Das bernsteinfarbene Foto
Diedre bekommt an ihrem 25. Geburtstag ein Geschenk von ihrer sterbenden Mutter: Ein vergilbtes Familienfoto. Sie macht sich auf die Suche, um die Wahrheit über ihre Familie zu erfahren. Und dabei stößt sie auf ein Geheimnis.
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Diedre bekommt an ihrem 25. Geburtstag ein Geschenk von ihrer sterbenden Mutter: Ein vergilbtes Familienfoto. Sie macht sich auf die Suche, um die Wahrheit über ihre Familie zu erfahren. Und dabei stößt sie auf ein Geheimnis.
Das bernsteinfarbene Foto von Penelope J. Strokes
Der Eindringling
Heartspring, North Carolina
April 1995
Cecilia McAlister hielt die Luft an. Ein stechender Schmerz ging durch sie hindurch. Sie versuchte, sich auf dem Samtsofa aufzusetzen. Als der Schmerz nachließ, strich sie die Decke glatt und ließ sich schwer atmend wieder in die Kissen sinken. Im Augenblick war die kleinste Bewegung für sie eine enorme Anstrengung; vom Bett zum Sofa zu gehen, konnte ihre Energie für einen halben Tag aufbrauchen.
Sie atmete nun etwas leichter. Cecilia sah sich in dem früheren Musikzimmer des großen Hauses um.
8
Wie viel Echo klang in diesem Raum mit seinem Flügel und den großen Fens tern zum Garten hin noch nach. Erinnerungen an Gesang und Gelächter und an Stimmen, die ihren Namen riefen. Als sie so dasaß, den Rücken an die Kissen gelehnt, konnte sie beinahe glauben, dass alles noch so war wie früher. Sie konnte die Blumen im Garten hinter der Veranda blühen sehen und beobachten, wie sich Gewitterwolken über den Bergspitzen zusammenzogen. Von Anfang an war dieser Raum ihre Zuflucht gewesen, ihr Allerheiligstes, der einzige Platz auf der Welt, wo sie sich lebendig fühlte und ganz und ...
Sie konnte das Wort kaum denken: normal. Seit Jahren schon war nichts mehr normal. Und nun, da sie vor der unausweichlichen Rückeroberung ihrer Seele stand, war Cecilia gezwungen, über das nachzudenken, was hätte sein können, wenn sie nur schon vor Jahren die Kraft gehabt hätte, zu ihrem Mann Nein zu sagen. Nein zu seinen hochtrabenden Träumen, seinem Ehrgeiz. Nein zu seiner Vorstellung, wie ihr Leben zu verlaufen habe. Nein zu - na ja, zu einer ganzen Reihe von Dingen.
Aber niemand, nicht einmal seine Frau, sagte Nein zu Duncan McAlister. Als er vor dreißig Jahren dieses Haus gebaut hatte, hatte er behauptet, es für sie zu tun, als liebevoller Ehemann, der der geliebten Frau ein prächtiges Heim schaffen wollte.
Aber schon damals hatte sie die Wahrheit gekannt, so wie sie sie heute kannte. Dieses Haus war nie für sie gebaut worden. Es war Duncan McAlisters überdimensionales Anschlagbrett, auf dem er für alle Menschen in seiner Vergangenheit, die ihn einen Niemand genannt hatten, einen Taugenichts, Sohn eines Alkoholikers undgewalttätigen Vaters, in großen Buchstaben geschrieben hatte: „Ich habe es euch doch gesagt."
Nun, er hatte es tatsächlich geschafft. Er war reich. Er war jemand. Ein Immobilienmogul. Bürgermeister einer der ersten zehn Kleinstädte Amerikas. Eine Ikone. Ein Idol. Man sprach sogar davon, ihm auf dem Marktplatz ein Denkmal zu errichten.
Mein Mann hat sich bewiesen, überlegte Cecilia. Aber was war aus dem Mann geworden, den sie geheiratet hatte, dem sanften, verletzlichen, mitfühlenden Jungen, der sie in ihren Erinnerungen verfolgte? Hatte er tatsächlich existiert oder war er nur ein Produkt ihrer Fantasie gewesen, ein Wunschdenken?
Sie schob die Frage beiseite. Ihr blieb nicht mehr genügend Zeit oder genügend Energie, um alle Fragen des Lebens zu beantworten. Man konnte nicht an jedem losen Faden ziehen, sonst würde sich alles auflösen.
Der Tod hatte die Angewohnheit, das Leben in den Mittelpunkt zu rücken, nebensächliche Sorgen herauszudestillieren und einen mit der reinen und unverschleierten Wahrheit zurückzulassen. Eine Wahrheit, die ausgesprochen werden musste - jetzt, schnell, solange noch Zeit war.
Eine Zeile von Keats ging ihr durch den von Tabletten vernebelten Sinn: Die Wahrheit ist Schönheit; Schönheit, Wahrheit ...
Cecilia schüttelte den Kopf. Solche Gedichte klangen hochtrabend und edel, aber bis man nicht alles andere beiseitegeschoben hatte und mit nichts anderem als keuchenden Atemzügen in einer Welt von Schmerz zurückgeblieben war, konnte man sich nicht einmal vorstellen, wie ungeheuer hässlich die Realität sein konnte.
Die Wahrheit machte vielleicht frei, aber zuerst würde sie einen durch die Hölle führen.
Die Träumerin
Ein schmaler Streifen Sonnenlicht bohrte sich durch den Schlitz zwischen den geschlossenen Vorhängen und fiel auf Diedre McAlisters linkes Auge. Stöhnend legte sie einen Arm über ihr Gesicht, aber es half nicht. Der Sonnenstrahl ging durch sie hindurch, bis sie das Gewirr der Blutgefäße sehen konnte, die sich am dünnen Fleisch ihrer Augenlider abzeichneten.
Sie drehte sich zur Wand und zog die Decke höher. Es hatte keinen Zweck. Der Schlaf bot ihr vielleicht ein paar gesegnete Stunden der Erholung, ein willkommenes Vergessen, aber jeder Morgen brachte den Schmerz erneut mit sich. Pflicht. Sorge. Verantwortung. Eine Mutter, die langsam an dem zornigen Wüten des Tumors in ihrem Körper zu Grunde ging. Allgegenwärtige Erinnerungsstücke an die Tatsache, dass Diedre mit jedem gequälten Atemzug mehr den Menschen verlor, den sie auf der Welt am meisten liebte.
Das war zu viel für eine Vierundzwanzigjährige.
Und dann fiel es ihr ein. Heute war ihr Geburtstag. Sie war jetzt fünfundzwanzig. Fünfundzwanzig und ging auf die siebzig zu, falls die Müdigkeit ihres Körpers ein Anzeichen dafür war.
Sie hörte die Türangeln quietschen, als ihre Schlafzimmertür geöffnet wurde, das Kratzen von Krallen aufdem Parkettboden. Ein Satz, ein Schlag und dann ein fröhliches Grunzen. Diedre roch den Hundeatem und spürte eine warme Zunge an ihrer Wange und ihrem Ohr.
Sie stöhnte erneut, öffnete die Augen und rappelte sich hoch. „Ist ja schon gut, Sugarbear; nicht so stürmisch, mein Mädchen. Ich stehe ja auf."
Der Hund spielte mit dem Laken, bohrte sein Maul in Diedres Hand. Sie spürte, wie eine Welle der Zuneigung von ihr Besitz ergriff. Der kleine Hund, eine Mischung aus einem Cockerspaniel und einem Lhasa, war eine typische Blondine - nicht die hellste Glühbirne im Leuchter, aber sehr liebevoll und loyal. Und trotz Missbrauch und Vernachlässigung durch die vorherigen Besitzer war das Tier mit einer Veranlagung gesegnet, die jeden anderen Hund wie einen Brummbären erscheinen ließ. Sie lebte jetzt schon zehn Jahre bei ihnen und egal wie Diedres emotionale Verfassung auch war, sie konnte immer darauf zählen, dass Sugarbear sie zum Lächeln bringen würde. Sie war ein Antidepressivum auf Pfoten.
Die Schlafzimmertür wurde noch etwas weiter geöffnet und ein faltiges braunes Gesicht tauchte im Türrahmen auf. „Bist du wach, Liebes?"
„Jetzt schon." Diedre stopfte sich ein Kissen in den Rücken, schob Sugarbear etwas zur Seite und winkte Vesta Shelby herein. Vesta war schon seit Jahren bei den McAlisters und Diedre betete sie regelrecht an. Für ein kleines Mädchen, das als Einzelkind aufgewachsen war, stellte Vesta eine ewige, scheinbar unerschöpfliche Quelle bedingungsloser Liebe und unkritischer Akzeptanz dar.
Die gebückt gehende alte Frau schlurfte mit einem
Tablett ins Zimmer, auf dem sich Rühreier mit Schinken und Diedres Lieblingsgericht, „Arme Ritter" mit Zucker und Zimt türmten.
„Was ist das?"
„Dein Geburtstagsfrühstück natürlich." Vesta stellte das Tablett auf Diedres Schoß und ließ sich auf dem Stuhl neben ihrem Bett nieder. „Du denkst doch wohl nicht, die alte Vesta würde deinen Geburtstag vergessen."
„Um ehrlich zu sein, ich wünschte, die Leute würden ihn tatsächlich vergessen. Irgendwie ist mir nicht nach Feiern zu Mute."
„Das meinst du doch nicht ernst, Liebes. Dass deine Mutter krank ist, bedeutet doch nicht, dass du aufhörst zu leben."
„Wie geht es Mama heute Morgen?"
„Immer gleich, denke ich. Iss jetzt dein Frühstück, bevor es kalt wird."
„Vielleicht sollte ich..." Diedre warf die Decke zurück und wollte aufstehen.
„Du kannst sie nicht gesund machen, indem du dich sorgst", sagte Vesta mit fester Stimme. „Ich habe ihr vor einer Stunde ihre Arznei gebracht. Sie wird noch eine Weile schlafen. Und jetzt iss."
Diedre hielt inne, dann schob sie die Hälfte der Eier auf den Teller mit dem gebackenen Weißbrot und teilte ihr Frühstück so auf, dass zwei davon satt werden konnten. „Du wirst mir doch helfen, das alles hier aufzuessen, nicht?"
Vesta zog sich den Stuhl näher an das Bett heran und nahm den Teller, den Diedre ihr hinhielt. „Ich kann kaum glauben, dass mein Baby schon fünfundzwanzig Jahre alt ist." „Ich bin schon einige Zeit kein Baby mehr, Vesta."
Die alte Frau lächelte und zwinkerte ihr zu. „Du wirst immer mein Baby bleiben. Das solltest du doch mittlerweile wissen." Sie hob den Zeigefinger und drohte dem Hund. „Runter vom Bett, Sugarbear", befahl sie mit strenger Stimme. „Du darfst das nicht fressen."
Doch Sugarbear rückte nur noch näher an Diedre heran, verhielt sich ganz still und sah sie mit treuem Hundeblick an. „Nur ein kleines Stück", sagte Diedre und zerteilte ein Stück gebratenen Speck. Der Hund wackelte erwartungsvoll mit dem Schwanz.
„Das ist nicht gut für sie."
„Es ist auch für mich nicht gut, wenn man es genau nimmt. Aber ich werde es trotzdem essen."
Vesta lachte und Sugarbear, die merkte, dass sie die se Runde des andauernden Streites um das Betteln gewonnen hatte, verschlang den Speck, bevor Vesta protestieren konnte.
Nach der Mahlzeit stellte Diedre das Tablett beiseite und ließ Sugarbear die Überreste von den Tellern ablecken.
„Du weißt, dass dein Vater das überhaupt nicht mag."
Diedre zuckte die Achseln. „Was Daddy nicht weiß, macht ihn nicht heiß. Außerdem spart es dir Zeit. So brauchst du nicht erst alles abzuspülen, bevor es in die Spülmaschine kommt." Sie nahm einen Schluck Kaffee, lehnte sich zurück und seufzte. Sugarbear machte es sich dicht an sie gedrückt auf ihrer Bettdecke gemütlich. Abwesend streichelte Diedre den Kopf des Hundes. „Du musst noch mal richtig gebürstet werden, Mädchen", murmelte sie. „Sieh dir nur deinen Bart an, der in alle Richtungen absteht."
„Morgen früh hat sie einen Termin beim Hundefrisör.
Dann bekommt sie ein Bad und ihr Fell wird gestutzt",
erwiderte Vesta. „Und wenn du mich fragst, du könntest auch mal einen neuen Haarschnitt vertragen."
- Autor: Penelope J. Stokes
- 448 Seiten, Maße: 13,4 x 19,2 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828994180
- ISBN-13: 9783828994188
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