Das Herz wird nicht dement
Rat für Pflegende und Angehörige
Das Herz wird nicht dement
Demenz ist mehr als Gedächtnisverlust. Sie bringt Angst, Verzweiflung, Trauer und Aggression mit sich. Rücksichtsvoll, warmherzig und verständlich beschreiben die Autoren die Innenwelten von...
Demenz ist mehr als Gedächtnisverlust. Sie bringt Angst, Verzweiflung, Trauer und Aggression mit sich. Rücksichtsvoll, warmherzig und verständlich beschreiben die Autoren die Innenwelten von...
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Produktinformationen zu „Das Herz wird nicht dement “
Das Herz wird nicht dement
Demenz ist mehr als Gedächtnisverlust. Sie bringt Angst, Verzweiflung, Trauer und Aggression mit sich. Rücksichtsvoll, warmherzig und verständlich beschreiben die Autoren die Innenwelten von Demenzkranken. Eine solide Hilfe für Angehörige und Pflegende im täglichen Umgang mit den Betroffenen.
Demenz ist mehr als Gedächtnisverlust. Sie bringt Angst, Verzweiflung, Trauer und Aggression mit sich. Rücksichtsvoll, warmherzig und verständlich beschreiben die Autoren die Innenwelten von Demenzkranken. Eine solide Hilfe für Angehörige und Pflegende im täglichen Umgang mit den Betroffenen.
Klappentext zu „Das Herz wird nicht dement “
Demenz ist mehr als Gedächtnisverlust. Sie beeinflusst Gefühle, die gesamte Art, wie Menschen sich und ihre Welt erleben. Über ihr Herz können wir sie erreichen, wenn wir nur wissen, wie.Rücksichtsvoll, warmherzig und verständlich beschreiben Udo Baer und Gabi Schotte-Lange die Innenwelten von Demenzkranken. Obwohl sie uns zu entgleiten scheinen, gibt es Wege, mit ihnen in Kontakt zu treten, Wege auch, die es den Erkrankten möglich machen, ihre Würde zu behalten und weiterhin schöne Momente zu erleben. Ein Abschlusskapitel lenkt den Blick auf die Pflegenden und das, was sie zu ihrer eigenen Unterstützung brauchen.
Lese-Probe zu „Das Herz wird nicht dement “
Das Herz wird nicht dement von Udo Baer & Gabi Schotte-LangeInhalt
Vorbemerkung 7
1 Das Gedächtnis des Herzens 9
2 Gefühle, Gefühle, Gefühle 17
2.1 Die Scham 17
2.2 Die Angst und die Verzweiflung 22
2.3 Das Schuldgefühl 32
2.4 Die Trauer 36
2.5 Die Geborgenheit 43
2.6 Aggressive Gefühle und ihr Subtext 45
3 Der soziale Rückzug und die Einsamkeit 53
4 Herz und Hirn - Demenz verstehen 63
5 Schrecken und Trost - Wenn der Mandelkern aktiv wird 73
6 Was Menschen mit Demenz brauchen 79
6.1 Das SMEI-Konzept 79
6.2 Achtsamkeit der Sinne 82
6.3 Bewertungstraining statt Gedächtnistraining 85
6.4 Resonanzen des Herzens 89
6.5 Würdigende Biografiearbeit 93
6.6 Vertrautheit 100
7 Was Pflegende brauchen 105
7.1 Verstehendes Mitgefühl 106
7.2 Krisenmanagement: Einfühlen - Andocken - Abholen 108
7.3 Beziehungskontinuität und Beziehungsfähigkeit 110
7.4 Erlaubnisklima 111
7.5 Haltung statt Techniken 113
7.6 Angemessene Rahmenbedingung und Entlastung 114
8 Ausklang: Würde bis zuletzt 117
Literatur 125
Vorbemerkung
... mehr
Jahrzehntelang waren die Menschen mit Demenz in fast allen Veröffentlichungen nur Objekte. Sie wurden als »Demente « bezeichnet, nicht als Menschen mit Demenz. Sie wurden beschrieben, ohne dass sie eine Stimme hatten. Auch in der Praxis fand das allzu oft seine Entsprechung: Sie wurden behandelt, ohne dass sie handeln konnten. Für sie und über sie wurde entschieden, ohne dass sie ihren Willen äußern konnten.
Das lag sicherlich auch daran, dass ihre Erkrankung sie in den Rückzug treibt und sie oft sprachlos macht. Das lag aber auch am fehlenden Interesse an dem, was die Menschen mit Demenz innerlich bewegt, und damit an ihrer mangelnden Würdigung.
Seit der Jahrtausendwende beginnt sich die Haltung der Öffentlichkeit zu ändern. Initiativen zur Würdigung von Menschen mit Demenz entstehen, neue Formen ihrer Pflege, Begleitung und Therapie werden diskutiert und in Veröffentlichungen kommen auch Menschen mit Demenz zu Wort.
Wir wollen mit diesem Buch daran anknüpfen und Hilfen geben, wie Menschen mit Demenz gewürdigt und in Würde begleitet werden können. Dazu muss das Verständnis der Erkrankung geändert werden: Demenz ist mehr als eine Gedächtnisstörung. Und dazu muss der Blick auf die Innenwelten und besonders auf das Herz der Menschen mit Demenz gelenkt werden. Das werden wir in diesem Buch unternehmen, möglichst verständlich, damit Verständnis fördernd, und mit vielen Beispielen aus dem Alltag.
Nur zu sagen, dass man Menschen mit Demenz in Würde begleiten möchte, reicht nicht. Die Begleitenden müssen auch wissen, wie das gehen kann. Dazu werden wir viele Hinweise geben, mit zahlreichen praktischen Beispielen. Das schließt ein, dass wir uns auch mit dem beschäftigen, was die Pflegenden und Begleitenden brauchen.
Das Buch wendet sich an alle, die mit Menschen mit Demenz zu tun haben und sich für sie interessieren. Dazu gehören die professionell Pflegenden und anderen Fachkräfte: Ergotherapeut/ innen, Sozialpädagog/innen und andere, die Menschen mit Demenz professionell begleiten. Die meisten Menschen mit Demenz leben aber nicht in Heimen oder anderen Einrichtungen der Altenhilfe, die meisten werden von ihren Angehörigen gepflegt und begleitet. Auch für sie ist dieses Buch geschrieben, auch sie wollen wir mit diesem Buch unterstützen.
Wir werden, wie erwähnt, in diesem Buch das Gesagte mit zahlreichen Beispielen aus der Praxis illustrieren und belegen. Diese Beispiele sind in kursiver Schrift gehalten. Darin bedeutet »ich«, dass sie manchmal von Gabi Schotte und manchmal von Udo Baer beschrieben sind. Mit »Wir« ist eine Gruppe von Menschen im Altenheim mit ihren Betreuer/innen gemeint. Auf Literaturhinweise und -belege haben wir der besseren Lesbarkeit wegen weitgehend verzichtet. Wir verweisen dazu auf das von Udo Baer im Semnos-Verlag erschienene Buch: »Innenwelten der Demenz«.
Udo Baer und Gabi Schotte-Lange 2012
1 Das Gedächtnis des Herzens
Wenn Sie beim Stadtbummel jemanden treffen, den Sie kennen, und sich nicht mehr an den Namen dieser Person erinnern, dann wissen Sie zwar den Namen nicht mehr, sind sich aber sicher, dass diese Person ihnen vertraut ist. Sie kommt ihnen »bekannt vor«, das spüren Sie und das fühlen Sie. In diesem Moment ist das Gedächtnis nicht nur ein Moment des Denkens (»Wie heißt sie nur?«), sondern auch ein Moment des Spürens (»Ich bin ganz sicher, dass wir uns kennen! «). Sie suchen vielleicht nach Situationen, in denen Sie und die andere Person sich begegnet sind (»Wo haben wir uns denn getroffen? Bei der Arbeit? Bei einer Geburtstagsfeier?«) und Sie sind mit ihren Gefühlen beteiligt: es ist ihnen wahrscheinlich peinlich und Sie ärgern sich über sich selbst, dass ihnen der Name nicht einfällt.
Sie sehen an diesem Beispiel, dass das Erinnern ein komplexer Prozess ist, der nicht nur das Denken betrifft. Das ist wichtig zu wissen, wenn es um die Demenz geht. Die Weltgesundheitsorganisation sagt wie viele andere medizinische Institutionen, Demenz sei vor allem eine Störung der Leistungsfähigkeit des Denkens. Dies mache sich vor allem im allmählichen Versagen des Gedächtnisses bemerkbar. Das Gedächtnis wird schwächer, es gibt sogenannte »Aussetzer«, die Schwierigkeiten werden immer größer, bis schließlich sogar die Menschen nicht mehr erkannt werden, die den Erkrankten nahe standen. Richtig ist daran, dass das Erinnerungsvermögen nachlässt, was sich vor allem darin äußert, dass neue Wahrnehmungen nicht mehr mit alten Erfahrungen und Kenntnissen in Verbindung gebracht werden können. Ich sehe jemanden und spüre, dass ich ihn kenne, ich weiß aber nicht mehr, wie er heißt und woher ich ihn kenne. So etwas kennen wir alle gelegentlich. Bei den Menschen mit Demenz wird dies vorherrschend. Insofern ist es richtig, dass eine Demenzerkrankung auch eine Störung des sogenannten »kognitiven Gedächtnisses« ist, also des Gedächtnisses des Denkens, aber sie ist es nicht nur.
Wenn wir Menschen mit Demenz genauer beobachten, erleben wir Überraschungen:
Als ich Anfang der 80er-Jahre in einem Altenheim am Niederrhein eine kreativ-therapeutische Gruppe mit an Demenz erkrankten Menschen leitete, befand sich unter den Teilnehmenden eine Frau Mitte 70, deren Demenzielle Erkrankung fortgeschritten war. Sie sprach nur zwei, drei Worte am Tag, reagierte sehr selten auf Ansprache, war desorientiert, kannte weder ihren Namen noch den anderer. Ihr Körper wirkte verworren. Wie ein Knäuel lagen Arme und Beine über-und umeinander und sie versuchte immer wieder, sie zu entwirren. Ich legte eine Tango-Musik auf, ging auf sie zu und setzte mich ihr gegenüber. Meine Hände griffen nach ihren Händen. Ich beabsichtigte, mit ihr sitzend den Tango zu tanzen, indem ich ihre Hände bewegte, hoffend, dass sie mit ihren Händen sich daran beteiligen könne. Sie schaute mich an, als sie die ersten Takte des Tangos hörte. Dann stand sie in einer fließenden Bewegung auf, ergriff mich und schob mit mir einen Tango durch den Raum - mit mir, der ich nie die Tango-Schrittfolgen behalten konnte. Sie tanzte mit mir, bis die Musik verklang.
Dann verbeugte sie sich vor mir und sagte: »Ich danke Ihnen, junger Mann.« Anschließend setzte sie sich und lächelte vor sich hin.
Was erzählt uns diese Geschichte? Sie erzählt uns, dass es mehr als ein Gedächtnis des Denkens gibt. Die Frau, die den Tango tanzte, erinnerte sich nach diesem Geschehen immer noch nicht an ihren Namen oder den Namen des Tanzpartners. Aber ihr Körper erinnerte sich, ihre Arme und Beine, die sonst eher unkoordiniert waren, erinnerten sich daran, wie sie den Partner halten und mit ihm gemeinsam einen Tango tanzen konnten. Offensichtlich verfügte sie über ein Körpergedächtnis, das funktionieren konnte, auch wenn das Gedächtnis des Denkens beschädigt war.
Die Frau, die den Tango tanzte, reagierte auf die Musik. Wir beobachten oft, dass Menschen mit Demenz, die das Jahr, den Tag und die Namen nicht mehr wissen, plötzlich, wenn ein Volkslied erklingt, zehn Strophen auswendig mitsingen können. Offensichtlich verfügen sie also wie die Frau, die den Tango tanzte, über ein Gedächtnis der Klänge, ein Gedächtnis der Sinne.
Das Gedächtnis der Sinne, das Gedächtnis des Körpers, das Gedächtnis der Klänge und Situationen - all das sind Bestandteile des Gedächtnisses des Erlebens, von uns »Leibgedächtnis « genannt. Leib kommt von »lib« und meint den erlebenden Menschen. Das Leibgedächtnis ist weitgehend identisch mit dem, was auch »implizites Gedächtnis« genannt wird: Sie können Fahrrad fahren, auch wenn Sie sich nicht mehr daran erinnern, wann und wie Sie es gelernt haben (diese Erinnerung wäre das »explizite Gedächtnis«). Das Leibgedächtnis ist intensiv und stark verfestigt, viel kraftvoller als das Gedächtnis des Denkens. Wenn das Gedächtnis des Denkens versagt, können die Betroffenen auf das Leibgedächtnis zurückgreifen. Das ist eine erste wichtige Schlussfolgerung aus dem erweiterten Verständnis des Gedächtnisses.
Wenn wir betrachten, wie das Leibgedächtnis funktioniert und woraus es besteht, dann begegnen wir zuerst der Gewohnheit. Bei den ersten Versuchen, mit dem Fahrrad zu fahren, müssen wir uns noch genau konzentrieren, wie wir den Lenker halten, unsere Füße bewegen und mit dem Oberkörper die Balance halten. Nach einigen Versuchen sind die Erfahrungen in das Leibgedächtnis übergegangen, sie sind »einverleibt« worden, so dass wir uns nicht mehr genau zu erinnern brauchen.
Neben der Gewohnheit ist die Ähnlichkeit ein wichtiges Prinzip, nach dem das Leibgedächtnis wirkt. Wenn Sie im Urlaub ein Mittagessen kochen wollen, werden Sie das genauso gut, oder doch fast genauso gut, können, wie ihnen das zu Hause gelang. Dabei ist doch vieles anders: die Küche ist anders gebaut, die Töpfe und Pfannen sind andere, die Kartoffeln kleiner und der Fisch größer. Trotz der neuen Umstände fangen Sie nicht »bei Null« an, weil all diese neuen Umstände ähnlich denen sind, die Sie kennen. Unser Leibgedächtnis orientiert sich an ähnlichen Situationen und Erfahrungen. Wenn ihre Partnerin oder Freundin eine neue Frisur hat und anders geschminkt ist, werden Sie sie dennoch wiedererkennen, weil ihr Leibgedächtnis die Ähnlichkeit erfasst. »Erfasst« ist ein richtiges Wort, denn das Leibgedächtnis erkennt das Gesicht nicht aufgrund von analytischen Denkprozessen, indem es Gesichtsform, Augenfarbe, Nasengröße und anderes mehr vergleicht, sondern »erfasst« die Ähnlichkeit in einem Blick.
Aktivitäten des Leibgedächtnisses werden deshalb auch weniger als Denkprozesse beschrieben, sondern eher mit sinnlichen Begriffen umschrieben. Das Wort »erfassen« ist solch eine Beschreibung, die wiederum das Prinzip der Ähnlichkeit nutzt. Wie eine Hand mit einer Berührung »erfassen« kann, dass sie ein Stück Holz gegriffen hat, so kann mit einem Blick eine Person oder eine Situation »erfasst« werden.
Das Leibgedächtnis »einverleibt« sich Sinneserfahrungen und nutzt diese, um mit Ähnlichkeiten neuen Situationen zu begegnen. Dieses Gedächtnis kann folglich durch verschiedene Sinneszugänge aktiviert werden, wie z. B. auch durch den Duft von Vanille:
Frau N. hat sich im Zuge ihrer Demenzerkrankung immer mehr zurückgezogen. Sie vereinsamt und dämmert zunehmend unbeteiligt vor sich hin. Wir bringen ihr einige Düfte mit. Mehrere kleine Plastikdosen enthalten Stoffe, die stark duften. Wir öffnen das Döschen mit den Vanillestücken. Sie riecht es und atmet schneller. Ihr Blick wird offener, sie schaut uns an. »Vanille, das ist ja Vanille«, sagt sie, »oh, der Vanillepudding! « Und sie beginnt zu erzählen: »Arm waren wir, arm wie die Kirchenmäuse, sagte man. Pudding gab es nur zum Geburtstag oder zu Weihnachten oder zu Ostern. Immer nur an Festtagen, da freuten wir uns schon lange drauf, lange vorher. Wenn die Mutter den kochte, dann roch es nach Vanille, die ganze Wohnung war voll davon ...« Und sie erzählt mehr aus ihrer Kindheit, von ihrer Mutter, von dem, was schön war, und dem, worunter sie litt.
Bei dieser Frau war es der Duft von Vanille, der ihr Gedächtnis anregte und ihre Worte ins Sprudeln brachte. Plötzlich war
© 2013 Beltz Verlag, Weinheim und Basel
Jahrzehntelang waren die Menschen mit Demenz in fast allen Veröffentlichungen nur Objekte. Sie wurden als »Demente « bezeichnet, nicht als Menschen mit Demenz. Sie wurden beschrieben, ohne dass sie eine Stimme hatten. Auch in der Praxis fand das allzu oft seine Entsprechung: Sie wurden behandelt, ohne dass sie handeln konnten. Für sie und über sie wurde entschieden, ohne dass sie ihren Willen äußern konnten.
Das lag sicherlich auch daran, dass ihre Erkrankung sie in den Rückzug treibt und sie oft sprachlos macht. Das lag aber auch am fehlenden Interesse an dem, was die Menschen mit Demenz innerlich bewegt, und damit an ihrer mangelnden Würdigung.
Seit der Jahrtausendwende beginnt sich die Haltung der Öffentlichkeit zu ändern. Initiativen zur Würdigung von Menschen mit Demenz entstehen, neue Formen ihrer Pflege, Begleitung und Therapie werden diskutiert und in Veröffentlichungen kommen auch Menschen mit Demenz zu Wort.
Wir wollen mit diesem Buch daran anknüpfen und Hilfen geben, wie Menschen mit Demenz gewürdigt und in Würde begleitet werden können. Dazu muss das Verständnis der Erkrankung geändert werden: Demenz ist mehr als eine Gedächtnisstörung. Und dazu muss der Blick auf die Innenwelten und besonders auf das Herz der Menschen mit Demenz gelenkt werden. Das werden wir in diesem Buch unternehmen, möglichst verständlich, damit Verständnis fördernd, und mit vielen Beispielen aus dem Alltag.
Nur zu sagen, dass man Menschen mit Demenz in Würde begleiten möchte, reicht nicht. Die Begleitenden müssen auch wissen, wie das gehen kann. Dazu werden wir viele Hinweise geben, mit zahlreichen praktischen Beispielen. Das schließt ein, dass wir uns auch mit dem beschäftigen, was die Pflegenden und Begleitenden brauchen.
Das Buch wendet sich an alle, die mit Menschen mit Demenz zu tun haben und sich für sie interessieren. Dazu gehören die professionell Pflegenden und anderen Fachkräfte: Ergotherapeut/ innen, Sozialpädagog/innen und andere, die Menschen mit Demenz professionell begleiten. Die meisten Menschen mit Demenz leben aber nicht in Heimen oder anderen Einrichtungen der Altenhilfe, die meisten werden von ihren Angehörigen gepflegt und begleitet. Auch für sie ist dieses Buch geschrieben, auch sie wollen wir mit diesem Buch unterstützen.
Wir werden, wie erwähnt, in diesem Buch das Gesagte mit zahlreichen Beispielen aus der Praxis illustrieren und belegen. Diese Beispiele sind in kursiver Schrift gehalten. Darin bedeutet »ich«, dass sie manchmal von Gabi Schotte und manchmal von Udo Baer beschrieben sind. Mit »Wir« ist eine Gruppe von Menschen im Altenheim mit ihren Betreuer/innen gemeint. Auf Literaturhinweise und -belege haben wir der besseren Lesbarkeit wegen weitgehend verzichtet. Wir verweisen dazu auf das von Udo Baer im Semnos-Verlag erschienene Buch: »Innenwelten der Demenz«.
Udo Baer und Gabi Schotte-Lange 2012
1 Das Gedächtnis des Herzens
Wenn Sie beim Stadtbummel jemanden treffen, den Sie kennen, und sich nicht mehr an den Namen dieser Person erinnern, dann wissen Sie zwar den Namen nicht mehr, sind sich aber sicher, dass diese Person ihnen vertraut ist. Sie kommt ihnen »bekannt vor«, das spüren Sie und das fühlen Sie. In diesem Moment ist das Gedächtnis nicht nur ein Moment des Denkens (»Wie heißt sie nur?«), sondern auch ein Moment des Spürens (»Ich bin ganz sicher, dass wir uns kennen! «). Sie suchen vielleicht nach Situationen, in denen Sie und die andere Person sich begegnet sind (»Wo haben wir uns denn getroffen? Bei der Arbeit? Bei einer Geburtstagsfeier?«) und Sie sind mit ihren Gefühlen beteiligt: es ist ihnen wahrscheinlich peinlich und Sie ärgern sich über sich selbst, dass ihnen der Name nicht einfällt.
Sie sehen an diesem Beispiel, dass das Erinnern ein komplexer Prozess ist, der nicht nur das Denken betrifft. Das ist wichtig zu wissen, wenn es um die Demenz geht. Die Weltgesundheitsorganisation sagt wie viele andere medizinische Institutionen, Demenz sei vor allem eine Störung der Leistungsfähigkeit des Denkens. Dies mache sich vor allem im allmählichen Versagen des Gedächtnisses bemerkbar. Das Gedächtnis wird schwächer, es gibt sogenannte »Aussetzer«, die Schwierigkeiten werden immer größer, bis schließlich sogar die Menschen nicht mehr erkannt werden, die den Erkrankten nahe standen. Richtig ist daran, dass das Erinnerungsvermögen nachlässt, was sich vor allem darin äußert, dass neue Wahrnehmungen nicht mehr mit alten Erfahrungen und Kenntnissen in Verbindung gebracht werden können. Ich sehe jemanden und spüre, dass ich ihn kenne, ich weiß aber nicht mehr, wie er heißt und woher ich ihn kenne. So etwas kennen wir alle gelegentlich. Bei den Menschen mit Demenz wird dies vorherrschend. Insofern ist es richtig, dass eine Demenzerkrankung auch eine Störung des sogenannten »kognitiven Gedächtnisses« ist, also des Gedächtnisses des Denkens, aber sie ist es nicht nur.
Wenn wir Menschen mit Demenz genauer beobachten, erleben wir Überraschungen:
Als ich Anfang der 80er-Jahre in einem Altenheim am Niederrhein eine kreativ-therapeutische Gruppe mit an Demenz erkrankten Menschen leitete, befand sich unter den Teilnehmenden eine Frau Mitte 70, deren Demenzielle Erkrankung fortgeschritten war. Sie sprach nur zwei, drei Worte am Tag, reagierte sehr selten auf Ansprache, war desorientiert, kannte weder ihren Namen noch den anderer. Ihr Körper wirkte verworren. Wie ein Knäuel lagen Arme und Beine über-und umeinander und sie versuchte immer wieder, sie zu entwirren. Ich legte eine Tango-Musik auf, ging auf sie zu und setzte mich ihr gegenüber. Meine Hände griffen nach ihren Händen. Ich beabsichtigte, mit ihr sitzend den Tango zu tanzen, indem ich ihre Hände bewegte, hoffend, dass sie mit ihren Händen sich daran beteiligen könne. Sie schaute mich an, als sie die ersten Takte des Tangos hörte. Dann stand sie in einer fließenden Bewegung auf, ergriff mich und schob mit mir einen Tango durch den Raum - mit mir, der ich nie die Tango-Schrittfolgen behalten konnte. Sie tanzte mit mir, bis die Musik verklang.
Dann verbeugte sie sich vor mir und sagte: »Ich danke Ihnen, junger Mann.« Anschließend setzte sie sich und lächelte vor sich hin.
Was erzählt uns diese Geschichte? Sie erzählt uns, dass es mehr als ein Gedächtnis des Denkens gibt. Die Frau, die den Tango tanzte, erinnerte sich nach diesem Geschehen immer noch nicht an ihren Namen oder den Namen des Tanzpartners. Aber ihr Körper erinnerte sich, ihre Arme und Beine, die sonst eher unkoordiniert waren, erinnerten sich daran, wie sie den Partner halten und mit ihm gemeinsam einen Tango tanzen konnten. Offensichtlich verfügte sie über ein Körpergedächtnis, das funktionieren konnte, auch wenn das Gedächtnis des Denkens beschädigt war.
Die Frau, die den Tango tanzte, reagierte auf die Musik. Wir beobachten oft, dass Menschen mit Demenz, die das Jahr, den Tag und die Namen nicht mehr wissen, plötzlich, wenn ein Volkslied erklingt, zehn Strophen auswendig mitsingen können. Offensichtlich verfügen sie also wie die Frau, die den Tango tanzte, über ein Gedächtnis der Klänge, ein Gedächtnis der Sinne.
Das Gedächtnis der Sinne, das Gedächtnis des Körpers, das Gedächtnis der Klänge und Situationen - all das sind Bestandteile des Gedächtnisses des Erlebens, von uns »Leibgedächtnis « genannt. Leib kommt von »lib« und meint den erlebenden Menschen. Das Leibgedächtnis ist weitgehend identisch mit dem, was auch »implizites Gedächtnis« genannt wird: Sie können Fahrrad fahren, auch wenn Sie sich nicht mehr daran erinnern, wann und wie Sie es gelernt haben (diese Erinnerung wäre das »explizite Gedächtnis«). Das Leibgedächtnis ist intensiv und stark verfestigt, viel kraftvoller als das Gedächtnis des Denkens. Wenn das Gedächtnis des Denkens versagt, können die Betroffenen auf das Leibgedächtnis zurückgreifen. Das ist eine erste wichtige Schlussfolgerung aus dem erweiterten Verständnis des Gedächtnisses.
Wenn wir betrachten, wie das Leibgedächtnis funktioniert und woraus es besteht, dann begegnen wir zuerst der Gewohnheit. Bei den ersten Versuchen, mit dem Fahrrad zu fahren, müssen wir uns noch genau konzentrieren, wie wir den Lenker halten, unsere Füße bewegen und mit dem Oberkörper die Balance halten. Nach einigen Versuchen sind die Erfahrungen in das Leibgedächtnis übergegangen, sie sind »einverleibt« worden, so dass wir uns nicht mehr genau zu erinnern brauchen.
Neben der Gewohnheit ist die Ähnlichkeit ein wichtiges Prinzip, nach dem das Leibgedächtnis wirkt. Wenn Sie im Urlaub ein Mittagessen kochen wollen, werden Sie das genauso gut, oder doch fast genauso gut, können, wie ihnen das zu Hause gelang. Dabei ist doch vieles anders: die Küche ist anders gebaut, die Töpfe und Pfannen sind andere, die Kartoffeln kleiner und der Fisch größer. Trotz der neuen Umstände fangen Sie nicht »bei Null« an, weil all diese neuen Umstände ähnlich denen sind, die Sie kennen. Unser Leibgedächtnis orientiert sich an ähnlichen Situationen und Erfahrungen. Wenn ihre Partnerin oder Freundin eine neue Frisur hat und anders geschminkt ist, werden Sie sie dennoch wiedererkennen, weil ihr Leibgedächtnis die Ähnlichkeit erfasst. »Erfasst« ist ein richtiges Wort, denn das Leibgedächtnis erkennt das Gesicht nicht aufgrund von analytischen Denkprozessen, indem es Gesichtsform, Augenfarbe, Nasengröße und anderes mehr vergleicht, sondern »erfasst« die Ähnlichkeit in einem Blick.
Aktivitäten des Leibgedächtnisses werden deshalb auch weniger als Denkprozesse beschrieben, sondern eher mit sinnlichen Begriffen umschrieben. Das Wort »erfassen« ist solch eine Beschreibung, die wiederum das Prinzip der Ähnlichkeit nutzt. Wie eine Hand mit einer Berührung »erfassen« kann, dass sie ein Stück Holz gegriffen hat, so kann mit einem Blick eine Person oder eine Situation »erfasst« werden.
Das Leibgedächtnis »einverleibt« sich Sinneserfahrungen und nutzt diese, um mit Ähnlichkeiten neuen Situationen zu begegnen. Dieses Gedächtnis kann folglich durch verschiedene Sinneszugänge aktiviert werden, wie z. B. auch durch den Duft von Vanille:
Frau N. hat sich im Zuge ihrer Demenzerkrankung immer mehr zurückgezogen. Sie vereinsamt und dämmert zunehmend unbeteiligt vor sich hin. Wir bringen ihr einige Düfte mit. Mehrere kleine Plastikdosen enthalten Stoffe, die stark duften. Wir öffnen das Döschen mit den Vanillestücken. Sie riecht es und atmet schneller. Ihr Blick wird offener, sie schaut uns an. »Vanille, das ist ja Vanille«, sagt sie, »oh, der Vanillepudding! « Und sie beginnt zu erzählen: »Arm waren wir, arm wie die Kirchenmäuse, sagte man. Pudding gab es nur zum Geburtstag oder zu Weihnachten oder zu Ostern. Immer nur an Festtagen, da freuten wir uns schon lange drauf, lange vorher. Wenn die Mutter den kochte, dann roch es nach Vanille, die ganze Wohnung war voll davon ...« Und sie erzählt mehr aus ihrer Kindheit, von ihrer Mutter, von dem, was schön war, und dem, worunter sie litt.
Bei dieser Frau war es der Duft von Vanille, der ihr Gedächtnis anregte und ihre Worte ins Sprudeln brachte. Plötzlich war
© 2013 Beltz Verlag, Weinheim und Basel
... weniger
Autoren-Porträt von Udo Baer, Gabi Schotte-Lange
Baer, UdoUdo Baer (Berlin, Jg. 1949): Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Geschäftsführer und Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor.
Schotte-Lange, Gabi
Gabi Schotte-Lange ist Dipl. Sozialpädagogin, Kreative Leibtherapeutin, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Gerontotherapeutin nach SMEI und Dozentin für gerontopsychiatrische Fortbildungen. Sie verfügt über langjährige praktische Erfahrungen in der offenen und stationären Altenarbeit, seit vielen Jahren mit dem Schwerpunkt dementielle Erkrankungen.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Udo Baer , Gabi Schotte-Lange
- 2017, 9. Aufl., 125 Seiten, Maße: 13,3 x 20,7 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Julius Beltz GmbH
- ISBN-10: 340785966X
- ISBN-13: 9783407859662
- Erscheinungsdatum: 13.07.2015
Rezension zu „Das Herz wird nicht dement “
"In praktischen Beispielen illustriert das Buch, wie emotionale Bindungen zu Erlebnissen der Vergangenheit Erinnerunngen hervorrufen" emotion, 08/2018
Kommentare zu "Das Herz wird nicht dement"
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