Brekke, J: Buch des Todes
In den Fängen des Bösen
Efrahim Bond, Konservator eines Museums in Richmond, macht eine sensationelle Entdeckung: Der Umschlag eines ledergebundenen Buches entpuppt sich als Palimpsest, aus dem sich das Geständnis eines...
Efrahim Bond, Konservator eines Museums in Richmond, macht eine sensationelle Entdeckung: Der Umschlag eines ledergebundenen Buches entpuppt sich als Palimpsest, aus dem sich das Geständnis eines...
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In den Fängen des Bösen
Efrahim Bond, Konservator eines Museums in Richmond, macht eine sensationelle Entdeckung: Der Umschlag eines ledergebundenen Buches entpuppt sich als Palimpsest, aus dem sich das Geständnis eines mittelalterlichen Serienmörders herausschält. Doch bevor Bond seinen Fund publik machen kann, wird er bestialisch ermordet. Fast zeitgleich wird in der Universitätsbibliothek von Trondheim ein identischer Mord begangen. Die Bibliothekarin Gunn Brita Dahle wird enthauptet und gehäutet aufgefunden. Auf beiden Seiten des Atlantiks beginnen die Ermittlungen. Doch der Killer hat sein nächstes Opfer längst im Visier.
Efrahim Bond, Konservator eines Museums in Richmond, macht eine sensationelle Entdeckung: Der Umschlag eines ledergebundenen Buches entpuppt sich als Palimpsest, aus dem sich das Geständnis eines mittelalterlichen Serienmörders herausschält. Doch bevor Bond seinen Fund publik machen kann, wird er bestialisch ermordet. Fast zeitgleich wird in der Universitätsbibliothek von Trondheim ein identischer Mord begangen. Die Bibliothekarin Gunn Brita Dahle wird enthauptet und gehäutet aufgefunden. Auf beiden Seiten des Atlantiks beginnen die Ermittlungen. Doch der Killer hat sein nächstes Opfer längst im Visier.
Klappentext zu „Brekke, J: Buch des Todes “
In den Fängen des BösenEfrahim Bond, Konservator eines Museums in Richmond, macht eine sensationelle Entdeckung: Der Umschlag eines ledergebundenen Buches entpuppt sich als Palimpsest, aus dem sich das Geständnis eines mittelalterlichen Serienmörders herausschält. Doch bevor Bond seinen Fund publik machen kann, wird er bestialisch ermordet. Fast zeitgleich wird in der Universitätsbibliothek von Trondheim ein identischer Mord begangen. Die Bibliothekarin Gunn Brita Dahle wird enthauptet und gehäutet aufgefunden. Auf beiden Seiten des Atlantiks beginnen die Ermittlungen. Doch der Killer hat sein nächstes Opfer längst im Visier.
Lese-Probe zu „Brekke, J: Buch des Todes “
Das Buch des Todes von Jørgen Brekke ... mehr
PROLOG
Es gibt keine Monster unterm Bett. Er versucht ruhig zu atmen, so still zu sein, wie er nur kann, keinen Laut von sich zu geben. Vielleicht findet ihn der Verrückte dann nicht, vielleicht macht er dann kehrt und geht einfach wieder. Aber will er das wirklich? Wenn die Gestalt jetzt verschwindet, nimmt sie dann Mama mit?
Der Junge hat nur einen Arm gesehen, gehüllt in einen dieser groben Stoffe, wie der von Papas Arbeitskittel, wenn er sein Rennrad repariert oder im Haus arbeitet.
Das Raumschiff, für das er beinahe eine Woche gebraucht hat, ist kaputt, die Einzelteile liegen überall am Boden verstreut. Einige davon am hinteren Ende des Bettes, unter dem er liegt. Bei seiner Flucht ins Schlafzimmer hat er das Raumschiff von dem grünen Plastiktisch geschlagen, den Papa und er bei Ikea gekauft hatten. Jetzt hat er Angst, dass der Verrückte draußen den Lärm gehört hat, als die Legosteine in alle Richtungen auseinanderflogen. Die Luke-Skywalker- Figur, die er sich schon so lange gewünscht und erst vor wenigen Tagen von seinen Eltern zum Geburtstag bekommen hat, liegt direkt vor seiner Nase und starrt ihn mit leeren, dunklen Augen an.
Das Einzige, was er gesehen hat, war ein Arm und die Stange, die Mama direkt über dem Ohr getroffen hatte. Ihr Kopf war wie bei einer Stoffpuppe nach hinten geschleudert. Ihr Hals war so dünn und weiß. Blut hatte gespritzt, aber die runden, roten Tropfen waren irgendwie in der Luft hängen geblieben. Dann war Mama ohne einen Laut zu Boden gefallen, und er hatte einen Schritt nach hinten ausweichen müssen, damit sie ihn nicht traf. Und plötzlich war da dieser Schatten in der Tür gewesen, von dem er einfach nicht den Blick hatte abwenden können.
Er weiß nicht, ob die Gestalt ein Mann oder eine Frau ist. Er weiß nur, dass sie böse ist. Eine Weile, einen tiefen Atemzug lang, hatte er sich gefragt, ob er seine Mama beschützen sollte. Doch dann war die Gestalt ins Haus gekommen, und als der Junge das Brecheisen mit dem Blut gesehen hatte - Mamas Blut -, hatte er sich umgedreht und war weggerannt.
Ich muss langsam atmen, denkt er. Lautlos.
Er hört Schritte auf der Treppe. Schwere Schritte, wie die von Papa. Ist das Papa? Ist er gerade rechtzeitig nach Hause gekommen, um sie zu retten? Die Schritte bleiben oben an der Treppe stehen. Er versucht, nicht zu atmen. Spürt, wie sein Hals sich zuschnürt. Dann hört er die Schritte wieder. Sie kommen direkt auf ihn zu.
Zwei Füße. Auf dem Weg zum Bett treten sie auf die Reste des Raumschiffs, sodass es ganz kaputt geht.
Es gibt keine Monster unter dem Bett. Aber davor. Langsam geht die Gestalt in die Hocke. Der Junge hört den fremden Atem näher kommen. Dann dringt eine Stimme zu ihm:
»Ich bin überall.«
Eine Hand packt ihn an den Haaren und zieht ihn unter dem Bett hervor. Er will nicht schreien und hat nur einen Gedanken: Jetzt komme ich zu Mama.
Teil 1
Edgar-Allan-Poe-Museum
»Gott ist eine intelligible Sphäre, deren Zentrum überall und deren Umkreis nirgends ist.«
Alain de Lille, ca. 1100
1
Bergen, September 1528
Der Bettelmönch hatte nicht viel Gutes über Bergen gehört, weder über die Stadt noch über das Land, Norwegen, in dem er einst geboren worden war, das er aber fast vergessen hatte. Ein verlorenes, weit entfernt liegendes Land hoch oben im Norden, hieß es, in dem es unendlich weit von einer Stadt zur anderen war. Trotzdem, Bergen hatte wenigstens eine gewisse Größe, und wenn der Barbier sich in dieser Stadt niedergelassen hatte, hieß das ja wohl, dass ihm die kleinen Jungs in der Stadt gaben, was er wollte.
Die Kogge, auf der er von Rostock hierhergesegelt war, war eines der früher so häufigen Hanseschiffe, von denen hier oben noch einige genutzt wurden. Auf See verhielten sie sich zwar zuverlässig und gut, konnten sich aber mit den holländischen oder englischen Handelsschiffen nicht messen. Das Schiff hatte Mehl geladen, Salz und ein paar Fässer Bier, an denen die Mannschaft sich während der Überfahrt reichlich bedient hatte. Am letzten Abend der Seereise hatte es auf dem Vordeck unter lautem Geschrei eine Schlägerei gegeben, bis einer der Männer über Bord gegangen und ertrunken war. Der Stimmung hatte das einen herben Knick versetzt, da der Verstorbene erst vierzehn Jahre alt gewesen war und von allen gemocht wurde. Der Bettelmönch teilte diese Meinung nicht und war fast zufrieden über die Geschehnisse, denn der Ertrunkene hatte jede Nacht gegrölt und gelärmt und ihm den Schlaf geraubt. So war er zu guter Letzt doch noch ausgeruht nach Bergen gekommen. Alles war, wie es sein sollte. Das Leben eines Seemanns war kurz und voller Ausschweifungen. Und wirklich vermissen würde den kleinen, versoffenen Köter wohl kaum jemand.
Als sie in den Hafen mit dem seltsamen Namen Vaagen glitten, reffte die Mannschaft die Segel und suchte einen Ankerplatz. Es war Herbst, aber der Winter schien die Berge ringsum bereits fest im Griff zu haben. Er zählte sieben Gipfel, und alle trugen eine dünne, weiße Mütze. Unten im Hafen regnete es leise, jeder Tropfen zeichnete Ringe auf das dunkle Wasser.
Der Blick des Mönchs glitt in Richtung Stadt. Knapp zehntausend Seelen wohnten hier. Abgesehen von der Festung Bergenshus an der Spitze der Hafeneinfahrt, ein paar Kirchen und vereinzelten prächtigen Steinhäusern bestand die Stadt komplett aus Holz. Niemals zuvor hatte er so viele Holzhäuser so dicht gedrängt sehen. Sogar die Stadtmauer schien aus nackten Rundhölzern errichtet worden zu sein. Auf dem letzten Stückchen in den Hafen hatte er sich vorgestellt, wie gut so eine Holzstadt brennen würde, sollte einmal ein Feuer ausbrechen.
Auf dem Kai zahlte er den Steuermann für die Überfahrt und knotete die Lederbörse an den Gürtel, der die Kutte zusammenhielt. Er war ein Bettelmönch mit prall gefülltem Geldbeutel. Für jemanden, der wie er auf Wanderschaft war, war es mitunter ratsam, Bruder Franz' Regeln etwas großzügiger auszulegen. Das ersparte ihm unnötige Aufenthalte und Umwege.
Der Steuermann wünschte ihm Glück auf seiner weiteren Reise, ehe er selbst in Richtung der nahe gelegenen Handelshäuser verschwand, in denen er Geschäfte machen und sich etwas zu essen sichern wollte. Der Bettelmönch blieb stehen und spürte wieder den Hunger, der ihn seit Rostock treu begleitet hatte. Aber mit dem Essen musste er noch eine Weile warten.
Es kommt auf die richtige Reihenfolge an, immer, dachte er. Diese Weisheit hatte er von Meister Alessandro. Auch wenn sich des Meisters Worte auf die Sektion einer Leiche bezogen und nicht darauf, rasch eine Angelegenheit in einer fremden Stadt zu erledigen, waren sie nützlich. Wie fast alle seine Worte ergaben sie auch in anderen Lebenssituationen Sinn. Die Reihenfolge war wirklich wichtiger als alles andere, wenn er mit der ersehnten Beute wieder aus der Stadt verschwinden wollte.
Und als Erstes musste er sich eine Gelegenheit sichern, dass er die Stadt schnell wieder verlassen konnte.
Sobald die Messer in seinem Besitz waren, wollte er nach Norden in Richtung Trondheim. Deshalb hielt er nach norwegischen Schiffen Ausschau. Es lagen an diesem Morgen aber nur wenige solche Schiffe an der Tyskebrygge im Hafen Vaagen, doch eine Frau, die einen Handkarren mit frisch Gebackenem hinter sich herzog, die sie den Seeleuten verkaufen wollte, sagte ihm, dass die norwegischen Boote weiter hinten an der Strandlinie lagen. Während er ihre lange, verwirrende Wegbeschreibung hinüber zur anderen Seite des Hafens anhörte, überraschte es ihn, wie schnell die norwegische Sprache zu ihm zurückkam. Es war vierzehn Sommer her, dass er zuletzt in diesem Land gewesen war, und bis auf die Sprache konnte er sich an nichts mehr erinnern. Die Sprache und das Gesicht seiner Mutter.
Er kaufte der Frau mit dem Karren ein Gebäckstück ab und dankte ihr für die Hilfe. Eigentlich behagte ihm der Gedanke nicht, die ganze Stadt durchqueren zu müssen, um alles zu regeln. Was, wenn er auf den Barbier stieß und der ihn erkannte? Ihm blieb wohl keine andere Wahl. Die kleinen Schiffe und Nordlandsboote, die Menschen und Waren entlang der Küste dieses gebirgigen Landes transportierten, lagen nun mal auf der anderen Seite vertäut. Er setzte sich die Kapuze auf und ging los.
Stadtluft macht frei, hieß es, aber gut roch sie nicht. Nach etlichen Tagen auf See hatte er beinahe vergessen, wie eine Stadt stinken konnte. Bergen war da keine Ausnahme, im Gegenteil, hier hatte der übliche Gestank nach Brackwasser, Kloake und Verwesung einen Einschlag von verdorbenem Fisch und fauligem Holz. Der Bettelmönch verspürte den Drang, sich die Nase zuzuhalten, als er die Winkel und schmalen Durchgänge am Ende des Hafens passierte. Aber er riss sich zusammen. Er wollte um keinen Preis auffallen und ging zielstrebig geradeaus, ohne nach rechts oder links zu schauen oder Augenkontakt mit denen zu suchen, die ihm entgegenkamen.
Auf der anderen Seite des Hafens waren noch mehr Leute unterwegs. Hier sprachen alle die singende norwegische Sprache. Die Häuser waren kleiner, und viele Dächer waren mit Torf gedeckt. Er fragte sich durch und fand ein Handelshaus, das Handel mit Nordnorwegen trieb.
»Nein, morgen früh legt kein Schiff ab, jedenfalls keins von meinen«, sagte der kleinwüchsige Kaufmann und musterte ihn skeptisch. Der Krämer war sicher schon fünfzig Jahre alt. Er stand in dem dunklen Lagerraum seines Hauses, umgeben von Tonnen und Stapeln von Trockenfisch. Seine Haut hatte das gleiche Grau wie die Fische, und zwischen seinen Sätzen spuckte er immer wieder auf die Bodendielen.
»Warum hat ein Bruder wie du so eine Eile?«
»Weil ich einen Auftrag habe. Außerdem bin ich ein Bruder, der bezahlen kann«, sagte der Mönch und hob die Börse an seinem Gürtel an.
»Es gibt Leute, die sagen würden, dass du dann kein Bruder mehr bist«, sagte der Kaufmann trocken, aber der Bettelmönch erkannte, dass die Schwere und der Klang der Münzen in der Börse Eindruck auf ihn gemacht hatten.
»Morgen früh geht ein Schnellfrachter nach Austrått. Wie gesagt, das ist nicht mein Boot, aber ich kann mit dem Steuermann reden. Ich muss dich aber warnen. Die Eignerin des Bootes ist eine Hochwohlgeborene, die für Brüder wie dich nicht viel übrighat. Du solltest von Bord gehen, ehe das Boot in Fosen anlegt«, sagte er.
»Das kommt mir in vielerlei Hinsicht entgegen. Ich habe kein Interesse, bei hochmütigen Menschen zu landen, die dem heiligen christlichen Glauben abgeschworen haben. Glauben Sie mir, davon habe ich in deutschen Landen mehr als genug getroffen«, sagte er voller Überzeugung und versprach, gut für die Reise und den Steuermann zu bezahlen, der sich der Gottlosigkeit seiner Dienstherrin widersetzte, indem er einen echten Christen an Bord nahm.
Danach ging der Bettelmönch, um Sachen zu kaufen, die er für die weitere Reise brauchte, einen guten Ledersack, getrocknetes Fleisch und ein paar Flaschen Wein. Als er wieder zu dem Handelshaus zurückkam, kaufte er auch noch etwas Trockenfisch und legte ihn in seinen Sack. Dabei erfuhr er, dass die Absprache mit dem Steuermann getroffen worden war und er sich eine Bleibe für die Nacht suchen konnte. Der Kaufmann erklärte ihm den Weg zu einer möglichen Unterkunft.
»Kennt der Wirt sich gut in der Stadt aus?«, hatte er gefragt, bevor er das Handelshaus verlassen hatte.
»Es gibt keinen Bergenser, weder lebend noch tot, über den die Wirtin nicht etwas zu sagen wüsste«, hatte der Kaufmann erwidert und lachend ausgespuckt, wobei er beinahe einen Stapel von dem extrafeinen Trockenfisch getroffen hätte.
Der Kaufmann hatte Recht. Die Wirtin des Gasthauses liebte es, über andere zu tratschen.
Die Geschichte, die sie über den Barbier erzählte, war ihm nicht neu, weshalb er ihr ohne rechtes Interesse zuhörte. Er wollte nur wissen, wo der alte Meister wohnte. Zwischen all den lächerlichen Gerüchten, Halbwahrheiten und Übertreibungen gab die Wirtin aber genug preis, damit er am nächsten Morgen seinen Weg fand, um das zu erledigen, was er in dieser Stadt tun wollte. Es musste am Morgen geschehen. Aber nicht zu früh. Es war wichtig, dass die Zeitspanne bis zur Abfahrt des Bootes nicht zu groß war.
Er lag in dem Zimmer, das er gemietet hatte, und ließ einen Rosenkranz durch seine Finger gleiten, während er über die sieben Freuden Marias meditierte und »Vater unser« murmelte, »Gegrüßet seist du, Maria« und »Ehre sei Gott«. Die Wirtschaft war ein zugiges Holzhaus. Die Herbstnächte in Bergen waren kalt, und der Nachtfrost zog durch alle Ritzen. Er würde in dieser Nacht kein Auge zutun.
Noch vor dem ersten Hahnenschrei stand er draußen in den Gassen der Stadt. Der Raureif hatte sich weiß auf die Torfdächer gelegt, und die Pfützen, die sich nach dem Regen des Vortages gebildet hatten, lagen unter einer dünnen Eisschicht. Er schlug den Umhang eng um sich und ging den Weg, den ihm die Wirtin am Abend zuvor gewiesen hatte.
Als er sein Ziel erreicht hatte und die Tür des dunklen Raumes öffnete, in dem der Barbier seine Kunden bediente, war der allseits bekannte Handwerker bereits wach und schliff seine Messer. Es war früh. Noch war niemand gekommen, um sich die Haare schneiden zu lassen, ein Glas Bier zu trinken oder einfach nur ein Schwätzchen zu halten, wie es Menschen an Orten wie diesem gerne taten. Der Mönch trat einen Schritt in den Raum hinein, setzte die Kapuze aber nicht ab.
»Ich fürchte, du hast dich in der Tür geirrt«, sagte der Barbier. »Hier wird nur gegen Bezahlung gearbeitet, und ich bedaure, auch meine Speisekammer ist bedauernswert leer.«
Der Bettelmönch blieb stehen und betrachtete ihn aus seiner Kapuze. Der Barbier hatte ihn nicht erkannt, was nicht weiter verwunderlich war. Es waren viele Sommer und Winter vergangen, seit er ein kleiner Junge war.
»Ich bin nicht des Essens wegen gekommen, und ich will mir auch nicht die Haare schneiden lassen«, sagte der Bettelmönch.
Der Barbier legte das Messer, mit dem er gearbeitet hatte, auf den kleinen Tisch vor sich. Dort lag bereits ein ganzes Set anderer Messer. Er war wirklich ein Meister mit diesen Messern. Zurzeit tat er kaum etwas anderes, als Bärte zu stutzen oder Eiterbeulen aufzustechen. Hin und wieder wurde er nach unten in den Hafen gerufen, um einem Seemann ein von Ratten zerfressenes Bein abzunehmen, doch die Zeiten für die wirklich großen Taten waren vorbei. Bevor er sich an diesen verlassenen Flecken am Rand der Welt zurückgezogen hatte, war er in Padua Meister Alessandros persönlicher Gehilfe gewesen. Seine Hände hatten das Fundament für einige der großen Entdeckungen des Meisters gelegt, um die Rätsel des menschlichen Körpers zu entschlüsseln. Ganze Nächte hatten sie, über stinkende Leichname von Verbrechern gebeugt, verbracht, der Barbier mit den Messern, der Meister mit Pergament und Stift. Der Bettelmönch selbst hatte als Junge häufig unter dem Tisch gelegen, gelauscht und geschnuppert, bis er eingeschlafen war und der Barbier ihn irgendwann zu Bett gebracht hatte. Beim Anblick der Messer wurden diese Kindheitserinnerungen wieder wach. Der Geruch des Holzes und der frisch geschliffenen Klingen, der beinahe unterging in dem Gestank verwesender menschlicher Körper.
»Wenn du nicht betteln willst, weshalb bist du dann gekommen? «, fragte der Barbier.
»Deshalb«, antwortete er und sprang vor. Der Faustschlag traf an der richtigen Stelle, und der Barbier ging zu Boden. Im gleichen Moment streifte der Mönch die Kapuze ab, und das Licht des langsam anbrechenden Tages fiel durch eine Deckenluke auf sein Gesicht. Der Barbier sah ihn überrascht an.
»Gott erbarme sich meiner«, sagte er. »Du?«
»Ich fürchte, für einen verkommenen Heiden wie dich ist es zu spät, sich jetzt noch an Gott zu wenden«, sagte der Bettelmönch. »Du bist zurückgekehrt aus der Hölle. Warum bist du gekommen? « Es hörte sich eher wie ein Gebet als wie eine Frage an.
»Wegen deiner Messer«, sagte der Bettelmönch. »Bessere Messer gibt es im ganzen Christenreich nicht.«
Übersetzung: Günther Frauenlob
Vollständige deutsche Erstausgabe 11/2012 Copyright © 2011 Jørgen Brekke Copyright © 2012 by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Printed in Germany 2012
PROLOG
Es gibt keine Monster unterm Bett. Er versucht ruhig zu atmen, so still zu sein, wie er nur kann, keinen Laut von sich zu geben. Vielleicht findet ihn der Verrückte dann nicht, vielleicht macht er dann kehrt und geht einfach wieder. Aber will er das wirklich? Wenn die Gestalt jetzt verschwindet, nimmt sie dann Mama mit?
Der Junge hat nur einen Arm gesehen, gehüllt in einen dieser groben Stoffe, wie der von Papas Arbeitskittel, wenn er sein Rennrad repariert oder im Haus arbeitet.
Das Raumschiff, für das er beinahe eine Woche gebraucht hat, ist kaputt, die Einzelteile liegen überall am Boden verstreut. Einige davon am hinteren Ende des Bettes, unter dem er liegt. Bei seiner Flucht ins Schlafzimmer hat er das Raumschiff von dem grünen Plastiktisch geschlagen, den Papa und er bei Ikea gekauft hatten. Jetzt hat er Angst, dass der Verrückte draußen den Lärm gehört hat, als die Legosteine in alle Richtungen auseinanderflogen. Die Luke-Skywalker- Figur, die er sich schon so lange gewünscht und erst vor wenigen Tagen von seinen Eltern zum Geburtstag bekommen hat, liegt direkt vor seiner Nase und starrt ihn mit leeren, dunklen Augen an.
Das Einzige, was er gesehen hat, war ein Arm und die Stange, die Mama direkt über dem Ohr getroffen hatte. Ihr Kopf war wie bei einer Stoffpuppe nach hinten geschleudert. Ihr Hals war so dünn und weiß. Blut hatte gespritzt, aber die runden, roten Tropfen waren irgendwie in der Luft hängen geblieben. Dann war Mama ohne einen Laut zu Boden gefallen, und er hatte einen Schritt nach hinten ausweichen müssen, damit sie ihn nicht traf. Und plötzlich war da dieser Schatten in der Tür gewesen, von dem er einfach nicht den Blick hatte abwenden können.
Er weiß nicht, ob die Gestalt ein Mann oder eine Frau ist. Er weiß nur, dass sie böse ist. Eine Weile, einen tiefen Atemzug lang, hatte er sich gefragt, ob er seine Mama beschützen sollte. Doch dann war die Gestalt ins Haus gekommen, und als der Junge das Brecheisen mit dem Blut gesehen hatte - Mamas Blut -, hatte er sich umgedreht und war weggerannt.
Ich muss langsam atmen, denkt er. Lautlos.
Er hört Schritte auf der Treppe. Schwere Schritte, wie die von Papa. Ist das Papa? Ist er gerade rechtzeitig nach Hause gekommen, um sie zu retten? Die Schritte bleiben oben an der Treppe stehen. Er versucht, nicht zu atmen. Spürt, wie sein Hals sich zuschnürt. Dann hört er die Schritte wieder. Sie kommen direkt auf ihn zu.
Zwei Füße. Auf dem Weg zum Bett treten sie auf die Reste des Raumschiffs, sodass es ganz kaputt geht.
Es gibt keine Monster unter dem Bett. Aber davor. Langsam geht die Gestalt in die Hocke. Der Junge hört den fremden Atem näher kommen. Dann dringt eine Stimme zu ihm:
»Ich bin überall.«
Eine Hand packt ihn an den Haaren und zieht ihn unter dem Bett hervor. Er will nicht schreien und hat nur einen Gedanken: Jetzt komme ich zu Mama.
Teil 1
Edgar-Allan-Poe-Museum
»Gott ist eine intelligible Sphäre, deren Zentrum überall und deren Umkreis nirgends ist.«
Alain de Lille, ca. 1100
1
Bergen, September 1528
Der Bettelmönch hatte nicht viel Gutes über Bergen gehört, weder über die Stadt noch über das Land, Norwegen, in dem er einst geboren worden war, das er aber fast vergessen hatte. Ein verlorenes, weit entfernt liegendes Land hoch oben im Norden, hieß es, in dem es unendlich weit von einer Stadt zur anderen war. Trotzdem, Bergen hatte wenigstens eine gewisse Größe, und wenn der Barbier sich in dieser Stadt niedergelassen hatte, hieß das ja wohl, dass ihm die kleinen Jungs in der Stadt gaben, was er wollte.
Die Kogge, auf der er von Rostock hierhergesegelt war, war eines der früher so häufigen Hanseschiffe, von denen hier oben noch einige genutzt wurden. Auf See verhielten sie sich zwar zuverlässig und gut, konnten sich aber mit den holländischen oder englischen Handelsschiffen nicht messen. Das Schiff hatte Mehl geladen, Salz und ein paar Fässer Bier, an denen die Mannschaft sich während der Überfahrt reichlich bedient hatte. Am letzten Abend der Seereise hatte es auf dem Vordeck unter lautem Geschrei eine Schlägerei gegeben, bis einer der Männer über Bord gegangen und ertrunken war. Der Stimmung hatte das einen herben Knick versetzt, da der Verstorbene erst vierzehn Jahre alt gewesen war und von allen gemocht wurde. Der Bettelmönch teilte diese Meinung nicht und war fast zufrieden über die Geschehnisse, denn der Ertrunkene hatte jede Nacht gegrölt und gelärmt und ihm den Schlaf geraubt. So war er zu guter Letzt doch noch ausgeruht nach Bergen gekommen. Alles war, wie es sein sollte. Das Leben eines Seemanns war kurz und voller Ausschweifungen. Und wirklich vermissen würde den kleinen, versoffenen Köter wohl kaum jemand.
Als sie in den Hafen mit dem seltsamen Namen Vaagen glitten, reffte die Mannschaft die Segel und suchte einen Ankerplatz. Es war Herbst, aber der Winter schien die Berge ringsum bereits fest im Griff zu haben. Er zählte sieben Gipfel, und alle trugen eine dünne, weiße Mütze. Unten im Hafen regnete es leise, jeder Tropfen zeichnete Ringe auf das dunkle Wasser.
Der Blick des Mönchs glitt in Richtung Stadt. Knapp zehntausend Seelen wohnten hier. Abgesehen von der Festung Bergenshus an der Spitze der Hafeneinfahrt, ein paar Kirchen und vereinzelten prächtigen Steinhäusern bestand die Stadt komplett aus Holz. Niemals zuvor hatte er so viele Holzhäuser so dicht gedrängt sehen. Sogar die Stadtmauer schien aus nackten Rundhölzern errichtet worden zu sein. Auf dem letzten Stückchen in den Hafen hatte er sich vorgestellt, wie gut so eine Holzstadt brennen würde, sollte einmal ein Feuer ausbrechen.
Auf dem Kai zahlte er den Steuermann für die Überfahrt und knotete die Lederbörse an den Gürtel, der die Kutte zusammenhielt. Er war ein Bettelmönch mit prall gefülltem Geldbeutel. Für jemanden, der wie er auf Wanderschaft war, war es mitunter ratsam, Bruder Franz' Regeln etwas großzügiger auszulegen. Das ersparte ihm unnötige Aufenthalte und Umwege.
Der Steuermann wünschte ihm Glück auf seiner weiteren Reise, ehe er selbst in Richtung der nahe gelegenen Handelshäuser verschwand, in denen er Geschäfte machen und sich etwas zu essen sichern wollte. Der Bettelmönch blieb stehen und spürte wieder den Hunger, der ihn seit Rostock treu begleitet hatte. Aber mit dem Essen musste er noch eine Weile warten.
Es kommt auf die richtige Reihenfolge an, immer, dachte er. Diese Weisheit hatte er von Meister Alessandro. Auch wenn sich des Meisters Worte auf die Sektion einer Leiche bezogen und nicht darauf, rasch eine Angelegenheit in einer fremden Stadt zu erledigen, waren sie nützlich. Wie fast alle seine Worte ergaben sie auch in anderen Lebenssituationen Sinn. Die Reihenfolge war wirklich wichtiger als alles andere, wenn er mit der ersehnten Beute wieder aus der Stadt verschwinden wollte.
Und als Erstes musste er sich eine Gelegenheit sichern, dass er die Stadt schnell wieder verlassen konnte.
Sobald die Messer in seinem Besitz waren, wollte er nach Norden in Richtung Trondheim. Deshalb hielt er nach norwegischen Schiffen Ausschau. Es lagen an diesem Morgen aber nur wenige solche Schiffe an der Tyskebrygge im Hafen Vaagen, doch eine Frau, die einen Handkarren mit frisch Gebackenem hinter sich herzog, die sie den Seeleuten verkaufen wollte, sagte ihm, dass die norwegischen Boote weiter hinten an der Strandlinie lagen. Während er ihre lange, verwirrende Wegbeschreibung hinüber zur anderen Seite des Hafens anhörte, überraschte es ihn, wie schnell die norwegische Sprache zu ihm zurückkam. Es war vierzehn Sommer her, dass er zuletzt in diesem Land gewesen war, und bis auf die Sprache konnte er sich an nichts mehr erinnern. Die Sprache und das Gesicht seiner Mutter.
Er kaufte der Frau mit dem Karren ein Gebäckstück ab und dankte ihr für die Hilfe. Eigentlich behagte ihm der Gedanke nicht, die ganze Stadt durchqueren zu müssen, um alles zu regeln. Was, wenn er auf den Barbier stieß und der ihn erkannte? Ihm blieb wohl keine andere Wahl. Die kleinen Schiffe und Nordlandsboote, die Menschen und Waren entlang der Küste dieses gebirgigen Landes transportierten, lagen nun mal auf der anderen Seite vertäut. Er setzte sich die Kapuze auf und ging los.
Stadtluft macht frei, hieß es, aber gut roch sie nicht. Nach etlichen Tagen auf See hatte er beinahe vergessen, wie eine Stadt stinken konnte. Bergen war da keine Ausnahme, im Gegenteil, hier hatte der übliche Gestank nach Brackwasser, Kloake und Verwesung einen Einschlag von verdorbenem Fisch und fauligem Holz. Der Bettelmönch verspürte den Drang, sich die Nase zuzuhalten, als er die Winkel und schmalen Durchgänge am Ende des Hafens passierte. Aber er riss sich zusammen. Er wollte um keinen Preis auffallen und ging zielstrebig geradeaus, ohne nach rechts oder links zu schauen oder Augenkontakt mit denen zu suchen, die ihm entgegenkamen.
Auf der anderen Seite des Hafens waren noch mehr Leute unterwegs. Hier sprachen alle die singende norwegische Sprache. Die Häuser waren kleiner, und viele Dächer waren mit Torf gedeckt. Er fragte sich durch und fand ein Handelshaus, das Handel mit Nordnorwegen trieb.
»Nein, morgen früh legt kein Schiff ab, jedenfalls keins von meinen«, sagte der kleinwüchsige Kaufmann und musterte ihn skeptisch. Der Krämer war sicher schon fünfzig Jahre alt. Er stand in dem dunklen Lagerraum seines Hauses, umgeben von Tonnen und Stapeln von Trockenfisch. Seine Haut hatte das gleiche Grau wie die Fische, und zwischen seinen Sätzen spuckte er immer wieder auf die Bodendielen.
»Warum hat ein Bruder wie du so eine Eile?«
»Weil ich einen Auftrag habe. Außerdem bin ich ein Bruder, der bezahlen kann«, sagte der Mönch und hob die Börse an seinem Gürtel an.
»Es gibt Leute, die sagen würden, dass du dann kein Bruder mehr bist«, sagte der Kaufmann trocken, aber der Bettelmönch erkannte, dass die Schwere und der Klang der Münzen in der Börse Eindruck auf ihn gemacht hatten.
»Morgen früh geht ein Schnellfrachter nach Austrått. Wie gesagt, das ist nicht mein Boot, aber ich kann mit dem Steuermann reden. Ich muss dich aber warnen. Die Eignerin des Bootes ist eine Hochwohlgeborene, die für Brüder wie dich nicht viel übrighat. Du solltest von Bord gehen, ehe das Boot in Fosen anlegt«, sagte er.
»Das kommt mir in vielerlei Hinsicht entgegen. Ich habe kein Interesse, bei hochmütigen Menschen zu landen, die dem heiligen christlichen Glauben abgeschworen haben. Glauben Sie mir, davon habe ich in deutschen Landen mehr als genug getroffen«, sagte er voller Überzeugung und versprach, gut für die Reise und den Steuermann zu bezahlen, der sich der Gottlosigkeit seiner Dienstherrin widersetzte, indem er einen echten Christen an Bord nahm.
Danach ging der Bettelmönch, um Sachen zu kaufen, die er für die weitere Reise brauchte, einen guten Ledersack, getrocknetes Fleisch und ein paar Flaschen Wein. Als er wieder zu dem Handelshaus zurückkam, kaufte er auch noch etwas Trockenfisch und legte ihn in seinen Sack. Dabei erfuhr er, dass die Absprache mit dem Steuermann getroffen worden war und er sich eine Bleibe für die Nacht suchen konnte. Der Kaufmann erklärte ihm den Weg zu einer möglichen Unterkunft.
»Kennt der Wirt sich gut in der Stadt aus?«, hatte er gefragt, bevor er das Handelshaus verlassen hatte.
»Es gibt keinen Bergenser, weder lebend noch tot, über den die Wirtin nicht etwas zu sagen wüsste«, hatte der Kaufmann erwidert und lachend ausgespuckt, wobei er beinahe einen Stapel von dem extrafeinen Trockenfisch getroffen hätte.
Der Kaufmann hatte Recht. Die Wirtin des Gasthauses liebte es, über andere zu tratschen.
Die Geschichte, die sie über den Barbier erzählte, war ihm nicht neu, weshalb er ihr ohne rechtes Interesse zuhörte. Er wollte nur wissen, wo der alte Meister wohnte. Zwischen all den lächerlichen Gerüchten, Halbwahrheiten und Übertreibungen gab die Wirtin aber genug preis, damit er am nächsten Morgen seinen Weg fand, um das zu erledigen, was er in dieser Stadt tun wollte. Es musste am Morgen geschehen. Aber nicht zu früh. Es war wichtig, dass die Zeitspanne bis zur Abfahrt des Bootes nicht zu groß war.
Er lag in dem Zimmer, das er gemietet hatte, und ließ einen Rosenkranz durch seine Finger gleiten, während er über die sieben Freuden Marias meditierte und »Vater unser« murmelte, »Gegrüßet seist du, Maria« und »Ehre sei Gott«. Die Wirtschaft war ein zugiges Holzhaus. Die Herbstnächte in Bergen waren kalt, und der Nachtfrost zog durch alle Ritzen. Er würde in dieser Nacht kein Auge zutun.
Noch vor dem ersten Hahnenschrei stand er draußen in den Gassen der Stadt. Der Raureif hatte sich weiß auf die Torfdächer gelegt, und die Pfützen, die sich nach dem Regen des Vortages gebildet hatten, lagen unter einer dünnen Eisschicht. Er schlug den Umhang eng um sich und ging den Weg, den ihm die Wirtin am Abend zuvor gewiesen hatte.
Als er sein Ziel erreicht hatte und die Tür des dunklen Raumes öffnete, in dem der Barbier seine Kunden bediente, war der allseits bekannte Handwerker bereits wach und schliff seine Messer. Es war früh. Noch war niemand gekommen, um sich die Haare schneiden zu lassen, ein Glas Bier zu trinken oder einfach nur ein Schwätzchen zu halten, wie es Menschen an Orten wie diesem gerne taten. Der Mönch trat einen Schritt in den Raum hinein, setzte die Kapuze aber nicht ab.
»Ich fürchte, du hast dich in der Tür geirrt«, sagte der Barbier. »Hier wird nur gegen Bezahlung gearbeitet, und ich bedaure, auch meine Speisekammer ist bedauernswert leer.«
Der Bettelmönch blieb stehen und betrachtete ihn aus seiner Kapuze. Der Barbier hatte ihn nicht erkannt, was nicht weiter verwunderlich war. Es waren viele Sommer und Winter vergangen, seit er ein kleiner Junge war.
»Ich bin nicht des Essens wegen gekommen, und ich will mir auch nicht die Haare schneiden lassen«, sagte der Bettelmönch.
Der Barbier legte das Messer, mit dem er gearbeitet hatte, auf den kleinen Tisch vor sich. Dort lag bereits ein ganzes Set anderer Messer. Er war wirklich ein Meister mit diesen Messern. Zurzeit tat er kaum etwas anderes, als Bärte zu stutzen oder Eiterbeulen aufzustechen. Hin und wieder wurde er nach unten in den Hafen gerufen, um einem Seemann ein von Ratten zerfressenes Bein abzunehmen, doch die Zeiten für die wirklich großen Taten waren vorbei. Bevor er sich an diesen verlassenen Flecken am Rand der Welt zurückgezogen hatte, war er in Padua Meister Alessandros persönlicher Gehilfe gewesen. Seine Hände hatten das Fundament für einige der großen Entdeckungen des Meisters gelegt, um die Rätsel des menschlichen Körpers zu entschlüsseln. Ganze Nächte hatten sie, über stinkende Leichname von Verbrechern gebeugt, verbracht, der Barbier mit den Messern, der Meister mit Pergament und Stift. Der Bettelmönch selbst hatte als Junge häufig unter dem Tisch gelegen, gelauscht und geschnuppert, bis er eingeschlafen war und der Barbier ihn irgendwann zu Bett gebracht hatte. Beim Anblick der Messer wurden diese Kindheitserinnerungen wieder wach. Der Geruch des Holzes und der frisch geschliffenen Klingen, der beinahe unterging in dem Gestank verwesender menschlicher Körper.
»Wenn du nicht betteln willst, weshalb bist du dann gekommen? «, fragte der Barbier.
»Deshalb«, antwortete er und sprang vor. Der Faustschlag traf an der richtigen Stelle, und der Barbier ging zu Boden. Im gleichen Moment streifte der Mönch die Kapuze ab, und das Licht des langsam anbrechenden Tages fiel durch eine Deckenluke auf sein Gesicht. Der Barbier sah ihn überrascht an.
»Gott erbarme sich meiner«, sagte er. »Du?«
»Ich fürchte, für einen verkommenen Heiden wie dich ist es zu spät, sich jetzt noch an Gott zu wenden«, sagte der Bettelmönch. »Du bist zurückgekehrt aus der Hölle. Warum bist du gekommen? « Es hörte sich eher wie ein Gebet als wie eine Frage an.
»Wegen deiner Messer«, sagte der Bettelmönch. »Bessere Messer gibt es im ganzen Christenreich nicht.«
Übersetzung: Günther Frauenlob
Vollständige deutsche Erstausgabe 11/2012 Copyright © 2011 Jørgen Brekke Copyright © 2012 by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Printed in Germany 2012
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Autoren-Porträt von Jørgen Brekke
Jørgen Brekke, geboren 1968, hat als Literaturkritiker und Journalist gearbeitet, bevor er sich dem Schreiben zuwandte. Er lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Trondheim
Bibliographische Angaben
- Autor: Jørgen Brekke
- 2012, 445 Seiten, Maße: 13,5 x 20,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Günther Frauenlob
- Übersetzer: Günther Frauenlob
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453409280
- ISBN-13: 9783453409286
- Erscheinungsdatum: 08.10.2012
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