ich haltlos weinte, bis mein Dad mich aufforderte einzusteigen.
Opas Atemzüge waren wieder etwas tiefer geworden, und er entspannte sich. Wir brachten ihn in aller Eile nach Hause. Auf der Fahrt saß er erschöpft gegen die Rückbank gelehnt. Er wandte mir den Kopf zu und sagte: »Das ist ganz und gar nicht lustig.«
Am nächsten Tag legte sich bei jedem Gedanken an meinen Opa ein Gewicht auf meine Brust, als würde ich ertrinken. Ich versuchte, nicht an die Zukunft zu denken, aber die Uhr schien schneller als sonst zu laufen. Die Zeit faltete sich zusammen wie der Balg eines Akkordeons, und ich konnte nur untätig zusehen. Ich sah meine Großeltern sterben, und dann, als wäre nur ein Tag vergangen, führte ich meinen Vater zum Auto, und meine Kinder sahen entsetzt zu und dachten daran, dass sie mich auch bald führen würden. Ich saß in Gedanken nach Luft ringend neben meinem erschrockenen Enkelkind, dem nächsten Glied in der Familienkette aus Liebe und Kummer, und ich wusste, es spielte keine Rolle, ob ich ein authentisches Leben führte oder nicht, ob ich für meine Familie lebte oder meinen Freund oder irgendeine Vorstellung von meinem wahren Selbst. Nichts davon würde mir helfen, wenn ich ins Nichts blickte.
Ich besuchte Indras Kurse und befolgte all ihre Anweisungen. Ich atmete ein, wenn sie es sagte, und atmete aus, wenn sie es sagte, und wenn wir uns am Ende in der Totenstellung ausruhten, bekam ich endlich wieder Luft.
Ein paar Monate später nahm ich das Geld, das ich ein Jahr lang für Zigaretten ausgegeben hätte - ungefähr 1200 Dollar - und gab es Indra. Es diente als Anzahlung für ein zweimonatiges Yoga-Lehrer-Seminar auf Bali mit Indra und ihrem Partner Lou. Aber ich will ehrlich sein: Es war keine Anzahlung für eine Ausbildung zur Yoga-Lehrerin, es war eine Anzahlung für ein neues Ich.
Kurz nachdem ich mein Schicksal mit diesem Scheck besiegelt hatte, kaufte ich ein dickes, liniertes, ledergebundenes Tagebuch und fing an zu schreiben. Das Schreiben war nichts Neues für mich, ich hatte seit meinem zehnten Geburtstag ein Tagebuch geführt. Damals stand Hello Kitty auf dem Umschlag, und ein kleines Metallschloss sollte meine Brüder fernhalten. Diesmal jedoch war mir irgendwie klar, dass ich für jemanden schrieb. Aber für wen? Mein älteres Ich, damit ich mich später daran erinnern konnte, wer ich einmal war? Oder für Indra, für Jonah, für den Äther? Ich weiß es nicht. Aber mir fällt dazu Thomas Mallon ein, der mal gesagt hat: »Niemand führt ein Tagebuch nur für sich allein.« Offensichtlich hat er recht.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Am Ende des Kurses sollten wir in ihren Gesang einstimmen: gate, gate, paragate, parasamgate ... Das, erklärte sie uns ohne dieses Yoga-Gesäusel in der Stimme, bedeute: gegangen, gegangen, weiter gegangen, ins Verborgene gegangen. Sie war jung, eine echte kleine Zuckerschnecke in ihrem schwarzgrauen Outfit. Ungefähr fünfundzwanzig. Vielleicht auch jünger. Ihre Großmutter sei kürzlich gestorben, erzählte sie, und sie hätte gerne, dass wir für sie und all die lieben Menschen chanten, die schon von uns gegangen sind. In diesem Moment verzieh ich ihr alles, ich hätte ihr am liebsten den Pullover zugeknöpft und eine Tasse Kakao gekocht. Ich sang gegangen, gegangen, weiter gegangen für ihre Lieben und für meine und für die Fünfundzwanzigjährige, die ich einmal war.
Als ich fünfundzwanzig wurde, lag der 11. September gerade gut einen Monat zurück, und man hörte immer und überall von Menschen, die von uns gegangen waren. Ich hatte drei Jobs, weil ich für meinen Umzug von Seattle nach New York sparte, und ganz gleich, wo ich war, in der Anwaltskanzlei, im Pub oder bei meinen Großeltern, um deren Rechnungen ich mich kümmerte - immer liefen die Nachrichten und immer waren sie schlecht. So viele Leute suchten nach den Überresten der Menschen, die sie liebten. So viele Bilder von Flugzeugen, die in Türme krachen, von Rauch und Asche.
Vorher hatte ich nie wirklich Angst vor dem Tod gehabt. Ich dachte, ich hätte das alles mit siebzehn für mich geklärt. Da war ich nämlich zu dem Schluss gekommen, dass man, solange man authentisch lebt, ohne Angst und Bedauern stirbt. Als Teenager schien mir alles so einfach: Wenn ich so lebte, wie mein authentisches Selbst es verlangte, dann konnte ich auf den Tod neugierig sein - er wäre ein weiteres Abenteuer, das ich zu meinen eigenen Bedingungen erleben würde.
Religion war meiner Meinung nach hinderlich für ein authentisches Leben, besonders wenn man sich nur aus einem Grund der katholischen Kirche anschließt - damit einem die eigene Mutter nicht für den Rest des Lebens den Stinkefinger zeigt. Und so verkündete ich meiner Mutter mit siebzehn, ich würde mich nicht firmen lassen. Kierkegaard habe schließlich gesagt, jeder müsse zu seinem eigenen Glauben finden, und den hätte ich nicht gefunden - und sie könne mich nicht dazu zwingen.
Das war alles schön und gut für einen Teenie, der sich insgeheim für unsterblich hielt, wie meine zahllosen Strafzettel für zu schnelles Fahren bewiesen. Aber mit fünfundzwanzig kam mir die Idee vom Tod als Abenteuer idiotisch vor. Kaltschnäuzig, herzlos und vor allem unbedarft. Der Tod war kein Abenteuer; er war ein nahes und immer gegenwärtiges Nichts. Er war der Grund, weshalb mir die Kehle eng wurde, wenn ich sah, wie mein Großvater aus seinem Stuhl aufzustehen versuchte. Er war der Grund, weshalb wir alle bei den Nachrichten die Hände vor das Gesicht schlugen.
Ich hatte vor kurzem das College abgeschlossen, nachdem ich erst mit einundzwanzig mit dem Studium angefangen hatte, weil ich nach der Schule meinem authentischen Selbst nach Europa folgen wollte. Jetzt war für den nächsten Sommer der Umzug nach New York geplant. Schon vor den Angriffen auf Manhattan hatte mich der Gedanke an New York nervös gemacht; nach ihnen erschien mir das, was eigentlich ein schwieriger, aber notwendiger Übergangsritus sein sollte, eher wie ein Flirt mit dem Tod.
Wohin ich auch blickte, überall war Tod. Mein Umzug nach New York war der Tod meines Lebens in Seattle im Kreis meiner Familie und meiner Freunde. In Anbetracht der prekären Sicherheitslage in unserem Land bedeutete ein Umzug womöglich, dass man sich nie wiedersah. Ich weiß noch, dass ich überlegte, wie lange ich wohl zu Fuß von New York nach Hause unterwegs wäre, wenn der Weltuntergang kam. Ganz schön lange. Das machte mir Kummer.
Doch selbst wenn ich mir den Kopf nicht mit paranoiden postapokalyptischen Phantasien zumüllte, war der Tod mir auf den Fersen. In New York wollten mein Freund Jonah und ich zusammenziehen, und ich wusste, was das bedeutete: Heirat, und nach der Heirat Babys. Und nach Babys kommt nur noch eins. Der Tod.
Andauernd kriegte ich Krebs. Gehirntumore, Magenkrebs, Knochenkrebs. Selbst das Nägelschneiden erinnerte mich an das Vergehen der Zeit und das Heranrücken des Todes. Jede Woche lagen diese kleinen Bumerangs aus verbrauchtem Leben im Waschbecken.
Ich maß meine Lebenszeit an meinen abgeschnittenen Fußnägeln.
»Hör auf, so zu denken«, sagte meine Schwester.
»Kann ich nicht.«
»Versuch's. Du hast es nicht mal versucht.«
Meine Schwester Jill war schon immer die Klügste und Vernünftigste von uns vier Geschwistern gewesen. Aber sie konnte mir damals nicht beibringen, wie man im Angesicht des Todes weiterlebt. Indra konnte es.
Indra war eine Frau, eine Yoga-Lehrerin, eine Göttin. Indra brachte mir bei, auf dem Kopf zu stehen und mit dem Rauchen aufzuhören, und hob mich dann aus meinem jüdischchristlichen Kontinent heraus, schickte mich per Flugzeug viele Kilometer weit über den gleichgültigen Ozean und setzte mich zeitgleich mit dem Beginn des Kriegs gegen den Terrorismus auf einer von Hindus bewohnten Insel mitten in einem muslimischen Archipel ab. Indra war meine erste Yoga-Lehrerin, und ich liebte sie. Ich liebte sie mit der Ambivalenz, die ich sonst nur bei Gott - und sämtlichen von mir abservierten Exfreunden - erlebte.
Indra führte mich an das Konzept der Einheit heran. Darum geht es im Hatha-Yoga: Man vereint Körper und Geist, Männliches und Weibliches, und vor allem das individuelle Selbst mit dem unteilbaren Selbst, das manche Gott nennen.
Mit siebzehn war ich stolz darauf, dass ich mich von der katholischen Kirche nicht hatte firmen lassen. Ich ging davon aus, dass alle, denen ich davon erzählte - alle vernunftbegabten Menschen dieser Welt, die nicht meine Freak-DNA hatten -, mir zustimmen würden. Ich hatte recht. Die meisten von ihnen, vor allem meine Künstlerfreunde, waren meiner Meinung. Aber meine Schauspiellehrerin sagte etwas, das ich nie vergessen habe. Sie hörte sich nach der Probe geduldig und leise lächelnd an, wie ich mit meinem fehlenden Glauben protzte. Dann sagte sie: »Es ist okay, dich von der Kirche loszusagen, wenn du jung bist. Du wirst zurückkommen, sobald jemand stirbt.«
Und es starben Menschen. Als hätte meine Schauspiellehrerin in der Kristallkugel aus der Requisite in die Zukunft geblickt, stapelten sich kurz darauf spirituelle Erfahrungsberichte auf dem Fußboden neben meinem Bett. Ich verriet niemandem, was ich las. Und auf keinen Fall hätte ich zugegeben, dass ich diese Bücher las, weil ich Gott zu finden hoffte. Ich hätte erklärt, es handele sich im Grunde um fiktionale Werke, Erlösungsgeschichten im Stil unterschiedlicher Epochen und Länder. Ich hätte nie zugegeben, dass ich sie las, weil ich das befreite Aufatmen brauchte, wenn ein Erzähler nach dem anderen aus seinem Jammertal errettet wurde.
Vielleicht hat mich das zu Indra geführt. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich im Herbst 2001 eines Abends in meinen ersten richtigen Yoga-Kurs spazierte. Ich hatte im Schauspielunterricht und in dem Fitnesscenter, in dem meine Schwester arbeitete, ab und zu Yoga gemacht und kannte die Körperhaltungen schon. Yoga-Übungen hatten mich nie besonders interessiert, aber jetzt pilgerte ich in dieses Studio, als hätte ich wie der heilige Augustinus den ganzen Tag weinend im Garten verbracht und nur darauf gewartet, dass eine körperlose Stimme mir vorsang: Schwing endlich deinen Hintern vom Liegestuhl und schwitz um des lieben Herrgotts willen endlich deine Scheiße aus.
An jenem Abend trat ich aus dem Dunst der Seattler Abenddämmerung in ein warmes, schummriges Studio. Kerzenschein spiegelte sich im Parkettfußboden. Leise, rhythmische Mönchsgesänge tönten aus einem unsichtbaren Lautsprecher, und eine unfassbar schöne Frau mit glatten, honigblonden Haaren saß absolut reglos vor einem niedrigen Altar im vorderen Teil des Raums. Sie trug flachsfarbene Baumwollhosen und ein passendes Tanktop. Sonnengebräunt, blond, groß - für solche Äußerlichkeiten hatte ich bis dahin nie geschwärmt. Es war mehr ihre Haltung, die mich anzog, still und doch geschmeidig. Und ihre warmen braunen Augen, von sympathischen Lachfältchen umgeben, die bis zum Haaransatz reichten.
Bald darauf vollführten wir schwitzend unsere Dehn- und Streckübungen. Die Beleuchtung blieb dämmrig, und ihre Stimme blieb sanft, so dass ich nach einer Weile den Eindruck hatte, ihre Anweisungen kämen aus meinem eigenen Kopf. Gegen Ende der Stunde lagen wir in einer irrsinnig anstrengenden Haltung auf dem Rücken, die Füße zwanzig Zentimeter über dem Boden erhoben, bis meine Bauchmuskeln fast explodierten. Ohne es zu merken, hatte ich die Hände über dem Solarplexus gefaltet.
»Das ist eine gute Idee«, sagte Indra mit Blick auf meine Hände, während sie neben mir kniete, um meine Hüften auszurichten. »Mir hilft Beten auch immer, wenn ich nicht weiß, was ich machen soll.«
Ich musste lachen, weil sie meine Unfähigkeit so trocken kommentierte, aber ich hätte gerne richtiggestellt, dass ich auf keinen Fall beten würde. In Wirklichkeit hatte ich gedacht: Bring mich um. Bitte bring mich um. Ich würde doch nie beten. Zu wem sollte man denn auch beten, um Himmels willen? Oder besser gesagt, um Nichthimmels willen?
Aber am Ende der Klasse dankte ich den Göttern für diese Lehrerin. Bevor ich ging, zahlte ich den Mitgliedsbeitrag für einen Monat und versprach, ich käme bald wieder.
Indra besaß mit ihrem Partner Lou zusammen ein kleines Studio in Capitol Hill. Lou war mindestens zehn Jahre älter als Indra, aber sie waren gleich groß und gleich schwer - beide hochgewachsen und stark. Das erzählte mir Indra sofort, als ich sie nach Lou fragte, als sei es der Beweis, dass sie füreinander geschaffen waren. Ich ging nicht oft in Lous Kurse - meine Sehnen fühlten sich danach zwar wie Gummibänder an, aber er war mir zu intensiv und sein Blick für meinen Geschmack zu durchdringend. Außerdem war der Kurs voll von miefigen Trommelkreis-Typen. In Indras Kursen fühlte ich mich wie zu Hause.
Das ist schon eine ausgesprochen bizarre Feststellung, oder? In Indras Kursen fühlte ich mich wie zu Hause. Bevor ich sie kannte, hätte ich mich gnadenlos über mich selbst mokiert, wenn mir ein solcher Satz entschlüpft wäre. Vor Indra verstand ich unter Fitnesstraining einmal den Hügel hochgehen, um Kippen zu kaufen. Oder meine Bücher umsortieren. Sex. Vielleicht eine besonders anstrengende Schauspielübung. Die meiste Zeit lebte ich nur vom Hals aufwärts.
Ich bin eine Leserin. Das bedeutet, dass ich mich gerne an engen, warmen Orten wie Betten oder Badewannen aufhalte, an denen ich lese oder döse oder die Staubkörnchen in den Sonnenstrahlen beobachte. Mit fünfundzwanzig versetzte mich die Vorstellung körperlicher Betätigung in Panik. Ich wurde manchmal regelrecht wütend, wenn ich Jogger sah, genauso wütend, wie wenn Leute mich aufforderten, an einen Gott zu glauben, der verlangt, dass wir uns andauernd mies fühlen, damit wir in den Himmel kommen. Alle Jogger glauben an ein Leben nach dem Tod. Doch, garantiert, denn warum würden sie sonst in diesem allen Anschein nach kurzen und endlichen Leben so viel Zeit verschwenden? Die Bevölkerung meiner Heimatstadt Seattle war gespalten. Die Hälfte joggte und glaubte an ein Jenseits, die andere Hälfte las und glaubte an die Happy Hour.
Mit fünfundzwanzig war ich ein fester Bestandteil der zweiten Hälfte, deshalb schockierte es meine Bekannten und mich nicht wenig, als ich plötzlich mindestens viermal wöchentlich in Leggins und Tanktop in Indras Yoga-Studio eilte, schwitzte und stretchte und die Erfahrung machte, dass mein Körper noch zu etwas anderem gut war, als mich im Bett umzudrehen. Gewöhnlich hatte ich einen Tag hinter mir, an dem ich von der Stoßstange der Zeit mitgeschleift worden war und mit den Fingernägeln am Boden Halt gesucht hatte. Wenn ich das Studio verließ, ging ich aufrecht, geschmeidig, anmutig, als sei Indra selbst die Haltung, die ich zu meistern hatte. Meine Schauspiellehrer forderten uns häufig auf, uns den Figuren durch ihre Gangart zu nähern. Wenn wir es schafften, in den Körper unserer Charaktere zu schlüpfen, würde sich uns ihre Gefühlslandschaft erschließen. War ich also allein unterwegs, ging ich wie Indra. Mit aufrechtem Rückgrat und gesenktem Kinn. Als Indra bestand ich nur aus geraden Linien - groß und langgestreckt. Meine weicheren Kurven streckten sich, bis sie ihrer Ballerina-Pose glichen. Ich machte bewusste, präzise Schritte. Ich musste den Blick nicht senken. Indra würde dem Untergrund vertrauen.
Beim Unterricht beobachtete ich, wie sie ihren Körper in die jeweilige Position gleiten ließ. Wie schmerzhaft mir die Haltung auch vorkam, wie verdreht und schief ich mich auch fühlte, Indras Gesicht war immer entspannt. Sie schien irgendwo über dem Raum zu schweben und kaum mitzukriegen, wie ihr Körper von einer unsichtbaren Hand geführt wurde, wie diese Hand ihre Arme perfekt ausrichtete, ihren Rumpf drehte und massierte und ihre Füße zärtlich zu eleganten Bögen formte. Ihre Zehen spreizten sich wie die Federn im Fächer einer Striptänzerin.
Indra entfachte in mir den Drang, mir Dinge zu kaufen. Glätt- eisen zum Beispiel. Sogar Indras Haare drückten eine gewisse innere Ruhe aus, wogegen meine wellige, fusselige Mähne, die mir dauernd aus dem Haargummi rutschte, beileibe nichts dergleichen über mich aussagte.
Wegen Indra wollte ich Yoga-Matten und Bücher mit Titeln wie City Karma, Urban Dharma und Brooklyn Kama Sutra haben. Nach dem Unterricht ging ich immer geradewegs zu Trader's Joe, als sei der Kauf von Bio-Käse, Bio-Tomaten und biodynamischem Schaumbad eine Fortsetzung meiner Yoga- Übungen.
Und laut Yoga Journal war das auch der Fall.
Aber am erstaunlichsten war, dass ich Indra zuliebe mit dem Rauchen aufhören wollte. Als ich eines Vormittags nach dem Unterricht den langen Wollmantel anzog, mit dem ich am Abend vorher in die Bar gegangen war, fragte sie mich, ob ich rauchte. Ich sagte ja, schon, manchmal eben, wenn ich was trank oder eine Freundin sich getrennt hatte oder, na ja, überhaupt.
»Aber ich bin gerade dabei aufzuhören«, sagte ich.
Indra lachte tief aus dem Bauch heraus. »Ich weiß, wie das ist«, sagte sie verständnisvoll. Sie senkte die Stimme und beugte sich zu mir, als würde sie mir gleich ein höchst intimes Geheimnis anvertrauen. »Ich hab selbst mal damit aufgehört - ungefähr zwölf Jahre lang.«
»Du machst Witze«, flüsterte ich zurück.
Sie nickte. »Aber mit dem Aufhören ist das so - es ist eigentlich kein Prozess.« Sie lächelte. »Es ist eine Handlung.«
Es war nicht das letzte Mal, dass Indra mich beim Bluffen erwischte. Aber zwischen den Zeilen hörte ich eine noch viel provozierendere, inspirierendere und beängstigendere Botschaft: Ich war einmal du, deshalb kannst du eines Tages ich sein.
Heute frage ich mich, ob das der Anfang meiner ambivalenten Gefühle gegenüber Indra war. In diesem Moment erkannte ich nicht nur mein Potential, wie sie zu sein, sondern auch ihr Potential, ich zu sein. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass bald darauf etwas passierte, was in mir den Wunsch weckte, ihr überallhin zu folgen. Wenn sie mir nur zeigte, wie man richtig lebt.
Es passierte an Thanksgiving. In jenem Jahr war meine Großmutter nicht in der Verfassung, am Familienessen bei meinem Onkel und meiner Tante teilzunehmen, aber mein Großvater ließ sich nach Möglichkeit keine Party entgehen. Im Grunde war er in aller Regel die Seele der Party. Seit meine Großmutter nicht mehr so gesund war, waren wir häufig bei ihm und leisteten ihm Gesellschaft. Nicht selten waren meine Brüder, wenn meine Schwester und ich am Freitagabend zu unseren Eltern kamen, schon dabei, für Opa Scotch und Wasser zu mischen, und das war für uns vier der Start ins Wochenende. Es war keine Pflichtübung. Selbst meine Freunde waren gerne mit meinem Großvater zusammen.
Meine Mom nannte ihren Schwiegervater gerne »altes Haus« - alle fühlten sich wohl mit ihm, man musste ihn einfach lieben. Meine Schwester nannte ihn den »fluchenden Teddybär«. Er war über einen Meter neunzig groß, hatte einen kantigen Schädel, dichtes weißes Haar und leuchtend blaue Augen und war bekannt dafür, dass er das Falsche zur richtigen Zeit sagte. Als er meine Freundin Francesca zum ersten Mal sah, musterte er sie mit einem durchtriebenen Lächeln von oben bis unten und sagte: »Na, Sie sind eine ganz heiße Nummer, was?« Sie musste so lachen, dass sie fast den Wein über den Tisch geprustet hätte.
Als ich ihm erzählte, dass sich meine beste Freundin aus der Grundschule geoutet hatte, sagte er: »Das ist okay, aber was zum Teufel treiben diese Lesben miteinander, Suzie? Was machen sie?«
»Sie machen alles, was ein Mann und eine Frau auch machen, Opa.«
Er wackelte mit dem erhobenen Zeigefinger und machte ein sehr selbstzufriedenes Gesicht.
»Ah, ja ... alles außer einem.«
Politisch korrekt war er nicht.
Opa ging es nicht besonders gut. Wir versuchten alle, ihn auf seinen Hometrainer zu scheuchen, und manchmal tat er uns den Gefallen und trat fünf Minuten lang halbherzig in die Pedale. Anschließend forderte er eine Büchse Sardinen als Belohnung. Am liebsten saß er in seinem großen roten Fernsehsessel, sah sich Gerichtsshows und alte britische Filme an oder hörte über Kopfhörer Verdi und Wagner und pfiff bei den eingängigen Stellen mit.
Nachdem wir uns ausgiebig mit Truthahn und Kartoffelbrei vollgestopft hatten, halfen mein Vater und mein älterer Bruder Opa ins Auto. Auf einmal gab er beim Atmen ein pfeifendes Geräusch von sich. Das war nicht ungewöhnlich. Das Auf stehen und Hinsetzen fiel ihm seit einiger Zeit schwer. Sich beim Einsteigen ins Auto gleichzeitig zu drehen, vorzubeugen und in die Knie zu gehen, war eine schwierige Übung für ihn. Wir wussten alle, dass er laut summte, um das Ächzen zu übertönen, das ihm beim Binden seiner Schnürsenkel entfuhr. Aber an diesem Abend keuchte er bereits, als ihn seine beiden Namensvettern die kurze Auffahrt zum Auto begleiteten. Dort angekommen, klang das Geräusch, das aus seiner Brust drang, so, als würde er an einer straff gespannten Zellophan-Folie saugen, und als er zum Einsteigen einen Fuß hob, taumelte er gegen meinen Vater. Ich lief um das Fahrzeug herum und half, ihn auf den Sitz zu hieven, während sein Atem immer flacher ging und er wie ein Flötenspieler mit gespitzten Lippen die Luft in kleinen Portionen einsog. Er blickte uns angstvoll an. Ich hielt ihn am Arm und wollte ihn durch pure Willenskraft zum Atmen zwingen. Dazu atmete ich selbst tief ein und aus, um ihm zu zeigen, wie er den Weg zurück zu meinem Gesicht, dem Auto und einer weiteren Nacht finden konnte. »Weiter, Opa«, drängte ich, während ich seinen Arm streichelte. Ich atmete ein und aus, immer wieder, so macht man das, mach es mir einfach nach. Aber bald bekam auch ich Atemnot und spürte, dass mein Gesicht ganz nass war. Ich schluchzte. Oder hyperventilierte. Oder beides.
Ich weiß nicht mehr, was dann passierte, nur dass ich vor dem Auto stand und mein Cousin Mike, der Priester, mich im Arm hielt, weil ich haltlos weinte, bis mein Dad mich aufforderte einzusteigen.
Opas Atemzüge waren wieder etwas tiefer geworden, und er entspannte sich. Wir brachten ihn in aller Eile nach Hause. Auf der Fahrt saß er erschöpft gegen die Rückbank gelehnt. Er wandte mir den Kopf zu und sagte: »Das ist ganz und gar nicht lustig.«
Am nächsten Tag legte sich bei jedem Gedanken an meinen Opa ein Gewicht auf meine Brust, als würde ich ertrinken. Ich versuchte, nicht an die Zukunft zu denken, aber die Uhr schien schneller als sonst zu laufen. Die Zeit faltete sich zusammen wie der Balg eines Akkordeons, und ich konnte nur untätig zusehen. Ich sah meine Großeltern sterben, und dann, als wäre nur ein Tag vergangen, führte ich meinen Vater zum Auto, und meine Kinder sahen entsetzt zu und dachten daran, dass sie mich auch bald führen würden. Ich saß in Gedanken nach Luft ringend neben meinem erschrockenen Enkelkind, dem nächsten Glied in der Familienkette aus Liebe und Kummer, und ich wusste, es spielte keine Rolle, ob ich ein authentisches Leben führte oder nicht, ob ich für meine Familie lebte oder meinen Freund oder irgendeine Vorstellung von meinem wahren Selbst. Nichts davon würde mir helfen, wenn ich ins Nichts blickte.
Ich besuchte Indras Kurse und befolgte all ihre Anweisungen. Ich atmete ein, wenn sie es sagte, und atmete aus, wenn sie es sagte, und wenn wir uns am Ende in der Totenstellung ausruhten, bekam ich endlich wieder Luft.
Ein paar Monate später nahm ich das Geld, das ich ein Jahr lang für Zigaretten ausgegeben hätte - ungefähr 1200 Dollar - und gab es Indra. Es diente als Anzahlung für ein zweimonatiges Yoga-Lehrer-Seminar auf Bali mit Indra und ihrem Partner Lou. Aber ich will ehrlich sein: Es war keine Anzahlung für eine Ausbildung zur Yoga-Lehrerin, es war eine Anzahlung für ein neues Ich.
Kurz nachdem ich mein Schicksal mit diesem Scheck besiegelt hatte, kaufte ich ein dickes, liniertes, ledergebundenes Tagebuch und fing an zu schreiben. Das Schreiben war nichts Neues für mich, ich hatte seit meinem zehnten Geburtstag ein Tagebuch geführt. Damals stand Hello Kitty auf dem Umschlag, und ein kleines Metallschloss sollte meine Brüder fernhalten. Diesmal jedoch war mir irgendwie klar, dass ich für jemanden schrieb. Aber für wen? Mein älteres Ich, damit ich mich später daran erinnern konnte, wer ich einmal war? Oder für Indra, für Jonah, für den Äther? Ich weiß es nicht. Aber mir fällt dazu Thomas Mallon ein, der mal gesagt hat: »Niemand führt ein Tagebuch nur für sich allein.« Offensichtlich hat er recht.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
... weniger
Autoren-Porträt von Suzanne Morrison
Suzanne Morrison ist 25 Jahre alt, als sie sich auf die Suche nach Erleuchtung begibt und beschließt, ihrer Yoga-Lehrerin für zwei Monate nach Bali zu folgen. Es werden die in jeder Hinsicht komischsten und außergewöhnlichsten Wochen ihres Lebens, aber sie verändern in der Tat alles. Zurück in Amerika bringt Morrison ihre Erlebnisse in dem Ein-Personen-Stück Yoga Bitch so erfolgreich auf die Bühne, dass sie sogar noch ein Buch daraus macht: Bin ich schon erleuchtet? Suzanne Morrison lebt derzeit als Autorin, Künstlerin und ewige Yoga-Lernende in Seattle.
Bibliographische Angaben
- Autor: Suzanne Morrison
- 2013, 3. Aufl., 368 Seiten, Maße: 12,9 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Maja Ueberle-Pfaff
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596187982
- ISBN-13: 9783596187980
- Erscheinungsdatum: 15.01.2013
Rezension zu „Bin ich schon erleuchtet? “
Köstliche Situationskomik, bewegend romantische Szenarien und eine große Portion Realitätssinn gepaart mit milder Selbstironie - ein guter Weg zur Erleuchtung. Die Zwiebel 20130201
Pressezitat
Köstliche Situationskomik, bewegend romantische Szenarien und eine große Portion Realitätssinn gepaart mit milder Selbstironie - ein guter Weg zur Erleuchtung. Die Zwiebel 20130201
Kommentar zu "Bin ich schon erleuchtet?"
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Bin ich schon erleuchtet?".
Kommentar verfassen