Bo
Roman. Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2014, Kategorie Jugendbuch
Eigentlich sollte sein Vater ihn abholen. Stattdessen steht der 13-jährige Benjamin nachts allein am Flughafen von Monrovia, Liberia. Ohne Pass und Gepäck, aber mit einem fremden Mantel voller Geldbündel... Rasant und mit waghalsiger Leichtigkeit erzählt...
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Buch
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Bo “
Eigentlich sollte sein Vater ihn abholen. Stattdessen steht der 13-jährige Benjamin nachts allein am Flughafen von Monrovia, Liberia. Ohne Pass und Gepäck, aber mit einem fremden Mantel voller Geldbündel... Rasant und mit waghalsiger Leichtigkeit erzählt Merkel von einer Reise durch die afrikanische Welt und das Erwachsenwerden. Ein Buch fürs Leben!
Klappentext zu „Bo “
Ein Roman wie ein Abenteuer. Ein Buch fürs Leben.Eigentlich sollte Benjamin von seinem Vater abgeholt werden. Aber stattdessen steht der Dreizehnjährige mitten in der Nacht allein am Flughafen von Monrovia. Ohne Pass und Gepäck, aber mit einem fremden Mantel, in dessen Taschen dicke Geldbündel stecken. Auf dem Weg in die Stadt wird er von zwielichtigen Gestalten verfolgt und steht plötzlich vor dem gleichaltrigen Bo und der wohlstandsverwöhnten Brilliant. Haben sie ihn schon erwartet?
Rainer Merkel, dessen letzter Roman auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, erzählt uns mit waghalsiger Leichtigkeit eine Reise durch die afrikanische Welt und das Erwachsenwerden, eine rasante Road-Novel in unsere unbekannte Gegenwart. Auf der Suche nach seinem Vater lernt Benjamin, wie man über sich hinaus wächst, und erlebt ein mitreißendes Abenteuer fürs Leben.
Lese-Probe zu „Bo “
Bo von Rainer MerkelI. Tausch
1.
Jetzt konnte Benjamin nicht länger warten. Er musste noch ein Stück weiterkriechen. Ein kleines Stück nur, er konnte den Zipfel der Tüte schon sehen. Direkt unter den Füßen der alten Frau. Einer ihrer Füße steckte in den blauen Wollsocken, die die Fluggesellschaft den Reisenden zur Verfügung gestellt hatte. Ihr blauer Fuß hielt die blaue Papiertüte fest, in der sich der Abschiedsbrief seiner Mutter und der hässliche khakifarbene Sommerhut befanden, den seine Mutter ihm am Flughafen in Frankfurt in letzter Sekunde gekauft hatte. Er musste also nur an der Tüte ziehen. Er musste nur noch ein kleines Stück weiterkriechen. Niemand sah ihm zu. Die Reisenden schliefen. Er kroch auf der Suche nach seiner Tüte zwischen den Stuhlreihen herum. Er hatte erst unter den hinteren Sitzreihen gesucht, dort, wo eigentlich niemand saß. Irgendwo musste die Tüte ja sein. Es war typisch für seine Mutter, dass er mit einer Papiertüte reisen musste. Seinen Rucksack hatten sie zu Hause vergessen, aber einen neuen wollte sie ihm nicht kaufen. Sie hatte ihm einfach die blaue Papiertüte gegeben, in der sich ein Pullover befand, den sie sich gekauft hatte, und in aller Eile seine Sachen, seinen Sonnenhut und den Abschiedsbrief hineingestopft. Benjamin war eingeschlafen. Als er aufwachte, war die Tüte weg. »Was steht in dem Abschiedsbrief drin?«, hatte er seine Mutter gefragt.
»Frag deinen Vater«, hatte sie gesagt. »Er ist für ihn, nicht für dich.«
Sein Vater würde ihn abholen. Er würde seinen Vater in wenigen Stunden am Flughafen in Monrovia begrüßen, und dann sollte er ihm einen Brief geben, in dem seine Mutter Auf Wiedersehen sagte.
... mehr
»Ich sage Auf Wiedersehen zu ihm«, hatte seine Mutter erklärt. »Aber du wirst bestimmt eine schöne Zeit dort haben. Sollen wir wetten?«
Die Tüte war weg. Es war eine blau glänzende, eigentlich sehr elegante Tüte, auf der in großer, goldener Schrift ZARA stand. Benjamin lief zuerst durch den schmalen Gang zwischen den Sitzreihen zum hinteren Ende des Flugzeugs. Es dröhnte und summte in seinen Ohren. Durch die kleinen, ovalen Fenster konnte man nichts sehen. Es war schwärzeste Nacht. Als er auf den Sitzen nichts gefunden hatte, durchsuchte er die Gepäckfächer. Das war nicht einfach. Er musste auf die Sitze steigen, um die Klappen zu öffnen. Auch die Stewardessen schienen zu schlafen, jedenfalls war keine von ihnen zu sehen. Hatte irgendjemand seine Tüte in einem der Gepäckfächer verstaut? Die Gepäckfächer sahen wie Mäuler aus. Große Mäuler von Tieren, die ins Flugzeug hineingekrochen waren und jetzt um einen leckeren Happen bettelten. Und all diese Mäuler waren leer. Er öffnete nacheinander alle Gepäckfächer im hinteren Teil des Flugzeugs, sie waren alle leer.
»Und warum willst du ihm Auf Wiedersehen sagen?«, hatte er seine Mutter gefragt.
»Weil ich genug von ihm habe«, hatte sie ihm geantwortet und ihm über die Haare gestrichen, als wollte sie sich bei ihm dafür entschuldigen, dass sie seinem Vater Auf Wiedersehen sagen musste. Jetzt aber war der Abschiedsbrief nicht mehr da. Benjamin suchte unter den Sitzen weiter. Er kroch den schmalen Gang zwischen den Sitzen entlang und tastete den Boden ab. Er war jetzt auch ein Tier, wenn auch ein kleines und stummes, das von niemandem gesehen werden durfte. Zum ersten Mal in seinem Leben flog er allein mit dem Flugzeug. Und auch in Afrika war er noch nie gewesen.
»Warum ist denn deine Mutter nicht mitgekommen?«, hatte die alte Frau gefragt, die neben ihm saß. Benjamin wusste nicht, was er antworten sollte. Er wollte irgendetwas sagen, er wollte sie anlügen und eine Geschichte erzählen, damit sie ihn in Ruhe ließe, aber ihm fiel keine Geschichte ein.
»Sie sagt eben Auf Wiedersehen.«
»Wer?«
»Meine Mutter. Sie hat mich geschickt, um ihm einen Brief zu geben.«
Die alte Frau schüttelte den Kopf. Sie war so alt, dass sie schon Enkelkinder haben musste, und bevor sie eingeschlafen war, hatte sie den alten, grauen Mantel mit dem Fischgrätenmuster auf ihren Beinen ausgebreitet, und dann waren nur noch ein paar komische Geräusche aus ihrem Mund gekommen. Benjamin hatte sie ganz fasziniert angestarrt, bis auch er eingeschlafen war. Aber warum hatte sie nur eine Socke an? Sie hatte die Schuhe ausgezogen und umständlich und langsam die Socken angezogen, die ihnen die Stewardessen in kleinen Plastiksäckchen überreicht hatten. Benjamin hatte auch Socken bekommen, sie aber in die Papiertüte gesteckt. Jetzt bekam er kalte Füße. Seine Schuhe standen unter seinem Sitz, er kroch langsam auf den blauen, wollenen Fuß der alten Frau zu. Der andere Fuß steckte noch in ihrem Schuh. Sie hatte also nur eine Socke angezogen, und mit dieser Socke stand sie jetzt auf seiner ZARA-Tüte, dem Sonnenhut, der furchtbar hässlich war, dem Pullover, den seine Mutter wieder umtauschen wollte, aber samt Quittung in der Tüte vergessen hatte, der herabgesetzt und trotzdem, wie seine Mutter fand, viel zu teuer gewesen war, und dem Abschiedsbrief, auf dem in krakeliger Schrift »Dr. Franz Pingel« stand, mit einem verwischten und eigentlich unleserlichen »Ping«. Denn seine Mutter hatte sich in der Eile seinen Füllfederhalter ausgeliehen und vergessen, dass die Tinte erst trocknen musste.
»Hast du einen ... Tintentod?«, hatte ihn seine Mutter gefragt.
»Einen ... Was?«, fragte Benjamin.
»Verstehst du nicht? Einen Tintenkiller?«
Er sah sie verständnislos an, und während er durch die Sicherheitsschleuse ging und sich nach seiner Mutter umdrehte, sah er, wie sie sich mit großen, aufgerissenen Augen an die Schultern fasste und mit ihrem Mund das Wort »Pullover « formte. Benjamin rechnete damit, dass sie ihm hinterherlaufen und ihn dazu zwingen würde, ihr den Pullover und die Quittung zuzuwerfen, während Hunderte von ungeduldigen Reisenden auf ihre Abfertigung warteten. Aber er schüttelte schnell den Kopf und formte mit seinem Mund die Worte »Ich weiß«, und dann: »Ich bringe ihn wieder mit.« Seine Mutter, er war sich darüber nicht ganz sicher, formte die Worte: »Aber die Quittung« oder »Vergiss die Quittung nicht!« Im Lippenlesen hatten er und seine Mutter eine große Meisterschaft entwickelt. Angefangen hatte es, als sich seine Mutter und sein Vater, wann immer sie sich sahen, und das war selten genug, nur noch anschrien, weswegen seine Mutter ihm zwischendurch zuflüsterte, dass er keine Angst haben oder besser gehen solle. Oft formte sie mit den Lippen dann nur noch die Worte »Geh jetzt besser«, und dann verließ Benjamin den Raum. Wie an Weihnachten vor zwei Jahren, das sie an der Ostsee verbracht hatten, als sein Vater seiner Mutter erklärt hatte, dass sie das Haus verkaufen müssten, weil seine Mutter so viele Schulden gemacht habe. »Vergiss die Quittung nicht«, formte ihr Mund, und sie griff sich immer wieder an die Schultern und faltete dann die Arme frierend zusammen, als wollte sie ihm noch einmal klarmachen, dass er jetzt drauf und dran war, einen zwar herabgesetzten, doch noch viel zu teuren Kaschmirpullover von ZARA mit nach Afrika zu nehmen, wo es, wie sein Vater gesagt hatte, so heiß war, dass man am besten nackt rumlaufe.
»Ich möchte mir einmal was Gutes tun«, hatte seine Mutter gesagt, als sie auf dem Weg zum Flughafen den Pullover kaufte. »Jetzt, wo ich von dir Abschied nehmen muss.«
»Aber ich komm doch zurück«, hatte er gesagt.
»Natürlich kommst du zurück«, hatte sie gesagt und ihn schnell umarmt. Aber irgendetwas stimmte nicht. Und es musste mit dem Brief und der Tüte zu tun haben. Benjamin hielt jetzt einen Moment inne, während er auf dem Teppichboden des Flugzeugs herumkroch wie ein Hund, der einen Knochen sucht. Er richtete sich auf. Vielleicht war es besser, wenn er den Brief und die Tüte nicht fand. Vielleicht war es ganz gut, wenn er sie überhaupt nicht mitnehmen würde nach Afrika, mit in die Sommerferien, die er mit seinem Vater in Monrovia, der Hauptstadt von Liberia, verbringen sollte, um endlich zu sehen, was sein Vater den ganzen Tag machte und wie er so lebte. Aber dann fielen ihm die hundert Dollar ein. Sie waren auch in der Tüte, und auf die hundert Dollar konnte er nicht verzichten.
»Ich hole dich ab«, hatte sein Vater am Telefon gesagt. »Wenn irgendwas schiefgeht, hast du die hundert Dollar.« Sein Vater hatte sie ihm schon an Weihnachten gegeben und ihm eingeschärft, seiner Mutter nichts davon zu sagen: »Es sind deine hundert Dollar, und du brauchst sie, wenn du mich besuchst. Wenn irgendwas schiefgeht.« Benjamin hatte die fünf Zwanzig- Dollar-Noten so zusammengerollt, dass sie wie eine Zigarette aussahen, dann ein Gummi darumgewickelt und sie in sein Federmäppchen gesteckt, das auch in der Tüte war. Im Federmäppchen waren sein Füllfederhalter und zwei Ersatzpatronen, um die seine Mutter auch Gummibänder gewickelt hatte, obwohl Benjamin das nicht leiden konnte und Gummibänder eigentlich hasste, und vor allem die seiner Mutter. Bevor sein Vater ihm ein ledernes Federmäppchen von seiner letzten Arbeitsstelle im Kongo mitgebracht hatte, hatte seine Mutter ihn eine Zeitlang davon zu überzeugen versucht, dass es ausreichte, wenn er seine Stifte für die Schule mit Gummis zusammenband und einfach in die Schultasche steckte, damit sie das Geld für ein neues Federmäppchen sparen konnten. So war seine Mutter. Sie kaufte Kaschmirpullover und vergaß sie in Papiertüten, in die sie Sonnenhüte und Sonnenmilch stopfte, weil sie Angst hatte, er könnte sich in der heißen afrikanischen Sonne verbrennen. Das Federmäppchen war auch in der Tüte. Also war der Füllfederhalter auch weg, und die Ersatzpatronen ebenfalls. Benjamin kroch weiter. Die blaue Socke der alten Frau thronte auf der Tüte wie ein blauer Elefant. Benjamin tastete sich vorwärts. Er streckte seine Hand aus. Der blaue Elefantenfuß zuckte ein bisschen. Benjamin zog an der Tüte, doch dann hatte er bloß die Folie, in der die Schlafdecken eingewickelt waren, in der Hand. Die alte Frau schreckte auf. Benjamin zog die Hand zurück. Er knüllte die Plastikfolie zusammen und kroch behände wie eine Katze zurück in die Reihe hinter seinem Sitz. Die alte Frau hustete.
»Was machst du denn da unten?«, fragte sie. Benjamin hustete auch. Husten, das war jetzt vielleicht das Beste, was man tun konnte.
»Nichts«, sagte er. Aber das war keine gute Antwort. Er hatte sich geirrt. Sie hatte die Tüte nicht. Vielleicht könnte er sie aber fragen, ob sie sie gesehen hatte. Die alte Frau stützte sich auf den Armlehnen auf, er konnte ihre alten, knochigen Hände sehen, wie sie bei ihrem Versuch, sich aufzurichten, zitterten. Als sie sich zu ihm drehte, sah er für einen Moment ihre wirren, weißen Haare im Schein der kleinen Leselampe. Sie sah aus wie eine Hexe. Nicht wie ein Elefant. Und er selbst war keine Katze, sondern von allen guten Geistern verlassen, wie sein Vater manchmal sagte, wenn er eine Erklärung dafür suchte, warum seine Frau zwanzig verschiedene Kaschmirpullover besaß, die sie nie anzog, damit die Pullover nicht kaputtgingen, während sie auf dem Bankkonto ein fettes Minus hatte, oder, wie sein Vater sagte, ein großes schwarzes Loch.
»Sie ist von allen guten Geistern verlassen«, hatte sein Vater am Telefon gesagt, »aber ich liebe sie. Warum kommt sie nicht mit? Sie hat mir versprochen, dass sie mitkommt.«
»Ich überrede sie«, hatte Benjamin gesagt.
»Versprochen?«
»Ja, versprochen«, hatte er gesagt, aber es hatte nicht geklappt. Stattdessen hatte sie ihm einen Abschiedsbrief mitgegeben. Und der war jetzt hier irgendwo in diesem Flugzeug, mit dem er nach Liberia flog, mitten in der Nacht.
Die großen, grauen Augen der alten Frau schauten ihn skeptisch an.
»Hast du geschlafen?«, fragte sie. Benjamin schüttelte den Kopf. Vielleicht sollte er ihr von der Tüte erzählen, ihr erklären, wie wertvoll die Tüte war oder das, was sich in ihr befand. Vielleicht hatte sie sie ja versehentlich eingesteckt. Aber dann traute er sich nicht. Und wozu auch? Außerdem schämte er sich, dass er, wie seine Mutter, ständig alles verlor.
»Komm, setz dich zu mir«, sagte die alte Frau mit ihrer eigenartigen mädchenhaften Stimme. Sie stopfte sich einen Keks in den Mund. Ihre knochige Hand winkte ihm zu. »Komm.« Sie duldete keinen Widerspruch. Benjamin zwängte sich an ihr vorbei und setzte sich auf seinen Platz neben dem Fenster.
»Wo waren wir stehengeblieben?«, fragte sie. Sie hatte ihm schon ihr ganzes Leben erzählt, schon in den ersten zwei oder drei Stunden nach dem Start. Und da hatte die Tüte noch zwischen seinen Füßen gelegen. Sie hatte ihm alles erzählt. Ihr Mann war Botschafter von Liberia gewesen, und sie hatte zwei Söhne, die aber beide tot waren. Ihr Mann war auch tot, eigentlich waren alle Menschen, die ihr etwas bedeuteten, gestorben.
»Die Leute reden mich immer noch mit Frau Botschafterin an«, sagte sie. »Aber wenn ich in Deutschland bin, kennt mich niemand. Weißt du, dass ich dort niemanden habe?« Sie beugte sich zu ihm herunter und grinste. Er verstand nicht, warum sie grinste. Sie deckte sich mit ihrem Mantel die Beine zu, aber dann wurde es ihr wieder zu warm, sie nahm den Mantel und legte ihn auf den Boden zu ihren Füßen. »Was hast du denn in der Tüte?«, hatte sie ihn gleich am Anfang gefragt. Sie hatte in ihrer kleinen, silbernen Handtasche nach ihrem Kamm gesucht, um sich die Haare zu kämmen. »Hilfst du mir, meinen Kamm zu suchen?«, fragte sie und gab ihm die silberne Handtasche. Sie hatte zwar eine Brille auf, aber sie sah nichts mehr. »Eigentlich bin ich blind«, erklärte sie, und dann grinste sie ihn wieder an. Benjamin nahm die Tasche und suchte nach dem Kamm. Es dauerte eine Weile, bis er ihn gefunden hatte. Es war ein großer Metallkamm. Er gab ihn ihr, und dann hatte sie sich die Haare gekämmt.
»Wo waren wir stehengeblieben?«, fragte sie jetzt wieder, während sie auf ihrem Sitz herumtastete, um die zweite blaue Socke zu suchen. »Habe ich dir schon von meinen Enkelkindern erzählt?« Benjamin schüttelte den Kopf. Er sah die blaue Socke. Sie steckte in der Gepäcktasche direkt vor ihm. Er griff nach ihr, und auf einmal hatte er eine Idee, wo die Tüte mit dem Abschiedsbrief sein konnte. Es war eine Idee, die ihn beruhigte und gleichzeitig beunruhigte.
»Kann ich kurz aufstehen?«, fragte er.
»Du willst aufstehen?«, fragte die Botschafterin. Sie legte ihre knochige Hand auf seinen Unterarm. Die Hand war auf einmal so schwer wie ein Stein.
»Ja, ich wollte nur ... Ich suche meine Tüte. Ich glaube, ich habe sie auf der Toilette vergessen.«
»Nein, das geht jetzt nicht.« Sie schüttelte ihren Kopf. Ihre schlohweißen, strubbeligen Haare fielen ihr ins Gesicht. Sie muss sie wieder kämmen, dachte Benjamin. »Du bleibst schön hier. Du lässt mich jetzt doch nicht allein.« Benjamin nickte. Er drehte sich um. Er würde die Tüte später holen, dachte er, solange sie noch in der Luft waren, konnte ja nichts passieren. Er versuchte sich zu beruhigen.
»Soll ich dir sagen, wie sie heißen?«
»Wer?«
»Meine Enkelkinder ... Weißt du, dass eines meiner Enkelkinder Brilliant heißt?« Sie kicherte. »Und das andere heißt Sternchen. Und dann habe ich noch eins ... ja ... das heißt Gemütlich. « Sie lachte. »Natürlich auf Englisch.«
Benjamin nickte.
»Kannst du Englisch?«
»Ja«, sagte Benjamin. Er sprach sehr gut Englisch, das lag an seiner Mutter. Seine Eltern hatten sich immer darüber gestritten, ob sie zu Hause Englisch oder Deutsch sprechen sollten, als er noch in Donnybrook, im Süden Dublins, auf die Schule gegangen war. Sein Vater war für Deutsch, seine Mutter war für Englisch.
»Das ist ja toll«, sagte die Botschafterin, die aus Wuppertal kam, aber die meiste Zeit ihres Lebens in Liberia gelebt hatte, »dann sprechen wir von jetzt an auf Englisch weiter.«
Benjamin dachte an seine Tüte. Er dachte auf einmal: Wenn ich sie finde, dann nehme ich den Brief und mache ihn auf. Er schaute die alte Frau an. Sie fuhr sich selbstverloren mit den knochigen Fingern durch die langen, weißen Haare. Es sah so aus, als bildeten ihre Finger einen Kamm. Sie erzählte von ihren Enkelkindern, ihren komischen Namen und wie sie alle im Haus ihrer Schwiegertochter auf dem Boden liegen und schlafen würden, denn die afrikanischen Kinder schliefen überall da, wo es ihnen gerade gefiel.
»Aber ich schimpfe dann immer mit ihnen. Sie liegen einfach auf dem Steinboden, und das ist doch viel zu kalt. Ich hab schon gedacht, dass du auch ein afrikanisches Kind bist, als ich dich da eben auf dem Fußboden gesehen habe.«
»Ich hab nicht auf dem Fußboden gelegen«, protestierte Benjamin.
»Wie alt bist du denn?«, fragte sie.
»Vierzehn«, sagte er schnell, aber das war gelogen, und er wunderte sich, wie er auf einmal ganz leicht und ohne Anstrengung lügen konnte.
»Und dann darfst du schon ganz allein reisen?«
»Ab zwölf darf man das schon«, erklärte er ihr feierlich. Seine Mutter hatte sich eigens erkundigt. Mit zwölf war es erlaubt, und schließlich war er vor ein paar Monaten dreizehn geworden.
»Und dann lassen sie dich ganz allein nach Liberia fliegen?«
»Ganz allein«, erwiderte er stolz.
»Und du bist wirklich schon vierzehn?«, fragte sie. Sie sah ihn von der Seite an.
»Ich bin gerade vierzehn geworden«, sagte er und überlegte, ob er nicht doch besser die Wahrheit sagen sollte. Irgendetwas veränderte sich. Irgendetwas fühlte sich ganz komisch an.
Und dann fiel ihm sein Pass ein. Sein Pass war auch in der Tüte. Sein Reisepass. Ausgestellt auf den Namen Benjamin Pingel-Greenhammer. Ein Name, den man auf den Schulhöfen dieser Welt besser nicht zum Besten gab. Jetzt bekam er es auf einmal mit der Angst zu tun. Ohne Pass würde er ja gar nicht in das Land hineinkommen. Ohne Pass würden sie ihn gleich wieder zurückschicken. Er musste aufstehen, er musste zur Stewardess.
»Ich muss jetzt wirklich ...«, sagte er. »Ich muss meine Tüte holen.«
»Wie kann man denn so ungeduldig sein«, beklagte sich die alte Frau. »Wir Deutschen sind einfach zu ungeduldig. Du bist ja auch schon so. Wir unterhalten uns doch gerade.«
Er wusste nicht, was er sagen sollte.
»Du kannst deine Tüte auch später holen«, sagte sie.
Er war schon halb aufgestanden. Jetzt setzte er sich wieder hin. Er hörte ihr zu. Er hörte die Stimme der alten Frau, wie sie von ihrem erstgeborenen Sohn erzählte und wie der damals, als ihr Mann noch gelebt hatte, im Auftrag des liberianischen Präsidenten nach Amerika geflogen war, um ein Flugzeug zu kaufen.
»So war das damals«, sagte sie und kämmte sich mit ihren langen Fingern die Haare. Im Licht der Leselampe konnte Benjamin die bräunlichen Altersflecken auf ihrer Hand sehen. Er starrte die Hand an. Er dachte an seine Tüte, den Abschiedsbrief, den Pass, das Geld und den Sonnenhut. Wenn man genau hinschaute, sahen die braunen Flecken so aus, als würde im Inneren der Hand ein Käfer hocken, der mit seinem trompetenartigen Rüssel das Blut aufsaugte und dann wieder ausspuckte, so dass auf der Hautoberfläche überall, wo er hingespuckt hatte, braune Flecken waren. Benjamin starrte auf die Hand der alten Frau. Er ekelte sich ein bisschen.
»Der Präsident hatte damals kein eigenes Flugzeug«, erklärte die alte Frau. »Und mein Sohn sollte eins kaufen.«
Benjamin drehte sich um. Er musste die Tüte finden, bevor das Flugzeug zur Landung ansetzte. Jeden Moment konnte die Ansage kommen, dass sie sich anschnallen mussten, und dann durfte man nicht mehr aufstehen.
»Und was macht mein Sohn? Er setzt sich ins Flugzeug, fliegt nach Amerika und kauft die Maschine.« Sie breitete ihre Hände aus, als wären sie Tragflächen.
»Und jetzt ist er tot?«, fragte Benjamin.
»Er ist bei einem Verkehrsunfall gestorben«, sagte sie beinahe etwas stolz. »Aber nicht in Liberia, sondern in Deutschland. « Sie schüttelte den Kopf. »In Liberia kann man nicht sterben.«
»Wieso?«
»Wieso?« Sie lachte. »Na, weil man in Liberia nicht sterben kann. Wusstest du das nicht? Sieh mich doch an, warum, glaubst du, fliege ich immer wieder zurück? Warum lebe ich noch immer in diesem heißen, schrecklichen Land?« Sie beugte sich zu ihm herunter. Er bemerkte einen etwas komischen Geruch. Sie roch wie ein Schrank, wie ein alter Schrank, in dem viele Kleider hingen, die niemand mehr tragen wollte.
»Wirklich?«, fragte Benjamin.
»Ganz bestimmt«, sagte sie. »Es ist unmöglich. Solange du weiß bist.« Sie strich sich eine Haarsträhne zurück. »Weiß musst du schon sein.« Sie grinste und schaute ihn an. »Du bist doch weiß, oder?« Das Licht fiel auf ihre magere Nase, die so aussah, als könnte sie jederzeit abbrechen und ihr aus dem Gesicht fallen.
»Du bist sehr weiß«, flüsterte sie, hob ihre rechte Hand und fuhr ihm vorsichtig über die Schläfe. »Du siehst aus wie mein erstgeborener Sohn.« Benjamin schauderte es.
»Ich hab ein Geschenk.« Sie beugte sich vor. »Wo ist meine Tasche?« Sie griff nach ihrer Reisetasche, die sie auf den freien Sitz neben sich gestellt hatte. Benjamin glaubte auf einmal seine Tüte zu sehen, aber das konnte unmöglich sein, sie würde sie doch nicht so einfach in ihre Tasche stecken. Wahrscheinlich täuschte er sich. Er sollte vielleicht lieber schlafen, wenn er so müde war.
»Ich zeige es dir.« Sie kramte in ihrer Tasche herum und holte einen Gummiball heraus. »Hier«, sagte sie, »probier mal aus.«
Benjamin nahm den Gummiball und betrachtete ihn.
»Du musst aufstehen. Los!«
Er stand auf und ging auf den Gang.
»Und jetzt«, sagte sie, »lass ihn fallen und mach die Augen zu.« Sie war ganz aufgeregt, ihre Augen leuchteten, ihr ganzes Gesicht vibrierte. Und als Benjamin den Ball fallen gelassen hatte und die Augen wieder öffnete, sah er, was sie gemeint hatte. Der Gummiball tänzelte vor seinen Augen durch den Gang im Halbdunkel des Flugzeugbauches, und jedes Mal, wenn er den Boden berührte, leuchtete er in zahllosen Farben auf und erstrahlte wie eine große magische Kugel. Er leuchtete violett, grün und rot und orange. Die Farben zuckten und tanzten vor ihm, als würden Hunderte von Sonnen auf- und untergehen, und Benjamin beobachtete, wie der Ball durch den Flugzeugbauch sprang und sich immer mehr entfernte.
Die Maschine neigte sich etwas. Mit Schrecken dachte Benjamin, dass sie in Kürze landen würden. Er hörte ein Knistern in den Lautsprechern und schaute gebannt dem leuchtenden Ball hinterher, wie er auf- und abspringend durch den Gang tanzte.
»Los«, flüsterte die alte Frau, »hinterher. Bring ihn mir zurück. «
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
»Ich sage Auf Wiedersehen zu ihm«, hatte seine Mutter erklärt. »Aber du wirst bestimmt eine schöne Zeit dort haben. Sollen wir wetten?«
Die Tüte war weg. Es war eine blau glänzende, eigentlich sehr elegante Tüte, auf der in großer, goldener Schrift ZARA stand. Benjamin lief zuerst durch den schmalen Gang zwischen den Sitzreihen zum hinteren Ende des Flugzeugs. Es dröhnte und summte in seinen Ohren. Durch die kleinen, ovalen Fenster konnte man nichts sehen. Es war schwärzeste Nacht. Als er auf den Sitzen nichts gefunden hatte, durchsuchte er die Gepäckfächer. Das war nicht einfach. Er musste auf die Sitze steigen, um die Klappen zu öffnen. Auch die Stewardessen schienen zu schlafen, jedenfalls war keine von ihnen zu sehen. Hatte irgendjemand seine Tüte in einem der Gepäckfächer verstaut? Die Gepäckfächer sahen wie Mäuler aus. Große Mäuler von Tieren, die ins Flugzeug hineingekrochen waren und jetzt um einen leckeren Happen bettelten. Und all diese Mäuler waren leer. Er öffnete nacheinander alle Gepäckfächer im hinteren Teil des Flugzeugs, sie waren alle leer.
»Und warum willst du ihm Auf Wiedersehen sagen?«, hatte er seine Mutter gefragt.
»Weil ich genug von ihm habe«, hatte sie ihm geantwortet und ihm über die Haare gestrichen, als wollte sie sich bei ihm dafür entschuldigen, dass sie seinem Vater Auf Wiedersehen sagen musste. Jetzt aber war der Abschiedsbrief nicht mehr da. Benjamin suchte unter den Sitzen weiter. Er kroch den schmalen Gang zwischen den Sitzen entlang und tastete den Boden ab. Er war jetzt auch ein Tier, wenn auch ein kleines und stummes, das von niemandem gesehen werden durfte. Zum ersten Mal in seinem Leben flog er allein mit dem Flugzeug. Und auch in Afrika war er noch nie gewesen.
»Warum ist denn deine Mutter nicht mitgekommen?«, hatte die alte Frau gefragt, die neben ihm saß. Benjamin wusste nicht, was er antworten sollte. Er wollte irgendetwas sagen, er wollte sie anlügen und eine Geschichte erzählen, damit sie ihn in Ruhe ließe, aber ihm fiel keine Geschichte ein.
»Sie sagt eben Auf Wiedersehen.«
»Wer?«
»Meine Mutter. Sie hat mich geschickt, um ihm einen Brief zu geben.«
Die alte Frau schüttelte den Kopf. Sie war so alt, dass sie schon Enkelkinder haben musste, und bevor sie eingeschlafen war, hatte sie den alten, grauen Mantel mit dem Fischgrätenmuster auf ihren Beinen ausgebreitet, und dann waren nur noch ein paar komische Geräusche aus ihrem Mund gekommen. Benjamin hatte sie ganz fasziniert angestarrt, bis auch er eingeschlafen war. Aber warum hatte sie nur eine Socke an? Sie hatte die Schuhe ausgezogen und umständlich und langsam die Socken angezogen, die ihnen die Stewardessen in kleinen Plastiksäckchen überreicht hatten. Benjamin hatte auch Socken bekommen, sie aber in die Papiertüte gesteckt. Jetzt bekam er kalte Füße. Seine Schuhe standen unter seinem Sitz, er kroch langsam auf den blauen, wollenen Fuß der alten Frau zu. Der andere Fuß steckte noch in ihrem Schuh. Sie hatte also nur eine Socke angezogen, und mit dieser Socke stand sie jetzt auf seiner ZARA-Tüte, dem Sonnenhut, der furchtbar hässlich war, dem Pullover, den seine Mutter wieder umtauschen wollte, aber samt Quittung in der Tüte vergessen hatte, der herabgesetzt und trotzdem, wie seine Mutter fand, viel zu teuer gewesen war, und dem Abschiedsbrief, auf dem in krakeliger Schrift »Dr. Franz Pingel« stand, mit einem verwischten und eigentlich unleserlichen »Ping«. Denn seine Mutter hatte sich in der Eile seinen Füllfederhalter ausgeliehen und vergessen, dass die Tinte erst trocknen musste.
»Hast du einen ... Tintentod?«, hatte ihn seine Mutter gefragt.
»Einen ... Was?«, fragte Benjamin.
»Verstehst du nicht? Einen Tintenkiller?«
Er sah sie verständnislos an, und während er durch die Sicherheitsschleuse ging und sich nach seiner Mutter umdrehte, sah er, wie sie sich mit großen, aufgerissenen Augen an die Schultern fasste und mit ihrem Mund das Wort »Pullover « formte. Benjamin rechnete damit, dass sie ihm hinterherlaufen und ihn dazu zwingen würde, ihr den Pullover und die Quittung zuzuwerfen, während Hunderte von ungeduldigen Reisenden auf ihre Abfertigung warteten. Aber er schüttelte schnell den Kopf und formte mit seinem Mund die Worte »Ich weiß«, und dann: »Ich bringe ihn wieder mit.« Seine Mutter, er war sich darüber nicht ganz sicher, formte die Worte: »Aber die Quittung« oder »Vergiss die Quittung nicht!« Im Lippenlesen hatten er und seine Mutter eine große Meisterschaft entwickelt. Angefangen hatte es, als sich seine Mutter und sein Vater, wann immer sie sich sahen, und das war selten genug, nur noch anschrien, weswegen seine Mutter ihm zwischendurch zuflüsterte, dass er keine Angst haben oder besser gehen solle. Oft formte sie mit den Lippen dann nur noch die Worte »Geh jetzt besser«, und dann verließ Benjamin den Raum. Wie an Weihnachten vor zwei Jahren, das sie an der Ostsee verbracht hatten, als sein Vater seiner Mutter erklärt hatte, dass sie das Haus verkaufen müssten, weil seine Mutter so viele Schulden gemacht habe. »Vergiss die Quittung nicht«, formte ihr Mund, und sie griff sich immer wieder an die Schultern und faltete dann die Arme frierend zusammen, als wollte sie ihm noch einmal klarmachen, dass er jetzt drauf und dran war, einen zwar herabgesetzten, doch noch viel zu teuren Kaschmirpullover von ZARA mit nach Afrika zu nehmen, wo es, wie sein Vater gesagt hatte, so heiß war, dass man am besten nackt rumlaufe.
»Ich möchte mir einmal was Gutes tun«, hatte seine Mutter gesagt, als sie auf dem Weg zum Flughafen den Pullover kaufte. »Jetzt, wo ich von dir Abschied nehmen muss.«
»Aber ich komm doch zurück«, hatte er gesagt.
»Natürlich kommst du zurück«, hatte sie gesagt und ihn schnell umarmt. Aber irgendetwas stimmte nicht. Und es musste mit dem Brief und der Tüte zu tun haben. Benjamin hielt jetzt einen Moment inne, während er auf dem Teppichboden des Flugzeugs herumkroch wie ein Hund, der einen Knochen sucht. Er richtete sich auf. Vielleicht war es besser, wenn er den Brief und die Tüte nicht fand. Vielleicht war es ganz gut, wenn er sie überhaupt nicht mitnehmen würde nach Afrika, mit in die Sommerferien, die er mit seinem Vater in Monrovia, der Hauptstadt von Liberia, verbringen sollte, um endlich zu sehen, was sein Vater den ganzen Tag machte und wie er so lebte. Aber dann fielen ihm die hundert Dollar ein. Sie waren auch in der Tüte, und auf die hundert Dollar konnte er nicht verzichten.
»Ich hole dich ab«, hatte sein Vater am Telefon gesagt. »Wenn irgendwas schiefgeht, hast du die hundert Dollar.« Sein Vater hatte sie ihm schon an Weihnachten gegeben und ihm eingeschärft, seiner Mutter nichts davon zu sagen: »Es sind deine hundert Dollar, und du brauchst sie, wenn du mich besuchst. Wenn irgendwas schiefgeht.« Benjamin hatte die fünf Zwanzig- Dollar-Noten so zusammengerollt, dass sie wie eine Zigarette aussahen, dann ein Gummi darumgewickelt und sie in sein Federmäppchen gesteckt, das auch in der Tüte war. Im Federmäppchen waren sein Füllfederhalter und zwei Ersatzpatronen, um die seine Mutter auch Gummibänder gewickelt hatte, obwohl Benjamin das nicht leiden konnte und Gummibänder eigentlich hasste, und vor allem die seiner Mutter. Bevor sein Vater ihm ein ledernes Federmäppchen von seiner letzten Arbeitsstelle im Kongo mitgebracht hatte, hatte seine Mutter ihn eine Zeitlang davon zu überzeugen versucht, dass es ausreichte, wenn er seine Stifte für die Schule mit Gummis zusammenband und einfach in die Schultasche steckte, damit sie das Geld für ein neues Federmäppchen sparen konnten. So war seine Mutter. Sie kaufte Kaschmirpullover und vergaß sie in Papiertüten, in die sie Sonnenhüte und Sonnenmilch stopfte, weil sie Angst hatte, er könnte sich in der heißen afrikanischen Sonne verbrennen. Das Federmäppchen war auch in der Tüte. Also war der Füllfederhalter auch weg, und die Ersatzpatronen ebenfalls. Benjamin kroch weiter. Die blaue Socke der alten Frau thronte auf der Tüte wie ein blauer Elefant. Benjamin tastete sich vorwärts. Er streckte seine Hand aus. Der blaue Elefantenfuß zuckte ein bisschen. Benjamin zog an der Tüte, doch dann hatte er bloß die Folie, in der die Schlafdecken eingewickelt waren, in der Hand. Die alte Frau schreckte auf. Benjamin zog die Hand zurück. Er knüllte die Plastikfolie zusammen und kroch behände wie eine Katze zurück in die Reihe hinter seinem Sitz. Die alte Frau hustete.
»Was machst du denn da unten?«, fragte sie. Benjamin hustete auch. Husten, das war jetzt vielleicht das Beste, was man tun konnte.
»Nichts«, sagte er. Aber das war keine gute Antwort. Er hatte sich geirrt. Sie hatte die Tüte nicht. Vielleicht könnte er sie aber fragen, ob sie sie gesehen hatte. Die alte Frau stützte sich auf den Armlehnen auf, er konnte ihre alten, knochigen Hände sehen, wie sie bei ihrem Versuch, sich aufzurichten, zitterten. Als sie sich zu ihm drehte, sah er für einen Moment ihre wirren, weißen Haare im Schein der kleinen Leselampe. Sie sah aus wie eine Hexe. Nicht wie ein Elefant. Und er selbst war keine Katze, sondern von allen guten Geistern verlassen, wie sein Vater manchmal sagte, wenn er eine Erklärung dafür suchte, warum seine Frau zwanzig verschiedene Kaschmirpullover besaß, die sie nie anzog, damit die Pullover nicht kaputtgingen, während sie auf dem Bankkonto ein fettes Minus hatte, oder, wie sein Vater sagte, ein großes schwarzes Loch.
»Sie ist von allen guten Geistern verlassen«, hatte sein Vater am Telefon gesagt, »aber ich liebe sie. Warum kommt sie nicht mit? Sie hat mir versprochen, dass sie mitkommt.«
»Ich überrede sie«, hatte Benjamin gesagt.
»Versprochen?«
»Ja, versprochen«, hatte er gesagt, aber es hatte nicht geklappt. Stattdessen hatte sie ihm einen Abschiedsbrief mitgegeben. Und der war jetzt hier irgendwo in diesem Flugzeug, mit dem er nach Liberia flog, mitten in der Nacht.
Die großen, grauen Augen der alten Frau schauten ihn skeptisch an.
»Hast du geschlafen?«, fragte sie. Benjamin schüttelte den Kopf. Vielleicht sollte er ihr von der Tüte erzählen, ihr erklären, wie wertvoll die Tüte war oder das, was sich in ihr befand. Vielleicht hatte sie sie ja versehentlich eingesteckt. Aber dann traute er sich nicht. Und wozu auch? Außerdem schämte er sich, dass er, wie seine Mutter, ständig alles verlor.
»Komm, setz dich zu mir«, sagte die alte Frau mit ihrer eigenartigen mädchenhaften Stimme. Sie stopfte sich einen Keks in den Mund. Ihre knochige Hand winkte ihm zu. »Komm.« Sie duldete keinen Widerspruch. Benjamin zwängte sich an ihr vorbei und setzte sich auf seinen Platz neben dem Fenster.
»Wo waren wir stehengeblieben?«, fragte sie. Sie hatte ihm schon ihr ganzes Leben erzählt, schon in den ersten zwei oder drei Stunden nach dem Start. Und da hatte die Tüte noch zwischen seinen Füßen gelegen. Sie hatte ihm alles erzählt. Ihr Mann war Botschafter von Liberia gewesen, und sie hatte zwei Söhne, die aber beide tot waren. Ihr Mann war auch tot, eigentlich waren alle Menschen, die ihr etwas bedeuteten, gestorben.
»Die Leute reden mich immer noch mit Frau Botschafterin an«, sagte sie. »Aber wenn ich in Deutschland bin, kennt mich niemand. Weißt du, dass ich dort niemanden habe?« Sie beugte sich zu ihm herunter und grinste. Er verstand nicht, warum sie grinste. Sie deckte sich mit ihrem Mantel die Beine zu, aber dann wurde es ihr wieder zu warm, sie nahm den Mantel und legte ihn auf den Boden zu ihren Füßen. »Was hast du denn in der Tüte?«, hatte sie ihn gleich am Anfang gefragt. Sie hatte in ihrer kleinen, silbernen Handtasche nach ihrem Kamm gesucht, um sich die Haare zu kämmen. »Hilfst du mir, meinen Kamm zu suchen?«, fragte sie und gab ihm die silberne Handtasche. Sie hatte zwar eine Brille auf, aber sie sah nichts mehr. »Eigentlich bin ich blind«, erklärte sie, und dann grinste sie ihn wieder an. Benjamin nahm die Tasche und suchte nach dem Kamm. Es dauerte eine Weile, bis er ihn gefunden hatte. Es war ein großer Metallkamm. Er gab ihn ihr, und dann hatte sie sich die Haare gekämmt.
»Wo waren wir stehengeblieben?«, fragte sie jetzt wieder, während sie auf ihrem Sitz herumtastete, um die zweite blaue Socke zu suchen. »Habe ich dir schon von meinen Enkelkindern erzählt?« Benjamin schüttelte den Kopf. Er sah die blaue Socke. Sie steckte in der Gepäcktasche direkt vor ihm. Er griff nach ihr, und auf einmal hatte er eine Idee, wo die Tüte mit dem Abschiedsbrief sein konnte. Es war eine Idee, die ihn beruhigte und gleichzeitig beunruhigte.
»Kann ich kurz aufstehen?«, fragte er.
»Du willst aufstehen?«, fragte die Botschafterin. Sie legte ihre knochige Hand auf seinen Unterarm. Die Hand war auf einmal so schwer wie ein Stein.
»Ja, ich wollte nur ... Ich suche meine Tüte. Ich glaube, ich habe sie auf der Toilette vergessen.«
»Nein, das geht jetzt nicht.« Sie schüttelte ihren Kopf. Ihre schlohweißen, strubbeligen Haare fielen ihr ins Gesicht. Sie muss sie wieder kämmen, dachte Benjamin. »Du bleibst schön hier. Du lässt mich jetzt doch nicht allein.« Benjamin nickte. Er drehte sich um. Er würde die Tüte später holen, dachte er, solange sie noch in der Luft waren, konnte ja nichts passieren. Er versuchte sich zu beruhigen.
»Soll ich dir sagen, wie sie heißen?«
»Wer?«
»Meine Enkelkinder ... Weißt du, dass eines meiner Enkelkinder Brilliant heißt?« Sie kicherte. »Und das andere heißt Sternchen. Und dann habe ich noch eins ... ja ... das heißt Gemütlich. « Sie lachte. »Natürlich auf Englisch.«
Benjamin nickte.
»Kannst du Englisch?«
»Ja«, sagte Benjamin. Er sprach sehr gut Englisch, das lag an seiner Mutter. Seine Eltern hatten sich immer darüber gestritten, ob sie zu Hause Englisch oder Deutsch sprechen sollten, als er noch in Donnybrook, im Süden Dublins, auf die Schule gegangen war. Sein Vater war für Deutsch, seine Mutter war für Englisch.
»Das ist ja toll«, sagte die Botschafterin, die aus Wuppertal kam, aber die meiste Zeit ihres Lebens in Liberia gelebt hatte, »dann sprechen wir von jetzt an auf Englisch weiter.«
Benjamin dachte an seine Tüte. Er dachte auf einmal: Wenn ich sie finde, dann nehme ich den Brief und mache ihn auf. Er schaute die alte Frau an. Sie fuhr sich selbstverloren mit den knochigen Fingern durch die langen, weißen Haare. Es sah so aus, als bildeten ihre Finger einen Kamm. Sie erzählte von ihren Enkelkindern, ihren komischen Namen und wie sie alle im Haus ihrer Schwiegertochter auf dem Boden liegen und schlafen würden, denn die afrikanischen Kinder schliefen überall da, wo es ihnen gerade gefiel.
»Aber ich schimpfe dann immer mit ihnen. Sie liegen einfach auf dem Steinboden, und das ist doch viel zu kalt. Ich hab schon gedacht, dass du auch ein afrikanisches Kind bist, als ich dich da eben auf dem Fußboden gesehen habe.«
»Ich hab nicht auf dem Fußboden gelegen«, protestierte Benjamin.
»Wie alt bist du denn?«, fragte sie.
»Vierzehn«, sagte er schnell, aber das war gelogen, und er wunderte sich, wie er auf einmal ganz leicht und ohne Anstrengung lügen konnte.
»Und dann darfst du schon ganz allein reisen?«
»Ab zwölf darf man das schon«, erklärte er ihr feierlich. Seine Mutter hatte sich eigens erkundigt. Mit zwölf war es erlaubt, und schließlich war er vor ein paar Monaten dreizehn geworden.
»Und dann lassen sie dich ganz allein nach Liberia fliegen?«
»Ganz allein«, erwiderte er stolz.
»Und du bist wirklich schon vierzehn?«, fragte sie. Sie sah ihn von der Seite an.
»Ich bin gerade vierzehn geworden«, sagte er und überlegte, ob er nicht doch besser die Wahrheit sagen sollte. Irgendetwas veränderte sich. Irgendetwas fühlte sich ganz komisch an.
Und dann fiel ihm sein Pass ein. Sein Pass war auch in der Tüte. Sein Reisepass. Ausgestellt auf den Namen Benjamin Pingel-Greenhammer. Ein Name, den man auf den Schulhöfen dieser Welt besser nicht zum Besten gab. Jetzt bekam er es auf einmal mit der Angst zu tun. Ohne Pass würde er ja gar nicht in das Land hineinkommen. Ohne Pass würden sie ihn gleich wieder zurückschicken. Er musste aufstehen, er musste zur Stewardess.
»Ich muss jetzt wirklich ...«, sagte er. »Ich muss meine Tüte holen.«
»Wie kann man denn so ungeduldig sein«, beklagte sich die alte Frau. »Wir Deutschen sind einfach zu ungeduldig. Du bist ja auch schon so. Wir unterhalten uns doch gerade.«
Er wusste nicht, was er sagen sollte.
»Du kannst deine Tüte auch später holen«, sagte sie.
Er war schon halb aufgestanden. Jetzt setzte er sich wieder hin. Er hörte ihr zu. Er hörte die Stimme der alten Frau, wie sie von ihrem erstgeborenen Sohn erzählte und wie der damals, als ihr Mann noch gelebt hatte, im Auftrag des liberianischen Präsidenten nach Amerika geflogen war, um ein Flugzeug zu kaufen.
»So war das damals«, sagte sie und kämmte sich mit ihren langen Fingern die Haare. Im Licht der Leselampe konnte Benjamin die bräunlichen Altersflecken auf ihrer Hand sehen. Er starrte die Hand an. Er dachte an seine Tüte, den Abschiedsbrief, den Pass, das Geld und den Sonnenhut. Wenn man genau hinschaute, sahen die braunen Flecken so aus, als würde im Inneren der Hand ein Käfer hocken, der mit seinem trompetenartigen Rüssel das Blut aufsaugte und dann wieder ausspuckte, so dass auf der Hautoberfläche überall, wo er hingespuckt hatte, braune Flecken waren. Benjamin starrte auf die Hand der alten Frau. Er ekelte sich ein bisschen.
»Der Präsident hatte damals kein eigenes Flugzeug«, erklärte die alte Frau. »Und mein Sohn sollte eins kaufen.«
Benjamin drehte sich um. Er musste die Tüte finden, bevor das Flugzeug zur Landung ansetzte. Jeden Moment konnte die Ansage kommen, dass sie sich anschnallen mussten, und dann durfte man nicht mehr aufstehen.
»Und was macht mein Sohn? Er setzt sich ins Flugzeug, fliegt nach Amerika und kauft die Maschine.« Sie breitete ihre Hände aus, als wären sie Tragflächen.
»Und jetzt ist er tot?«, fragte Benjamin.
»Er ist bei einem Verkehrsunfall gestorben«, sagte sie beinahe etwas stolz. »Aber nicht in Liberia, sondern in Deutschland. « Sie schüttelte den Kopf. »In Liberia kann man nicht sterben.«
»Wieso?«
»Wieso?« Sie lachte. »Na, weil man in Liberia nicht sterben kann. Wusstest du das nicht? Sieh mich doch an, warum, glaubst du, fliege ich immer wieder zurück? Warum lebe ich noch immer in diesem heißen, schrecklichen Land?« Sie beugte sich zu ihm herunter. Er bemerkte einen etwas komischen Geruch. Sie roch wie ein Schrank, wie ein alter Schrank, in dem viele Kleider hingen, die niemand mehr tragen wollte.
»Wirklich?«, fragte Benjamin.
»Ganz bestimmt«, sagte sie. »Es ist unmöglich. Solange du weiß bist.« Sie strich sich eine Haarsträhne zurück. »Weiß musst du schon sein.« Sie grinste und schaute ihn an. »Du bist doch weiß, oder?« Das Licht fiel auf ihre magere Nase, die so aussah, als könnte sie jederzeit abbrechen und ihr aus dem Gesicht fallen.
»Du bist sehr weiß«, flüsterte sie, hob ihre rechte Hand und fuhr ihm vorsichtig über die Schläfe. »Du siehst aus wie mein erstgeborener Sohn.« Benjamin schauderte es.
»Ich hab ein Geschenk.« Sie beugte sich vor. »Wo ist meine Tasche?« Sie griff nach ihrer Reisetasche, die sie auf den freien Sitz neben sich gestellt hatte. Benjamin glaubte auf einmal seine Tüte zu sehen, aber das konnte unmöglich sein, sie würde sie doch nicht so einfach in ihre Tasche stecken. Wahrscheinlich täuschte er sich. Er sollte vielleicht lieber schlafen, wenn er so müde war.
»Ich zeige es dir.« Sie kramte in ihrer Tasche herum und holte einen Gummiball heraus. »Hier«, sagte sie, »probier mal aus.«
Benjamin nahm den Gummiball und betrachtete ihn.
»Du musst aufstehen. Los!«
Er stand auf und ging auf den Gang.
»Und jetzt«, sagte sie, »lass ihn fallen und mach die Augen zu.« Sie war ganz aufgeregt, ihre Augen leuchteten, ihr ganzes Gesicht vibrierte. Und als Benjamin den Ball fallen gelassen hatte und die Augen wieder öffnete, sah er, was sie gemeint hatte. Der Gummiball tänzelte vor seinen Augen durch den Gang im Halbdunkel des Flugzeugbauches, und jedes Mal, wenn er den Boden berührte, leuchtete er in zahllosen Farben auf und erstrahlte wie eine große magische Kugel. Er leuchtete violett, grün und rot und orange. Die Farben zuckten und tanzten vor ihm, als würden Hunderte von Sonnen auf- und untergehen, und Benjamin beobachtete, wie der Ball durch den Flugzeugbauch sprang und sich immer mehr entfernte.
Die Maschine neigte sich etwas. Mit Schrecken dachte Benjamin, dass sie in Kürze landen würden. Er hörte ein Knistern in den Lautsprechern und schaute gebannt dem leuchtenden Ball hinterher, wie er auf- und abspringend durch den Gang tanzte.
»Los«, flüsterte die alte Frau, »hinterher. Bring ihn mir zurück. «
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Autoren-Porträt von Rainer Merkel
Rainer Merkel, geb. 1964 in Köln, hat Psychologie und Kunstgeschichte studiert und lebt als freier Schriftsteller in Berlin und Dublin. Im Jahr 2013 wurde er mit dem Erich Fried-Preis ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Rainer Merkel
- Altersempfehlung: 15 - 17 Jahre
- 2013, 688 Seiten, Maße: 12,5 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100484444
- ISBN-13: 9783100484444
Rezension zu „Bo “
Rainer Merkels unaufdringliche und unsentimentale Großerzählung lässt durch genaue Beobachtung der Alltagswelt ein atmosphärisch dichtes Bild von Liberia erstehen. Sebastian Gilli Der Standard 20130330
Kommentar zu "Bo"
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