Das Geheimnis der Totenmagd
Historischer Roman. Originalausgabe
Eines Morgens findet der Totengräber die Leiche einer Frau. Was hat das dunkle Ritual damit zu tun, das er in der Nacht zuvor beobachtet hat? Und kann er seine Unschuld beweisen?
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Produktinformationen zu „Das Geheimnis der Totenmagd “
Eines Morgens findet der Totengräber die Leiche einer Frau. Was hat das dunkle Ritual damit zu tun, das er in der Nacht zuvor beobachtet hat? Und kann er seine Unschuld beweisen?
Klappentext zu „Das Geheimnis der Totenmagd “
In der Nacht von Allerseelen beobachtet der Totengräber ein dunkles Ritual. Am Morgen findet er im Beinhaus die Leiche einer jungen Frau. Der Verdacht fällt auf ihn, er soll gehenkt werden. Nur seine Tochter Katharina ist von seiner Unschuld überzeugt. Sie sucht den wahren Mörder und gerät dabei immer tiefer in den Sog einer Bruderschaft, die Meister Tod verehrt ...Lese-Probe zu „Das Geheimnis der Totenmagd “
Das Geheimnis der Totenmagd von Ursula NeebI
Frankfurt am Main, den 28. Oktober 1509
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Hildegard Dey zog die Tür des Frauenhauses »Zum Rosengarten« hinter sich zu und rümpfte die Nase. An diesem Oktoberabend roch es hier an der Frauenpforte keineswegs nach Rosen. Das brackige Wasser des nahen Stadtgrabens, die Fäkalien, die in den Main geleitet wurden, und die Fleischabfälle der nahen Gerbereien verströmten einen penetranten Kloakengeruch. Mit beiden Händen hielt die junge Hübsche-rin ihren langen dunklen Umhang zusammen, den der Wind immer wieder aufbauschte. Niemand sollte das schwefelgelbe Untergewand sehen, das sie als wohlfeile Frau kenntlich machte. Hildegard seufzte. Ein einziges Wort ihres Geliebten, und nur zu gern würde sie ihren schändlichen Erwerb aufgeben. Ihm jedoch schien vor allem daran gelegen, dass das Verhältnis, das sie seit nahezu drei Monaten miteinander hatten, nicht ruchbar wurde. Was sie, auch wenn es schmerzte, verstehen konnte, denn wer eine feste Liaison zu einer Hübscherin aus dem Frauenhaus unterhielt, wurde aus jeder Zunft ausgeschlossen und von der Allgemeinheit verachtet. Jemand wie er musste als angesehene Standesperson auf seinen guten Ruf bedacht sein.
Die neunzehnjährige Hildegard gehörte zu den begehrtesten Huren der Stadt. Sie war es gewöhnt, dass die Männer ihr zu Füßen lagen und sie entsprechend hofierten und bezahlten. Lange genug im Gewerbe, war ihr Herz dabei immer unberührt geblieben. Auch wenn sie es trefflich verstand, ihren Verehrern glühende Leidenschaft vorzuspiegeln, war das Verhältnis zu ihren Galanen doch stets ein rein geschäftliches gewesen. Nie hätte sie sich träumen lassen, dass es einmal anders sein könnte. Ganz anders. Und nun hatte sie unverhofft die Liebe erfahren - mit allem, was dazugehörte.
Als sie endlich in die Sandgasse einbog, wo ihr Geliebter in einem der imposanten Steinhäuser wohnte, zitterten ihr vor Aufregung und sehnsüchtiger Erwartung die Knie. In seinen Armen war sie unsagbar glücklich, sie hatte nur den Wunsch, dass dieser Zustand niemals enden möge. Geld nahm sie schon lange keines mehr von ihm, und wenn ihm daran gelegen gewesen wäre, hätte sie sich keinem anderen Mann mehr hingegeben. Doch das schien ihm egal zu sein. Ihm lag an Distanz, außer wenn er mit ihr schlief. Dann war er voller Leidenschaft und unersättlich. Er war der erste Mann, bei dem sie Lust empfand, und inzwischen konnte sie einfach nicht genug von ihm bekommen. Auch wenn er zuweilen recht grob werden konnte. Er nahm sie oft so heftig, dass es weh tat, hatte sie vor Erregung schon geschlagen, und das letzte Mal hatte er sie sogar gewürgt, als er sich in sie verströmte.
Dezent klopfte sie an das Portal seines Wohnhauses. Heute öffnete er ihr anstelle seines alten Leibdieners persönlich die Tür und bereitete ihr, kaum dass sie eingetreten war, einen schier atemberaubenden Empfang. Er trug nichts weiter als einen knöchellangen Umhang aus blutroter Seide, unter dem sie seinen nackten sehnigen Körper sehen konnte. Er war schon sehr erregt, riss ihr förmlich die Kleider vom Leib und nahm sie noch in der Halle. Trunken vor Glückseligkeit ergab sie sich ihm und hätte vor Wollust vergehen mögen.
In den frühen Morgenstunden des nächsten Tages entdeckten die Torwächter der Galgenpforte eine Frauenleiche im Stadtgraben. Die Tote, die anhand ihrer gelben Kleidung unschwer als Hübscherin zu erkennen war, trieb mit dem Gesicht nach unten im trüben Morast der Uferböschung.
Die Wächter riefen den Stadtphysikus und die Bürgerpolizei. Der Medicus machte sich nicht die Mühe, den schlammverkrusteten Leichnam mit dem langen honigfarbenen Haar genauer in Augenschein zu nehmen. Er befühlte nur kurz die Halsschlagader und bemerkte lapidar: »Die ist mausetot. Ist wahrscheinlich ertrunken.«
Der Polizeibüttel streifte die Tote mit abschätzigem Blick und brummelte: »Wahrscheinlich hat sich das Weibsbild die Nacht über im Galgenviertel herumgetrieben und ist dann besoffen in den Graben gefallen. Oder es wurde von zwielichtigem Gesindel, von dem es ja im Galgenviertel nur so wimmelt, ins Wasser gestoßen. Am besten wird es sein, den Züchtiger herzubestellen. Der soll sie sich mal angucken, ist doch eine von seinen Menschern.«
Nachdem der Henker, dem die städtischen Frauenhäuser unterstanden, die schlanke Tote als die Hure Hildegard Dey identifiziert hatte, wurde der Leichnam auf einen Leiterwagen geworfen und zur Totenkapelle auf dem Peterskirchhof gekarrt.
Als Katharina Bacher die polternden Schritte ihres Mannes draußen auf der Treppe vernahm, sprang sie von ihrem Strohsack auf, breitete sich ein Wolltuch über die Schultern und eilte zum Kachelofen, um Feuer zu machen. Schlaftrunken schichtete sie die Holzscheite aufeinander und gähnte dabei herzhaft. Gerne wäre sie an diesem trüben, regnerischen Oktobermorgen noch in ihrem warmen Bett geblieben und hätte weiter vor sich hin gedöst. Doch es grauste sie vor Ruprechts Branntweingeruch und seiner Zudringlichkeit, und so hatte sie lieber darauf verzichtet.
Der Nachtwächter Ruprecht Bacher, der gerade seinen Dienst beendet hatte, trat in die Stube, ging auf seine Frau zu und drückte ihr einen Kuss auf den Mund. Katharina wandte unwillkürlich den Kopf zur Seite.
»Guten Morgen, mein Mädchen«, sagte er gut gelaunt. »Was ist das für ein Wetter draußen! Jetzt freu ich mich aber auf mein warmes Bettchen.« Er entledigte sich seines regennassen Umhangs und dann seiner übrigen Kleidung. Als er nur noch die wollene Unterkleidung trug, die über seinem kugelförmigen, vorgewölbten Bauch spannte, rieb er sich behaglich die Hände und gurrte zärtlich wie ein verliebter Täuberich: »Willst du dich nicht noch ein bisschen zu mir legen?«
Katharina verzog missmutig das Gesicht. Es war doch immer wieder dasselbe mit ihm.
»Nein, das will ich nicht«, erwiderte sie gereizt. »Ich hab genug Arbeit. Schlaf du nur.« Ein wenig milder setzte sie hinzu: »Wenn du Hunger hast, kann ich dir gleich noch die Brühe warm machen.«
»Verschon mich bloß mit deiner Suppe!«, knurrte der Nachtwächter ärgerlich. »Mir ist nach was anderem. Man ist ja schließlich ein gesund empfindendes Mannsbild und kein Klosterbruder ...«
»Dann musst du halt ins Hurenhaus gehen!«, unterbrach ihn Katharina barsch und blies aufgebracht in die Glut.
»Und so was muss man sich von der eigenen Frau anhören«, murmelte Ruprecht bitter. Er nahm den Weinkrug vom Wandbord, goss sich einen Becher voll und stürzte ihn in einem Zug herunter. »Kein Wunder, dass man säuft«, bemerkte er mit finsterem Gesichtsausdruck.
»Onkel Rupp, jetzt hör aber auf!« Katharina hatte sich vor ihrem Mann aufgebaut und funkelte ihn wütend an. »Das war schon bei unserer Heirat klar, ich habe dir diesbezüglich nie etwas vorgemacht. Fang also nicht wieder damit an. Für mich warst du immer wie ein Onkel, den ich sehr gern hatte, aber mehr auch nicht. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Ich sorg für dich, mach dir den Haushalt und stehe treu zu dir. Aber was anderes darfst du nicht von mir erwarten, das weißt du genau. Also hör endlich auf, dich und mich damit zu quälen.« Sie beugte sich zu ihrem Mann hinunter, der mit trübsinniger Miene am Tisch saß, und strich ihm begütigend über das kahle Haupt.
»Du bist mir lieb und wert, und ich halte zu dir, in guten wie in schlechten Zeiten. Darauf kannst du dich verlassen, Onkel Rupp. Nur das eine verlange bitte nicht von mir.«
»Ich weiß doch, mein Mädchen. Ist schon recht«, presste Ruprecht hervor und goss sich noch Wein nach. »Den trink ich jetzt noch, und dann geh ich schlafen«, erläuterte er gähnend. In wenigen Schlucken hatte er den Trinkbecher geleert und wankte zum Strohsack, während ihm Katharina einen guten Schlaf wünschte. Und hoffentlich einen tiefen, dachte sie bei sich, räumte den Tisch ab und bereitete sich einen Haferbrei zu. Als sie gleich darauf Bachers Schnarchen hörte, atmete sie erleichtert auf, setzte sich auf die inzwischen warme Ofenbank und löffelte verschlafen ihren Frühstücksbrei.
Als Tochter des städtischen Totengräbers war Katharina Bacher von klein auf von Tod und Vergänglichkeit umgeben, was aber ihr Wesen keineswegs zu trüben schien. Im Gegenteil: Ihre bernsteinfarbenen Augen strahlten vor Energie und Lebenslust, und wenn sie lächle, so sagten die Menschen, die ihr zugetan waren, gehe regelrecht die Sonne auf. Früh hatte Katharina erfahren müssen, dass der Tod zum Leben dazugehörte, untrennbar mit ihm verbunden war. In seinem Schatten hatte sie gelernt, ihm die Lebensfreude gleichsam abzutrotzen. Bereits als Mädchen hatte sie der Mutter bei der Totenwäsche geholfen und war dadurch in ihre Tätigkeit hineingewachsen. Auch wenn ihr der Respekt für die Toten längst in Fleisch und Blut übergegangen war, so hatte sie doch durch ihren Beruf eine eher nüchterne Beziehung zum Tod entwickelt. Sie fand, dass der Tod weniger Rätsel barg, als die Menschen immer zu glauben schienen.
Für die jetzt zz-Jährige war das Leben ungleich faszinierender als der Tod, und sie sehnte sich unsagbar nach dem Glück einer erfüllten Liebe, das sie an der Seite ihres zwanzig Jahre älteren, ungeliebten Ehemannes bislang so schmerzhaft vermisste. Wie so häufig fragte sie sich, ob ihr das jemals beschieden sein würde, und schaute wehmütig in den trüben, wolkenverhangenen Himmel, der sich hinter den regennassen Butzenscheiben des kleinen Turmfensters abzeichnete. Während sie noch ihren Gedanken nachhing, ertönte von unten das laute, durchdringende Geräusch des Türklopfers, und sie schreckte zusammen. Rasch erhob sie sich von der Ofenbank, eilte die Wendeltreppe herunter und entriegelte die schwere Eichentür. Gleich darauf blickte sie in das grell-geschminkte Gesicht einer jungen Hübscherin.
»Gott zum Gruße«, murmelte sie erstaunt und fragte die Hure nach ihrem Begehr.
»Gott zum Gruße«, erwiderte die gelbgewandete Frau und musterte Katharina scheinbar gleichermaßen verwundert. »Ihr seid doch die Bacherin, die, wo die Toten waschen tut?«
»Ja, die bin ich«, erwiderte Katharina und musste unversehens grinsen. Schon häufig hatte sie es erlebt, dass die Leute über ihre äußere Erscheinung verblüfft waren, weil sie sich unter einer Totenmagd ein hutzliges altes Weib vorstellten.
»Ursel Zimmer, die Vorsteherin der städtischen Hurengilde, schickt mich. Ich soll Euch mit der Totenwäsche unserer Gildeschwester Hildegard beauftragen, die heut' in der Früh tot im Stadtgraben aufgefunden worden ist.« Der jungen Hure traten die Tränen in die Augen, und sie hatte Mühe weiterzusprechen.
»Mein Beileid«, erwiderte Katharina schlicht. »So tretet doch bitte ein, Ihr werdet ja ganz nass.«
Zögernd trat die junge Frau über die Schwelle. »Ich danke Euch«, murmelte sie. »Das hätte längst nicht jede gemacht. Ich meine, dass Ihr eine von uns hereinkommen lasst. - Jedenfalls möchte ich Euch bitten, hernach auf den Peterskirchhof zu gehen und unsere Schwester herzurichten. Für morgen ist die Beerdigung angesetzt, und wir möchten uns vorher noch ... von Hildegard verabschieden.« Sie schniefte und wischte sich die Tränen von den Wangen.
»Keine Sorge, ich mach mich nachher gleich auf zum Friedhof«, versprach die Totenfrau und verabschiedete sich freundlich von der Hübscherin.
Ehe die Frau im gelben Gewand aus der Tür trat, drehte sie sich noch einmal zu Katharina um. »Wenn die Arbeit getan ist, bittet Euch die Zimmerin, ins Frauenhaus zu kommen und Euch den Lohn abzuholen.«
Um die zwölfte Stunde verließ Katharina ihre Behausung im Stadtturm links der Galgenpforte und machte sich um einiges zu früh auf den Weg zum Peterskirchhof, um die Leiche der Hübscherin zu waschen. Sie hatte es eilig, ihrem Zuhause zu entkommen, wo der verliebte alte Tor bald aufwachen würde. Gemächlich schlenderte sie an den Verkaufsständen am Rande des Rossmarkts entlang, nahm die verlockenden Spezereien in Augenschein, die für sie immer unerschwinglich bleiben würden, und ignorierte die herablassenden und feindseligen Blicke der behäbigen Bürgersfrauen. Hier und da hielt sie einen Schwatz mit fremden Marktfrauen, die sie nicht kannten und von ihrem verfemten Berufsstand nichts ahnten.
Als sie an einem Stand vorbeikam, an dem geröstete Maronen feilgeboten wurden, obsiegte ihr Heißhunger gegenüber der auferlegten Sparsamkeit. Sie erstand eine Handvoll der köstlichen Esskastanien, die sie im Weitergehen genüsslich verzehrte. Immerhin würde sie ja heute noch ein paar Groschen verdienen, wenn sie nachher die tote Hure herrichtete. Wenn sie am Nachmittag damit fertig war, würde sie heimgehen und ihrem Mann die Abendmahlzeit zubereiten. Dann musste er auch bald seinen Dienst als Nachtwächter antreten, und sie hatte ihre Ruhe vor ihm.
Als sie wenig später den Friedhof betrat und auf das Bahr-haus zustrebte, in dem ihr Vater eine Kammer bewohnte, war sie noch so in Gedanken versunken, dass sie den Pfarrer gar nicht bemerkte, der ihr entgegengeeilt kam. Beinahe wäre sie mit ihm zusammengestoßen.
»Gelobt sei Jesus Christus«, murmelte sie erschrocken und verbeugte sich artig in seine Richtung.
»Dank sei Gott dem Herrn«, entgegnete Pfarrer Juch unwirsch und schüttelte ungehalten sein kahles Haupt. »Wo steckt denn nur wieder dein Vater? In ein paar Tagen begehen wir das Fest der Toten, und drüben im Beinhaus sieht es wieder mal aus wie Kraut und Rüben! Man muss sich ja schämen ...«
Wenn er nicht zu Hause oder auf dem Kirchhof ist, sitzt er womöglich in irgendeiner Schenke und lässt sich volllaufen, dachte Katharina besorgt, doch sie erklärte nur betreten, dass sie nicht wisse, wo sich ihr Vater aufhalte. Als der Geistliche ihre Befangenheit bemerkte, mäßigte er seinen Tonfall und äußerte milder:
»Na, du kannst ja nichts dafür, Kind«, und wandte sich mit einem knappen »Gott zum Gruße« zum Pfarrhaus.
Wenn der den Vater auf seine alten Tage nur nicht noch wegen seiner Sauferei vor die Tür setzt. Bekümmert setzte Katharina ihren Weg fort.
Nachdem sie in der Kammer ihres Vaters einen großen Bottich mit heißem Wasser bereitet und ihre Arbeitsutensilien zusammengetragen hatte, ging sie in die an der westlichen Friedhofsmauer gelegene Totenkapelle, wo die Toten gewaschen und aufgebahrt wurden. Dort lag auch der schlammverkrustete Leichnam der jungen Hübscherin.
Ehe Katharina mit der Säuberung begann, bekreuzigte sie sich vor der Toten und hielt ihr eine brennende Kerze an Mund und Nase, um sicherzugehen, dass die Frau tatsächlich nicht mehr lebte. Auch wenn sie es selbst noch nicht miterlebt hatte, ereignete es sich doch zuweilen, dass angeblich Verstorbene als Scheintote zu Grabe getragen wurden, weil eine genauere Prüfung versäumt worden war.
Im Falle der jungen Hübscherin aber brachte kein Hauch die Flamme zum Flackern. Noch nicht einmal die Augen haben sie ihr geschlossen, stellte Katharina unmutig fest und senkte behutsam die Lider der Toten über die deutlich hervorgetretenen Augäpfel. Dann befreite sie den Körper von dem schmutzstarrenden gelben Gewand und wusch zunächst die Haare und das Gesicht der jungen Frau. Auf einmal hielt sie erschrocken inne. Am Hals der Toten waren dunkle Flecken zu sehen. Würgemale! Die ist erwürgt worden. Genau wie die Bademagd, die ich im Frühjahr gewaschen habe. Angespannt überlegte die Totenwäscherin, was sie tun sollte.
Damals hatte sie, gleich nachdem sie bei der Totenwäsche die bläulichen Blessuren am Hals der Toten festgestellt hatte, die Bürgerpolizei verständigt. Doch der diensthabende Polizeibüttel hatte ihr erklärt, für derlei habe man jetzt, wo in wenigen Tagen die Frühjahrsmesse eröffnet werde, fürwahr keine Zeit. Streitereien unter dem Badestubengesindel gebe es immer wieder, das brauche keinen zu verwundern. Sie solle gefälligst ihre Arbeit machen und sich nicht in Dinge einmischen, die sie nichts angingen, beschied er sie und schob sie aus der Wachstube.
Katharina hatte sich sehr darüber geärgert. Natürlich wusste sie, dass eine Reiberin aus der Badestube gewöhnlich nicht viel taugte und ein liederliches Frauenzimmer war, aber hatte sie nicht wie alle Leute, die meuchlings ermordet worden waren, ein Recht darauf, dass der Täter gefasst und bestraft wurde? Sie hatte mit ihrem Vater gesprochen, und der hatte ihr dringend geraten, den Mund zu halten und nichts weiter zu unternehmen. Widerstrebend folgte sie seinem Rat.
Bei den stumpfsinnigen Stangenknechten würde Katharina sich jedenfalls nicht noch einmal das Maul verbrennen. Der Gedanke, die Sache einfach auf sich beruhen zu lassen, behagte ihr allerdings auch nicht.
»Armes Ding, wer hat dir das nur angetan?«, flüsterte sie mitleidig und streichelte der Toten liebevoll über die kalte Wange. »Wo du doch so eine Schöne bist!«
Sie kämmte der Toten sorgfältig das lang wallende Haar und fuhr mit der Totenwäsche fort. Als sie behutsam die zur Faust verkrampfte linke Hand der Hübscherin öffnete, um sie auch innen vom Schmutz zu reinigen, fand sie darin einen Stofffetzen. Erstaunt begutachtete Katharina das Stück Stoff genauer. Es war ein zerknittertes Dreieck aus scharlachroter Seide.
»Seltsam«, murmelte die Totenwäscherin nachdenklich, während sie das durchweichte Stoffstück ins Licht der Kerze hielt. Am Ende stammt es gar von ihrem Mörder. Sie hat es ihm womöglich beim Todeskampf aus der Kleidung gerissen. Rote Seide - dann muss es aber ein feiner Pinkel gewesen sein. Denn Rot war von alters her eine Herrenfarbe, die armen Leuten gar nicht zu tragen erlaubt war. Und seidene Gewänder konnten sich gleichfalls nur Wohlhabende leisten. Schlagartig wurde ihr klar, dass sie ihre Entdeckungen unbedingt der Hurenkönigin melden musste.
Als Katharina die Tote fertiggewaschen hatte, streifte sie ihr ein einfaches leinenes Totenhemd über. Dann klemmte sie ihr eine Pomeranze unters Kinn, um den Leichengeruch abzumildern und den Unterkiefer zu fixieren, rückte ihr den Kopf zurecht, damit das Gesicht zum Himmel gerichtet war, und faltete die Hände der Verstorbenen über der Brust. Die Kerze ließ sie brennen und stellte, wie es Brauch war, kleine Tiegel mit Milch und Honig für die Totengeister unter die Bahre.
Hildegard Dey zog die Tür des Frauenhauses »Zum Rosengarten« hinter sich zu und rümpfte die Nase. An diesem Oktoberabend roch es hier an der Frauenpforte keineswegs nach Rosen. Das brackige Wasser des nahen Stadtgrabens, die Fäkalien, die in den Main geleitet wurden, und die Fleischabfälle der nahen Gerbereien verströmten einen penetranten Kloakengeruch. Mit beiden Händen hielt die junge Hübsche-rin ihren langen dunklen Umhang zusammen, den der Wind immer wieder aufbauschte. Niemand sollte das schwefelgelbe Untergewand sehen, das sie als wohlfeile Frau kenntlich machte. Hildegard seufzte. Ein einziges Wort ihres Geliebten, und nur zu gern würde sie ihren schändlichen Erwerb aufgeben. Ihm jedoch schien vor allem daran gelegen, dass das Verhältnis, das sie seit nahezu drei Monaten miteinander hatten, nicht ruchbar wurde. Was sie, auch wenn es schmerzte, verstehen konnte, denn wer eine feste Liaison zu einer Hübscherin aus dem Frauenhaus unterhielt, wurde aus jeder Zunft ausgeschlossen und von der Allgemeinheit verachtet. Jemand wie er musste als angesehene Standesperson auf seinen guten Ruf bedacht sein.
Die neunzehnjährige Hildegard gehörte zu den begehrtesten Huren der Stadt. Sie war es gewöhnt, dass die Männer ihr zu Füßen lagen und sie entsprechend hofierten und bezahlten. Lange genug im Gewerbe, war ihr Herz dabei immer unberührt geblieben. Auch wenn sie es trefflich verstand, ihren Verehrern glühende Leidenschaft vorzuspiegeln, war das Verhältnis zu ihren Galanen doch stets ein rein geschäftliches gewesen. Nie hätte sie sich träumen lassen, dass es einmal anders sein könnte. Ganz anders. Und nun hatte sie unverhofft die Liebe erfahren - mit allem, was dazugehörte.
Als sie endlich in die Sandgasse einbog, wo ihr Geliebter in einem der imposanten Steinhäuser wohnte, zitterten ihr vor Aufregung und sehnsüchtiger Erwartung die Knie. In seinen Armen war sie unsagbar glücklich, sie hatte nur den Wunsch, dass dieser Zustand niemals enden möge. Geld nahm sie schon lange keines mehr von ihm, und wenn ihm daran gelegen gewesen wäre, hätte sie sich keinem anderen Mann mehr hingegeben. Doch das schien ihm egal zu sein. Ihm lag an Distanz, außer wenn er mit ihr schlief. Dann war er voller Leidenschaft und unersättlich. Er war der erste Mann, bei dem sie Lust empfand, und inzwischen konnte sie einfach nicht genug von ihm bekommen. Auch wenn er zuweilen recht grob werden konnte. Er nahm sie oft so heftig, dass es weh tat, hatte sie vor Erregung schon geschlagen, und das letzte Mal hatte er sie sogar gewürgt, als er sich in sie verströmte.
Dezent klopfte sie an das Portal seines Wohnhauses. Heute öffnete er ihr anstelle seines alten Leibdieners persönlich die Tür und bereitete ihr, kaum dass sie eingetreten war, einen schier atemberaubenden Empfang. Er trug nichts weiter als einen knöchellangen Umhang aus blutroter Seide, unter dem sie seinen nackten sehnigen Körper sehen konnte. Er war schon sehr erregt, riss ihr förmlich die Kleider vom Leib und nahm sie noch in der Halle. Trunken vor Glückseligkeit ergab sie sich ihm und hätte vor Wollust vergehen mögen.
In den frühen Morgenstunden des nächsten Tages entdeckten die Torwächter der Galgenpforte eine Frauenleiche im Stadtgraben. Die Tote, die anhand ihrer gelben Kleidung unschwer als Hübscherin zu erkennen war, trieb mit dem Gesicht nach unten im trüben Morast der Uferböschung.
Die Wächter riefen den Stadtphysikus und die Bürgerpolizei. Der Medicus machte sich nicht die Mühe, den schlammverkrusteten Leichnam mit dem langen honigfarbenen Haar genauer in Augenschein zu nehmen. Er befühlte nur kurz die Halsschlagader und bemerkte lapidar: »Die ist mausetot. Ist wahrscheinlich ertrunken.«
Der Polizeibüttel streifte die Tote mit abschätzigem Blick und brummelte: »Wahrscheinlich hat sich das Weibsbild die Nacht über im Galgenviertel herumgetrieben und ist dann besoffen in den Graben gefallen. Oder es wurde von zwielichtigem Gesindel, von dem es ja im Galgenviertel nur so wimmelt, ins Wasser gestoßen. Am besten wird es sein, den Züchtiger herzubestellen. Der soll sie sich mal angucken, ist doch eine von seinen Menschern.«
Nachdem der Henker, dem die städtischen Frauenhäuser unterstanden, die schlanke Tote als die Hure Hildegard Dey identifiziert hatte, wurde der Leichnam auf einen Leiterwagen geworfen und zur Totenkapelle auf dem Peterskirchhof gekarrt.
Als Katharina Bacher die polternden Schritte ihres Mannes draußen auf der Treppe vernahm, sprang sie von ihrem Strohsack auf, breitete sich ein Wolltuch über die Schultern und eilte zum Kachelofen, um Feuer zu machen. Schlaftrunken schichtete sie die Holzscheite aufeinander und gähnte dabei herzhaft. Gerne wäre sie an diesem trüben, regnerischen Oktobermorgen noch in ihrem warmen Bett geblieben und hätte weiter vor sich hin gedöst. Doch es grauste sie vor Ruprechts Branntweingeruch und seiner Zudringlichkeit, und so hatte sie lieber darauf verzichtet.
Der Nachtwächter Ruprecht Bacher, der gerade seinen Dienst beendet hatte, trat in die Stube, ging auf seine Frau zu und drückte ihr einen Kuss auf den Mund. Katharina wandte unwillkürlich den Kopf zur Seite.
»Guten Morgen, mein Mädchen«, sagte er gut gelaunt. »Was ist das für ein Wetter draußen! Jetzt freu ich mich aber auf mein warmes Bettchen.« Er entledigte sich seines regennassen Umhangs und dann seiner übrigen Kleidung. Als er nur noch die wollene Unterkleidung trug, die über seinem kugelförmigen, vorgewölbten Bauch spannte, rieb er sich behaglich die Hände und gurrte zärtlich wie ein verliebter Täuberich: »Willst du dich nicht noch ein bisschen zu mir legen?«
Katharina verzog missmutig das Gesicht. Es war doch immer wieder dasselbe mit ihm.
»Nein, das will ich nicht«, erwiderte sie gereizt. »Ich hab genug Arbeit. Schlaf du nur.« Ein wenig milder setzte sie hinzu: »Wenn du Hunger hast, kann ich dir gleich noch die Brühe warm machen.«
»Verschon mich bloß mit deiner Suppe!«, knurrte der Nachtwächter ärgerlich. »Mir ist nach was anderem. Man ist ja schließlich ein gesund empfindendes Mannsbild und kein Klosterbruder ...«
»Dann musst du halt ins Hurenhaus gehen!«, unterbrach ihn Katharina barsch und blies aufgebracht in die Glut.
»Und so was muss man sich von der eigenen Frau anhören«, murmelte Ruprecht bitter. Er nahm den Weinkrug vom Wandbord, goss sich einen Becher voll und stürzte ihn in einem Zug herunter. »Kein Wunder, dass man säuft«, bemerkte er mit finsterem Gesichtsausdruck.
»Onkel Rupp, jetzt hör aber auf!« Katharina hatte sich vor ihrem Mann aufgebaut und funkelte ihn wütend an. »Das war schon bei unserer Heirat klar, ich habe dir diesbezüglich nie etwas vorgemacht. Fang also nicht wieder damit an. Für mich warst du immer wie ein Onkel, den ich sehr gern hatte, aber mehr auch nicht. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Ich sorg für dich, mach dir den Haushalt und stehe treu zu dir. Aber was anderes darfst du nicht von mir erwarten, das weißt du genau. Also hör endlich auf, dich und mich damit zu quälen.« Sie beugte sich zu ihrem Mann hinunter, der mit trübsinniger Miene am Tisch saß, und strich ihm begütigend über das kahle Haupt.
»Du bist mir lieb und wert, und ich halte zu dir, in guten wie in schlechten Zeiten. Darauf kannst du dich verlassen, Onkel Rupp. Nur das eine verlange bitte nicht von mir.«
»Ich weiß doch, mein Mädchen. Ist schon recht«, presste Ruprecht hervor und goss sich noch Wein nach. »Den trink ich jetzt noch, und dann geh ich schlafen«, erläuterte er gähnend. In wenigen Schlucken hatte er den Trinkbecher geleert und wankte zum Strohsack, während ihm Katharina einen guten Schlaf wünschte. Und hoffentlich einen tiefen, dachte sie bei sich, räumte den Tisch ab und bereitete sich einen Haferbrei zu. Als sie gleich darauf Bachers Schnarchen hörte, atmete sie erleichtert auf, setzte sich auf die inzwischen warme Ofenbank und löffelte verschlafen ihren Frühstücksbrei.
Als Tochter des städtischen Totengräbers war Katharina Bacher von klein auf von Tod und Vergänglichkeit umgeben, was aber ihr Wesen keineswegs zu trüben schien. Im Gegenteil: Ihre bernsteinfarbenen Augen strahlten vor Energie und Lebenslust, und wenn sie lächle, so sagten die Menschen, die ihr zugetan waren, gehe regelrecht die Sonne auf. Früh hatte Katharina erfahren müssen, dass der Tod zum Leben dazugehörte, untrennbar mit ihm verbunden war. In seinem Schatten hatte sie gelernt, ihm die Lebensfreude gleichsam abzutrotzen. Bereits als Mädchen hatte sie der Mutter bei der Totenwäsche geholfen und war dadurch in ihre Tätigkeit hineingewachsen. Auch wenn ihr der Respekt für die Toten längst in Fleisch und Blut übergegangen war, so hatte sie doch durch ihren Beruf eine eher nüchterne Beziehung zum Tod entwickelt. Sie fand, dass der Tod weniger Rätsel barg, als die Menschen immer zu glauben schienen.
Für die jetzt zz-Jährige war das Leben ungleich faszinierender als der Tod, und sie sehnte sich unsagbar nach dem Glück einer erfüllten Liebe, das sie an der Seite ihres zwanzig Jahre älteren, ungeliebten Ehemannes bislang so schmerzhaft vermisste. Wie so häufig fragte sie sich, ob ihr das jemals beschieden sein würde, und schaute wehmütig in den trüben, wolkenverhangenen Himmel, der sich hinter den regennassen Butzenscheiben des kleinen Turmfensters abzeichnete. Während sie noch ihren Gedanken nachhing, ertönte von unten das laute, durchdringende Geräusch des Türklopfers, und sie schreckte zusammen. Rasch erhob sie sich von der Ofenbank, eilte die Wendeltreppe herunter und entriegelte die schwere Eichentür. Gleich darauf blickte sie in das grell-geschminkte Gesicht einer jungen Hübscherin.
»Gott zum Gruße«, murmelte sie erstaunt und fragte die Hure nach ihrem Begehr.
»Gott zum Gruße«, erwiderte die gelbgewandete Frau und musterte Katharina scheinbar gleichermaßen verwundert. »Ihr seid doch die Bacherin, die, wo die Toten waschen tut?«
»Ja, die bin ich«, erwiderte Katharina und musste unversehens grinsen. Schon häufig hatte sie es erlebt, dass die Leute über ihre äußere Erscheinung verblüfft waren, weil sie sich unter einer Totenmagd ein hutzliges altes Weib vorstellten.
»Ursel Zimmer, die Vorsteherin der städtischen Hurengilde, schickt mich. Ich soll Euch mit der Totenwäsche unserer Gildeschwester Hildegard beauftragen, die heut' in der Früh tot im Stadtgraben aufgefunden worden ist.« Der jungen Hure traten die Tränen in die Augen, und sie hatte Mühe weiterzusprechen.
»Mein Beileid«, erwiderte Katharina schlicht. »So tretet doch bitte ein, Ihr werdet ja ganz nass.«
Zögernd trat die junge Frau über die Schwelle. »Ich danke Euch«, murmelte sie. »Das hätte längst nicht jede gemacht. Ich meine, dass Ihr eine von uns hereinkommen lasst. - Jedenfalls möchte ich Euch bitten, hernach auf den Peterskirchhof zu gehen und unsere Schwester herzurichten. Für morgen ist die Beerdigung angesetzt, und wir möchten uns vorher noch ... von Hildegard verabschieden.« Sie schniefte und wischte sich die Tränen von den Wangen.
»Keine Sorge, ich mach mich nachher gleich auf zum Friedhof«, versprach die Totenfrau und verabschiedete sich freundlich von der Hübscherin.
Ehe die Frau im gelben Gewand aus der Tür trat, drehte sie sich noch einmal zu Katharina um. »Wenn die Arbeit getan ist, bittet Euch die Zimmerin, ins Frauenhaus zu kommen und Euch den Lohn abzuholen.«
Um die zwölfte Stunde verließ Katharina ihre Behausung im Stadtturm links der Galgenpforte und machte sich um einiges zu früh auf den Weg zum Peterskirchhof, um die Leiche der Hübscherin zu waschen. Sie hatte es eilig, ihrem Zuhause zu entkommen, wo der verliebte alte Tor bald aufwachen würde. Gemächlich schlenderte sie an den Verkaufsständen am Rande des Rossmarkts entlang, nahm die verlockenden Spezereien in Augenschein, die für sie immer unerschwinglich bleiben würden, und ignorierte die herablassenden und feindseligen Blicke der behäbigen Bürgersfrauen. Hier und da hielt sie einen Schwatz mit fremden Marktfrauen, die sie nicht kannten und von ihrem verfemten Berufsstand nichts ahnten.
Als sie an einem Stand vorbeikam, an dem geröstete Maronen feilgeboten wurden, obsiegte ihr Heißhunger gegenüber der auferlegten Sparsamkeit. Sie erstand eine Handvoll der köstlichen Esskastanien, die sie im Weitergehen genüsslich verzehrte. Immerhin würde sie ja heute noch ein paar Groschen verdienen, wenn sie nachher die tote Hure herrichtete. Wenn sie am Nachmittag damit fertig war, würde sie heimgehen und ihrem Mann die Abendmahlzeit zubereiten. Dann musste er auch bald seinen Dienst als Nachtwächter antreten, und sie hatte ihre Ruhe vor ihm.
Als sie wenig später den Friedhof betrat und auf das Bahr-haus zustrebte, in dem ihr Vater eine Kammer bewohnte, war sie noch so in Gedanken versunken, dass sie den Pfarrer gar nicht bemerkte, der ihr entgegengeeilt kam. Beinahe wäre sie mit ihm zusammengestoßen.
»Gelobt sei Jesus Christus«, murmelte sie erschrocken und verbeugte sich artig in seine Richtung.
»Dank sei Gott dem Herrn«, entgegnete Pfarrer Juch unwirsch und schüttelte ungehalten sein kahles Haupt. »Wo steckt denn nur wieder dein Vater? In ein paar Tagen begehen wir das Fest der Toten, und drüben im Beinhaus sieht es wieder mal aus wie Kraut und Rüben! Man muss sich ja schämen ...«
Wenn er nicht zu Hause oder auf dem Kirchhof ist, sitzt er womöglich in irgendeiner Schenke und lässt sich volllaufen, dachte Katharina besorgt, doch sie erklärte nur betreten, dass sie nicht wisse, wo sich ihr Vater aufhalte. Als der Geistliche ihre Befangenheit bemerkte, mäßigte er seinen Tonfall und äußerte milder:
»Na, du kannst ja nichts dafür, Kind«, und wandte sich mit einem knappen »Gott zum Gruße« zum Pfarrhaus.
Wenn der den Vater auf seine alten Tage nur nicht noch wegen seiner Sauferei vor die Tür setzt. Bekümmert setzte Katharina ihren Weg fort.
Nachdem sie in der Kammer ihres Vaters einen großen Bottich mit heißem Wasser bereitet und ihre Arbeitsutensilien zusammengetragen hatte, ging sie in die an der westlichen Friedhofsmauer gelegene Totenkapelle, wo die Toten gewaschen und aufgebahrt wurden. Dort lag auch der schlammverkrustete Leichnam der jungen Hübscherin.
Ehe Katharina mit der Säuberung begann, bekreuzigte sie sich vor der Toten und hielt ihr eine brennende Kerze an Mund und Nase, um sicherzugehen, dass die Frau tatsächlich nicht mehr lebte. Auch wenn sie es selbst noch nicht miterlebt hatte, ereignete es sich doch zuweilen, dass angeblich Verstorbene als Scheintote zu Grabe getragen wurden, weil eine genauere Prüfung versäumt worden war.
Im Falle der jungen Hübscherin aber brachte kein Hauch die Flamme zum Flackern. Noch nicht einmal die Augen haben sie ihr geschlossen, stellte Katharina unmutig fest und senkte behutsam die Lider der Toten über die deutlich hervorgetretenen Augäpfel. Dann befreite sie den Körper von dem schmutzstarrenden gelben Gewand und wusch zunächst die Haare und das Gesicht der jungen Frau. Auf einmal hielt sie erschrocken inne. Am Hals der Toten waren dunkle Flecken zu sehen. Würgemale! Die ist erwürgt worden. Genau wie die Bademagd, die ich im Frühjahr gewaschen habe. Angespannt überlegte die Totenwäscherin, was sie tun sollte.
Damals hatte sie, gleich nachdem sie bei der Totenwäsche die bläulichen Blessuren am Hals der Toten festgestellt hatte, die Bürgerpolizei verständigt. Doch der diensthabende Polizeibüttel hatte ihr erklärt, für derlei habe man jetzt, wo in wenigen Tagen die Frühjahrsmesse eröffnet werde, fürwahr keine Zeit. Streitereien unter dem Badestubengesindel gebe es immer wieder, das brauche keinen zu verwundern. Sie solle gefälligst ihre Arbeit machen und sich nicht in Dinge einmischen, die sie nichts angingen, beschied er sie und schob sie aus der Wachstube.
Katharina hatte sich sehr darüber geärgert. Natürlich wusste sie, dass eine Reiberin aus der Badestube gewöhnlich nicht viel taugte und ein liederliches Frauenzimmer war, aber hatte sie nicht wie alle Leute, die meuchlings ermordet worden waren, ein Recht darauf, dass der Täter gefasst und bestraft wurde? Sie hatte mit ihrem Vater gesprochen, und der hatte ihr dringend geraten, den Mund zu halten und nichts weiter zu unternehmen. Widerstrebend folgte sie seinem Rat.
Bei den stumpfsinnigen Stangenknechten würde Katharina sich jedenfalls nicht noch einmal das Maul verbrennen. Der Gedanke, die Sache einfach auf sich beruhen zu lassen, behagte ihr allerdings auch nicht.
»Armes Ding, wer hat dir das nur angetan?«, flüsterte sie mitleidig und streichelte der Toten liebevoll über die kalte Wange. »Wo du doch so eine Schöne bist!«
Sie kämmte der Toten sorgfältig das lang wallende Haar und fuhr mit der Totenwäsche fort. Als sie behutsam die zur Faust verkrampfte linke Hand der Hübscherin öffnete, um sie auch innen vom Schmutz zu reinigen, fand sie darin einen Stofffetzen. Erstaunt begutachtete Katharina das Stück Stoff genauer. Es war ein zerknittertes Dreieck aus scharlachroter Seide.
»Seltsam«, murmelte die Totenwäscherin nachdenklich, während sie das durchweichte Stoffstück ins Licht der Kerze hielt. Am Ende stammt es gar von ihrem Mörder. Sie hat es ihm womöglich beim Todeskampf aus der Kleidung gerissen. Rote Seide - dann muss es aber ein feiner Pinkel gewesen sein. Denn Rot war von alters her eine Herrenfarbe, die armen Leuten gar nicht zu tragen erlaubt war. Und seidene Gewänder konnten sich gleichfalls nur Wohlhabende leisten. Schlagartig wurde ihr klar, dass sie ihre Entdeckungen unbedingt der Hurenkönigin melden musste.
Als Katharina die Tote fertiggewaschen hatte, streifte sie ihr ein einfaches leinenes Totenhemd über. Dann klemmte sie ihr eine Pomeranze unters Kinn, um den Leichengeruch abzumildern und den Unterkiefer zu fixieren, rückte ihr den Kopf zurecht, damit das Gesicht zum Himmel gerichtet war, und faltete die Hände der Verstorbenen über der Brust. Die Kerze ließ sie brennen und stellte, wie es Brauch war, kleine Tiegel mit Milch und Honig für die Totengeister unter die Bahre.
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Autoren-Porträt von Ursula Neeb
Ursula Neeb hat Geschichte studiert. Aus der eigentlich geplanten Doktorarbeit entstand später ihr erster Roman Die Siechenmagd. Sie arbeitete beim Deutschen Filmmuseum und bei der FAZ. Heute lebt sie als Autorin mit ihren beiden Hunden in Seelenberg im Taunus.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ursula Neeb
- 2011, 4. Aufl., 432 Seiten, Maße: 12,1 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548282814
- ISBN-13: 9783548282817
- Erscheinungsdatum: 08.06.2011
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