Christian Kern
Ein politisches Porträt
Als Christian Kern zum Bundeskanzler aufstieg, ging ein Ruck durch das Land: Nicht wenige hatten einen technokratischen Manager erwartet, doch Kern versprach: "Wir wollen die Fenster aufmachen und frische Luft hereinlassen." Wer ist der neue Kanzler und...
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Produktinformationen zu „Christian Kern “
Als Christian Kern zum Bundeskanzler aufstieg, ging ein Ruck durch das Land: Nicht wenige hatten einen technokratischen Manager erwartet, doch Kern versprach: "Wir wollen die Fenster aufmachen und frische Luft hereinlassen." Wer ist der neue Kanzler und SPÖ-Vorsitzende? Wie tickt er, woher kommt er, wofür brennt er? Kann er es schaffen, die müde Traditionspartei der Sozialdemokratie zu entstauben? Der Autor Robert Misik hat seit den ersten Tagen von Kerns Kanzlerschaft einzigartige Einblicke hinter die Kulissen und führt für dieses politische Porträt viele Gespräche mit dem Kanzler, seinem Team und seinen Weggefährten. Ein Porträt aus der Nähe, in dem Kerns Pläne für eine radikale politische Erneuerung deutlich werden.
Christian Kern ist der Hoffnungsträger der SPÖ. Als er die Partei und das Amt des Bundeskanzlers von Werner Faymann übernahm, kämpften die „Roten" mit schlechten Umfrageergebnissen und parteiinternen Streitereien. Doch mit dem ehemaligen ÖBB-Vorstandsvorsitzenden soll nun alles anders werden. Diese spannende Biografie setzt sich gleichermaßen mit dem Menschen und mit dem Politiker Christian Kern auseinander.
Christian Kern ist der Hoffnungsträger der SPÖ. Als er die Partei und das Amt des Bundeskanzlers von Werner Faymann übernahm, kämpften die „Roten" mit schlechten Umfrageergebnissen und parteiinternen Streitereien. Doch mit dem ehemaligen ÖBB-Vorstandsvorsitzenden soll nun alles anders werden. Diese spannende Biografie setzt sich gleichermaßen mit dem Menschen und mit dem Politiker Christian Kern auseinander.
Klappentext zu „Christian Kern “
Als Christian Kern zum Bundeskanzler aufstieg, ging ein Ruck durch das Land: Nicht wenige hatten einen technokratischen Manager erwartet, doch Kern versprach: "Wir wollen die Fenster aufmachen und frische Luft hereinlassen." Wer ist der neue Kanzler und SPÖ-Vorsitzende? Wie tickt er, woher kommt er, wofür brennt er? Kann er es schaffen, die müde Traditionspartei der Sozialdemokratie zu entstauben? Der Autor Robert Misik hat seit den ersten Tagen von Kerns Kanzlerschaft einzigartige Einblicke hinter die Kulissen und führt für dieses politische Porträt viele Gespräche mit dem Kanzler, seinem Team, seinen Weggefährten. Ein Porträt aus der Nähe, in dem Kerns Pläne für eine radikale politische Erneuerung deutlich werden.
Lese-Probe zu „Christian Kern “
Robert Misik - Christian Kern; Ein politisches PortraitAls Arbeiterkind in Simmering
Simmering, Kaiser-Ebersdorfer Straße. Hier ist Christian Kern
in den sechziger und siebziger Jahren aufgewachsen, in einem
schmucklosen Neubau, im Krieg zerstört, Ende der sechziger
Jahre wiederaufgebaut. Es ist bis heute eine seltsame Wohngegend.
Neue Häuser, Gemeindebauten und vorstädtische, fast
dörfliche, einstöckige Häuser sind ohne jeden Plan nebeneinander
gewachsen. Als Rudolf und Lieselotte Kern mit ihren
Kindern, dem kleinen Sohn und der älteren Tochter Andrea,
einziehen, wuchert die Stadt gerade hierher und verwandelt
das Dorf in einen seltsamen Hybriden aus Stadt und Land.
Eine Ecke weiter, in der Florian-Hedorfer-Straße, geht Kern in
die Volksschule. Eine der damals modernen Rundturnhallen
wird neben der Schule gebaut. Manche der Vorstadthäuser in
der Umgebung stammen noch aus dem 19. Jahrhundert. Zugleich
wird Gemeindebau nach Gemeindebau hochgezogen.
Die Kleingartensiedlung Simmeringer Haide ist nur einen
Steinwurf entfernt, dahinter bläst das Biomassekraftwerk in
der Heidequergasse seine Rauchschwaden in die Luft. Der Bub
und die große Schwester beziehen ein gemeinsames Kinderzimmer.
Auf dem großen, altmodischen Magnet-Tonbandgerät
der Schwester läuft der Sound der Zeit: ›Brown Sugar‹ von
den Stones. Der Junge spielt mit Spielzeugindianern. »Die Figuren
habe ich dann auf die großen Rollen von dem Tonband
gestellt«, erzählt Kern lachend. »Die haben sich dann ganz toll
gedreht.«
... mehr
Ein Arbeiterbezirk, eine Gegend für kleine Angestellte
und Kleingewerbe. Draußen bei der Simmeringer Hauptstraße
liegt der Zentralfriedhof. Über dem Bezirk hängen oft
die stinkenden Schwefelwolken der Raffinerie der ÖMV. Noch
im Morgengrauen, in der Finsternis, schieben sich die ÖMVler
in langen Autolawinen oder mit dem werkseigenen Bus zur
Morgenschicht. Es sind die späten sechziger und die frühen
siebziger Jahre. Auf die Armut der Nachkriegszeit folgen Wiederaufbau
und Wirtschaftswunder. Die Sozialdemokratie ist
nicht nur die alles bestimmende Kraft in Wien, gerade in Bezirken
wie Simmering ist »die Partei« ein Netzwerk, das das Leben
strukturiert - in den kleinen Vierteln, im Gemeindebau. Aber
eine proletarische Idylle ist das alles natürlich bestenfalls in der
verklärten Rückschau. Auch die Welt der Arbeiter und kleinen
Angestellten ist geprägt von Konventionen. Die Leute leben eher
konservativ, auch wenn sie sozialdemokratisch wählen. Man ist
achtsam darauf bedacht, nicht aus der Reihe zu tanzen, denn:
»Was sollen denn die Leute denken?« Das sind die üblichen
Sprüche. Und die Parteifunktionäre führen sich ein wenig auf
wie die Obrigkeit. Christian Kern wächst in dieser Welt auf. In
einer ganz normalen Familie. Und normal hieß damals: Man
lebt in bescheidenen Verhältnissen, aber man weiß, dass es
jedes Jahr besser wird. Man weiß, dass ein Aufstieg möglich ist,
dass man es zu etwas bringen kann, wenn man sich anstrengt.
Und man weiß, dass Bildung der Schlüssel zum Aufstieg ist. In
diesen Familien aus der unteren Mittelschicht oder der Arbeiterklasse
ist es eine Selbstverständlichkeit, dass die Kinder etwas
erreichen werden, was die Eltern noch nicht erreicht haben.
Das ist das Versprechen der SPÖ von Bruno Kreisky. Aber
es ist mehr als das: Es ist einfach die Erfahrung dieser Jahre.
Christian Kerns Vater ist Arbeiter, aber nicht in einem
großen Industrieunternehmen, sondern in einem kleinen Installationsbetrieb.
»Mein Vater hat Elektriker gelernt, meine
Mutter hat eine Handelsschule besucht«, erzählt Kern. »Mein
Vater hat Waschmaschinen verkauft und repariert und ist
durch ganz Österreich getingelt. Meine Mutter war Sekretärin,
bei SKF und bei Nivea. Dann haben sie ihr eigenes Geschäft
gegründet, ein Milchgeschäft im zehnten Bezirk. Das haben
sie gemeinsam geführt. Danach hat mein Vater eine Taxilizenz
erworben und ist Taxi gefahren. Damit hat er das Familieneinkommen
bestritten. Die Mama ist dann zu Hause geblieben«
und hat sich um den kleinen Sohn und die zehn Jahre ältere
Schwester gekümmert.
War die Kultur, in der Christian Kern aufwuchs, eher
eine proletarische oder eher die eines Kleinunternehmertums?
Wer in diesen vorstädtischen Milieus der späten sechziger
und frühen siebziger Jahre groß wurde, der weiß, dass diese
Welten durchaus aus verschiedenen Milieus bestanden. Wenig
Geld im Familienbudget hatten alle, aber es war doch ein Unterschied,
ob man Lagerarbeiter in einem großen Industriebetrieb
war - und damit eingebettet in ein Kollektiv von hunderten
Kollegen, mit dem dazugehörigen Gemeinschaftsgeist -,
oder Facharbeiter in einer kleinen Drei-Mann-Firma, oder
Kleingewerbetreibender oder technischer Angestellter im
Büro. Aus den Proletenkindern von gestern waren schon die
aufstiegsorientierten Mittelschichten geworden. Kern denkt
kurz nach. »Ich würde sagen, es war so eine Art von Hybrid,
also eine Mischung aus Arbeiter- und Kleingewerbekultur.
Meine Eltern haben immer viel gearbeitet. Sie sind früh aufgestanden
und haben ein immenses Arbeitsethos gehabt.«
In der Familie war, wie das damals oft üblich war, »der
Papa der gemütliche Typ«. Die Väter rackerten sich in der Arbeit
ab, aber wenn sie abends nach Hause kamen, wollten sie
nicht auch noch die Kinder erziehen oder sie zum Lernen antreiben.
Die Mütter kümmerten sich tagsüber darum, dass aus
den Kindern etwas wird. »Meine Mutter war extrem getrieben
von Bildung, Bildung, Bildung. Bildung und Schule waren das
Wichtigste. Sie hat immer geschaut, dass die Hausaufgaben
gemacht werden. Dass ich rausgehe und Fußball spiele, ohne
dass vorher die Hausaufgaben gemacht waren, das gab es nie.
Die Mama hat auch sehr darauf geachtet, dass ich lese. Dass
Bücher im Haus sind. Ich habe schon früh auch politische
Literatur
gelesen.«
Rudolf und Lieselotte Kern leben mit ihren zwei Kindern
in einer kleinen Drei-Zimmer-Wohnung. Hinter dem Haus
spielen die Buben auf einer Wiese Fußball - eine Gstätten,
wie man in Wien sagte, die der Hausmeister gelegentlich aus
Freundlichkeit mähte. »Ich war ein begeisterter Sportler«, erzählt
Kern. Als Teenager spielt er Basketball bei UKJ Tyrolia,
Fußball bei Simmering und später Tennis beim Tennisklub
in Großenzersdorf. Es ist keine klassische sozialdemokratische
Familie, in die Kern hineingeboren wird. »Meine Eltern
waren nicht zwingend SPÖ-Wähler.« Als Kind ist Kern bei der
Katholischen Jungschar - »das war aber nur eine Episode«,
erzählt er -, und eine Zeit lang gehört auch der sonntägliche
Kirchgang dazu, »solange ich mich nicht wehren konnte«. Es
ist eher eine Welt der Gleichheit und Gemeinschaftlichkeit,
die so etwas wie implizite politische Grundhaltungen transportiert,
ohne dass darüber viel geredet werden muss.
Dass man teilt. Dass man sich um die Leute im Viertel kümmert.
Dass man Leute zum Essen einlädt, die noch weniger haben
als man selbst. Das war damals beinahe eine Selbstverständlichkeit.
Das war die Arbeit am Gemeinwesen, die üblicherweise
von den Müttern erledigt wurde - wenn man das so
formulieren kann. Auch in Kerns Familie war es die Mutter,
erzählt er, »die eine starke soziale Ader gehabt und alte Leute
aus der Gegend zum Kaffee oder zum Essen eingeladen hat.
Ich werde nie den Herrn Vitasek vergessen, der hat immer
die A3-Zigaretten geraucht und davon ganz braune Fingernägel
gehabt. Das war ein lieber älterer, verwitweter Herr, den
meine Mama immer wieder eingeladen hat. Und andere Leute
auch.«
Reich ist die Familie nie. »Aber ich bin sehr privilegiert
gewesen. Es gab zwar nicht viel Geld, aber im Übermaß liebevolle
Behandlung der Kinder.« Erst als er im Gymnasium als
eines von zwei Kindern aus der Klasse finanzielle Unterstützung
beantragen muss, um auf den Schulschikurs mitfahren
zu können, »ist mir erstmals aufgefallen, dass wir nicht zu den
besser Ausgestatteten zählen.«
»War das peinlich?«, frage ich nach.
»Na ja, ich hab' bemerkt, das ist anders als bei den anderen.
Es ist mir in Erinnerung geblieben. Also insofern muss es
mich schon irgendwie berührt haben.«
Es sind diese kleinen Details, an denen man als Kind
merkt, dass die Welt nicht so egalitär ist, wie scheinbar alle
tun. Schon in der Volksschule werden die Kinder von Lehrern
oder jene, deren Eltern eine große Gärtnerei haben, ein
wenig anders behandelt. Vor allem, wenn etwas nicht so gut
läuft. »Manchen sah man Fehltritte eher nach als anderen.«
In der vierten Volksschulklasse hat Kern lauter Einser, außer
im Fach »Deutsch und Schönschreiben« - da reichte es nur
für eine Zwei. »Meine Lehrerin hat dann meiner Mutter einen
langen Brief geschrieben, dass ich es leider nicht aufs Gymnasium
schaffen werde. Die Mama hat dann alles in Bewegung
gesetzt, dass es doch klappt.
Das sind so Dinge, die man sich
merkt, die kränken -, und das führt dann dazu, dass man
vielleicht gerade einen besonderen Ehrgeiz in diesen Fächern
entwickelt. Als ich dann schon ÖBB-Chef war«, erzählt Kern
lachend, »rief mich dann einmal der Portier an, eine ältere
Dame sei da, die sagt, sie sei meine Volksschullehrerin. Und
sie kam dann hinauf, brachte mir eine Schachtel Makronen
und sagte voller Stolz auf ihren einstigen Schüler: ›Ich habe es
ja immer schon gewusst, dass aus Ihnen etwas wird.‹ Da hab'
ich still in mich hineingeschmunzelt und nichts gesagt.«
In den aufstiegsorientierten Milieus arbeitet man viel,
man nimmt wenig ein, und man geht penibel damit um - um
sich etwas zu ersparen. »Als der Papa vor ein paar Jahren sehr
krank geworden ist, habe ich meiner Mutter geholfen, den Papierkram
für die Pflege zu erledigen. Die hatten gemeinsam
1200 Euro Rente. Das heißt, sie haben ein entsprechend niedriges
Einkommen gehabt. Aber mit dem Einkommen haben
sie sich eine kleine Eigentumswohnung in Simmering erwirtschaftet,
und ein kleiner Schrebergarten in Großenzersdorf
ging sich auch aus.«
Es herrscht ein Ethos der Sparsamkeit, man dreht jeden
Schilling um. »Man leistet sich keinen Luxus. Das Einzige war:
Einmal im Jahr sind wir auf Schiurlaub gefahren, ein, zwei
Wochen nach Bad Kleinkirchheim, Mitterbach oder Bad Mitterndorf.
Man wohnte in einem Pensionszimmer, und abends
hat man am Zimmer gegessen. Und einmal im Urlaub, das
war der einzige Luxus im Jahr, ging man ins Restaurant. Das
war dann der Höhepunkt.« Die Sommer verbringt die Familie
im Schrebergarten in Großenzersdorf. »Meinen ersten Auslandsurlaub
habe ich mit 18 gemacht, da sind wir im Sommer
dann nach Italien gefahren, nach Jesolo.«
Politisch und unpolitisch zugleich
Es sind Erfahrungen wie die Hilfsbereitschaft der Mutter gegenüber
Herrn Vitasek und den anderen Leuten aus dem
Viertel, die so etwas wie Werteerziehung, eine Ethik vermitteln,
die politisch ist, ohne explizit politisch zu sein. »Mein
Vater war ein total unpolitischer Mensch. Aber er hat immer
voller Ekel erzählt, wie die Nazis in der Leopoldstadt, wo er
aufgewachsen ist, einen auf großer Mann gemacht haben. Der
Abschaum, der Abschaum, das waren die Ersten, die bei den
Nazis waren. Er hat immer mit Schaudern erzählt, wie dreckig
man sich benehmen kann.« Geschichten wie diese sind im
Haushalt präsent. »Meine Großmutter war Haushälterin bei
einem älteren jüdischen Ehepaar. Und die mussten sich dann
nach 1938 auf dem Dachboden verstecken. Meine Mutter, die
damals ein kleines Mädchen war, hat diesem Ehepaar dann
immer Essen vorbeigebracht. Und sie hat uns sehr oft erzählt,
dass eines Tages die Gestapo vor der Tür stand und die Gestapomänner
sie mit dem Essen weggescheucht haben.
Die beiden Eheleute sind dann deportiert worden. Diese Geschichten
haben mich schon sehr geprägt. ›Kümmer dich um andere,
schau nicht weg‹ - das war das, was mir vermittelt wurde.«
Seine Teenagerjahre verbringt Kern im Gymnasium
Gottschalkgasse. Es sind die späten siebziger, frühen achtziger
Jahre, für die jungen Leute ist Bruno Kreisky nicht unbedingt
ein Held, auch die Sozialdemokratie übt nicht gerade eine
große Anziehungskraft auf aufgeweckte Heranwachsende
aus. Die Zeiten haben sich geändert. Österreich ist moderner
geworden, nicht zuletzt aufgrund der Kreiskyschen Reformpolitik,
aber es ist nicht so, dass man dem langjährigen
Bundeskanzler und seiner Regierung dafür ewig dankbar ist.
Im Gegenteil: Gerade den jungen Leuten, denen diese Jahre
neue Chancen bieten und damit einen Aufstieg ermöglichen,
eröffnet sich damit eben auch eine neue Welt, ein weiterer
Horizont. Neue Stile setzen sich durch. Auch neue Formen
des politischen Engagements. Eine Alternativkultur kommt
auf. Nicht weit von Kerns Wohngegend, in der Arena in Sankt
Marx, wurde schon in den siebziger Jahren der Schlachthof
besetzt - eine neue Art von alternativer Gegenkultur
sollte hier eine Heimstatt bekommen, fordern die Besetzer.
Sozialdemokratie - das ist für viele junge Leute einfach reformerisch,
lauwarm, nicht radikal genug. Kollektivverträge,
Lohnerhöhungen, Gratisschulbücher - das kann doch nicht
alles sein, worum es geht im Leben! Auch in den Familien entstehen
Generationskonflikte. Die Chancen, die Bildung und
damit sozialer Aufstieg bieten, haben genauso wie die Rasanz
des gesellschaftlichen Wandels zumeist einen hohen Preis: Die
Kinder leben in einer radikal anderen Bedeutungswelt als die
Eltern. Oft zieht Sprachlosigkeit in die Familien ein, weil die
Kinder die Welt ihrer Eltern spießig und eng finden, und weil
umgekehrt die Eltern die neue Welt ihrer Kinder kaum mehr
verstehen können. Selten vorher und auch nachher waren die
Lebenswelten der Jungen und der Alten so weit voneinander
getrennt wie in den Generationen der zwischen 1960 und 1970
Geborenen.
Die Siebziger - Jahre des Aufbruchs
Bei den Kerns ist all das nicht so dramatisch. »Wolltest du aus
deiner Welt ausbrechen?«, frage ich. »Gar nicht«, antwortet er.
»Das war die perfekte Kinderwelt.« Aber auf seine Weise gerät
auch Christian Kern in den Sog der Zeit. Jeder ist schließlich
auch ein Kind seiner Zeit. Der 71er, die Straßenbahnlinie, die
schnurgerade über den Rennweg bis zur Simmeringer Hauptstraße
fährt und beim Zentralfriedhof ihre Schleife zieht, sie
verbindet den Stadtrand mit der Innenstadt. In metaphorischerem
Sinn ist sie die Verkehrsader, die aus der Vorstadt zur
Moderne führt, zu aufregenden Gedanken, zu neuen, kulturellen
Eindrücken, zu einer neuen urbanen Lebendigkeit, die
vor allem in den frühen achtziger Jahren entsteht.
Schon in der Unterstufe wird Christian Kern einmal
Klassensprecher, im Jahr darauf aber nicht mehr. Da übernimmt
sein Klassenkollege Wolfgang Trimmel den Job - dem
Kern amüsanterweise später wieder begegnen wird -, Trimmel
ist seit einigen Jahren Sektionschef im Bundespressedienst,
also direkter Mitarbeiter des jeweiligen Bundeskanzlers,
und somit seit Mai 2016 auch von Kern. »In der Mitte
des Jahres ist die Klasse an mich herangetreten«, erzählt
Trimmel, »und hat mir gesagt: du machst das nicht so super,
wir wollen wieder, dass der Christian das übernimmt. Er war
wahrscheinlich schon damals der konzeptivere Mensch«,
lacht Trimmel heute darüber. In der Oberstufe wird Kern
dann auch Schulsprecher.
Gerade die Simmeringer SPÖ ist für viele der jungen
Leute ein rotes Tuch. »Damals gab es im ganzen Bezirk ein
Gymnasium«, erzählt Trimmel. »Für rund 60 000 Einwohner.
Von der sozialdemokratischen Bildungspolitik kam wenig in
Simmering an. Und die SPÖ Simmering stellte sich auf den
Standpunkt - das haben die damals offen ausgesprochen -,
›was brauchen wir mehr Gymnasiasten, die wählen uns dann
eh nicht‹. Diese ganze Haltung machte uns damals verrückt -
mit denen wollte ich nichts zu tun haben.« Gerade zehn Prozent
der Kinder schaffen es in Simmering zu dieser Zeit bis
zur Matura. Die Gottschalkgasse ist nicht gerade eine Schule,
die Reformpädagogik hochhält. Es herrscht ein konservativer
Grundgeist, aber, so Trimmel, »die Stimmung der Zeit, der
Zeitgeist, sie waren natürlich aufklärerisch«.
Christian Kerns engster Freundeskreis in der Oberstufe
empfindet sich als »anarchistisches Basiskomitee - im Rückblick
ein kurioser Spleen«. Über einen linken Buchhändler
kommen die jungen Leute in Kontakt mit rebellischen
Ideen. Sie lesen Bakunin, Kropotkin und andere Urheber
weltrevolutionärer Theorien: »Auch ›Walden - oder vom
Leben im Walde‹ von Henry David Thoreau haben wir damals
gelesen, dieses berühmte, radikale, antiautoritäre Aussteigerbuch
aus dem 19. Jahrhundert.« Aber genauso wird Monat für
Monat zum »Rennbahn-Express« gegriffen, der Jugendzeitung,
die damals so etwas wie die »Bravo« für die an gesellschaftlichen
Themen interessierten Teenager war.
»Klar, den musstest du lesen«, erinnert sich Christian Kern. In der Klasse
sind es »zwei, drei Schulkollegen, die sich für gesellschaftskritische
Themen interessieren«. Der Lehrer für Geschichte
und Politische Bildung »hatte einen starken Einfluss. Der kam
mit Artikeln aus der Neuen Zürcher Zeitung, wir hielten Referate
über die Ausbeutung Lateinamerikas. Eines Tages hatte
der Lehrer einen Exilafghanen in die Stunde eingeladen. An
den muss ich bis heute immer wieder denken. Der Lehrer
brachte viele Leute von außen, das waren prägende Begegnungen.
« Filme werden gesehen - etwa der legendäre Streifen
»Z - Anatomie eines politischen Mordes« (1968) von Costa-
Gavras, der die griechische Militärdiktatur thematisierte und
heute ein genrebildender Klassiker des politisch engagierten
Kinos ist. »Wenn ich darüber nachdenke, muss ich sagen, der
hat einen ganz schönen Einfluss gehabt.« Der Lehrer war von
der Grundhaltung eher ein katholischer Bürgerlicher, einer,
der diesen »mitfühlenden Ansatz vertreten hat, dass die Welt
vor Ungerechtigkeiten strotzt, bei denen man nicht wegsehen
darf«.
All das vermischt sich: das Katholisch-Karitative, das
Christian Kern noch aus der Jungschar kennt, mit dem Links-
Rebellischen. »Es waren Jahre der Auflehnung.« Noch Jahre
später, lacht Kern, war diese komische Mixtur tief in ihm
drinnen. »Ich kann mich erinnern, da war ich schon bei den
sozialistischen Studenten, da hatten wir die linkssozialistische
Widerstandslegende Josef Hindels zu Gast, und ich sage ganz
instinktiv ›Grüß Gott‹ zu dem. Da hat er mich angeschaut, das
war ja nicht der übliche Gruß in seinen Kreisen.«
Die Teenager saugen all das ein - eher unsortiert und
unsystematisch, aber doch konzise genug, um sich als entschiedene
Weltverbesserer zu verstehen. Ökologische Themen
gewinnen an Brisanz. Erste Bürgerinitiativen entstehen, etwa
die gegen die Entsorgungsbetriebe Simmering, die lokale Müllverbrennungsanlage,
die die Luft verpestet und asthmakranke
Kinder produziert. Kern: »Das war schon wichtig, das war ja
ein ernstes Problem.« Die ersten Vorformen der späteren Grünen
entstehen, und der junge Christian Kern ist als Gymnasiast
einer der lokalen Protagonisten. Er wird Mitbegründer der Alternativen
Liste Simmering, und noch als 19-jähriger ist er bei
der Gründung der Grünalternativen Liste (GAL) dabei, einer
eher linken Grünen-Liste, die bei den Nationalratswahlen 1986
antritt und läppische 6005 Stimmen erreicht.
Aber schon bald verlässt Christian Kern den Orbit der
Ökologie- und Alternativbewegung. Er hat Soziologie und Politikwissenschaften
inskribiert und nimmt ein Buch zur Hand,
das ihm vor Jahren schon der Geschichtelehrer empfohlen hat.
»Realisten oder Verräter?« (1976) von Günther Nenning. Nenning
war damals ein Zentralgestirn der sozialdemokratischen
Gesellschaftskritiker: Journalist vom Brotberuf, Vorsitzender
der Journalistengewerkschaft, Chefredakteur des Intellektuellenblattes
»Neues Forum«, launig-eloquenter Gastgeber der
Fernseh-Talksendung Club 2 - und vor allem der originelle
Kopf, den Bruno Kreisky seinerzeit halb herablassend, halb
liebevoll »Wurschtel« genannt hatte. Ausgerechnet Nenning,
der selbst zum Grünen geworden und 1985 spektakulär aus
der SPÖ ausgeschlossen worden war, sollte Kern vom Grünen
zum Sozialdemokraten machen. »Das war für mich wirklich
ein Schlüsselwerk. Das hat mich damals sehr beeindruckt. Ein
toll geschriebenes Buch, jedenfalls habe ich es so in meiner
Erinnerung.« Die Revolutionsrhetorik der Linksradikalen
sei, schreibt Nenning in dem Buch, ein »Fuchteln mit dem
Pappschwert«. In entwickelten, modernen Gesellschaften sind
Kapitalismus und Sozialdemokratie aneinandergekettet und
der Sozialismus kann nur mit kleinen Schritten verwirklicht
werden. »Was man braucht, ist eine große Mehrheit.« Radikalinskigetue
sei etwas für die bürgerlichen Intellektuellen,
bei denen immer erst die Idee vom Sozialismus kommt, der
reale Arbeiter aber zweitrangig ist. »Die Arbeiter aber müssen
zunächst einmal leben.« Und es ist die menschenfreundliche
Sozialdemokratie, die die Lebensbedingungen der Menschen
Schritt für Schritt verbessert. »Gelebt werden muss jetzt und
heute und nicht erst im künftigen Sozialismus.«
Nenning beweist dann noch auf unzähligen Seiten, dass schon der späte
Karl Marx kein Revolutionär mehr war, sondern ein sozialdemokratischer
Reformist, der auf den »Marsch durch die Institutionen
« schwor. »Sanftheit ist Stärke - auch das könnte eine
Definition von Sozialdemokratie sein«, formuliert Nenning in
dem ihm eigenen, poetisch-kitschigen Stil.
Nenning macht Kern zum Sozialdemokraten. »Das Buch
hat mir gezeigt, dass du als ordentlicher Weltveränderungsmensch
Sozialdemokrat sein kannst«, erzählt Kern heute.
Höchstwahrscheinlich hat Kern freilich in dem Buch primär
Argumente für Gedanken gefunden, die schon länger ungeordnet
in seinem Kopf herumspukten. »Die Grünen waren
mir doch zu abgehoben von den wirklichen Problemen der
Menschen. Das habe ich damals begonnen, so zu empfinden,
und in Simmering hast du das natürlich auch noch leichter
so empfunden.« So verstaubt die Sozialdemokratie auch war,
so war sie doch eine große Gemeinschaft, in der auch ganz
einfache Leute ihren Platz hatten - und zugleich mächtig
genug, um etwas zu bewegen. Als Arbeiterkind aus Simmering
hatte Christian Kern doch einen etwas anderen Blick auf
die Wirklichkeit, als Bürgerkinder aus Akademikerhaushalten
ihn zu jener Zeit haben konnten. Am 1. November 1985 tritt
Kern der SPÖ bei, engagiert sich in Simmering in den Jugendorganisationen
und auf der Universität bei den sozialistischen
Studenten.
Schon damals fällt er mit Charaktereigenschaften auf,
die ihm in seiner späteren Karriere hilfreich sein werden. »Er
hat einfach eine positive Ausstrahlung. Ich hab' ihn als Sympathikus
empfunden, wie man so schön sagt«, erzählt Alfred
Gusenbauer über seinen ersten Eindruck von Christian Kern,
den er vor dreißig Jahren kennenlernte. Gusenbauer war
damals Vorsitzender der Sozialistischen Jugend und ist seit
diesen Tagen mit Kern befreundet. Christian Kern hat schon
damals einfach eine gewinnende Art, die von manchen später
gelegentlich auch als instrumentell angesehen wird, als Fassade
und als planmäßiger Versuch, Netzwerke und Bekanntschaften
zu knüpfen. Mag sein, dass solche Absichten dann
und wann dazukommen, aber diese positive Grundeinstellung
entspricht auch tatsächlich Kerns Charakter. »Ich bin ja eine
Frohnatur normalerweise«, erzählt Kern. »Wenn ich mir das
Bein breche, dann sag ich, du, super, mit einem Bein, kein
Problem, macht gar nix. Damit hüpft es sich doch auch ganz
prima. Und geht ja wieder vorbei.« Mit dieser Ausstrahlung
geht - oder hüpft - Kern durch die Welt. Sie sollte ihm nicht
unbedingt zum Schaden gereichen. Er verbreitet gute Stimmung
und achtet darauf, nirgendwo anzuecken.
Die siebziger und achtziger Jahre sind auch jene Phase,
in der sich die Lebensentwürfe einer ganzen Generation ändern.
Wer studiert, der tut das einige Jahre. Aber auch die
Jugendlichen, die eine Lehre machen und früh in den Beruf
eintreten, leben sich in ihren Zwanzigern noch ordentlich aus.
Man hat wechselnde Beziehungen, bindet sich später. Das Studentenleben
hat auch etwas Unernstes: Zielstrebigkeit ist nicht
gerade der höchste aller Werte im Junge-Leute-Milieu. Man
lässt sich nicht einfach so treiben, aber Zukunftssorgen waren
auch nicht sonderlich verbreitet. Man will möglichst viele außergewöhnliche
Eindrücke, spektakuläre Erlebnisse und spannende
Gedanken aufsaugen, man will lesen und lernen. Wie
kann man denn ein kreatives Leben führen, wenn man sich
nicht mit tausenden interessanten Phänomenen konfrontiert?
Familiengründung? Daran denkt kaum jemand von den damaligen
Twentysomethings. Kurzum, es entstehen jene Muster,
die Soziologen später unter dem Begriff der »verlängerten
Jugend« zusammenfassen werden.
Junger Vater - und Jahre als Alleinerzieher
Christian Kern fällt in dieser Hinsicht aber schnell aus dem
Rahmen. Er lernt Karin Wessely kennen, die er früh heiratet,
die beiden ziehen zusammen, und bald wird ihr erster Sohn,
Nikolaus, geboren. Vater mit 22 - das war in diesen Jahren
und diesen Kreisen ziemlich einzigartig und originell. »Während
die anderen abends ausgegangen sind, war das bei mir
schnell zu Ende«, erzählt Kern. »Babysitter kannst du dir nicht
leisten, und ich hatte daran auch kein großes Interesse gehabt.
Ich fand das ja großartig, Zeit mit dem Niko zu verbringen.«
Bisher hatte Kern sein Geld mit Ferial- und Studentenjobs
verdient. Mit Babysitten, beispielsweise. Oder in der Eduscho
Kaffeefabrik in Simmering, »da haben wir die Kaffeesäcke
auf die LKWs geladen und am Fließband die Deckel
auf die Dosen geschraubt«. Oder im Zentrum Simmering, der Einkaufsmall,
bei Sport Klepp, »da habe ich im Verkauf gearbeitet
und Tennisschläger bespannt«. Damit hatte Kern seine erste
Studentenbude in der Simmeringer Hauptstraße finanziert -
»28 Quadratmeter, mit Gaskonvektorheizung und Fließwasser
von den Wänden«, erzählt er lachend -, später war er mit Wessely
in die Reinprechtsdorfer Straße nach Margareten gezogen.
Nach der Geburt des Sohnes wohnt die junge Familie
erst in einer kleinen Wohnung in der Reinprechtsdorfer
Straße und zieht dann weit draußen nach Favoriten, in einen
Gemeindebau hinter dem Erholungsgebiet am Wienerberg.
»Wir haben uns aber nach einiger Zeit nicht mehr ganz so gut
verstanden, wie das so ist.« Das junge Paar trennt sich. Und
Niko bleibt beim Vater. Ein paar Jahre lang bleibt Kern alleinerziehender
Vater, versucht Studium, Studentenpolitik, Jobs
und die Erziehung seines Sohns unter einen Hut zu bringen.
Und die Liebe zu geben, die so ein kleines Kind braucht. »Du
schreibst halt dann die Seminararbeiten nachts, wenn das
Kind schläft - wie das halt so üblich ist.«
Wir sitzen in Kerns Büro in der SPÖ-Zentrale, Kern erzählt
über die junge Familie, über die Entfremdung des jungen
Elternpaares, darüber, wie das Kind unter der Trennung gelitten
hat, aber auch über seine Mutter und die schwere Krankheit
des Vaters, die letzten Minuten am Todesbett des Vaters -
über all die schwierigen Momente im Leben, denen man nicht
auskommt, und in denen man die Dinge richtig, aber auch
verdammt falsch machen kann. Später finden Kern und Wessely
wieder zusammen und bekommen zwei weitere Söhne,
Simon und Paul, trennen sich wieder - Niko bleibt beim Vater,
die zwei jüngeren Buben bei der Mutter. »Weißt du«, sagt er
dann, »das ist schon ein Prinzip: Du hast eine Verantwortung
im Leben und der hast du dich am Ende zu stellen, auch wenn
es nicht bequem ist.« Ein Satz, den man pathetisch vortragen
kann, ein Satz auch, der einen gewissen Kitschcharakter hat.
Aber Kern sagt ihn mit einer nüchternen Beiläufigkeit, einfach
so gelassen dahin. In dem Ton, als sei das doch nun einmal
eine Selbstverständlichkeit.
Bei der Hochschülerschaftswahl 1989 ist Kern Spitzenkandidat
der sozialistischen Studenten in Wien. Freundschaften
entstehen, die bis heute halten: David Mock ist immer mit
dabei, der später bei Viktor Klima im Kanzleramt arbeiten
wird. Stefan Pöttler, der ein paar Jahre danach in Alfred Gusenbauers
Kabinett eine tragende Rolle spielen wird. Alle zwei
gehören zu den langjährigen Weggefährten von Kern. Später
holt er sie als Mitarbeiter in die ÖBB. Bubenfreundschaften,
die Männerseilschaften werden.
Gemeinsam geben die Studentenaktivisten ein Magazin
heraus, das »Rotpress«. Kern ist Chefredakteur. In dieser
Funktion geht er in die Viehmarktstraße, wo die Landstraßer
Hauptstraße in die Simmeringer Hauptstraße übergeht und in
diesen Jahren die »Arbeiter-Zeitung« ihre Redaktion hat. Fast
hundert Jahre lang war die AZ das Zentralorgan der SPÖ, bis
sie in die Unabhängigkeit entlassen wurde und unter dem,
vom ORF abgeworbenen Chefredakteur Robert Hochner ein
Laboratorium parteifreien, aber linksliberalen Journalismus
wurde. Kern soll Hochner interviewen und fragt ihn, ob die
verstaubte Apparatpartei SPÖ nicht wie ein Klotz am Bein
der neuen Zeitung hänge: »Glauben Sie nicht, dass der sozialdemokratische
Stallgeruch ... der AZ anhaftet und damit
auch ihre Glaubwürdigkeit infrage stellt?
« Vielleicht ist das Abenteuer, die »Arbeiter-Zeitung« zu reformieren, ein unmögliches
Unternehmen, antwortet Hochner, der seinen Job
als Fernsehstar für dieses Abenteuer an den Nagel gehängt
hat. Aber, so Hochner: »Das Land braucht gerade Leute, die
hin und wieder bereit sind, ihre Existenz aufs Spiel zu setzen.«
Nach dem Interview fachsimpeln die beiden noch über Sport.
Hochner bietet Kern an, als Sportredakteur in der AZ zu beginnen.
Aber nur, wenn der Chefredakteur ihm zusage, dass
er nächstes Jahr live von der Tour de France berichten und bei
der Königsetappe von Alpe d'Huez vor Ort dabei sein dürfe,
erwidert Kern. »Abgemacht«, sagt Hochner.
Gleich danach ruft Kern seinen alten Freund Karl Pachner
an. »Stell dir vor, der Hochner hat mir angeboten, bei der
AZ anzufangen«, erzählt er Pachner, der eine kleine Nachrichtenagentur,
den »Wirtschaftspressedienst«, leitet. »Mach doch
keinen Unsinn, Sportredakteur ist doch nichts für dich«, antwortet
Pachner. »Wenn du schreiben willst, dann fang doch
bei uns an.«
Und so wird Kern Wirtschaftsjournalist.
Doch die Idee, AZ-Redakteur zu werden, hätte Kern
schon gereizt. »Der Bruno Kreisky wollte doch auch immer
Redakteur der Arbeiter-Zeitung werden. Das war sein Lebensziel
«, sagt er.
»Aber doch nicht Sportredakteur«, gebe ich lachend zurück.
»Ich habe mich gegen das Herz und für den Kopf entschieden
«, erwidert Kern. Ein Satz, den er noch häufiger sagen wird.
©Residenz
Ein Arbeiterbezirk, eine Gegend für kleine Angestellte
und Kleingewerbe. Draußen bei der Simmeringer Hauptstraße
liegt der Zentralfriedhof. Über dem Bezirk hängen oft
die stinkenden Schwefelwolken der Raffinerie der ÖMV. Noch
im Morgengrauen, in der Finsternis, schieben sich die ÖMVler
in langen Autolawinen oder mit dem werkseigenen Bus zur
Morgenschicht. Es sind die späten sechziger und die frühen
siebziger Jahre. Auf die Armut der Nachkriegszeit folgen Wiederaufbau
und Wirtschaftswunder. Die Sozialdemokratie ist
nicht nur die alles bestimmende Kraft in Wien, gerade in Bezirken
wie Simmering ist »die Partei« ein Netzwerk, das das Leben
strukturiert - in den kleinen Vierteln, im Gemeindebau. Aber
eine proletarische Idylle ist das alles natürlich bestenfalls in der
verklärten Rückschau. Auch die Welt der Arbeiter und kleinen
Angestellten ist geprägt von Konventionen. Die Leute leben eher
konservativ, auch wenn sie sozialdemokratisch wählen. Man ist
achtsam darauf bedacht, nicht aus der Reihe zu tanzen, denn:
»Was sollen denn die Leute denken?« Das sind die üblichen
Sprüche. Und die Parteifunktionäre führen sich ein wenig auf
wie die Obrigkeit. Christian Kern wächst in dieser Welt auf. In
einer ganz normalen Familie. Und normal hieß damals: Man
lebt in bescheidenen Verhältnissen, aber man weiß, dass es
jedes Jahr besser wird. Man weiß, dass ein Aufstieg möglich ist,
dass man es zu etwas bringen kann, wenn man sich anstrengt.
Und man weiß, dass Bildung der Schlüssel zum Aufstieg ist. In
diesen Familien aus der unteren Mittelschicht oder der Arbeiterklasse
ist es eine Selbstverständlichkeit, dass die Kinder etwas
erreichen werden, was die Eltern noch nicht erreicht haben.
Das ist das Versprechen der SPÖ von Bruno Kreisky. Aber
es ist mehr als das: Es ist einfach die Erfahrung dieser Jahre.
Christian Kerns Vater ist Arbeiter, aber nicht in einem
großen Industrieunternehmen, sondern in einem kleinen Installationsbetrieb.
»Mein Vater hat Elektriker gelernt, meine
Mutter hat eine Handelsschule besucht«, erzählt Kern. »Mein
Vater hat Waschmaschinen verkauft und repariert und ist
durch ganz Österreich getingelt. Meine Mutter war Sekretärin,
bei SKF und bei Nivea. Dann haben sie ihr eigenes Geschäft
gegründet, ein Milchgeschäft im zehnten Bezirk. Das haben
sie gemeinsam geführt. Danach hat mein Vater eine Taxilizenz
erworben und ist Taxi gefahren. Damit hat er das Familieneinkommen
bestritten. Die Mama ist dann zu Hause geblieben«
und hat sich um den kleinen Sohn und die zehn Jahre ältere
Schwester gekümmert.
War die Kultur, in der Christian Kern aufwuchs, eher
eine proletarische oder eher die eines Kleinunternehmertums?
Wer in diesen vorstädtischen Milieus der späten sechziger
und frühen siebziger Jahre groß wurde, der weiß, dass diese
Welten durchaus aus verschiedenen Milieus bestanden. Wenig
Geld im Familienbudget hatten alle, aber es war doch ein Unterschied,
ob man Lagerarbeiter in einem großen Industriebetrieb
war - und damit eingebettet in ein Kollektiv von hunderten
Kollegen, mit dem dazugehörigen Gemeinschaftsgeist -,
oder Facharbeiter in einer kleinen Drei-Mann-Firma, oder
Kleingewerbetreibender oder technischer Angestellter im
Büro. Aus den Proletenkindern von gestern waren schon die
aufstiegsorientierten Mittelschichten geworden. Kern denkt
kurz nach. »Ich würde sagen, es war so eine Art von Hybrid,
also eine Mischung aus Arbeiter- und Kleingewerbekultur.
Meine Eltern haben immer viel gearbeitet. Sie sind früh aufgestanden
und haben ein immenses Arbeitsethos gehabt.«
In der Familie war, wie das damals oft üblich war, »der
Papa der gemütliche Typ«. Die Väter rackerten sich in der Arbeit
ab, aber wenn sie abends nach Hause kamen, wollten sie
nicht auch noch die Kinder erziehen oder sie zum Lernen antreiben.
Die Mütter kümmerten sich tagsüber darum, dass aus
den Kindern etwas wird. »Meine Mutter war extrem getrieben
von Bildung, Bildung, Bildung. Bildung und Schule waren das
Wichtigste. Sie hat immer geschaut, dass die Hausaufgaben
gemacht werden. Dass ich rausgehe und Fußball spiele, ohne
dass vorher die Hausaufgaben gemacht waren, das gab es nie.
Die Mama hat auch sehr darauf geachtet, dass ich lese. Dass
Bücher im Haus sind. Ich habe schon früh auch politische
Literatur
gelesen.«
Rudolf und Lieselotte Kern leben mit ihren zwei Kindern
in einer kleinen Drei-Zimmer-Wohnung. Hinter dem Haus
spielen die Buben auf einer Wiese Fußball - eine Gstätten,
wie man in Wien sagte, die der Hausmeister gelegentlich aus
Freundlichkeit mähte. »Ich war ein begeisterter Sportler«, erzählt
Kern. Als Teenager spielt er Basketball bei UKJ Tyrolia,
Fußball bei Simmering und später Tennis beim Tennisklub
in Großenzersdorf. Es ist keine klassische sozialdemokratische
Familie, in die Kern hineingeboren wird. »Meine Eltern
waren nicht zwingend SPÖ-Wähler.« Als Kind ist Kern bei der
Katholischen Jungschar - »das war aber nur eine Episode«,
erzählt er -, und eine Zeit lang gehört auch der sonntägliche
Kirchgang dazu, »solange ich mich nicht wehren konnte«. Es
ist eher eine Welt der Gleichheit und Gemeinschaftlichkeit,
die so etwas wie implizite politische Grundhaltungen transportiert,
ohne dass darüber viel geredet werden muss.
Dass man teilt. Dass man sich um die Leute im Viertel kümmert.
Dass man Leute zum Essen einlädt, die noch weniger haben
als man selbst. Das war damals beinahe eine Selbstverständlichkeit.
Das war die Arbeit am Gemeinwesen, die üblicherweise
von den Müttern erledigt wurde - wenn man das so
formulieren kann. Auch in Kerns Familie war es die Mutter,
erzählt er, »die eine starke soziale Ader gehabt und alte Leute
aus der Gegend zum Kaffee oder zum Essen eingeladen hat.
Ich werde nie den Herrn Vitasek vergessen, der hat immer
die A3-Zigaretten geraucht und davon ganz braune Fingernägel
gehabt. Das war ein lieber älterer, verwitweter Herr, den
meine Mama immer wieder eingeladen hat. Und andere Leute
auch.«
Reich ist die Familie nie. »Aber ich bin sehr privilegiert
gewesen. Es gab zwar nicht viel Geld, aber im Übermaß liebevolle
Behandlung der Kinder.« Erst als er im Gymnasium als
eines von zwei Kindern aus der Klasse finanzielle Unterstützung
beantragen muss, um auf den Schulschikurs mitfahren
zu können, »ist mir erstmals aufgefallen, dass wir nicht zu den
besser Ausgestatteten zählen.«
»War das peinlich?«, frage ich nach.
»Na ja, ich hab' bemerkt, das ist anders als bei den anderen.
Es ist mir in Erinnerung geblieben. Also insofern muss es
mich schon irgendwie berührt haben.«
Es sind diese kleinen Details, an denen man als Kind
merkt, dass die Welt nicht so egalitär ist, wie scheinbar alle
tun. Schon in der Volksschule werden die Kinder von Lehrern
oder jene, deren Eltern eine große Gärtnerei haben, ein
wenig anders behandelt. Vor allem, wenn etwas nicht so gut
läuft. »Manchen sah man Fehltritte eher nach als anderen.«
In der vierten Volksschulklasse hat Kern lauter Einser, außer
im Fach »Deutsch und Schönschreiben« - da reichte es nur
für eine Zwei. »Meine Lehrerin hat dann meiner Mutter einen
langen Brief geschrieben, dass ich es leider nicht aufs Gymnasium
schaffen werde. Die Mama hat dann alles in Bewegung
gesetzt, dass es doch klappt.
Das sind so Dinge, die man sich
merkt, die kränken -, und das führt dann dazu, dass man
vielleicht gerade einen besonderen Ehrgeiz in diesen Fächern
entwickelt. Als ich dann schon ÖBB-Chef war«, erzählt Kern
lachend, »rief mich dann einmal der Portier an, eine ältere
Dame sei da, die sagt, sie sei meine Volksschullehrerin. Und
sie kam dann hinauf, brachte mir eine Schachtel Makronen
und sagte voller Stolz auf ihren einstigen Schüler: ›Ich habe es
ja immer schon gewusst, dass aus Ihnen etwas wird.‹ Da hab'
ich still in mich hineingeschmunzelt und nichts gesagt.«
In den aufstiegsorientierten Milieus arbeitet man viel,
man nimmt wenig ein, und man geht penibel damit um - um
sich etwas zu ersparen. »Als der Papa vor ein paar Jahren sehr
krank geworden ist, habe ich meiner Mutter geholfen, den Papierkram
für die Pflege zu erledigen. Die hatten gemeinsam
1200 Euro Rente. Das heißt, sie haben ein entsprechend niedriges
Einkommen gehabt. Aber mit dem Einkommen haben
sie sich eine kleine Eigentumswohnung in Simmering erwirtschaftet,
und ein kleiner Schrebergarten in Großenzersdorf
ging sich auch aus.«
Es herrscht ein Ethos der Sparsamkeit, man dreht jeden
Schilling um. »Man leistet sich keinen Luxus. Das Einzige war:
Einmal im Jahr sind wir auf Schiurlaub gefahren, ein, zwei
Wochen nach Bad Kleinkirchheim, Mitterbach oder Bad Mitterndorf.
Man wohnte in einem Pensionszimmer, und abends
hat man am Zimmer gegessen. Und einmal im Urlaub, das
war der einzige Luxus im Jahr, ging man ins Restaurant. Das
war dann der Höhepunkt.« Die Sommer verbringt die Familie
im Schrebergarten in Großenzersdorf. »Meinen ersten Auslandsurlaub
habe ich mit 18 gemacht, da sind wir im Sommer
dann nach Italien gefahren, nach Jesolo.«
Politisch und unpolitisch zugleich
Es sind Erfahrungen wie die Hilfsbereitschaft der Mutter gegenüber
Herrn Vitasek und den anderen Leuten aus dem
Viertel, die so etwas wie Werteerziehung, eine Ethik vermitteln,
die politisch ist, ohne explizit politisch zu sein. »Mein
Vater war ein total unpolitischer Mensch. Aber er hat immer
voller Ekel erzählt, wie die Nazis in der Leopoldstadt, wo er
aufgewachsen ist, einen auf großer Mann gemacht haben. Der
Abschaum, der Abschaum, das waren die Ersten, die bei den
Nazis waren. Er hat immer mit Schaudern erzählt, wie dreckig
man sich benehmen kann.« Geschichten wie diese sind im
Haushalt präsent. »Meine Großmutter war Haushälterin bei
einem älteren jüdischen Ehepaar. Und die mussten sich dann
nach 1938 auf dem Dachboden verstecken. Meine Mutter, die
damals ein kleines Mädchen war, hat diesem Ehepaar dann
immer Essen vorbeigebracht. Und sie hat uns sehr oft erzählt,
dass eines Tages die Gestapo vor der Tür stand und die Gestapomänner
sie mit dem Essen weggescheucht haben.
Die beiden Eheleute sind dann deportiert worden. Diese Geschichten
haben mich schon sehr geprägt. ›Kümmer dich um andere,
schau nicht weg‹ - das war das, was mir vermittelt wurde.«
Seine Teenagerjahre verbringt Kern im Gymnasium
Gottschalkgasse. Es sind die späten siebziger, frühen achtziger
Jahre, für die jungen Leute ist Bruno Kreisky nicht unbedingt
ein Held, auch die Sozialdemokratie übt nicht gerade eine
große Anziehungskraft auf aufgeweckte Heranwachsende
aus. Die Zeiten haben sich geändert. Österreich ist moderner
geworden, nicht zuletzt aufgrund der Kreiskyschen Reformpolitik,
aber es ist nicht so, dass man dem langjährigen
Bundeskanzler und seiner Regierung dafür ewig dankbar ist.
Im Gegenteil: Gerade den jungen Leuten, denen diese Jahre
neue Chancen bieten und damit einen Aufstieg ermöglichen,
eröffnet sich damit eben auch eine neue Welt, ein weiterer
Horizont. Neue Stile setzen sich durch. Auch neue Formen
des politischen Engagements. Eine Alternativkultur kommt
auf. Nicht weit von Kerns Wohngegend, in der Arena in Sankt
Marx, wurde schon in den siebziger Jahren der Schlachthof
besetzt - eine neue Art von alternativer Gegenkultur
sollte hier eine Heimstatt bekommen, fordern die Besetzer.
Sozialdemokratie - das ist für viele junge Leute einfach reformerisch,
lauwarm, nicht radikal genug. Kollektivverträge,
Lohnerhöhungen, Gratisschulbücher - das kann doch nicht
alles sein, worum es geht im Leben! Auch in den Familien entstehen
Generationskonflikte. Die Chancen, die Bildung und
damit sozialer Aufstieg bieten, haben genauso wie die Rasanz
des gesellschaftlichen Wandels zumeist einen hohen Preis: Die
Kinder leben in einer radikal anderen Bedeutungswelt als die
Eltern. Oft zieht Sprachlosigkeit in die Familien ein, weil die
Kinder die Welt ihrer Eltern spießig und eng finden, und weil
umgekehrt die Eltern die neue Welt ihrer Kinder kaum mehr
verstehen können. Selten vorher und auch nachher waren die
Lebenswelten der Jungen und der Alten so weit voneinander
getrennt wie in den Generationen der zwischen 1960 und 1970
Geborenen.
Die Siebziger - Jahre des Aufbruchs
Bei den Kerns ist all das nicht so dramatisch. »Wolltest du aus
deiner Welt ausbrechen?«, frage ich. »Gar nicht«, antwortet er.
»Das war die perfekte Kinderwelt.« Aber auf seine Weise gerät
auch Christian Kern in den Sog der Zeit. Jeder ist schließlich
auch ein Kind seiner Zeit. Der 71er, die Straßenbahnlinie, die
schnurgerade über den Rennweg bis zur Simmeringer Hauptstraße
fährt und beim Zentralfriedhof ihre Schleife zieht, sie
verbindet den Stadtrand mit der Innenstadt. In metaphorischerem
Sinn ist sie die Verkehrsader, die aus der Vorstadt zur
Moderne führt, zu aufregenden Gedanken, zu neuen, kulturellen
Eindrücken, zu einer neuen urbanen Lebendigkeit, die
vor allem in den frühen achtziger Jahren entsteht.
Schon in der Unterstufe wird Christian Kern einmal
Klassensprecher, im Jahr darauf aber nicht mehr. Da übernimmt
sein Klassenkollege Wolfgang Trimmel den Job - dem
Kern amüsanterweise später wieder begegnen wird -, Trimmel
ist seit einigen Jahren Sektionschef im Bundespressedienst,
also direkter Mitarbeiter des jeweiligen Bundeskanzlers,
und somit seit Mai 2016 auch von Kern. »In der Mitte
des Jahres ist die Klasse an mich herangetreten«, erzählt
Trimmel, »und hat mir gesagt: du machst das nicht so super,
wir wollen wieder, dass der Christian das übernimmt. Er war
wahrscheinlich schon damals der konzeptivere Mensch«,
lacht Trimmel heute darüber. In der Oberstufe wird Kern
dann auch Schulsprecher.
Gerade die Simmeringer SPÖ ist für viele der jungen
Leute ein rotes Tuch. »Damals gab es im ganzen Bezirk ein
Gymnasium«, erzählt Trimmel. »Für rund 60 000 Einwohner.
Von der sozialdemokratischen Bildungspolitik kam wenig in
Simmering an. Und die SPÖ Simmering stellte sich auf den
Standpunkt - das haben die damals offen ausgesprochen -,
›was brauchen wir mehr Gymnasiasten, die wählen uns dann
eh nicht‹. Diese ganze Haltung machte uns damals verrückt -
mit denen wollte ich nichts zu tun haben.« Gerade zehn Prozent
der Kinder schaffen es in Simmering zu dieser Zeit bis
zur Matura. Die Gottschalkgasse ist nicht gerade eine Schule,
die Reformpädagogik hochhält. Es herrscht ein konservativer
Grundgeist, aber, so Trimmel, »die Stimmung der Zeit, der
Zeitgeist, sie waren natürlich aufklärerisch«.
Christian Kerns engster Freundeskreis in der Oberstufe
empfindet sich als »anarchistisches Basiskomitee - im Rückblick
ein kurioser Spleen«. Über einen linken Buchhändler
kommen die jungen Leute in Kontakt mit rebellischen
Ideen. Sie lesen Bakunin, Kropotkin und andere Urheber
weltrevolutionärer Theorien: »Auch ›Walden - oder vom
Leben im Walde‹ von Henry David Thoreau haben wir damals
gelesen, dieses berühmte, radikale, antiautoritäre Aussteigerbuch
aus dem 19. Jahrhundert.« Aber genauso wird Monat für
Monat zum »Rennbahn-Express« gegriffen, der Jugendzeitung,
die damals so etwas wie die »Bravo« für die an gesellschaftlichen
Themen interessierten Teenager war.
»Klar, den musstest du lesen«, erinnert sich Christian Kern. In der Klasse
sind es »zwei, drei Schulkollegen, die sich für gesellschaftskritische
Themen interessieren«. Der Lehrer für Geschichte
und Politische Bildung »hatte einen starken Einfluss. Der kam
mit Artikeln aus der Neuen Zürcher Zeitung, wir hielten Referate
über die Ausbeutung Lateinamerikas. Eines Tages hatte
der Lehrer einen Exilafghanen in die Stunde eingeladen. An
den muss ich bis heute immer wieder denken. Der Lehrer
brachte viele Leute von außen, das waren prägende Begegnungen.
« Filme werden gesehen - etwa der legendäre Streifen
»Z - Anatomie eines politischen Mordes« (1968) von Costa-
Gavras, der die griechische Militärdiktatur thematisierte und
heute ein genrebildender Klassiker des politisch engagierten
Kinos ist. »Wenn ich darüber nachdenke, muss ich sagen, der
hat einen ganz schönen Einfluss gehabt.« Der Lehrer war von
der Grundhaltung eher ein katholischer Bürgerlicher, einer,
der diesen »mitfühlenden Ansatz vertreten hat, dass die Welt
vor Ungerechtigkeiten strotzt, bei denen man nicht wegsehen
darf«.
All das vermischt sich: das Katholisch-Karitative, das
Christian Kern noch aus der Jungschar kennt, mit dem Links-
Rebellischen. »Es waren Jahre der Auflehnung.« Noch Jahre
später, lacht Kern, war diese komische Mixtur tief in ihm
drinnen. »Ich kann mich erinnern, da war ich schon bei den
sozialistischen Studenten, da hatten wir die linkssozialistische
Widerstandslegende Josef Hindels zu Gast, und ich sage ganz
instinktiv ›Grüß Gott‹ zu dem. Da hat er mich angeschaut, das
war ja nicht der übliche Gruß in seinen Kreisen.«
Die Teenager saugen all das ein - eher unsortiert und
unsystematisch, aber doch konzise genug, um sich als entschiedene
Weltverbesserer zu verstehen. Ökologische Themen
gewinnen an Brisanz. Erste Bürgerinitiativen entstehen, etwa
die gegen die Entsorgungsbetriebe Simmering, die lokale Müllverbrennungsanlage,
die die Luft verpestet und asthmakranke
Kinder produziert. Kern: »Das war schon wichtig, das war ja
ein ernstes Problem.« Die ersten Vorformen der späteren Grünen
entstehen, und der junge Christian Kern ist als Gymnasiast
einer der lokalen Protagonisten. Er wird Mitbegründer der Alternativen
Liste Simmering, und noch als 19-jähriger ist er bei
der Gründung der Grünalternativen Liste (GAL) dabei, einer
eher linken Grünen-Liste, die bei den Nationalratswahlen 1986
antritt und läppische 6005 Stimmen erreicht.
Aber schon bald verlässt Christian Kern den Orbit der
Ökologie- und Alternativbewegung. Er hat Soziologie und Politikwissenschaften
inskribiert und nimmt ein Buch zur Hand,
das ihm vor Jahren schon der Geschichtelehrer empfohlen hat.
»Realisten oder Verräter?« (1976) von Günther Nenning. Nenning
war damals ein Zentralgestirn der sozialdemokratischen
Gesellschaftskritiker: Journalist vom Brotberuf, Vorsitzender
der Journalistengewerkschaft, Chefredakteur des Intellektuellenblattes
»Neues Forum«, launig-eloquenter Gastgeber der
Fernseh-Talksendung Club 2 - und vor allem der originelle
Kopf, den Bruno Kreisky seinerzeit halb herablassend, halb
liebevoll »Wurschtel« genannt hatte. Ausgerechnet Nenning,
der selbst zum Grünen geworden und 1985 spektakulär aus
der SPÖ ausgeschlossen worden war, sollte Kern vom Grünen
zum Sozialdemokraten machen. »Das war für mich wirklich
ein Schlüsselwerk. Das hat mich damals sehr beeindruckt. Ein
toll geschriebenes Buch, jedenfalls habe ich es so in meiner
Erinnerung.« Die Revolutionsrhetorik der Linksradikalen
sei, schreibt Nenning in dem Buch, ein »Fuchteln mit dem
Pappschwert«. In entwickelten, modernen Gesellschaften sind
Kapitalismus und Sozialdemokratie aneinandergekettet und
der Sozialismus kann nur mit kleinen Schritten verwirklicht
werden. »Was man braucht, ist eine große Mehrheit.« Radikalinskigetue
sei etwas für die bürgerlichen Intellektuellen,
bei denen immer erst die Idee vom Sozialismus kommt, der
reale Arbeiter aber zweitrangig ist. »Die Arbeiter aber müssen
zunächst einmal leben.« Und es ist die menschenfreundliche
Sozialdemokratie, die die Lebensbedingungen der Menschen
Schritt für Schritt verbessert. »Gelebt werden muss jetzt und
heute und nicht erst im künftigen Sozialismus.«
Nenning beweist dann noch auf unzähligen Seiten, dass schon der späte
Karl Marx kein Revolutionär mehr war, sondern ein sozialdemokratischer
Reformist, der auf den »Marsch durch die Institutionen
« schwor. »Sanftheit ist Stärke - auch das könnte eine
Definition von Sozialdemokratie sein«, formuliert Nenning in
dem ihm eigenen, poetisch-kitschigen Stil.
Nenning macht Kern zum Sozialdemokraten. »Das Buch
hat mir gezeigt, dass du als ordentlicher Weltveränderungsmensch
Sozialdemokrat sein kannst«, erzählt Kern heute.
Höchstwahrscheinlich hat Kern freilich in dem Buch primär
Argumente für Gedanken gefunden, die schon länger ungeordnet
in seinem Kopf herumspukten. »Die Grünen waren
mir doch zu abgehoben von den wirklichen Problemen der
Menschen. Das habe ich damals begonnen, so zu empfinden,
und in Simmering hast du das natürlich auch noch leichter
so empfunden.« So verstaubt die Sozialdemokratie auch war,
so war sie doch eine große Gemeinschaft, in der auch ganz
einfache Leute ihren Platz hatten - und zugleich mächtig
genug, um etwas zu bewegen. Als Arbeiterkind aus Simmering
hatte Christian Kern doch einen etwas anderen Blick auf
die Wirklichkeit, als Bürgerkinder aus Akademikerhaushalten
ihn zu jener Zeit haben konnten. Am 1. November 1985 tritt
Kern der SPÖ bei, engagiert sich in Simmering in den Jugendorganisationen
und auf der Universität bei den sozialistischen
Studenten.
Schon damals fällt er mit Charaktereigenschaften auf,
die ihm in seiner späteren Karriere hilfreich sein werden. »Er
hat einfach eine positive Ausstrahlung. Ich hab' ihn als Sympathikus
empfunden, wie man so schön sagt«, erzählt Alfred
Gusenbauer über seinen ersten Eindruck von Christian Kern,
den er vor dreißig Jahren kennenlernte. Gusenbauer war
damals Vorsitzender der Sozialistischen Jugend und ist seit
diesen Tagen mit Kern befreundet. Christian Kern hat schon
damals einfach eine gewinnende Art, die von manchen später
gelegentlich auch als instrumentell angesehen wird, als Fassade
und als planmäßiger Versuch, Netzwerke und Bekanntschaften
zu knüpfen. Mag sein, dass solche Absichten dann
und wann dazukommen, aber diese positive Grundeinstellung
entspricht auch tatsächlich Kerns Charakter. »Ich bin ja eine
Frohnatur normalerweise«, erzählt Kern. »Wenn ich mir das
Bein breche, dann sag ich, du, super, mit einem Bein, kein
Problem, macht gar nix. Damit hüpft es sich doch auch ganz
prima. Und geht ja wieder vorbei.« Mit dieser Ausstrahlung
geht - oder hüpft - Kern durch die Welt. Sie sollte ihm nicht
unbedingt zum Schaden gereichen. Er verbreitet gute Stimmung
und achtet darauf, nirgendwo anzuecken.
Die siebziger und achtziger Jahre sind auch jene Phase,
in der sich die Lebensentwürfe einer ganzen Generation ändern.
Wer studiert, der tut das einige Jahre. Aber auch die
Jugendlichen, die eine Lehre machen und früh in den Beruf
eintreten, leben sich in ihren Zwanzigern noch ordentlich aus.
Man hat wechselnde Beziehungen, bindet sich später. Das Studentenleben
hat auch etwas Unernstes: Zielstrebigkeit ist nicht
gerade der höchste aller Werte im Junge-Leute-Milieu. Man
lässt sich nicht einfach so treiben, aber Zukunftssorgen waren
auch nicht sonderlich verbreitet. Man will möglichst viele außergewöhnliche
Eindrücke, spektakuläre Erlebnisse und spannende
Gedanken aufsaugen, man will lesen und lernen. Wie
kann man denn ein kreatives Leben führen, wenn man sich
nicht mit tausenden interessanten Phänomenen konfrontiert?
Familiengründung? Daran denkt kaum jemand von den damaligen
Twentysomethings. Kurzum, es entstehen jene Muster,
die Soziologen später unter dem Begriff der »verlängerten
Jugend« zusammenfassen werden.
Junger Vater - und Jahre als Alleinerzieher
Christian Kern fällt in dieser Hinsicht aber schnell aus dem
Rahmen. Er lernt Karin Wessely kennen, die er früh heiratet,
die beiden ziehen zusammen, und bald wird ihr erster Sohn,
Nikolaus, geboren. Vater mit 22 - das war in diesen Jahren
und diesen Kreisen ziemlich einzigartig und originell. »Während
die anderen abends ausgegangen sind, war das bei mir
schnell zu Ende«, erzählt Kern. »Babysitter kannst du dir nicht
leisten, und ich hatte daran auch kein großes Interesse gehabt.
Ich fand das ja großartig, Zeit mit dem Niko zu verbringen.«
Bisher hatte Kern sein Geld mit Ferial- und Studentenjobs
verdient. Mit Babysitten, beispielsweise. Oder in der Eduscho
Kaffeefabrik in Simmering, »da haben wir die Kaffeesäcke
auf die LKWs geladen und am Fließband die Deckel
auf die Dosen geschraubt«. Oder im Zentrum Simmering, der Einkaufsmall,
bei Sport Klepp, »da habe ich im Verkauf gearbeitet
und Tennisschläger bespannt«. Damit hatte Kern seine erste
Studentenbude in der Simmeringer Hauptstraße finanziert -
»28 Quadratmeter, mit Gaskonvektorheizung und Fließwasser
von den Wänden«, erzählt er lachend -, später war er mit Wessely
in die Reinprechtsdorfer Straße nach Margareten gezogen.
Nach der Geburt des Sohnes wohnt die junge Familie
erst in einer kleinen Wohnung in der Reinprechtsdorfer
Straße und zieht dann weit draußen nach Favoriten, in einen
Gemeindebau hinter dem Erholungsgebiet am Wienerberg.
»Wir haben uns aber nach einiger Zeit nicht mehr ganz so gut
verstanden, wie das so ist.« Das junge Paar trennt sich. Und
Niko bleibt beim Vater. Ein paar Jahre lang bleibt Kern alleinerziehender
Vater, versucht Studium, Studentenpolitik, Jobs
und die Erziehung seines Sohns unter einen Hut zu bringen.
Und die Liebe zu geben, die so ein kleines Kind braucht. »Du
schreibst halt dann die Seminararbeiten nachts, wenn das
Kind schläft - wie das halt so üblich ist.«
Wir sitzen in Kerns Büro in der SPÖ-Zentrale, Kern erzählt
über die junge Familie, über die Entfremdung des jungen
Elternpaares, darüber, wie das Kind unter der Trennung gelitten
hat, aber auch über seine Mutter und die schwere Krankheit
des Vaters, die letzten Minuten am Todesbett des Vaters -
über all die schwierigen Momente im Leben, denen man nicht
auskommt, und in denen man die Dinge richtig, aber auch
verdammt falsch machen kann. Später finden Kern und Wessely
wieder zusammen und bekommen zwei weitere Söhne,
Simon und Paul, trennen sich wieder - Niko bleibt beim Vater,
die zwei jüngeren Buben bei der Mutter. »Weißt du«, sagt er
dann, »das ist schon ein Prinzip: Du hast eine Verantwortung
im Leben und der hast du dich am Ende zu stellen, auch wenn
es nicht bequem ist.« Ein Satz, den man pathetisch vortragen
kann, ein Satz auch, der einen gewissen Kitschcharakter hat.
Aber Kern sagt ihn mit einer nüchternen Beiläufigkeit, einfach
so gelassen dahin. In dem Ton, als sei das doch nun einmal
eine Selbstverständlichkeit.
Bei der Hochschülerschaftswahl 1989 ist Kern Spitzenkandidat
der sozialistischen Studenten in Wien. Freundschaften
entstehen, die bis heute halten: David Mock ist immer mit
dabei, der später bei Viktor Klima im Kanzleramt arbeiten
wird. Stefan Pöttler, der ein paar Jahre danach in Alfred Gusenbauers
Kabinett eine tragende Rolle spielen wird. Alle zwei
gehören zu den langjährigen Weggefährten von Kern. Später
holt er sie als Mitarbeiter in die ÖBB. Bubenfreundschaften,
die Männerseilschaften werden.
Gemeinsam geben die Studentenaktivisten ein Magazin
heraus, das »Rotpress«. Kern ist Chefredakteur. In dieser
Funktion geht er in die Viehmarktstraße, wo die Landstraßer
Hauptstraße in die Simmeringer Hauptstraße übergeht und in
diesen Jahren die »Arbeiter-Zeitung« ihre Redaktion hat. Fast
hundert Jahre lang war die AZ das Zentralorgan der SPÖ, bis
sie in die Unabhängigkeit entlassen wurde und unter dem,
vom ORF abgeworbenen Chefredakteur Robert Hochner ein
Laboratorium parteifreien, aber linksliberalen Journalismus
wurde. Kern soll Hochner interviewen und fragt ihn, ob die
verstaubte Apparatpartei SPÖ nicht wie ein Klotz am Bein
der neuen Zeitung hänge: »Glauben Sie nicht, dass der sozialdemokratische
Stallgeruch ... der AZ anhaftet und damit
auch ihre Glaubwürdigkeit infrage stellt?
« Vielleicht ist das Abenteuer, die »Arbeiter-Zeitung« zu reformieren, ein unmögliches
Unternehmen, antwortet Hochner, der seinen Job
als Fernsehstar für dieses Abenteuer an den Nagel gehängt
hat. Aber, so Hochner: »Das Land braucht gerade Leute, die
hin und wieder bereit sind, ihre Existenz aufs Spiel zu setzen.«
Nach dem Interview fachsimpeln die beiden noch über Sport.
Hochner bietet Kern an, als Sportredakteur in der AZ zu beginnen.
Aber nur, wenn der Chefredakteur ihm zusage, dass
er nächstes Jahr live von der Tour de France berichten und bei
der Königsetappe von Alpe d'Huez vor Ort dabei sein dürfe,
erwidert Kern. »Abgemacht«, sagt Hochner.
Gleich danach ruft Kern seinen alten Freund Karl Pachner
an. »Stell dir vor, der Hochner hat mir angeboten, bei der
AZ anzufangen«, erzählt er Pachner, der eine kleine Nachrichtenagentur,
den »Wirtschaftspressedienst«, leitet. »Mach doch
keinen Unsinn, Sportredakteur ist doch nichts für dich«, antwortet
Pachner. »Wenn du schreiben willst, dann fang doch
bei uns an.«
Und so wird Kern Wirtschaftsjournalist.
Doch die Idee, AZ-Redakteur zu werden, hätte Kern
schon gereizt. »Der Bruno Kreisky wollte doch auch immer
Redakteur der Arbeiter-Zeitung werden. Das war sein Lebensziel
«, sagt er.
»Aber doch nicht Sportredakteur«, gebe ich lachend zurück.
»Ich habe mich gegen das Herz und für den Kopf entschieden
«, erwidert Kern. Ein Satz, den er noch häufiger sagen wird.
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Autoren-Porträt von Robert Misik
Robert Misik, geboren 1966, ist ständiger Autor der tageszeitung (Berlin), von profil und Falter (Wien) und einer der streitbarsten linken Publizisten seiner Generation. Auf der Website des Wiener Standard betreibt er die wöchentliche Videokolumne "FS Misik". 2009 wurde er mit dem Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik geehrt. Er ist Journalist des Jahres in der Kategorie Online 2010 und Autor zahlreicher Sachbücher. Zuletzt erschienen: "Ein seltsamer Held: Der grandiose, unbekannte Victor Adler"(2016). Mehr zum Autor unter www.misik.at
Bibliographische Angaben
- Autor: Robert Misik
- 2017, 192 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen, Maße: 14,9 x 22,6 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Residenz
- ISBN-10: 3701734119
- ISBN-13: 9783701734115
- Erscheinungsdatum: 18.05.2017
Kommentar zu "Christian Kern"
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