Cold / Alex Cross Bd.17
Thriller
Die Kinder des US-Präsidenten wurden entführt! Und dann: verheerende Terroranschläge - die USA im Ausnahmezustand. Und was bisher geschah, war nur der Auftakt zum ganz großen Schlag. Kann Agent Alex Cross den Terror noch stoppen?
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Produktinformationen zu „Cold / Alex Cross Bd.17 “
Die Kinder des US-Präsidenten wurden entführt! Und dann: verheerende Terroranschläge - die USA im Ausnahmezustand. Und was bisher geschah, war nur der Auftakt zum ganz großen Schlag. Kann Agent Alex Cross den Terror noch stoppen?
Klappentext zu „Cold / Alex Cross Bd.17 “
Wenn das lebensnotwendige Wasser zur tödlichen Gefahr wird ...Die Kinder des amerikanischen Präsidenten werden entführt, und Profiler Alex Cross ist zufällig einer der Ersten am Ort des Geschehens. Doch jemand mit sehr viel Macht scheint ihn davon abhalten zu wollen, den Fall zu übernehmen. Wenig später gelangt ein tödliches Gift in die Wasservorräte von Washington, D.C. Die Zeit zerrinnt Alex zwischen den Fingern. Kurz entschlossen trifft er eine verzweifelte Entscheidung, die alles infrage stellt, woran er jemals geglaubt hat - eine Entscheidung, die das Schicksal eines ganzen Landes für immer verändern könnte.
Lese-Probe zu „Cold / Alex Cross Bd.17 “
Cold von James Patterson Aus dem Amerikanischen von Leo Strohm
Erstes Buch
Verschollen
1
Es begann mit den Kindern von Präsident Coyle, Ethan und Zoe, prominente Persönlichkeiten mit einem hohen Bekanntheitsgrad, und das wahrscheinlich nicht erst seit ihrem Umzug nach Washington.
Der zwölfjährige Ethan Coyle war der Meinung, er hätte sich mit dem Leben unter den sezierenden Blicken der Öffentlichkeit arrangiert. Daher nahm er die Kamerateams, die ständig vor den Toren der Branaff School lauerten, kaum mehr wahr. Im Gegensatz zu früher regte er sich auch nicht mehr darüber auf, wenn ihn irgendein Mitschüler, den er nicht einmal kannte, im Flur, in der Turnhalle oder womöglich sogar auf der Toilette fotografierte.
Manchmal tat Ethan einfach so, als sei er unsichtbar. Das war natürlich ziemlich kindisch, schwachsinnig irgendwie, aber wen interessierte das? Der Vorschlag stammte sogar von einem der netteren Typen vom Secret Service. Der hatte Ethan erzählt, dass Chelsea Clinton es früher genauso gemacht hatte. Aber wer konnte schon sagen, ob das wirklich stimmte?
Als Ethan an diesem Morgen Ryan Townsend auf sich zukommen sah, da hätte er sich allerdings am liebsten tatsächlich unsichtbar gemacht.
Ryan Townsend hatte es ständig auf ihn abgesehen, und das lag nicht etwa daran, dass Ethan unter Verfolgungswahn litt. Er konnte jede Menge blauvioletter oder gelblicher Flecken vorweisen - Flecken, wie sie nach einem harten Schlag oder einem gezielten Tritt zurückbleiben.
»Alles klar, Coyle-Suse?«, fragte Townsend und steuerte direkt auf ihn zu, mit diesem Gesichtsausdruck, den Ethan nur all zu gut kannte. »Oder hat die Coyle-Suse mal wieder 'nen schlechten Tag erwischt?«
... mehr
Ethan hatte mittlerweile gelernt, dass er seinem Peiniger auf keinen Fall antworten durfte. Stattdessen bog er scharf nach links ab, in den Gang mit den Bücherschränken. Aber das war sein erster Fehler. Jetzt saß er in der Falle. Schon spürte er einen scharfen, stechenden Schmerz am Oberschenkel. Townsend hatte ihn, ohne seine Schritte wesentlich zu verlangsamen, einfach getreten. »Streifschüsse« nannte er diese kleinen Zwischenfälle.
Was Ethan jetzt nicht machte, war, laut aufzuschreien oder mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden zu gehen. Das hatte er sich geschworen: Er würde sich niemals anmerken lassen, was er fühlte.
Stattdessen ließ er seine Bücher fallen und ging in die Hocke, um sie wieder aufzuheben. Das war feige und hasenfüßig, klar, aber wenigstens konnte er so sein Bein für einen Moment entlasten, ohne dass die ganze Welt erfahren musste, dass Ryan Townsend ihn als Sandsack und Treteimer benutzte.
Nur, dass es dieses Mal noch jemand beobachtet hatte - und zwar nicht der Secret Service.
Ethan war gerade damit beschäftigt, das Millimeterpapier in seine Mathemappe zurückzupacken, da hörte er eine vertraute Stimme.
»He, Ryan. Bei dir auch alles klar?«
Ethan hob den Kopf und bekam gerade noch mit, wie seine vierzehnjährige Schwester Zoe sich vor Townsend aufbaute.
»Das hab ich gesehn«, sagte sie. »Hättste nicht gedacht, was?«
Townsend legte seinen blonden Lockenkopf schräg. »Keine Ahnung, was du meinst. Warum kümmerst du dich nicht um d ...«
Plötzlich, wie aus dem Nichts, hatte Zoe ein schweres, gelbes Schulbuch in den Händen. Sie holte aus und hieb es Townsend mit voller Wucht mitten ins Gesicht. Aus seiner Nase spritzte rotes Blut. Er taumelte nach hinten. Es war großartig!
Aber dann war auch schon Schluss, und der Secret Service schaltete sich ein. Agent Findlay hielt Zoe fest, und Agent Musgrove drängte sich zwischen Ethan und Townsend. Ein ganzer Haufen Sechst-, Siebt- und Achtklässler war schon stehen geblieben und glotzte, als wäre das Ganze eine neue Reality-Sendung im Fernsehen - Die Präsidentenkinder.
»Ihr seid solche Loser!«, brüllte Townsend Ethan und Zoe an, während das Blut auf seine Branaff-Krawatte und sein weißes Hemd tropfte. »Zwei bescheuerte Vollidioten. Ohne diese SS-Typen, die euch die ganze Zeit bewachen, hättet ihr ja überhaupt keine Chance!«
»Ach, ja? Erzähl das mal meinem Mathebuch«, schrie Zoe zurück. »Und lass gefälligst meinen Bruder in Ruhe! Du bist größer und älter als er, du Blödmann! Arschloch!«
Ethan kauerte immer noch vor den Schränken, wo sich die Hälfte seiner Schulsachen auf dem Boden verteilt hatte. Und für einen kurzen Moment, für ein, zwei Sekunden vielleicht, tat er so, als sei er einfach nur einer unter vielen - bloß ein namenloser Schuljunge, von dem noch nie jemand gehört hatte, der einfach nur dastand und zusah, wie irgendein anderer diesen ganzen Wahnsinn erleben musste.
Ja, na klar, dachte Ethan. Im nächsten Leben vielleicht.
2
Agent Findlay brachte Ethan und Zoe schnell und professionell aus dem Blickfeld ihrer gaffenden Mitschüler und, noch schlimmer, derjenigen, die ihre iPhones in die Höhe hielten: Hallo, YouTube! Innerhalb weniger Sekunden stand er mit ihnen in der leeren Aula, gleich neben der Eingangshalle.
Bevor eine Bildungsstiftung der Quäker das Anwesen übernommen und zur Schule umfunktioniert hatte, war die Branaff School das Hofgut Branaff gewesen. Hartnäckig hielt sich unter den Schülern das Gerücht, dass hier Gespenster ihr Unwesen trieben, und zwar nicht die Geister der guten Menschen, die hier gestorben waren, sondern die der verärgerten Nachfahren der Branaffs, die hatten weichen müssen, um einer Privatschule Platz zu machen.
Ethan glaubte zwar nicht an diesen ganzen Mist, aber die Aula war ihm schon immer besonders unheimlich vorgekommen. An den Wänden hingen alte Ölporträts, von denen aus jeder, der an ihnen vorbeikam, mit missbilligenden Blicken bedacht wurde.
»Dir ist doch klar, dass der Präsident das erfahren wird, Zoe. Die Schlägerei, deine Ausdrucksweise gerade eben«, sagte Agent Findlay. »Und Direktor Skillings natürlich auch ...«
»Na klar, machen Sie einfach, wofür Sie bezahlt werden«, erwiderte Zoe und zuckte die Achseln. Sie legte ihrem Bruder die Hand auf den Kopf. »Alles in Ordnung, Eth?«
»Alles bestens«, sagte er und schob sie weg. »Körperlich jedenfalls.« Seine Würde stand auf einem anderen Blatt, aber das war ihm jetzt zu kompliziert, darüber konnte er im Moment nicht nachdenken.
»Wenn das so ist«, meinte Findlay, »dann sollten wir uns nicht länger aufhalten. In fünf Minuten fängt der Vortrag an.«
»Na klar«, meinte Zoe mit einer abfälligen Handbewegung. »Der Vortrag. Wie könnten wir den vergessen?«
Die Gastrednerin des heutigen Vormittags war Isabelle Morris, eine der führenden Mitarbeiterinnen des Instituts für Internationale Politik in Washington, D. C., und außerdem ehemalige Schülerin der Branaff School. Im Gegensatz zu fast all seinen Mitschülern freute sich Ethan auf Ms Morris' Vortrag über ihre Erfahrungen im Nahen Osten. Er wollte später auch für die Vereinten Nationen arbeiten. Warum nicht? Er hatte schließlich ziemlich gute Beziehungen, nicht wahr?
»Können Sie uns vielleicht einen winzig kleinen Augenblick alleine lassen?«, wandte Zoe sich an Findlay. »Ich würde gerne kurz mit meinem Bruder reden ... unter vier Augen.«
»Ich hab doch gesagt, alles in Ordnung. Kein Problem«, beharrte Ethan, doch seine Schwester brachte ihn mit einem wütenden Blick zum Schweigen.
»Er kann irgendwie freier reden, wenn Sie nicht dabei sind«, fuhr Zoe als Reaktion auf Findlays skeptischen Blick fort. »Und hier hat man ja nicht oft die Gelegenheit zu einem vertraulichen Gespräch, wenn Sie verstehen. Bitte nehmen Sie's nicht persönlich.«
»Kein Problem.« Findlay warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Einverstanden«, sagte er dann. »Aber nicht mehr als zwei Minuten.«
»Zwei Minuten, okay. Wir kommen gleich raus, ich versprech's«, sagte Zoe und drückte die schwere Holztür hinter ihm ins Schloss.
Ohne ein Wort zu Ethan glitt sie zwischen den alten Sitzbänken hindurch ans hintere Ende des Saals. Dort hüpfte sie auf den Heizkörper unter dem Fenster.
Sie schob die Hand in den blaugrauen Blazer ihrer Schuluniform und holte eine kleine schwarze Lackschachtel heraus. Ethan erkannte sie sofort. Die hatte seine Schwester sich in Peking gekauft, wo sie im Sommer zusammen mit ihren Eltern gewesen waren.
»Ich brauch jetzt 'ne Kippe«, flüsterte Zoe. Dann grinste sie verschlagen. »Kommst du mit?«
Ethan warf einen Blick zur Tür. »Aber ... ich will den Vortrag nicht verpassen.«
Zoe verdrehte die Augen. »Oh, ich bitte dich. Bla bla bla, der Nahe Osten, bla bla. Das kriegst du doch alles auf CNN zu sehen, jeden Tag in der Woche, rund um die Uhr. Aber wann hast du schon mal die Gelegenheit, dem Secret Service ein Schnippchen zu schlagen? Nun komm schon!«
Ethan steckte schwer in der Klemme, und das wusste er auch. Entweder sah er - wieder einmal - so aus wie der letzte Feigling, oder er würde den Vortrag verpassen, auf den er sich schon die ganze Woche gefreut hatte. Es gab kein Entrinnen.
»Es wäre aber besser, wenn du nicht rauchen würdest«, sagte er schwächlich.
»Ja, genau, und für dich wär's besser, wenn du nicht so oft den Schwanz einziehen würdest«, gab Zoe zurück. »Dann würden solche Arschlöcher wie Ryan Townsend auch nicht pausenlos über dich herfallen.«
»Das liegt doch bloß daran, dass Dad der Präsident ist«, meinte Ethan. »Das stimmt doch, oder?«
»Nein. Es liegt daran, dass du ein Weichei bist«, sagte Zoe. »Mit mir legt sich doch auch keiner von diesen Dumpfbacken an, oder?« Sie machte das Fenster auf, schob sich mühelos hindurch und landete draußen auf dem Boden. Zoe hielt sich für eine zweite Angelina Jolie. »Wenn du nicht mitkommen willst, dann lass mir wenigstens eine Minute Vorsprung. Okay, Großmutter?«
Eine Sekunde später war sie verschwunden.
Ethan warf noch einen letzten Blick zurück in den Saal. Dann traf er die einzige Entscheidung, mit der er sich wenigstens einen winzigen Bruchteil seiner Würde erhalten konnte. Er machte es seiner Schwester nach und stieg zum Aula-Fenster hinaus ... um gleich darauf in Schwierigkeiten zu landen, die er sich nicht einmal ansatzweise vorstellen konnte.
Die sich niemand vorstellen konnte.
3
Kaum war die Aulatür hinter Agent Findlay ins Schloss gefallen, drückte er kurz die Klinke -
die Tür war nicht verschlossen.
Dann beobachtete er den Sekundenzeiger seiner Edelstahl- Breitling. »Ich gebe ihnen noch fünfundvierzig Sekunden«, sagte er in das Mikrofon an seinem Ärmelaufschlag. »Danach geht T. Rex zum Vortrag und Twilight zum Direktor.«
Der Präsident und die First Lady wollten Ethan und Zoe eine möglichst normale Schulzeit ermöglichen. Und dazu gehörten eben auch Konflikte - in einem vernünftigen Rahmen. Das war natürlich leichter gesagt als getan. Zoe Coyle benahm sich nicht immer vernünftig. Um ehrlich zu sein, fast nie. Sie war kein böses Kind. Aber ein Kind. Eigensinnig. Schlau. Und ganz vernarrt in ihren kleinen Bruder.
»Ich schätze, ich kann mich auf einen gewaltigen Anschiss gefasst machen«, funkte Findlay leise. »Aber das eine kann ich dir sagen. Dieser Ryan Townsend ist ein kleiner Scheißkerl. Aber von mir hast du das nicht.«
»Wie der Vater so der Sohn«, funkte Musgrove zurück. »Das Bürschchen hat es nicht anders verdient. Zoe hat der Arschgeige ordentlich eins übergebraten.«
Leises Gelächter hallte durch den Äther. Ryan Townsends Pa war Fraktionssprecher der Opposition und ein fanatischer Gegner so gut wie aller Initiativen, die Präsident Coy le jemals angestoßen oder an die er auch nur gedacht hatte. Manchmal kam einem die Branaff School vor wie Washington im Miniaturformat. Was sie in gewisser Weise auch war.
Findlay warf noch einen Blick auf seine Armbanduhr. Genau zwei Minuten. Die Atempause der Coyle-Kinder war zu Ende. Jetzt hieß es für alle: zurück an die Arbeit.
»Also gut, meine Damen und Herren, wir sind startklar«, sagte er in sein Mikrofon. Dann klopfte er zweimal an die Tür zur Aula und stieß sie auf.
»Die Zeit ist um. Seid ihr so wei ...? Verdammt noch mal!«
Der Saal war leer.
Nein, nein, nein. Nicht das. Diese gottverdammten Kinder. Gottverdammte Zoe!
Findlays Puls schnellte hoch. Sein Blick glitt über die großen Verbundglasfenster an der gegenüberliegenden Wand.
Er ging darauf zu und öffnete sämtliche Funkkanäle an seinem Sender, um die Kommandozentrale ebenso zu erreichen wie alle Mitglieder seines Teams vor Ort.
»Zentrale, hier Apex eins. Twilight und T. Rex sind verschollen. « Seine Stimme klang dringlich, aber sachlich. Für Panik war jetzt kein Platz. »Ich wiederhole: Beide Schützlinge sind verschollen.«
Als er vor den Fenstern stand, sah er, dass alle geschlossen waren. Allerdings ... eines war nicht verriegelt. Ein schneller Blick nach draußen offenbarte nichts als üppige grüne Sportplätze bis hinüber an den südlichen Zaun.
»Findlay? Was ist passiert?«
Das war Musgrove. Er stand in der Aulatür.
»Sie müssen durchs Fenster abgehauen sein«, sagte Findlay. »Ich bring sie um. Ganz ehrlich. Hätte ich schon längst machen sollen.« Die ganze Aktion war so typisch Zoe, so typisch. Für sie war das wahrscheinlich ein einziges großes Spiel, ein kleiner Schabernack mit ihren Bewachern.
»Zentrale, hier Apex eins«, funkte er erneute. »Twilight und T. Rex sind nach wie vor unauffindbar. Ich brauche eine sofortige Sperrung sämtlicher Ausgänge und Ausfahrten rund um ...«
Mit einem Mal war in seinem Ohrhörer ein Getümmel zu hören. Findlay hörte Schreie und ein metallisches Knirschen. Dann zwei Schüsse.
»Zentrale, hier Apex fünf!« Jetzt dröhnte eine andere Stimme durch den Äther. »Gerade ist uns ein grauer Kastenwagen entwischt, hier am Osteingang. Fährt mit hoher Geschwindigkeit auf der Wisconsin Avenue nach Süden. Schätzungsweise hundert Sachen. Wir brauchen Verstärkung! Sofort!«
4
Bobby Hatfield, ein einfacher Streifenbeamter beim Metropolitan Police Department, sah einen grauen Lieferwagen durch Georgetown brettern. Fast gleichzeitig empfing er den Notruf aus der Funkzentrale. »An alle Einheiten im Bezirk zwonullsechs. Mutmaßliche bewaffnete Entführung. Zwei Kinder. Ich wiederhole: Zwei Kinder! Verdächtig ist ein grauer Lieferwagen, fährt mit hoher Geschwindigkeit auf der Wisconsin Richtung Süden. Der Secret Service hat die Verfolgung aufgenommen. Erbittet Verstärkung! Bitte auf Kanal dreiundzwanzig wechseln.«
Hatfield schaltete seine Sirene ein und wendete, während ein schwarzer Yukon an ihm vorbeiraste. Alles klar. Sobald er den angegebenen Funkkanal eingestellt hatte, hörte er, wie der Secret Service die Verfolgungsjagd kommentierte.
»Wir fahren Richtung Süden. Das Kennzeichen wurde in D. C. ausgestellt, es lautet DMS acht-zwo-drei ... »Secret Service, hier MPD-Streifenwagen zwo-null-acht«, unterbrach Hatfield. »Ich bin direkt hinter Ihnen.«
»Verstanden, MPD.«
Hatfield beschleunigte, und der Yukon überließ ihm die Führung. Seine Tachonadel zeigte schon jetzt deutlich über hundertzehn Stundenkilometer an, und auch sein Adrenalinpegel hatte die kritische Marke weit überschritten. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Sache böse endete, war weitaus größer als die, dass alles gut ging.
Bei der M-Street schlingerte der Lieferwagen nach rechts. Es sah so aus, als würde er jeden Moment umkippen. Er wurde ein ganzes Stück zu weit nach außen getragen und streifte zwei parkende Autos, ohne seine Fahrt zu verlangsamen.
Hatfield driftete durch die Kurve - langsam rein, schnell raus, so wie er es gelernt hatte - und drückte das Gaspedal bis zum Anschlag durch, sobald der Bug des Wagens in die richtige Richtung zeigte. Dadurch machte er ein paar Meter gut, aber es reichte noch nicht.
»Verdächtiger fährt jetzt auf der M Richtung Osten«, gab er durch. »Gleich hebt er ab. Wo bleibt die Verstärkung, verdammt noch mal? Los, Leute, nun macht schon!«
Als sie kurz vor dem Rock Creek Park auf die Pennsylvania Avenue stießen, bog der Lieferwagen nach halb rechts ab. Die Straße führte auf eine Brücke, wurde breiter, und der Fahrer beschleunigte noch einmal, schlängelte sich halsbrecherisch zwischen den anderen Fahrzeugen hindurch.
Hatfield blinzelte immer wieder, um dem Tunnelblick entgegenzuwirken. Überall waren Autos und Fußgänger. Es hätte gar nicht unübersichtlicher sein können.
Das wird kein gutes Ende nehmen. Er konnte es am ganzen Körper fühlen.
Bei der Twenty-eighth Street tauchte endlich ein zweiter Streifenwagen hinter ihm auf. Hatfield erkannte die Stimme von James Walsh im Funkgerät. Walsh war einer seiner Kumpels, konnte einem aber auch ziemlich auf die Nerven gehen.
»Na, Robert, wie geht's, wie steht's?«
»Arschgeige. Das siehst du doch.«
»In südöstlicher Richtung auf der Pennsylvania«, fuhr Walsh fort. »Der Verdächtige fährt vollkommen unberechenbar ... Anscheinend sitzt er allein im Fahrzeug, ist aber schwer zu sagen. Gleich sind wir am Washington Circle und ... Scheiße! Bobby, pass auf! Pass auf!«
Der Lieferwagen jagte auf den Kreisverkehr zu, doch dann bog er nicht nach rechts ab, sondern nach links, bretterte mitten in den entgegenkommenden Verkehr. Alle versuchten, ihm irgendwie auszuweichen.
Aus Hatfields Perspektive sah es aus wie die Teilung des Roten Meers - aber dann tauchte am Ende der Öffnung ein Omnibus auf. Er war viel zu groß, um ihm ausweichen zu können. Der Fahrer des Lieferwagens riss das Lenkrad zwar noch nach rechts, aber es hatte keinen Zweck.
Er erreichte damit lediglich, dass sich vor dem Lieferwagen eine mächtige Wand aufbaute!
Hatfield stieg in die Eisen, sodass alle vier Reifen blockierten. Er ließ den Lieferwagen keine Sekunde aus den Augen.
Dieser krachte frontal und ungebremst mitten in die riesige Werbung auf der Flanke des Busses. Die Fahrerkabine wurde wie eine Ziehharmonika zusammengequetscht. Glassplitter schossen durch die Luft, und die Hinterräder des Lieferwagens hoben sich einen halben Meter vom Boden, bevor das ganze Tohuwabohu schließlich zum Stillstand kam.
Hatfield sprang sofort aus seinem Wagen. Walsh war direkt hinter ihm. Es war wie ein Wunder, aber anscheinend war der Bus gerade auf dem Weg ins Depot gewesen, jedenfalls hatte er keine Fahrgäste befördert. Allerdings hatte sich der Washington Circle in einen einzigen, kreisförmigen Auffahrunfall verwandelt.
Sekunden später waren bereits sechs Streifenwagen vor Ort.
Dann liefen überall uniformierte Polizisten herum, aber Hatfield erreichte die Heckklappe des Lieferwagens als Erster. Die grauen Metallplatten waren völlig verbogen und der Türgriff nicht mehr zu gebrauchen.
Nach der wilden Verfolgungsjagd pochte sein Herz immer noch wie verrückt, und er spürte, wie ihm das Blut in den Ohren dröhnte. Es war noch nicht vorbei. Was würden sie auf der anderen Seite dieser Klappe zu sehen bekommen? Bewaffnete Männer? Tote Männer?
Oder - noch schlimmer - tote Kinder?
5
Als der erste Vorfall in dieser Kette der Ereignisse gemeldet wurde, wusste ich noch nicht,
dass es sich um die Kinder der
Präsidenten handelte. Niemand wusste das. Das Funkgerät hatte nur die Worte »mutmaßliche Entführung« ausgespuckt.
Ich fuhr gerade auf der K-Street in Richtung Osten und war nicht im Dienst. Der Unfall passierte keine zwei Querstraßen von mir entfernt. Daher war ich noch vor den Notärzten beim Washington Circle. Wenn ich helfen konnte, dann musste ich das tun.
Ich brauchte keine sechzig Sekunden. Ein Streifenbeamter kam mit einer Rolle Absperrband hinter mir her, während ich mich dem zerknautschten Lieferwagen näherte.
Als Erstes registrierte ich die weit geöffnete Heckklappe. Als Zweites die Tatsache, dass nirgendwo ein Entführungsopfer zu sehen war.
Und als Drittes ... überall Secret Service! Manche in den üblichen schwarzen Anzügen, andere in gepflegten Jacketts, Krawatten, Hemden und Kakihosen. Sie sahen aus wie Lehrer. Nur die spiralförmigen Kabel hinter ihren Ohren deuteten etwas anderes an.
Meine Dienstmarke brachte mich bis zum Lieferwagen, und ich konnte einen Blick ins Innere werfen. Der Fahrer saß regungslos auf seinem Sitz, eingeklemmt von dem Motorblock, der durch den Aufprall in die Fahrerkabine eingedrungen war. Seine Körpermitte war ganz offensichtlich schwer in Mitleidenschaft gezogen worden, und darunter war alles voll Blut. Sein rechter Arm ragte in einem ausgesprochen unnatürlichen Winkel nach oben.
Der Mann war circa Mitte dreißig, hatte lockiges, schwarzes Haar und ein paar Bartflecken inklusive Unterlippenbärtchen, das genauso winzig und jämmerlich aussah wie er selbst.
Aber wo war das Opfer? War das Ganze nur ein Täuschungsmanöver gewesen? Eine bewusste Ablenkung? Schon jetzt drängte sich dieser Gedanke auf und ließ meinen Adrenalinpegel steigen. Eine Ablenkung wovon? Was war noch an dieser Schule geschehen?
»Ist er bei Bewusstsein?«, fragte ich den Agenten mit dem Tweed-Sakko neben mir.
»Schwer zu sagen«, erwiderte er. »Er ist nicht ansprechbar. Vielleicht steht er unter Schock. Wir wissen nicht einmal, ob er Englisch spricht.«
»Und keine Spur von dem entführten Kind?«, hakte ich nach.
Der Agent schüttelte lediglich den Kopf und hielt zwei Finger in die Höhe. »Zwei entführte Kinder.«
Das Ganze wurde für mich immer mehr zu einem Déjàvu - einem Déjà-vu der übelsten Sorte. Vor einigen Jahren hatte ich zusammen mit dem Secret Service einen anderen Entführungsfall bearbeitet. Dort war es auch um zwei Kinder gegangen. Der Täter war ein Monster namens Gary Soneji gewesen. Nur eines der beiden Kinder hatte überlebt. Und ich selbst war auch nur mit knapper Not dem Tod entronnen. John Sampson hatte mir das Leben gerettet.
Ich zeigte noch ein paarmal meine Dienstmarke vor und beugte mich zu dem zerschmetterten Fahrerfenster hinein.
»Polizei. Wo sind die Kinder?«, fragte ich den Kerl ohne Umschweife. Ich musste zunächst einmal davon ausgehen, dass er etwas wusste. Jetzt war keine Zeit für Zweideutigkeiten.
Er atmete schnell und flach, und in seinem Gesicht war keine Regung zu erkennen - als hätte sein Hirn noch gar nicht erfasst, welche Schmerzen sein Körper zu ertragen hatte.
Außerdem waren seine Pupillen extrem groß. Mehrere Anzeichen deuteten auf PCP hin, aber dieser Kerl hatte gerade erst eine Verfolgungsjagd durch die halbe Stadt hingelegt, und ich hatte noch nie erlebt, dass jemand auf PCP zu so etwas in der Lage war.
Als er keine Antwort gab - kein Wort, kein Nicken, kein Laut -, versuchte ich es noch einmal.
»Hören Sie mich?«, rief ich. »Sagen Sie mir, wo die beiden Kinder sind! Wenn Sie überhaupt wollen, dass wir Ihnen da raushelfen!«
Mittlerweile war der Notarztwagen eingetroffen, und zwei Sanitäter versuchten, mich beiseitezuschieben. Ich rührte mich nicht von der Stelle.
Irgendwo hinter mir sprang ein Hydraulikmotor an. Der war für den Rettungsspreizer - die »Klauen des Lebens« -, und es war klar, dass dieser Kerl ihn bitter nötig hatte. Aber erst, wenn ich meine Antwort bekam.
»Was wissen Sie?«, bohrte ich weiter. »Haben Sie einen Auftrag bekommen? Sagen Sie mir einfach, wo die Kinder sind.«
Da plötzlich regte sich etwas in seinem Gesicht. Sein Atem ging immer noch flach, doch seine Mundwinkel zuckten ein Stück nach oben, und in seinen Augenwinkeln bildeten sich ein paar Fältchen, als hätte ihm jemand einen Witz erzählt, den außer ihm niemand hören oder verstehen konnte. Als er schließlich seine Antwort ausspuckte, ergoss sich ein blutiger Sprühnebel über das zerknautschte Lenkrad und das Armaturenbrett.
»Was denn für Kinder, Mann?«, sagte er.
6
Die Rettungsmannschaft durchtrennte mit riesigen Stahlscheren die Streben rechts und links
der Heckscheibe sowie an den
Türen, dann wurde das Dach mithilfe einer Halligan-Stange - einer Art Brechstange mit speziell geformten Enden - aufgeklappt wie eine Sardinenbüchse. Das ist ein wirklich bemerkenswerter Anblick, aber normalerweise bangt man dabei um das Leben der eingeklemmten Fahrzeuginsassen. In diesem Fall eher nicht. Eigentlich überhaupt nicht.
Während sie eine Kette absenkten, um den Motorblock wegzuhieven und unseren Freund mit dem leeren Blick zu befreien, versuchte ich, dem Secret-Service-Agenten, mit dem ich gesprochen hatte, ein paar Details zu entlocken. Er hieß Clay Findlay.
»Also, wer sind denn jetzt diese vermissten Kinder?«
Er schüttelte nur den Kopf. Das hieß wohl, dass er es mir nicht verraten würde, oder? Was sollte das alles?
»Hören Sie«, sagte ich. »Ich habe Erfahrung mit solchen Fällen ...«
»Ich weiß, wer Sie sind«, fiel er mir erneut ins Wort. »Sie sind Alex Cross. Vom Metropolitan Police Department.«
Mein Ruf eilt mir voraus und zieht stetig weitere Kreise, aber das hatte nicht nur positive Auswirkungen. Im Augenblick schien es mir jedenfalls nicht zu helfen.
»Wir haben schon alle MPD-Einheiten alarmiert«, fuhr Findlay fort. »Erkundigen Sie sich doch bitte bei Ihrem Vorgesetzten, wo er Sie einsetzen möchte. Sie sehen ja, ich habe hier alle Hände voll zu tun. So ganz ohne Erfahrung bin ich auch nicht, Detective.«
Ich war ziemlich sauer darüber, dass er mich so abblitzen ließ. Wenn er wirklich Erfahrung mit Entführungsfällen hatte, dann musste er wissen, dass das ein Fehler war. Mit jeder Minute wuchs die Entfernung zwischen uns und diesen Kindern. Findlay hätte das wissen müssen. Schlimmer noch - vielleicht wusste er es ja.
»Sehen Sie den Kerl da?« Ich deutete auf den Fahrer des Lieferwagens. Sie hatten ihm einen Nackenschutz angelegt und kamen mit der Bergung langsam voran. »Dieser Mann wurde festgenommen. Vom Metropolitan Police Department. Haben Sie das kapiert? Ich werde so bald wie möglich mit ihm sprechen, und es ist mir völlig egal, ob Sie mit dabei sind oder nicht. Wenn Sie warten wollen, bis Sie an der Reihe sind, bitte sehr. Aber nur, damit Sie Bescheid wissen - wenn er erst mal in der Notaufnahme liegt, dann wird er ruhiggestellt und an irgendwelche Schläuche angeschlossen. Wer weiß, wie lange. Es könnte also eine Weile dauern, bis Sie ihn etwas fragen können.«
Findlay starrte mich durchdringend an. Ich sah seine Kiefer mahlen, hörte ein knackendes Geräusch. Er wusste, dass ich im Augenblick die Trümpfe in der Hand hielt, wenn er es darauf ankommen lassen wollte.
»Zoe und Ethan Coyle«, sagte er schließlich. »Sie werden es sowieso bald erfahren. Sie sind vor ungefähr zwanzig Minuten aus der Branaff School verschwunden.«
Ich war sprachlos. Wie vor den Kopf gestoßen. Das schiere Ausmaß dessen, was ich soeben gehört hatte - die möglichen Auswirkungen -, alles stürmte gleichzeitig auf mich ein. »Welche Maßnahmen haben Sie ergriffen?«, wollte ich wissen.
»Wir haben die Schule abgeriegelt«, sagte Findlay. »Jeder verfügbare Secret-Service-Agent ist entweder dort oder auf dem Weg dahin.«
»Kann es sein, dass sie noch irgendwo in der Schule sind?«, fragte ich weiter.
Er schüttelte den Kopf. »Dann hätten wir sie mittlerweile gefunden. Auf dem Gelände können sie nicht mehr sein.«
»Haben Sie irgendeine Ahnung, wie sie von dort weggebracht worden sein könnten?«
Wieder folgte eine Pause. Ich hatte den Eindruck, als würde er sich selbst zensieren. Was ich zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht wusste, war, dass Agent Findlay Leiter der für Ethan und Zoe zuständigen Personenschützer-Einheit war. Das Ganze fiel also in seine Verantwortung. Die Kinder des Präsidenten.
»Nein. Es ist eben erst passiert«, lautete seine Antwort. »Es gibt dort einen unterirdischen Gang, der das Haupthaus mit einigen Nebengebäuden verbindet. Er stammt aus der Zeit vor der Schule, als dort noch das Hofgut Branaff war. Wir haben den Gang zwar abgesperrt, aber es kommt immer wieder vor, dass Schüler dort einbrechen, um zu rauchen oder um ein bisschen rumzufummeln. Sie können mir glauben, wenn Ethan und Zoe überhaupt in diesem Tunnel waren, dann sind sie jetzt garantiert nicht mehr da.«
Der Fahrer des Lieferwagens lag jetzt auf einer Trage. Aus seiner Nase ragte ein Schlauch, und in seinem Arm steckte eine Infusionsnadel. Er wurde zum Notarztwagen gebracht und hineingeschoben. Findlay und ich bildeten den Schluss der Prozession.
Ich zückte wieder einmal meine Dienstmarke. Und er seinen Dienstausweis.
»He!«, rief einer der Sanitäter, als wir einfach einstiegen. »Sie können doch nicht ...«
»Wir fahren mit«, sagte ich und klappte die Türen zu. Keine weitere Diskussion. »Los geht's.«
7
Immer schneller rasten meine Gedanken, wahrscheinlich zu schnell. Genau wie mein Puls.
Und mein Atem.
Die Kinder des Präsidenten.
Das George Washington University Hospital lag nur wenige Häuserblocks entfernt, darum hatten wir nicht viel Zeit. Während die Sanitäter sich um unseren Tatverdächtigen bemühten und alle möglichen Werte an das Krankenhaus funkten, beugte ich mich so dicht wie nur möglich über ihn.
»Wie heißen Sie?«, wollte ich wissen.
Ich musste mehrfach nachfragen, bevor er antwortete.
»Ray?« Es klang wie eine Frage.
»Okay, Ray. Ich heiße Alex. Können Sie mich hören?«
Er lag auf dem Rücken und starrte an die Decke. Ich fuhr mit dem Finger vor seinen Augen hin und her, damit er mich ansah.
»Was haben Sie genommen, Ray? Wissen Sie das? Was haben Sie genommen?«
Seine Miene blieb genauso abwesend wie zuvor. »Bloß'n Schluck Wasser«, sagte er schließlich.
»Geben Sie ihm nichts zu trinken!«, bellte mich einer der Sanitäter an.
»Habe ich doch gar nicht vor«, erwiderte ich. »Ein Schluck Wasser bedeutet nichts anderes als PCP. Er glaubt, dass er Angel Dust genommen hat.«
»Glaubt?«, ließ sich Agent Findlay vernehmen.
»Irgendein schweres Betäubungsmittel jedenfalls. Wahrscheinlich ein Cocktail.« Den er schätzungsweise nicht selbst zusammengestellt hatte.
»Wer hat Sie in diesen Lieferwagen gesetzt, Ray?«, wollte ich wissen. »Wer hat Sie dazu angestiftet? Da gibt es doch noch jemanden, hab ich recht?«
»Gute Nacht, gute Nacht«, sagte er. »Fünfhundert Scheine und ein Schlückchen Wasser.«
»Fünfhundert Dollar?« Findlay sah aus, als würde er dem Kerl am liebsten die Haut vom Gesicht reißen. »Haben Sie eigentlich eine Vorstellung davon, wie tief Sie sich in die Scheiße geritten haben - wegen fünfhundert Dollar?«
Doch Ray hörte dem Agenten des Secret Service gar nicht zu. Er sah sich um, als wäre ihm gerade eben erst bewusst geworden, wo er eigentlich war. Als sein Blick an seiner Bauchgegend hängen blieb und er den dicken, blutgetränkten Verband sah, grinste er nur. »Verdammt gutes Zeug«, sagte er.
»Ray?« Ich nahm noch einen Anlauf. »Ray? Sie haben ›Gute Nacht‹ gesagt. Wie haben Sie das gemeint?«
»Nein«, sagte er und zuckte dabei unaufhörlich. »Gute Nacht, gute Nacht.« Seine Finger bewegten sich dazu, als würde er Fingerübungen auf dem Klavier machen.
Findlay und ich sahen einander an. Wer immer Ray in diesen Zustand versetzt hatte, er hatte genau gewusst, was er tat. Jetzt, solange die Spur zu den Kindern am heißesten war, konnten wir mit der einen Person, die wir festgenommen hatten, so gut wie gar nichts anfangen. Wir verschwendeten mit diesem Kerl nur kostbare Zeit. Und das war das, was der Kidnapper erreichen wollte, oder etwa nicht?
»Wir sind da!«, rief der Fahrer nach hinten. »Verhör beendet. « Die beiden anderen standen auf und machten Ray transportfertig.
»Was heißt ›Gute Nacht‹?« Ich startete noch einen letzten Versuch. »Was ist damit gemeint, Ray?«
»GUT-EN-Acht. GUT-EN-Acht«, wiederholte er und schlug dabei insgesamt fünf Tasten an. Da wurde mir klar, dass er gar nicht Klavier spielte. Er bediente eine imaginäre Tastatur. Ich hatte eine Idee.
Gut-N-8-Gut-N-8.
»Ist das ein Deckname?«, wollte ich wissen. »Hat jemand übers Internet mit Ihnen Kontakt aufgenommen, Ray?«
»Achtung, bitte!«
Die Heckklappe des Notarztwagens wurde von außen aufgemacht. Findlay und ich mussten als Erste herausspringen, um den anderen Platz zu machen.
Ein Notärzteteam stand schon bereit, um den Verletzten in Empfang zu nehmen, direkt daneben ein vollkommen deplatziert wirkender Haufen von Herren in grauen Anzügen.
Aber es waren nicht einfach irgendwelche Herren in grauen Anzügen. Findlay blieb auf der Stelle stehen, und ich hätte ihn beinahe über den Haufen gerannt.
»Sir?«, sagte er zu einem der Anzugträger.
Direkt vor uns stand der Minister für Heimatschutz persönlich, Phil Ribillini.
»Detective Cross«, sagte Ribillini mit knappem Nicken. Wir waren uns schon einmal begegnet, damals, als ich noch beim FBI und er beim Verteidigungsministerium gewesen war. Aber heute war keine Zeit für Höflichkeiten. »Wir brauchen sofort eine Aussage von Ihnen«, sagte er. »Das erledigen wir gleich hier draußen. Geht nicht anders.«
Mit anderen Worten: Ich würde keinen Schritt mehr mit dem Gefangenen machen. Mir blieb nichts anderes übrig, als zuzusehen, wie sie Ray durch die Automatiktüren nach drinnen schoben und aus meinem Blickfeld verschwanden.
Aber das war nicht das Schlimmste. Die Uhr tickte unaufhörlich weiter, und zwei Kinder wurden vermisst.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Ethan hatte mittlerweile gelernt, dass er seinem Peiniger auf keinen Fall antworten durfte. Stattdessen bog er scharf nach links ab, in den Gang mit den Bücherschränken. Aber das war sein erster Fehler. Jetzt saß er in der Falle. Schon spürte er einen scharfen, stechenden Schmerz am Oberschenkel. Townsend hatte ihn, ohne seine Schritte wesentlich zu verlangsamen, einfach getreten. »Streifschüsse« nannte er diese kleinen Zwischenfälle.
Was Ethan jetzt nicht machte, war, laut aufzuschreien oder mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden zu gehen. Das hatte er sich geschworen: Er würde sich niemals anmerken lassen, was er fühlte.
Stattdessen ließ er seine Bücher fallen und ging in die Hocke, um sie wieder aufzuheben. Das war feige und hasenfüßig, klar, aber wenigstens konnte er so sein Bein für einen Moment entlasten, ohne dass die ganze Welt erfahren musste, dass Ryan Townsend ihn als Sandsack und Treteimer benutzte.
Nur, dass es dieses Mal noch jemand beobachtet hatte - und zwar nicht der Secret Service.
Ethan war gerade damit beschäftigt, das Millimeterpapier in seine Mathemappe zurückzupacken, da hörte er eine vertraute Stimme.
»He, Ryan. Bei dir auch alles klar?«
Ethan hob den Kopf und bekam gerade noch mit, wie seine vierzehnjährige Schwester Zoe sich vor Townsend aufbaute.
»Das hab ich gesehn«, sagte sie. »Hättste nicht gedacht, was?«
Townsend legte seinen blonden Lockenkopf schräg. »Keine Ahnung, was du meinst. Warum kümmerst du dich nicht um d ...«
Plötzlich, wie aus dem Nichts, hatte Zoe ein schweres, gelbes Schulbuch in den Händen. Sie holte aus und hieb es Townsend mit voller Wucht mitten ins Gesicht. Aus seiner Nase spritzte rotes Blut. Er taumelte nach hinten. Es war großartig!
Aber dann war auch schon Schluss, und der Secret Service schaltete sich ein. Agent Findlay hielt Zoe fest, und Agent Musgrove drängte sich zwischen Ethan und Townsend. Ein ganzer Haufen Sechst-, Siebt- und Achtklässler war schon stehen geblieben und glotzte, als wäre das Ganze eine neue Reality-Sendung im Fernsehen - Die Präsidentenkinder.
»Ihr seid solche Loser!«, brüllte Townsend Ethan und Zoe an, während das Blut auf seine Branaff-Krawatte und sein weißes Hemd tropfte. »Zwei bescheuerte Vollidioten. Ohne diese SS-Typen, die euch die ganze Zeit bewachen, hättet ihr ja überhaupt keine Chance!«
»Ach, ja? Erzähl das mal meinem Mathebuch«, schrie Zoe zurück. »Und lass gefälligst meinen Bruder in Ruhe! Du bist größer und älter als er, du Blödmann! Arschloch!«
Ethan kauerte immer noch vor den Schränken, wo sich die Hälfte seiner Schulsachen auf dem Boden verteilt hatte. Und für einen kurzen Moment, für ein, zwei Sekunden vielleicht, tat er so, als sei er einfach nur einer unter vielen - bloß ein namenloser Schuljunge, von dem noch nie jemand gehört hatte, der einfach nur dastand und zusah, wie irgendein anderer diesen ganzen Wahnsinn erleben musste.
Ja, na klar, dachte Ethan. Im nächsten Leben vielleicht.
2
Agent Findlay brachte Ethan und Zoe schnell und professionell aus dem Blickfeld ihrer gaffenden Mitschüler und, noch schlimmer, derjenigen, die ihre iPhones in die Höhe hielten: Hallo, YouTube! Innerhalb weniger Sekunden stand er mit ihnen in der leeren Aula, gleich neben der Eingangshalle.
Bevor eine Bildungsstiftung der Quäker das Anwesen übernommen und zur Schule umfunktioniert hatte, war die Branaff School das Hofgut Branaff gewesen. Hartnäckig hielt sich unter den Schülern das Gerücht, dass hier Gespenster ihr Unwesen trieben, und zwar nicht die Geister der guten Menschen, die hier gestorben waren, sondern die der verärgerten Nachfahren der Branaffs, die hatten weichen müssen, um einer Privatschule Platz zu machen.
Ethan glaubte zwar nicht an diesen ganzen Mist, aber die Aula war ihm schon immer besonders unheimlich vorgekommen. An den Wänden hingen alte Ölporträts, von denen aus jeder, der an ihnen vorbeikam, mit missbilligenden Blicken bedacht wurde.
»Dir ist doch klar, dass der Präsident das erfahren wird, Zoe. Die Schlägerei, deine Ausdrucksweise gerade eben«, sagte Agent Findlay. »Und Direktor Skillings natürlich auch ...«
»Na klar, machen Sie einfach, wofür Sie bezahlt werden«, erwiderte Zoe und zuckte die Achseln. Sie legte ihrem Bruder die Hand auf den Kopf. »Alles in Ordnung, Eth?«
»Alles bestens«, sagte er und schob sie weg. »Körperlich jedenfalls.« Seine Würde stand auf einem anderen Blatt, aber das war ihm jetzt zu kompliziert, darüber konnte er im Moment nicht nachdenken.
»Wenn das so ist«, meinte Findlay, »dann sollten wir uns nicht länger aufhalten. In fünf Minuten fängt der Vortrag an.«
»Na klar«, meinte Zoe mit einer abfälligen Handbewegung. »Der Vortrag. Wie könnten wir den vergessen?«
Die Gastrednerin des heutigen Vormittags war Isabelle Morris, eine der führenden Mitarbeiterinnen des Instituts für Internationale Politik in Washington, D. C., und außerdem ehemalige Schülerin der Branaff School. Im Gegensatz zu fast all seinen Mitschülern freute sich Ethan auf Ms Morris' Vortrag über ihre Erfahrungen im Nahen Osten. Er wollte später auch für die Vereinten Nationen arbeiten. Warum nicht? Er hatte schließlich ziemlich gute Beziehungen, nicht wahr?
»Können Sie uns vielleicht einen winzig kleinen Augenblick alleine lassen?«, wandte Zoe sich an Findlay. »Ich würde gerne kurz mit meinem Bruder reden ... unter vier Augen.«
»Ich hab doch gesagt, alles in Ordnung. Kein Problem«, beharrte Ethan, doch seine Schwester brachte ihn mit einem wütenden Blick zum Schweigen.
»Er kann irgendwie freier reden, wenn Sie nicht dabei sind«, fuhr Zoe als Reaktion auf Findlays skeptischen Blick fort. »Und hier hat man ja nicht oft die Gelegenheit zu einem vertraulichen Gespräch, wenn Sie verstehen. Bitte nehmen Sie's nicht persönlich.«
»Kein Problem.« Findlay warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Einverstanden«, sagte er dann. »Aber nicht mehr als zwei Minuten.«
»Zwei Minuten, okay. Wir kommen gleich raus, ich versprech's«, sagte Zoe und drückte die schwere Holztür hinter ihm ins Schloss.
Ohne ein Wort zu Ethan glitt sie zwischen den alten Sitzbänken hindurch ans hintere Ende des Saals. Dort hüpfte sie auf den Heizkörper unter dem Fenster.
Sie schob die Hand in den blaugrauen Blazer ihrer Schuluniform und holte eine kleine schwarze Lackschachtel heraus. Ethan erkannte sie sofort. Die hatte seine Schwester sich in Peking gekauft, wo sie im Sommer zusammen mit ihren Eltern gewesen waren.
»Ich brauch jetzt 'ne Kippe«, flüsterte Zoe. Dann grinste sie verschlagen. »Kommst du mit?«
Ethan warf einen Blick zur Tür. »Aber ... ich will den Vortrag nicht verpassen.«
Zoe verdrehte die Augen. »Oh, ich bitte dich. Bla bla bla, der Nahe Osten, bla bla. Das kriegst du doch alles auf CNN zu sehen, jeden Tag in der Woche, rund um die Uhr. Aber wann hast du schon mal die Gelegenheit, dem Secret Service ein Schnippchen zu schlagen? Nun komm schon!«
Ethan steckte schwer in der Klemme, und das wusste er auch. Entweder sah er - wieder einmal - so aus wie der letzte Feigling, oder er würde den Vortrag verpassen, auf den er sich schon die ganze Woche gefreut hatte. Es gab kein Entrinnen.
»Es wäre aber besser, wenn du nicht rauchen würdest«, sagte er schwächlich.
»Ja, genau, und für dich wär's besser, wenn du nicht so oft den Schwanz einziehen würdest«, gab Zoe zurück. »Dann würden solche Arschlöcher wie Ryan Townsend auch nicht pausenlos über dich herfallen.«
»Das liegt doch bloß daran, dass Dad der Präsident ist«, meinte Ethan. »Das stimmt doch, oder?«
»Nein. Es liegt daran, dass du ein Weichei bist«, sagte Zoe. »Mit mir legt sich doch auch keiner von diesen Dumpfbacken an, oder?« Sie machte das Fenster auf, schob sich mühelos hindurch und landete draußen auf dem Boden. Zoe hielt sich für eine zweite Angelina Jolie. »Wenn du nicht mitkommen willst, dann lass mir wenigstens eine Minute Vorsprung. Okay, Großmutter?«
Eine Sekunde später war sie verschwunden.
Ethan warf noch einen letzten Blick zurück in den Saal. Dann traf er die einzige Entscheidung, mit der er sich wenigstens einen winzigen Bruchteil seiner Würde erhalten konnte. Er machte es seiner Schwester nach und stieg zum Aula-Fenster hinaus ... um gleich darauf in Schwierigkeiten zu landen, die er sich nicht einmal ansatzweise vorstellen konnte.
Die sich niemand vorstellen konnte.
3
Kaum war die Aulatür hinter Agent Findlay ins Schloss gefallen, drückte er kurz die Klinke -
die Tür war nicht verschlossen.
Dann beobachtete er den Sekundenzeiger seiner Edelstahl- Breitling. »Ich gebe ihnen noch fünfundvierzig Sekunden«, sagte er in das Mikrofon an seinem Ärmelaufschlag. »Danach geht T. Rex zum Vortrag und Twilight zum Direktor.«
Der Präsident und die First Lady wollten Ethan und Zoe eine möglichst normale Schulzeit ermöglichen. Und dazu gehörten eben auch Konflikte - in einem vernünftigen Rahmen. Das war natürlich leichter gesagt als getan. Zoe Coyle benahm sich nicht immer vernünftig. Um ehrlich zu sein, fast nie. Sie war kein böses Kind. Aber ein Kind. Eigensinnig. Schlau. Und ganz vernarrt in ihren kleinen Bruder.
»Ich schätze, ich kann mich auf einen gewaltigen Anschiss gefasst machen«, funkte Findlay leise. »Aber das eine kann ich dir sagen. Dieser Ryan Townsend ist ein kleiner Scheißkerl. Aber von mir hast du das nicht.«
»Wie der Vater so der Sohn«, funkte Musgrove zurück. »Das Bürschchen hat es nicht anders verdient. Zoe hat der Arschgeige ordentlich eins übergebraten.«
Leises Gelächter hallte durch den Äther. Ryan Townsends Pa war Fraktionssprecher der Opposition und ein fanatischer Gegner so gut wie aller Initiativen, die Präsident Coy le jemals angestoßen oder an die er auch nur gedacht hatte. Manchmal kam einem die Branaff School vor wie Washington im Miniaturformat. Was sie in gewisser Weise auch war.
Findlay warf noch einen Blick auf seine Armbanduhr. Genau zwei Minuten. Die Atempause der Coyle-Kinder war zu Ende. Jetzt hieß es für alle: zurück an die Arbeit.
»Also gut, meine Damen und Herren, wir sind startklar«, sagte er in sein Mikrofon. Dann klopfte er zweimal an die Tür zur Aula und stieß sie auf.
»Die Zeit ist um. Seid ihr so wei ...? Verdammt noch mal!«
Der Saal war leer.
Nein, nein, nein. Nicht das. Diese gottverdammten Kinder. Gottverdammte Zoe!
Findlays Puls schnellte hoch. Sein Blick glitt über die großen Verbundglasfenster an der gegenüberliegenden Wand.
Er ging darauf zu und öffnete sämtliche Funkkanäle an seinem Sender, um die Kommandozentrale ebenso zu erreichen wie alle Mitglieder seines Teams vor Ort.
»Zentrale, hier Apex eins. Twilight und T. Rex sind verschollen. « Seine Stimme klang dringlich, aber sachlich. Für Panik war jetzt kein Platz. »Ich wiederhole: Beide Schützlinge sind verschollen.«
Als er vor den Fenstern stand, sah er, dass alle geschlossen waren. Allerdings ... eines war nicht verriegelt. Ein schneller Blick nach draußen offenbarte nichts als üppige grüne Sportplätze bis hinüber an den südlichen Zaun.
»Findlay? Was ist passiert?«
Das war Musgrove. Er stand in der Aulatür.
»Sie müssen durchs Fenster abgehauen sein«, sagte Findlay. »Ich bring sie um. Ganz ehrlich. Hätte ich schon längst machen sollen.« Die ganze Aktion war so typisch Zoe, so typisch. Für sie war das wahrscheinlich ein einziges großes Spiel, ein kleiner Schabernack mit ihren Bewachern.
»Zentrale, hier Apex eins«, funkte er erneute. »Twilight und T. Rex sind nach wie vor unauffindbar. Ich brauche eine sofortige Sperrung sämtlicher Ausgänge und Ausfahrten rund um ...«
Mit einem Mal war in seinem Ohrhörer ein Getümmel zu hören. Findlay hörte Schreie und ein metallisches Knirschen. Dann zwei Schüsse.
»Zentrale, hier Apex fünf!« Jetzt dröhnte eine andere Stimme durch den Äther. »Gerade ist uns ein grauer Kastenwagen entwischt, hier am Osteingang. Fährt mit hoher Geschwindigkeit auf der Wisconsin Avenue nach Süden. Schätzungsweise hundert Sachen. Wir brauchen Verstärkung! Sofort!«
4
Bobby Hatfield, ein einfacher Streifenbeamter beim Metropolitan Police Department, sah einen grauen Lieferwagen durch Georgetown brettern. Fast gleichzeitig empfing er den Notruf aus der Funkzentrale. »An alle Einheiten im Bezirk zwonullsechs. Mutmaßliche bewaffnete Entführung. Zwei Kinder. Ich wiederhole: Zwei Kinder! Verdächtig ist ein grauer Lieferwagen, fährt mit hoher Geschwindigkeit auf der Wisconsin Richtung Süden. Der Secret Service hat die Verfolgung aufgenommen. Erbittet Verstärkung! Bitte auf Kanal dreiundzwanzig wechseln.«
Hatfield schaltete seine Sirene ein und wendete, während ein schwarzer Yukon an ihm vorbeiraste. Alles klar. Sobald er den angegebenen Funkkanal eingestellt hatte, hörte er, wie der Secret Service die Verfolgungsjagd kommentierte.
»Wir fahren Richtung Süden. Das Kennzeichen wurde in D. C. ausgestellt, es lautet DMS acht-zwo-drei ... »Secret Service, hier MPD-Streifenwagen zwo-null-acht«, unterbrach Hatfield. »Ich bin direkt hinter Ihnen.«
»Verstanden, MPD.«
Hatfield beschleunigte, und der Yukon überließ ihm die Führung. Seine Tachonadel zeigte schon jetzt deutlich über hundertzehn Stundenkilometer an, und auch sein Adrenalinpegel hatte die kritische Marke weit überschritten. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Sache böse endete, war weitaus größer als die, dass alles gut ging.
Bei der M-Street schlingerte der Lieferwagen nach rechts. Es sah so aus, als würde er jeden Moment umkippen. Er wurde ein ganzes Stück zu weit nach außen getragen und streifte zwei parkende Autos, ohne seine Fahrt zu verlangsamen.
Hatfield driftete durch die Kurve - langsam rein, schnell raus, so wie er es gelernt hatte - und drückte das Gaspedal bis zum Anschlag durch, sobald der Bug des Wagens in die richtige Richtung zeigte. Dadurch machte er ein paar Meter gut, aber es reichte noch nicht.
»Verdächtiger fährt jetzt auf der M Richtung Osten«, gab er durch. »Gleich hebt er ab. Wo bleibt die Verstärkung, verdammt noch mal? Los, Leute, nun macht schon!«
Als sie kurz vor dem Rock Creek Park auf die Pennsylvania Avenue stießen, bog der Lieferwagen nach halb rechts ab. Die Straße führte auf eine Brücke, wurde breiter, und der Fahrer beschleunigte noch einmal, schlängelte sich halsbrecherisch zwischen den anderen Fahrzeugen hindurch.
Hatfield blinzelte immer wieder, um dem Tunnelblick entgegenzuwirken. Überall waren Autos und Fußgänger. Es hätte gar nicht unübersichtlicher sein können.
Das wird kein gutes Ende nehmen. Er konnte es am ganzen Körper fühlen.
Bei der Twenty-eighth Street tauchte endlich ein zweiter Streifenwagen hinter ihm auf. Hatfield erkannte die Stimme von James Walsh im Funkgerät. Walsh war einer seiner Kumpels, konnte einem aber auch ziemlich auf die Nerven gehen.
»Na, Robert, wie geht's, wie steht's?«
»Arschgeige. Das siehst du doch.«
»In südöstlicher Richtung auf der Pennsylvania«, fuhr Walsh fort. »Der Verdächtige fährt vollkommen unberechenbar ... Anscheinend sitzt er allein im Fahrzeug, ist aber schwer zu sagen. Gleich sind wir am Washington Circle und ... Scheiße! Bobby, pass auf! Pass auf!«
Der Lieferwagen jagte auf den Kreisverkehr zu, doch dann bog er nicht nach rechts ab, sondern nach links, bretterte mitten in den entgegenkommenden Verkehr. Alle versuchten, ihm irgendwie auszuweichen.
Aus Hatfields Perspektive sah es aus wie die Teilung des Roten Meers - aber dann tauchte am Ende der Öffnung ein Omnibus auf. Er war viel zu groß, um ihm ausweichen zu können. Der Fahrer des Lieferwagens riss das Lenkrad zwar noch nach rechts, aber es hatte keinen Zweck.
Er erreichte damit lediglich, dass sich vor dem Lieferwagen eine mächtige Wand aufbaute!
Hatfield stieg in die Eisen, sodass alle vier Reifen blockierten. Er ließ den Lieferwagen keine Sekunde aus den Augen.
Dieser krachte frontal und ungebremst mitten in die riesige Werbung auf der Flanke des Busses. Die Fahrerkabine wurde wie eine Ziehharmonika zusammengequetscht. Glassplitter schossen durch die Luft, und die Hinterräder des Lieferwagens hoben sich einen halben Meter vom Boden, bevor das ganze Tohuwabohu schließlich zum Stillstand kam.
Hatfield sprang sofort aus seinem Wagen. Walsh war direkt hinter ihm. Es war wie ein Wunder, aber anscheinend war der Bus gerade auf dem Weg ins Depot gewesen, jedenfalls hatte er keine Fahrgäste befördert. Allerdings hatte sich der Washington Circle in einen einzigen, kreisförmigen Auffahrunfall verwandelt.
Sekunden später waren bereits sechs Streifenwagen vor Ort.
Dann liefen überall uniformierte Polizisten herum, aber Hatfield erreichte die Heckklappe des Lieferwagens als Erster. Die grauen Metallplatten waren völlig verbogen und der Türgriff nicht mehr zu gebrauchen.
Nach der wilden Verfolgungsjagd pochte sein Herz immer noch wie verrückt, und er spürte, wie ihm das Blut in den Ohren dröhnte. Es war noch nicht vorbei. Was würden sie auf der anderen Seite dieser Klappe zu sehen bekommen? Bewaffnete Männer? Tote Männer?
Oder - noch schlimmer - tote Kinder?
5
Als der erste Vorfall in dieser Kette der Ereignisse gemeldet wurde, wusste ich noch nicht,
dass es sich um die Kinder der
Präsidenten handelte. Niemand wusste das. Das Funkgerät hatte nur die Worte »mutmaßliche Entführung« ausgespuckt.
Ich fuhr gerade auf der K-Street in Richtung Osten und war nicht im Dienst. Der Unfall passierte keine zwei Querstraßen von mir entfernt. Daher war ich noch vor den Notärzten beim Washington Circle. Wenn ich helfen konnte, dann musste ich das tun.
Ich brauchte keine sechzig Sekunden. Ein Streifenbeamter kam mit einer Rolle Absperrband hinter mir her, während ich mich dem zerknautschten Lieferwagen näherte.
Als Erstes registrierte ich die weit geöffnete Heckklappe. Als Zweites die Tatsache, dass nirgendwo ein Entführungsopfer zu sehen war.
Und als Drittes ... überall Secret Service! Manche in den üblichen schwarzen Anzügen, andere in gepflegten Jacketts, Krawatten, Hemden und Kakihosen. Sie sahen aus wie Lehrer. Nur die spiralförmigen Kabel hinter ihren Ohren deuteten etwas anderes an.
Meine Dienstmarke brachte mich bis zum Lieferwagen, und ich konnte einen Blick ins Innere werfen. Der Fahrer saß regungslos auf seinem Sitz, eingeklemmt von dem Motorblock, der durch den Aufprall in die Fahrerkabine eingedrungen war. Seine Körpermitte war ganz offensichtlich schwer in Mitleidenschaft gezogen worden, und darunter war alles voll Blut. Sein rechter Arm ragte in einem ausgesprochen unnatürlichen Winkel nach oben.
Der Mann war circa Mitte dreißig, hatte lockiges, schwarzes Haar und ein paar Bartflecken inklusive Unterlippenbärtchen, das genauso winzig und jämmerlich aussah wie er selbst.
Aber wo war das Opfer? War das Ganze nur ein Täuschungsmanöver gewesen? Eine bewusste Ablenkung? Schon jetzt drängte sich dieser Gedanke auf und ließ meinen Adrenalinpegel steigen. Eine Ablenkung wovon? Was war noch an dieser Schule geschehen?
»Ist er bei Bewusstsein?«, fragte ich den Agenten mit dem Tweed-Sakko neben mir.
»Schwer zu sagen«, erwiderte er. »Er ist nicht ansprechbar. Vielleicht steht er unter Schock. Wir wissen nicht einmal, ob er Englisch spricht.«
»Und keine Spur von dem entführten Kind?«, hakte ich nach.
Der Agent schüttelte lediglich den Kopf und hielt zwei Finger in die Höhe. »Zwei entführte Kinder.«
Das Ganze wurde für mich immer mehr zu einem Déjàvu - einem Déjà-vu der übelsten Sorte. Vor einigen Jahren hatte ich zusammen mit dem Secret Service einen anderen Entführungsfall bearbeitet. Dort war es auch um zwei Kinder gegangen. Der Täter war ein Monster namens Gary Soneji gewesen. Nur eines der beiden Kinder hatte überlebt. Und ich selbst war auch nur mit knapper Not dem Tod entronnen. John Sampson hatte mir das Leben gerettet.
Ich zeigte noch ein paarmal meine Dienstmarke vor und beugte mich zu dem zerschmetterten Fahrerfenster hinein.
»Polizei. Wo sind die Kinder?«, fragte ich den Kerl ohne Umschweife. Ich musste zunächst einmal davon ausgehen, dass er etwas wusste. Jetzt war keine Zeit für Zweideutigkeiten.
Er atmete schnell und flach, und in seinem Gesicht war keine Regung zu erkennen - als hätte sein Hirn noch gar nicht erfasst, welche Schmerzen sein Körper zu ertragen hatte.
Außerdem waren seine Pupillen extrem groß. Mehrere Anzeichen deuteten auf PCP hin, aber dieser Kerl hatte gerade erst eine Verfolgungsjagd durch die halbe Stadt hingelegt, und ich hatte noch nie erlebt, dass jemand auf PCP zu so etwas in der Lage war.
Als er keine Antwort gab - kein Wort, kein Nicken, kein Laut -, versuchte ich es noch einmal.
»Hören Sie mich?«, rief ich. »Sagen Sie mir, wo die beiden Kinder sind! Wenn Sie überhaupt wollen, dass wir Ihnen da raushelfen!«
Mittlerweile war der Notarztwagen eingetroffen, und zwei Sanitäter versuchten, mich beiseitezuschieben. Ich rührte mich nicht von der Stelle.
Irgendwo hinter mir sprang ein Hydraulikmotor an. Der war für den Rettungsspreizer - die »Klauen des Lebens« -, und es war klar, dass dieser Kerl ihn bitter nötig hatte. Aber erst, wenn ich meine Antwort bekam.
»Was wissen Sie?«, bohrte ich weiter. »Haben Sie einen Auftrag bekommen? Sagen Sie mir einfach, wo die Kinder sind.«
Da plötzlich regte sich etwas in seinem Gesicht. Sein Atem ging immer noch flach, doch seine Mundwinkel zuckten ein Stück nach oben, und in seinen Augenwinkeln bildeten sich ein paar Fältchen, als hätte ihm jemand einen Witz erzählt, den außer ihm niemand hören oder verstehen konnte. Als er schließlich seine Antwort ausspuckte, ergoss sich ein blutiger Sprühnebel über das zerknautschte Lenkrad und das Armaturenbrett.
»Was denn für Kinder, Mann?«, sagte er.
6
Die Rettungsmannschaft durchtrennte mit riesigen Stahlscheren die Streben rechts und links
der Heckscheibe sowie an den
Türen, dann wurde das Dach mithilfe einer Halligan-Stange - einer Art Brechstange mit speziell geformten Enden - aufgeklappt wie eine Sardinenbüchse. Das ist ein wirklich bemerkenswerter Anblick, aber normalerweise bangt man dabei um das Leben der eingeklemmten Fahrzeuginsassen. In diesem Fall eher nicht. Eigentlich überhaupt nicht.
Während sie eine Kette absenkten, um den Motorblock wegzuhieven und unseren Freund mit dem leeren Blick zu befreien, versuchte ich, dem Secret-Service-Agenten, mit dem ich gesprochen hatte, ein paar Details zu entlocken. Er hieß Clay Findlay.
»Also, wer sind denn jetzt diese vermissten Kinder?«
Er schüttelte nur den Kopf. Das hieß wohl, dass er es mir nicht verraten würde, oder? Was sollte das alles?
»Hören Sie«, sagte ich. »Ich habe Erfahrung mit solchen Fällen ...«
»Ich weiß, wer Sie sind«, fiel er mir erneut ins Wort. »Sie sind Alex Cross. Vom Metropolitan Police Department.«
Mein Ruf eilt mir voraus und zieht stetig weitere Kreise, aber das hatte nicht nur positive Auswirkungen. Im Augenblick schien es mir jedenfalls nicht zu helfen.
»Wir haben schon alle MPD-Einheiten alarmiert«, fuhr Findlay fort. »Erkundigen Sie sich doch bitte bei Ihrem Vorgesetzten, wo er Sie einsetzen möchte. Sie sehen ja, ich habe hier alle Hände voll zu tun. So ganz ohne Erfahrung bin ich auch nicht, Detective.«
Ich war ziemlich sauer darüber, dass er mich so abblitzen ließ. Wenn er wirklich Erfahrung mit Entführungsfällen hatte, dann musste er wissen, dass das ein Fehler war. Mit jeder Minute wuchs die Entfernung zwischen uns und diesen Kindern. Findlay hätte das wissen müssen. Schlimmer noch - vielleicht wusste er es ja.
»Sehen Sie den Kerl da?« Ich deutete auf den Fahrer des Lieferwagens. Sie hatten ihm einen Nackenschutz angelegt und kamen mit der Bergung langsam voran. »Dieser Mann wurde festgenommen. Vom Metropolitan Police Department. Haben Sie das kapiert? Ich werde so bald wie möglich mit ihm sprechen, und es ist mir völlig egal, ob Sie mit dabei sind oder nicht. Wenn Sie warten wollen, bis Sie an der Reihe sind, bitte sehr. Aber nur, damit Sie Bescheid wissen - wenn er erst mal in der Notaufnahme liegt, dann wird er ruhiggestellt und an irgendwelche Schläuche angeschlossen. Wer weiß, wie lange. Es könnte also eine Weile dauern, bis Sie ihn etwas fragen können.«
Findlay starrte mich durchdringend an. Ich sah seine Kiefer mahlen, hörte ein knackendes Geräusch. Er wusste, dass ich im Augenblick die Trümpfe in der Hand hielt, wenn er es darauf ankommen lassen wollte.
»Zoe und Ethan Coyle«, sagte er schließlich. »Sie werden es sowieso bald erfahren. Sie sind vor ungefähr zwanzig Minuten aus der Branaff School verschwunden.«
Ich war sprachlos. Wie vor den Kopf gestoßen. Das schiere Ausmaß dessen, was ich soeben gehört hatte - die möglichen Auswirkungen -, alles stürmte gleichzeitig auf mich ein. »Welche Maßnahmen haben Sie ergriffen?«, wollte ich wissen.
»Wir haben die Schule abgeriegelt«, sagte Findlay. »Jeder verfügbare Secret-Service-Agent ist entweder dort oder auf dem Weg dahin.«
»Kann es sein, dass sie noch irgendwo in der Schule sind?«, fragte ich weiter.
Er schüttelte den Kopf. »Dann hätten wir sie mittlerweile gefunden. Auf dem Gelände können sie nicht mehr sein.«
»Haben Sie irgendeine Ahnung, wie sie von dort weggebracht worden sein könnten?«
Wieder folgte eine Pause. Ich hatte den Eindruck, als würde er sich selbst zensieren. Was ich zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht wusste, war, dass Agent Findlay Leiter der für Ethan und Zoe zuständigen Personenschützer-Einheit war. Das Ganze fiel also in seine Verantwortung. Die Kinder des Präsidenten.
»Nein. Es ist eben erst passiert«, lautete seine Antwort. »Es gibt dort einen unterirdischen Gang, der das Haupthaus mit einigen Nebengebäuden verbindet. Er stammt aus der Zeit vor der Schule, als dort noch das Hofgut Branaff war. Wir haben den Gang zwar abgesperrt, aber es kommt immer wieder vor, dass Schüler dort einbrechen, um zu rauchen oder um ein bisschen rumzufummeln. Sie können mir glauben, wenn Ethan und Zoe überhaupt in diesem Tunnel waren, dann sind sie jetzt garantiert nicht mehr da.«
Der Fahrer des Lieferwagens lag jetzt auf einer Trage. Aus seiner Nase ragte ein Schlauch, und in seinem Arm steckte eine Infusionsnadel. Er wurde zum Notarztwagen gebracht und hineingeschoben. Findlay und ich bildeten den Schluss der Prozession.
Ich zückte wieder einmal meine Dienstmarke. Und er seinen Dienstausweis.
»He!«, rief einer der Sanitäter, als wir einfach einstiegen. »Sie können doch nicht ...«
»Wir fahren mit«, sagte ich und klappte die Türen zu. Keine weitere Diskussion. »Los geht's.«
7
Immer schneller rasten meine Gedanken, wahrscheinlich zu schnell. Genau wie mein Puls.
Und mein Atem.
Die Kinder des Präsidenten.
Das George Washington University Hospital lag nur wenige Häuserblocks entfernt, darum hatten wir nicht viel Zeit. Während die Sanitäter sich um unseren Tatverdächtigen bemühten und alle möglichen Werte an das Krankenhaus funkten, beugte ich mich so dicht wie nur möglich über ihn.
»Wie heißen Sie?«, wollte ich wissen.
Ich musste mehrfach nachfragen, bevor er antwortete.
»Ray?« Es klang wie eine Frage.
»Okay, Ray. Ich heiße Alex. Können Sie mich hören?«
Er lag auf dem Rücken und starrte an die Decke. Ich fuhr mit dem Finger vor seinen Augen hin und her, damit er mich ansah.
»Was haben Sie genommen, Ray? Wissen Sie das? Was haben Sie genommen?«
Seine Miene blieb genauso abwesend wie zuvor. »Bloß'n Schluck Wasser«, sagte er schließlich.
»Geben Sie ihm nichts zu trinken!«, bellte mich einer der Sanitäter an.
»Habe ich doch gar nicht vor«, erwiderte ich. »Ein Schluck Wasser bedeutet nichts anderes als PCP. Er glaubt, dass er Angel Dust genommen hat.«
»Glaubt?«, ließ sich Agent Findlay vernehmen.
»Irgendein schweres Betäubungsmittel jedenfalls. Wahrscheinlich ein Cocktail.« Den er schätzungsweise nicht selbst zusammengestellt hatte.
»Wer hat Sie in diesen Lieferwagen gesetzt, Ray?«, wollte ich wissen. »Wer hat Sie dazu angestiftet? Da gibt es doch noch jemanden, hab ich recht?«
»Gute Nacht, gute Nacht«, sagte er. »Fünfhundert Scheine und ein Schlückchen Wasser.«
»Fünfhundert Dollar?« Findlay sah aus, als würde er dem Kerl am liebsten die Haut vom Gesicht reißen. »Haben Sie eigentlich eine Vorstellung davon, wie tief Sie sich in die Scheiße geritten haben - wegen fünfhundert Dollar?«
Doch Ray hörte dem Agenten des Secret Service gar nicht zu. Er sah sich um, als wäre ihm gerade eben erst bewusst geworden, wo er eigentlich war. Als sein Blick an seiner Bauchgegend hängen blieb und er den dicken, blutgetränkten Verband sah, grinste er nur. »Verdammt gutes Zeug«, sagte er.
»Ray?« Ich nahm noch einen Anlauf. »Ray? Sie haben ›Gute Nacht‹ gesagt. Wie haben Sie das gemeint?«
»Nein«, sagte er und zuckte dabei unaufhörlich. »Gute Nacht, gute Nacht.« Seine Finger bewegten sich dazu, als würde er Fingerübungen auf dem Klavier machen.
Findlay und ich sahen einander an. Wer immer Ray in diesen Zustand versetzt hatte, er hatte genau gewusst, was er tat. Jetzt, solange die Spur zu den Kindern am heißesten war, konnten wir mit der einen Person, die wir festgenommen hatten, so gut wie gar nichts anfangen. Wir verschwendeten mit diesem Kerl nur kostbare Zeit. Und das war das, was der Kidnapper erreichen wollte, oder etwa nicht?
»Wir sind da!«, rief der Fahrer nach hinten. »Verhör beendet. « Die beiden anderen standen auf und machten Ray transportfertig.
»Was heißt ›Gute Nacht‹?« Ich startete noch einen letzten Versuch. »Was ist damit gemeint, Ray?«
»GUT-EN-Acht. GUT-EN-Acht«, wiederholte er und schlug dabei insgesamt fünf Tasten an. Da wurde mir klar, dass er gar nicht Klavier spielte. Er bediente eine imaginäre Tastatur. Ich hatte eine Idee.
Gut-N-8-Gut-N-8.
»Ist das ein Deckname?«, wollte ich wissen. »Hat jemand übers Internet mit Ihnen Kontakt aufgenommen, Ray?«
»Achtung, bitte!«
Die Heckklappe des Notarztwagens wurde von außen aufgemacht. Findlay und ich mussten als Erste herausspringen, um den anderen Platz zu machen.
Ein Notärzteteam stand schon bereit, um den Verletzten in Empfang zu nehmen, direkt daneben ein vollkommen deplatziert wirkender Haufen von Herren in grauen Anzügen.
Aber es waren nicht einfach irgendwelche Herren in grauen Anzügen. Findlay blieb auf der Stelle stehen, und ich hätte ihn beinahe über den Haufen gerannt.
»Sir?«, sagte er zu einem der Anzugträger.
Direkt vor uns stand der Minister für Heimatschutz persönlich, Phil Ribillini.
»Detective Cross«, sagte Ribillini mit knappem Nicken. Wir waren uns schon einmal begegnet, damals, als ich noch beim FBI und er beim Verteidigungsministerium gewesen war. Aber heute war keine Zeit für Höflichkeiten. »Wir brauchen sofort eine Aussage von Ihnen«, sagte er. »Das erledigen wir gleich hier draußen. Geht nicht anders.«
Mit anderen Worten: Ich würde keinen Schritt mehr mit dem Gefangenen machen. Mir blieb nichts anderes übrig, als zuzusehen, wie sie Ray durch die Automatiktüren nach drinnen schoben und aus meinem Blickfeld verschwanden.
Aber das war nicht das Schlimmste. Die Uhr tickte unaufhörlich weiter, und zwei Kinder wurden vermisst.
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Autoren-Porträt von James Patterson
James Patterson, geboren 1947, war Kreativdirektor bei einer großen amerikanischen Werbeagentur. Seine Thriller um den Kriminalpsychologen Alex Cross machten ihn zu einem der erfolgreichsten Bestsellerautoren der Welt. Auch die Romane seiner packenden Thrillerserie um Detective Lindsay Boxer und den »Women's Murder Club« erreichen durchweg die Spitzenplätze der internationalen Bestsellerlisten. Regelmäßig tut er sich für seine Bücher mit anderen namhaften Autoren oder Stars zusammen wie mit Dolly Parton für den »New York Times«-Nr.-1-Bestseller »Run, Rose, Run«. James Patterson lebt mit seiner Familie in Palm Beach und Westchester County, N.Y.
Bibliographische Angaben
- Autor: James Patterson
- 2013, Erstmals im TB, 384 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Leo Strohm
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442378990
- ISBN-13: 9783442378999
- Erscheinungsdatum: 13.06.2013
Kommentar zu "Cold / Alex Cross Bd.17"