Das letzte Kind
Thriller. Ausgezeichnet mit dem CWA Ian Fleming Steel Dagger 2009
Seitdem seine Zwillingsschwester Alyssa verschwunden ist, ist für den 12jährigen Johnny alles anders. Nie hat er eine solche Einsamkeit verspürt. Selbst seine Eltern lassen ihn im Stich. Als dann ein zweites Mädchen verschwindet, beschließt Johnny sie zu suchen.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Das letzte Kind “
Seitdem seine Zwillingsschwester Alyssa verschwunden ist, ist für den 12jährigen Johnny alles anders. Nie hat er eine solche Einsamkeit verspürt. Selbst seine Eltern lassen ihn im Stich. Als dann ein zweites Mädchen verschwindet, beschließt Johnny sie zu suchen.
Klappentext zu „Das letzte Kind “
Er sucht verzweifelt seine Schwester. Er entdeckt die grausamen Verbrechen einer ganzen Stadt. Er ist völlig auf sich allein gestellt...Es ist ein Jahr vergangen, seit die 12-jährige Alyssa verschwunden ist. Ihr Zwillingsbruder Johnny hat sich nie einsamer gefühlt. Sein Vater hat die Familie kurz nach dem Verschwinden der Tochter im Stich gelassen, seine Mutter flüchtet sich in eine Beziehung zu einem Mann, den Johnny verachtet. Der zuständige Detective will den Fall nicht schließen, obwohl seine eigene Familie an dieser Obsession zerbricht. Als ein zweites Mädchen verschwindet, weiß Johnny, dass er die beiden Mädchen finden muss. Dieser Junge ist ein moderner Huckleberry Finn und ein Detektiv, wie man ihn sich als Thriller-Leser nicht besser wünschen könnte. Dabei zeigt John Hart nicht nur Johnnys abgrundtiefe Einsamkeit, sondern erzählt eine enorm spannende Geschichte.
"Mein Tipp: John Hart!" -- Frank Schätzing
"Der Autor John Hart macht einfach alles richtig. Wenn mehr Thriller diese Qualität hätten, würde das gesamte Genre einen wesentlich besseren Ruf genießen. 450 Seiten, die verfliegen wie nix, allerbeste Spannungsliteratur, ein packendes Buch, das ich jedem Lust-Leser empfehlen kann." -- ARD Morgenmagazin
"Schon mit "Der Dunkle Fluss" hat (...) John Hart bewiesen, dass er ebenso spannend wie komplex erzählen kann. "Das letzte Kind" aber ist sein Meisterstück - eine subtile Geschichte über kindliche Unschuld und Freundschaft und über deren Abgründe: Tom Sawyer und Huckleberry Finn im 21. Jahrhundert." -- Spiegel Online, Ulrich Baron
"Der Autor John Hart macht einfach alles richtig. Wenn mehr Thriller diese Qualität hätten, würde das gesamte Genre einen wesentlich besseren Ruf genießen. 450 Seiten, die verfliegen wie nix, allerbeste Spannungsliteratur, ein packendes Buch, das ich jedem Lust-Leser empfehlen kann." -- ARD Morgenmagazin
"Schon mit "Der Dunkle Fluss" hat (...) John Hart bewiesen, dass er ebenso spannend wie komplex erzählen kann. "Das letzte Kind" aber ist sein Meisterstück - eine subtile Geschichte über kindliche Unschuld und Freundschaft und über deren Abgründe: Tom Sawyer und Huckleberry Finn im 21. Jahrhundert." -- Spiegel Online, Ulrich Baron
Lese-Probe zu „Das letzte Kind “
Das Letzte Kind von John Hart den Sanddünen von North Carolina: ein halbes Dutzend Wanderarbeiter, ein paar lädierte Raufbolde, die aussahen wie ehemalige Soldaten, eine oder zwei Familien, eine Handvoll alter Leute und zwei tätowierte Punks, die hinten die Köpfe zusammensteckten.
Immer wieder wanderten die Augen des Jungen zu dem Mann auf der anderen Seite des Ganges, einem Vertretertypen mit öligem Haar in einem zerknautschten Anzug und ausgelatschten Slippern. Auch ein Schwarzer mit einer zerfledderten Bibel in der Hand und einer Sodaflasche zwischen den Beinen schien den Blick des Kleinen anzuziehen. Hinter dem Jungen saß eine alte Lady in einem Kleid aus pergamentartigem Stoff. Als sie sich vorbeugte, um ihn etwas zu fragen, schüttelte der Junge zaghaft den Kopf und antwortete vorsichtig.
Nein, Ma’am.
... mehr
Seine Worte wehten nach hinten wie ein Rauchwölkchen, und die Lady lehnte sich zurück und berührte mit blau geäderten Fingern die Kette an ihrer Brille. Sie schaute aus dem Fenster, und ihre Brillengläser blitzten und wurden dann dunkel, als die Straße sich durch ein Kiefernwäldchen schnitt, wo die Schatten wie grüne Pfützen unter den Ästen lagen. Das gleiche Licht erfüllte auch den Bus, und der Fahrer betrachtete den Mann in dem zerknautschten Anzug. Er war bleich und verschwitzt wie nach einem Kater, hatte ungewöhnlich kleine Augen und eine Rastlosigkeit, die an den Nerven des Fahrers scheuerte. Alle zwei Minuten setzte er sich anders hin, schlug ein Bein über das andere und nahm es wieder herunter, beugte sich vor, lehnte sich zurück. Seine Finger trommelten auf das Knie unter dem schlecht sitzenden Anzug, und er schluckte oft, während sein Blick zu dem Jungen wanderte, wieder weghuschte, zurückwanderte und auf ihm verharrte.
Der Fahrer war abgestumpft, aber in seinem Bus hielt er Ordnung. Betrunkenheit, schlechtes Benehmen und lautes Gerede tolerierte er nicht. So hatte seine Momma ihn vor fünfzig Jahren erzogen, und er sah keinen Grund, daran etwas zu ändern. Also hatte er ein Auge auf den Jungen und auf den angespannten, schwitzenden Mann mit dem eifrigen Blick. Er beobachtete, wie der Mann den Jungen beobachtete, und sah, wie er sich auf dem speckigen Sitz zurücklehnte, als das Messer zum Vorschein kam.
Der Junge tat es ganz beiläufig: Er zog es aus der Tasche und ließ die Klinge mit dem Daumen herausschnappen. Er hielt es einen Augenblick lang so, dass man es sehen konnte, und dann nahm er einen Apfel aus seinem Rucksack und zerschnitt ihn mit einer scharfen, sauberen Bewegung. Der Duft erhob sich über die fleckigen Sitze und den schmutzigen Boden. Noch durch den Dieselgestank roch der Fahrer das bittersüße Aroma. Der Junge warf einen kurzen Blick auf die aufgerissenen Augen und das glänzende, ausgelaugte Gesicht des Mannes; dann klappte er das Messer zu und steckte es ein.
Der Fahrer entspannte sich und schaute wieder eine ganze Weile unverwandt nach vorn auf die Straße. Der Junge kam ihm bekannt vor, aber das Gefühl verging gleich wieder. Dreißig Jahre. Er ließ seinen massigen Körper tiefer in den Sitz sinken.
Er hatte schon so viele Jungen gesehen.
So viele, die wegliefen.
Immer, wenn der Fahrer ihn ansah, spürte der Junge es. Das war eine Begabung, die er hatte, ein Talent. Trotz der dunklen Sonnenbrille und der weiten Wölbung im Rückspiegel konnte er es spüren. Es war seine dritte Fahrt mit diesem Bus, die dritte in drei Wochen. Er saß immer auf einem anderen Platz und trug immer andere Kleidung, aber vermutlich würde ihn früher oder später jemand fragen, wieso er um sieben Uhr morgens an einem Schultag mit dem Bus quer durch den Staat fuhr. Und er nahm an, die Frage würde vom Fahrer kommen.
Aber noch war sie nicht gekommen.
Der Junge schaute aus dem Fenster und drehte die Schultern so, dass niemand mehr versuchen würde, ihn anzusprechen. Er beobachtete die Spiegelungen im Glas, die Bewegungen und die Gesichter. Er dachte an himmelhohe Bäume und braune Federn mit Schnee auf den Spitzen.
Das Messer lag wie ein Klumpen in seiner Tasche.
Vierzig Minuten später stoppte der Bus wippend vor einer einräumigen Tankstelle irgendwo in der endlosen Weite aus Kiefern, Gestrüpp und heißer, sandiger Erde. Der Junge schob sich durch
den Gang nach vorn und sprang von der unteren Stufe, bevor der Fahrer erwähnen konnte, dass auf dem Parkplatz nichts als ein Abschleppwagen wartete und dass kein Erwachsener da war, der den Jungen in seine Obhut nehmen konnte – einen Dreizehnjährigen, der aussah, als sei er gerade zehn. Der Junge hielt den Kopf abgewandt, sodass ihm die Sonne in den Nacken brannte, und hüpfte ein paarmal, um den Rucksack auf seinem Rücken zurechtzuschieben. Eine Dieselwolke stieg auf, der Bus setzte sich schaukelnd in Bewegung und rollte in Richtung Süden davon.
Die Tankstelle bestand aus zwei Zapfsäulen, einer langen Bank und einem dürren alten Mann in einem ölfleckigen blauen Overall. Der Mann nickte nur hinter der verschmierten Glasscheibe und kam nicht heraus in die Hitze. Der Getränkeautomat im Schatten des Gebäudes war so alt, dass der Preis auf dem Schild nur fünfzig Cent betrug. Der Junge wühlte fünf dünne Zehn-Cent-Münzen aus der Tasche und wählte ein Traubensoda. Die kalte Glasflasche polterte unten aus dem Schacht. Er hebelte den Kronkorken herunter, schlug die Richtung ein, aus der der Bus gekommen war, und ging auf der staubigen Straße davon, die sich vor ihm wand wie eine schwarze Schlange.
Nach drei Meilen und zwei Kurven verschlechterte sich die Straße; aus Asphalt wurde Schotter, und der Schotter wurde spärlich. Das Schild hatte sich nicht verändert, seit er es zuletzt gesehen hatte. Es war alt und verwittert, und die abblätternde Farbe hob sich wie Federn von dem Holz darunter: ALLIGATOR RIVER RAUBVOGEL-SCHUTZGEBIET. Über den Lettern schwebte ein stilisierter Adler, und auch von seinen Schwingen spreizten sich die Federn aus Farbe.
Der Junge spuckte ein Kaugummi in die flache Hand und klatschte es im Vorbeigehen auf das Schild.
Er brauchte zwei Stunden, um ein Nest zu finden. Zwei Stunden voller Schweiß und Dornenbüsche und Moskitos, die seine Haut mit leuchtend roten Flecken bedeckten. Er entdeckte das dichte Gewirr aus Zweigen in den oberen Ästen einer Pechkiefer, die kerzengerade und hoch aus dem feuchten Boden am Flussufer wuchs. Zweimal ging er um den Baum herum, aber er fand keine Federn auf dem Boden. Sonnenstrahlen spießten sich durch den Wald, und der Himmel war so hell und blau, dass ihm die Augen schmerzten. Das Nest war ein Punkt in der Höhe.
Er streifte den Rucksack ab und fing an zu klettern. Raue Rinde scheuerte an seiner sonnenverbrannten Haut. Wachsam und voller Angst hielt er beim Klettern Ausschau nach dem Adler. Ein ausgestopfter stand auf einem Sockel im Museum in Raleigh, und er sah wild aus. Die Augen waren aus Glas, aber die Schwingen hatten eine Spannweite von anderthalb Metern, und die Krallen waren so lang wie der Mittelfinger des Jungen. Der Schnabel konnte einem erwachsenen Mann die Ohren abreißen.
Er wollte nur eine Feder. Am liebsten eine saubere, weiße Schwanzfeder oder eine der riesigen braunen Federn aus der Schwinge, aber letzten Endes würde auch die kleinste Feder von der weichsten Stelle genügen, eine Stoppelfeder vielleicht, oder eine von der daunenweichen Unterseite der Schwinge bei der Schulter.
Eigentlich war es egal.
Magie war Magie.
Je höher er stieg, desto stärker bogen sich die Äste unter ihm. Der Wind bewegte den Baum und den Jungen mit ihm. Wenn es böig wurde, presste der Junge das Gesicht an die Rinde; sein Herz klopfte, und seine Fingerknöchel wurden weiß. Die Kiefer war eine Königin unter den Bäumen, so hoch, dass selbst der Fluss darunter zusammenschrumpfte.
Er näherte sich dem Wipfel. Aus dieser Nähe war das Nest so breit wie ein Esstisch, und es wog wahrscheinlich hundert Kilo. Es war Jahrzehnte alt, und es stank nach Moder und Scheiße und Kaninchenkadavern. Der Junge öffnete sich diesem Geruch und seiner Macht. Er verschob die Hand und stellte den Fuß auf einen Ast, der grau verwittert und ohne Rinde war. Unter ihm zog sich der Kiefernwald bis zu den fernen Bergen, und der Fluss wand sich schwarz und dunkel und glänzend wie Kohle dahin. Der Junge zog sich über den Rand des Nestes und sah die Küken, zwei Stück. Fahl und fleckig hockten sie in der Mulde. Sie rissen die splitterscharfen Schnäbel auf und bettelten um Futter, und der Junge hörte ein Geräusch wie von Bettlaken an der Leine bei aufkommendem Wind. Er riskierte einen Blick nach oben, und der Adler schoss aus dem makellosen Himmel herab. Einen Moment lang sah der Junge nur Federn, und dann schlugen die Schwingen herab, und die Klauen hoben sich.
Der Vogel kreischte.
Der Junge riss die Arme hoch, als die Klauen sich in ihn bohrten. Dann fiel er, und der Vogel – die Augen gelb und blitzend, die Klauen verhakt in seinem Hemd und seiner Haut –, der Vogel fiel mit ihm.
Um drei Uhr siebenundvierzig rollte ein Bus auf den Parkplatz vor der kleinen Tankstelle. Diesmal fuhr er nach Norden, und es war ein anderer Bus und ein anderer Fahrer. Die Tür öffnete sich klappernd, und eine Handvoll rheumatischer Leute stieg schlurfend aus. Der Fahrer war ein magerer Hispanic, fünfundzwanzig und müde aussehend. Er warf kaum einen Blick auf den dürren Jungen, der von der Bank aufstand und humpelnd zum Bus kam. Er nahm weder die zerrissenen Kleider wahr noch den Gesichtsausdruck, der an Verzweiflung grenzte. Und wenn da Blut an der Hand war, die ihm das Ticket reichte, schien es nicht Sache des Fahrers zu sein, dazu eine Bemerkung zu machen.
Der Junge ließ das Ticket los. Er zog sich die Stufen hinauf und versuchte die Fetzen seines Hemdes zusammenzuhalten. Sein Rucksack war schwer, platzte fast aus den Nähten, die an der Unterseite rot gefärbt waren. Ein Geruch hing an dem Jungen, ein Geruch von Schlamm und Fluss und etwas Rohem, aber auch das ging den Fahrer nichts an. Der Junge schob sich durch den halbdunklen Bus. Einmal taumelte er gegen eine Rückenlehne, dann war er ganz hinten und setzte sich auf einen Platz in der Ecke, wo er allein war. Er drückte seinen Rucksack an die Brust und zog die Füße auf den Sitz. Tiefe Löcher klafften in seiner Haut, und sein Hals war aufgerissen, aber niemand sah ihn an, niemanden kümmerte es. Er umklammerte den Rucksack fester und spürte die Wärme, die noch da war, den zerschmetterten Körper, der sich anfühlte wie ein Sack mit zerbrochenen Zweigen. Er sah die kleinen, flaumigen Küken vor sich, allein im Nest, allein und hungrig.
Der Junge wiegte sich in der Dunkelheit.
Er wiegte sich in der Dunkelheit und weinte bittere Tränen. EINS
Johnny hatte es bald gelernt. Wenn jemand ihn fragte, warum er so anders sei, warum er sich so still verhalte und warum seine Augen das Licht zu verschlucken schienen, dann war das seine Antwort. Er hatte bald gelernt, dass es keinen sicheren Ort gab, nicht im Garten und nicht auf dem Schulhof, nicht auf der Veranda und nicht auf der stillen Straße am Rand der Stadt. Keinen sicheren Ort und niemanden, der einen beschützte.
Die Kindheit war eine Illusion.
Er war seit einer Stunde auf und wartete darauf, dass die Nachtgeräusche schwanden und die Sonne sich so weit herauf-schob, dass man es Morgen nennen konnte. Es war Montag, und es war noch dunkel, aber Johnny schlief wenig. Als er aufwachte, waren die Fenster pechschwarz. Zweimal rüttelte er jede Nacht an den Riegeln und schaute hinaus auf die leere Straße und die ungepflasterte Einfahrt, die kalkweiß aussah, wenn der Mond aufging. Er sah nach seiner Mom, außer wenn Ken im Hause war. Ken war jähzornig, und er trug einen goldenen Ring, der einen tadellos ovalen Bluterguss hinterließ.
Auch das hatte er gelernt.
Johnny zog ein T-Shirt und ausgefranste Jeans an, ging zu seiner Zimmertür und öffnete sie einen Spalt breit. Licht fiel in den schmalen Korridor, und die Luft war verbraucht. Es roch nach Zigaretten und verschüttetem Alkohol, wahrscheinlich Bourbon. Einen Augenblick lang erinnerte Johnny sich daran, wie es früher am Morgen gerochen hatte: nach Eiern und Kaffee und dem herben Duft vom Rasierwasser seines Vaters. Es war eine gute Erinnerung, und deshalb schob er sie weg und erstickte sie. Davon wurde alles nur noch schwerer.
Der Flor des Plüschteppichs in der Diele war steif unter seinen Zehen. Die Tür zum Zimmer seiner Mutter hing lose im Rahmen. Es war eine Wabentür, nicht angestrichen, und sie passte nicht. Die Originaltür lag zersplittert im Garten, war vor einem Monat aus den Angeln getreten worden, als Ken und Johnnys Mutter spätabends aneinandergeraten waren. Sie hatte nie gesagt, weshalb sie sich gestritten hatten, aber Johnny vermutete, dass es um ihn gegangen war. Vor einem Jahr hätte Ken nicht einmal in die Nähe einer Frau wie sie kommen können, und Johnny ließ es ihn nie vergessen. Aber das war ein Jahr her. Ein ganzes Leben.
Sie hatten Ken schon seit Jahren gekannt. Das dachten sie zumindest. Johnnys Dad war Bauunternehmer, und Ken baute ganze Wohnviertel. Sie arbeiteten gut zusammen, weil Johnnys Dad schnell und tüchtig war, und weil Ken klug genug war, ihn zu respektieren. Deshalb war Ken immer freundlich und aufmerksam gewesen, auch nach der Entführung, bis zu dem Augenblick, als Johnnys Dad entschied, dass Schmerz und Schuldgefühle unerträglich wurden. Aber mit Dads Weggang war auch Kens Respekt verschwunden, und er kam immer öfter vorbei. Jetzt war er der Herr im Haus. Er isolierte Johnnys Mutter und hielt sie in Abhängigkeit von Alkohol und Medikamenten. Er sagte ihr, was sie tun sollte, und sie tat es. Brate ein Steak. Geh ins Schlafzimmer. Schließ die Tür ab.
Johnny nahm es mit seinen schwarzen Augen auf, und oft fand er sich unversehens nachts in der Küche wieder, legte drei Finger auf das große Messer im Holzblock, sah die weiche Mulde über Kens Brust vor sich und dachte darüber nach.
Der Mann war ein Raubtier, schlicht und einfach, und Johnnys Mutter war zu einem Nichts verblichen. Sie wog noch knappe fünfundvierzig Kilo und sah abgespannt wie eine Bettlägerige aus, doch Johnny entging nicht, wie die Männer sie anschauten und wie besitzergreifend Ken wurde, wenn sie das Haus einmal verließ. Ihre Haut war blass, aber makellos, und ihre Augen waren groß und tief und verwundet. Sie war dreiunddreißig und sah aus, wie ein Engel aussähe, wenn es ihn gäbe: dunkelhaarig, zerbrechlich, überirdisch. Wenn sie einen Raum betrat, hörten die Männer auf mit dem, was sie gerade taten. Sie starrten sie an, als ginge ein Leuchten von ihr aus, als könnte sie jeden Moment vom Boden abheben.
Ihr war das völlig gleichgültig. Schon bevor ihre Tochter verschwunden war, hatte sie kaum auf ihr Äußeres geachtet. Bluejeans und T-Shirts. Pferdeschwanz und gelegentlich ein bisschen Make-up. Sie hatte in einer kleinen, perfekten Welt gelebt, in der sie ihren Mann und ihre Kinder geliebt hatte. Sie hatte ihren Garten gepflegt, Freiwilligendienste in der Kirche geleistet und an Regentagen vor sich hin gesungen. Doch damit war es vorbei. Jetzt war da nur noch Stille und Leere und Schmerz, nur noch ein Schatten der Person, die sie einmal gewesen war. Aber die Schönheit war geblieben. Johnny sah sie jeden Tag, und jeden Tag verfluchte er die Vollkommenheit, mit der sie so umfassend gesegnet war. Wenn sie hässlich gewesen wäre, hätte Ken keine Verwendung für sie gehabt. Wenn sie hässliche Kinder bekommen hätte, würde seine Schwester immer noch im Nebenzimmer schlafen. Doch sie war wie eine Puppe, wie etwas halb Unwirkliches, das man in eine Vitrine einschließen sollte. Sie war der schönste Mensch, den Johnny je gekannt hatte, und das hasste er an ihr.
Er hasste es.
So sehr hatte sich sein Leben verändert.
Johnny betrachtete die Tür zum Zimmer seiner Mutter. Vielleicht war Ken da drin, vielleicht auch nicht. Er drückte das Ohr an das Holz, und der Atem blieb ihm im Halse stecken. Normalerweise merkte er es, aber er hatte tagelang nicht schlafen können, und als der Schlaf endlich kam, kam er mit Macht. Schwarz und reglos. Tief. Und als er aufwachte, tat er es mit Schrecken, als hätte er Glas zerbrechen hören.
Das war um drei Uhr gewesen.
Unsicher trat er von der Tür zurück und schlich durch den Korridor. Das Badezimmerlicht summte, als er es einschaltete. Der Medizinschrank stand offen, und er sah die Tabletten: Xanax, Prozac, ein paar blaue, ein paar gelbe. Er nahm ein Fläschchen und las, was auf dem Etikett stand. Vicodin. Das war neu. Das Xanax Fläschchen war offen, die Pillen lagen auf dem Waschtisch, und Johnny spürte, wie die Wut in ihm aufstieg. Das Xanax brachte Ken nach einem Abend mit dem guten Stoff wieder herunter.
Das war sein Ausdruck.
Der gute Stoff.
Johnny schraubte die Flasche zu und ging hinaus
Das Haus war eine Bruchbude, und er musste sich daran erinnern, dass es eigentlich nicht ihr Haus war. Ihr wirkliches Haus war sauber und gepflegt. Es hatte ein neues Dach, und er hatte mitgeholfen, es zu decken. In den Frühlingsferien war er jeden Tag auf die Leiter gestiegen und hatte seinem Dad die Schindeln angereicht, und er hatte einen Werkzeuggürtel voller Nägel gehabt, in den sein Name eingeritzt war. Es war ein gutes Haus mit Steinmauern und einem Garten, der mehr zu bieten hatte als harte Erde und Unkraut. Das Haus lag nur ein paar Meilen entfernt, aber ihm kam es weiter vor, in einer anderen Gegend mit schmucken Häusern auf großen, grünen Grundstücken. Es war voll von Erinnerungen, doch jetzt gehörte es der Bank. Die Bank hatte seiner Mutter ein paar Papiere gegeben und ein Schild in den Vorgarten gestellt.
Dieses hier war eins von Kens Mietshäusern. Er besaß ungefähr hundert davon, und Johnny nahm an, dass es wahrscheinlich das schlechteste war, eine beschissene Hütte weit draußen am Stadtrand. Die Küche war klein, mit grünen Metallschränken und einem abgenutzten Linoleumboden, der sich in den Ecken nach oben bog. Eine Glühbirne brannte über dem Herd, und Johnny drehte sich langsam um sich selbst. Es sah ekelhaft aus: Zigarettenstummel in einer Untertasse, leere Flaschen und Schnapsgläser. Der Spiegel lag auf dem Küchentisch, und im Licht sah Johnny die Reste von weißem Pulver. Bei dem Anblick breitete sich ein kaltes Gefühl in seiner Brust aus. Ein zusammengerollter Hundert-Dollar-Schein war auf den Boden gefallen. Johnny hob ihn auf und strich ihn glatt. Er hatte seit einer Woche nichts Richtiges mehr gegessen, und Ken zog sich hier den Koks mit einem Hunderter in die Nase.
Er nahm den Spiegel, wischte ihn mit einem feuchten Tuch ab und hängte ihn wieder an die Wand. Sein Vater hatte immer in diesen Spiegel geschaut, und Johnny sah ihn noch vor sich, wie er sonntags an seinem Schlipsknoten arbeitete, mit großen, steifen Fingern und einer unnachgiebigen Krawatte. Seinen Anzug trug er nur, wenn er in die Kirche ging, und es machte ihn verlegen, wenn er merkte, dass sein Sohn ihn beobachtete. Johnny sah, wie er plötzlich errötete und dann verlegen lächelte. »Dem Himmel sei Dank für deine Mutter«, sagte er dann, und sie band ihm die Krawatte.
Seine Hände in ihrem Kreuz.
Der Kuss und das Augenzwinkern danach.
Johnny wischte noch einmal über den Spiegel und rückte ihn gerade, ein paarmal hin und her, bis er genau richtig hing.
Die Tür zur Vorderveranda bewegte sich steif in den Angeln, und Johnny trat hinaus in den klammen, dunklen Morgen. Fünfzig Meter weiter unten an der Straße flackerte eine Laterne. Autoscheinwerfer erklommen eine ferne Anhöhe.
Kens Wagen war nicht da, und Johnny empfand schändliche, beglückende Erleichterung. Ken wohnte auf der anderen Seite der Stadt in einem großen Haus mit sauberem Anstrich, breiten Fenstern und einer Vierergarage. Johnny atmete tief durch, dachte an seine Mutter, wie sie sich über den Spiegel beugte, und sagte sich, sie sei noch nicht so weit hinüber. Das hier war Kens Stoff, nicht ihrer. Gewaltsam lockerte er die Fäuste. Die Luft war frisch, und er konzentrierte sich auf sie. Es war ein neuer Tag, sagte er sich, da konnte etwas Gutes passieren. Aber der Morgen war schlecht für seine Mutter. Es gab da einen Moment, wenn sie die Augen öffnete, einen Flash, bevor sie sich erinnerte, dass man ihre ein - zige Tochter nie gefunden hatte.
Johnnys Schwester.
Seine Zwillingsschwester.
Alyssa war drei Minuten nach ihm zur Welt gekommen, und sie waren einander so ähnlich, wie zweieiige Zwillinge es nur sein konnten. Sie hatten das gleiche Haar, das gleiche Gesicht, das gleiche Lachen. Sie war ein Mädchen, okay, aber schon auf fünf Schritte war es schwer, sie beide auseinanderzuhalten. Ihre Haltung war die gleiche, ihr Gang war der gleiche. Meistens wachten sie morgens um dieselbe Zeit auf, obwohl sie in verschiedenen Zimmern schliefen. Johnnys Mom erzählte, sie hätten eine eigene Sprache gesprochen, als sie klein waren, doch daran konnte er sich nicht erinnern. Er erinnerte sich nur, dass er die meiste Zeit seines Lebens nie allein gewesen war. Es gab ein spezielles Gefühl der Zusammengehörigkeit, das nur sie beide wirklich verstanden
hatten. Aber Alyssa war fort, und alles andere mit ihr. Das war die unausweichliche Wahrheit, und sie hatte seine Mutter ausgehöhlt. Also tat Johnny, was er konnte. Er kontrollierte abends die Türschlösser und Fensterriegel und räumte den Dreck weg. Heute brauchte er zwanzig Minuten dazu. Dann setzte er den Kaffee auf und dachte an den zusammengerollten Geldschein.
Hundert Dollar.
Essen und Kleidung.
Er machte einen letzten Kontrollgang durch das Haus. Flaschen – weg. Koksspuren – weg. Er öffnete Fenster und ließ die Welt herein, dann warf er einen Blick in den Kühlschrank. Im Milchkarton rasselte es, als er ihn schüttelte. Ein einsames Ei in der Pappe. Er öffnete die Handtasche seiner Mutter. Sie hatte neun Dollar und etwas Kleingeld. Johnny ließ das Geld drin und klappte die Tasche zu. Er ließ Wasser in ein Glas laufen, schüttelte zwei Aspirin aus dem Röhrchen, ging durch den Flur und öffnete die Tür seiner Mutter.
Das erste rohe Licht der Morgendämmerung drängte an die Fensterscheibe, eine orangegelbe Wölbung hinter den schwarzen Bäumen. Seine Mutter lag auf der Seite, das Haar war ihr über das Gesicht gefallen. Illustrierte und Bücher bedeckten den Nachttisch. Er machte Platz für das Wasserglas und legte die beiden Tabletten auf das narbige Holz. Einen Moment lang lauschte er ihrem Atem, dann fiel sein Blick auf die Geldscheine, die Ken neben dem Bett hinterlassen hatte. Ein paar Zwanziger, ein Fünfziger. Ein paar hundert Dollar vielleicht, zerknüllt und verschmiert.
Von einer Rolle heruntergeblättert.Hingeworfen.
Der Wagen in der Einfahrt war alt, ein Kombi, den Johnnys Vater vor Jahren gekauft hatte. Der Lack war sauber und gewachst, und der Reifendruck wurde jede Woche kontrolliert, aber das war alles, was Johnny konnte. Noch immer quoll blauer Qualm aus dem Auspuff, wenn er den Zündschlüssel umdrehte, und das Beifahrerfenster ließ sich nicht vollständig schließen. Er wartete, bis der Qualm weiß wurde, dann legte er den Rückwärtsgang ein und rollte bis zum Ende der Einfahrt. Er hatte natürlich keinen Führerschein, deshalb sah er sich wachsam um, bevor er langsam auf die Straße hinausfuhr. Er hielt die Geschwindigkeit niedrig und blieb auf den Nebenstraßen. Der nächste Supermarkt war nur zwei Meilen weit entfernt, aber er war groß und lag an einer Hauptstraße, und Johnny wusste, dass man ihn dort vielleicht erkennen würde. Deshalb fuhr er noch drei Meilen weiter zu einem kleinen Laden, dessen Kundschaft schäbiger war. Das Benzin kostete Geld, und die Lebensmittel waren teurer, doch ihm blieb keine andere Wahl. Das Jugendamt war schon zweimal bei ihnen gewesen.
Der Wagen verschwand zwischen denen, die bereits dastanden. Zum größten Teil waren es alte, amerikanische Fabrikate. Ein dunkler Personenwagen rollte hinter ihm auf den Parkplatz und hielt in der Nähe des Eingangs an. Das Sonnenlicht spiegelte sich in den Fenstern, und ein einzelner, gesichtsloser Mann saß am Steuer. Er stieg nicht aus, und Johnny beobachtete ihn, während er auf den Laden zuging.
Er hatte große Angst vor einzelnen Männern in parkenden Autos.
Der Einkaufswagen wackelte, als er ihn den Gang hinauf und den zweiten wieder hinunter schob. Nur das Nötigste, entschied er: Milch, Saft, Speck, Eier, Sandwichbrot, Obst. Er kaufte neues Aspirin für seine Mutter. Tomatensaft schien ihr auch zu helfen.
Der Cop erwartete ihn am Ende von Gang acht. Er war groß und breitschultrig, hatte braune Augen, die zu sanft waren für die Falten in seinem Gesicht und die harten Konturen seines Kiefers. Er hatte keinen Einkaufswagen. Mit den Händen in den Taschen stand er da, und Johnny begriff auf den ersten Blick, dass er ihm gefolgt war. Er hatte diesen Blick. Eine Art von geduldiger Resignation.
Und Johnny wollte weglaufen.
»Hey, Johnny«, sagte der Cop. »Wie geht’s?«
Sein Haar war länger, als Johnny es in Erinnerung hatte. Es war so braun wie seine Augen und fiel in strähnigen Locken über den Kragen, an den Seiten durchzogen von ein paar neuen silbernen Fäden. Sein Gesicht war schmaler geworden, und in einem Winkel seines Herzens erkannte Johnny, dass das Jahr für ihn ebenfalls hart gewesen war. So groß der Cop auch war, er wirkte niedergedrückt und gehetzt. Aber so sah in Johnnys Augen fast die ganze Welt aus, und deshalb war er nicht sicher. Die Stimme des Mannes klang tief und teilnahmsvoll. Sie weckte so viele schlimme Erinnerungen, dass Johnny sich einen Augenblick lang weder rühren noch sprechen konnte. Der Cop kam näher und zeigte den nachdenklichen Gesichtsausdruck, den Johnny so oft gesehen hatte, den gleichen sanften, sorgenvollen Blick. Ein Teil seiner selbst hätte den Mann gerne gemocht und ihm vertraut, aber es war immer noch derselbe Mann, der zugelassen hatte, dass Alyssa sich in nichts auflöste. Er war immer noch derjenige, der sie verloren hatte.
»Ganz gut«, sagte Johnny. »Sie wissen schon. Man schlägt sich durch.«
Der Cop warf einen Blick auf die Uhr, dann auf Johnnys schmuddelige Kleider und sein ungebärdiges schwarzes Haar. Es war zwanzig vor sieben an einem Schultag. »Was von deinem Vater gehört?«, fragte er.
»Nein.« Johnny bemühte sich, die plötzliche Scham zu verbergen. »Nichts.«
»Das tut mir leid.«
Der Augenblick dehnte sich in die Länge, aber der Cop rührte sich nicht. Der Blick seiner braunen Augen blieb fest, und aus der Nähe sah er noch genauso groß und ruhig aus wie beim ersten Mal, als er in Johnnys Haus gekommen war. Aber das war eine andere Erinnerung, und deshalb starrte Johnny das breite Handgelenk des Mannes an, die sauberen, stumpfen Fingernägel. Seine Stimme war brüchig, als er sprach. »Meine Mutter hat einmal einen Brief gekriegt. Sie sagt, er war in Chicago und wollte vielleicht nach Kalifornien.« Er schwieg, und sein Blick wanderte von der Hand zum Boden. »Der kommt schon wieder.«
Johnny sagte es ohne Überzeugung. Der Cop nickte einmal und wandte den Kopf ab. Spencer Merrimon war zwei Wochen nach der Entführung seiner Tochter verschwunden. Zu viel Schmerz. Zu viele Schuldgefühle. Seine Frau ließ ihn keinen Augenblick lang vergessen, dass er das Mädchen hatte abholen sollen, ließ ihn nie vergessen, dass das Kind niemals in der Abenddämmerung die Straße entlanggegangen wäre, wenn er getan hätte, was er hätte tun sollen.
»Es war nicht seine Schuld«, sagte Johnny.
»Das habe ich nie behauptet.«
»Er hat gearbeitet. Er hat nicht auf die Zeit geachtet. Es war nicht seine Schuld.«
»Wir alle machen Fehler, mein Junge. Jeder von uns. Dein Vater ist ein guter Mann. Daran darfst du niemals zweifeln.«
»Tu ich nicht.« Johnny klang plötzlich gereizt.»Ist okay.«
»Das würde ich niemals tun.« Johnny spürte, dass die Farbe aus seinem Gesicht wich. Er wusste nicht, wann er das letzte Mal so viel zu einem Erwachsenen gesagt hatte, doch der Cop hatte irgendetwas an sich. Er war steinalt, bestimmt vierzig, aber er überstürzte nie etwas, und sein Gesicht hatte etwas Warmes, eine Freundlichkeit, die nicht gespielt wirkte, nicht dazu gedacht, einen Jungen auszutricksen, damit er ihm vertraute. Seine Augen waren immer still, und im Grunde seines Herzens hoffte Johnny, dass der Mann als Polizist gut genug war, um noch alles in Ordnung zu bringen. Aber inzwischen war ein Jahr vergangen, und seine Schwester war nach wie vor verschwunden. Johnny musste sich um die Gegenwart kümmern, und in der Gegenwart war dieser Cop kein Freund.
Da war das Jugendamt, das nur auf einen Vorwand wartete. Dazu kam das, was Johnny tat und wohin er ging, wenn er die Schule schwänzte – die Risiken, die er einging, wenn er sich nach Mitternacht hinausschlich. Wenn der Cop wüsste, was Johnny tat, wäre er gezwungen, etwas zu unternehmen. Pflegeeltern. Gericht.
Er würde Johnny stoppen, wenn er könnte.
»Wie geht’s deiner Mom?«, fragte der Cop. Sein Blick war durchdringend, und seine Hand lag auf dem Einkaufswagen.
»Müde«, sagte Johnny. »Lupus, wissen Sie. Sie wird schnell müde.«
Zum ersten Mal runzelte der Cop die Stirn. »Beim letzten Mal, als ich dich hier gefunden habe, hast du gesagt, sie hat die Lyme Krankheit.«
Er hatte recht. »Nein. Lupus, habe ich gesagt.«
Der Blick des Cops wurde milder, und er nahm die Hand vom Wagen. »Es gibt Leute, die helfen wollen. Leute, die das verstehen.«
Plötzlich war Johnny wütend. Niemand verstand es, und niemand bot seine Hilfe an. Nie. »Sie ist nur ein bisschen angeschlagen. Abgespannt.«
Der Cop sah über die Lüge hinweg, aber sein Gesicht blieb traurig. Sein Blick fiel auf das Aspirinfläschchen, auf den Tomatensaft, und es war offensichtlich, dass er über Trinker und Junkies besser Bescheid wusste als die meisten. »Du bist nicht der Einzige, der leidet, Johnny. Du bist nicht allein.«
»Allein genug.«
Der Cop seufzte tief. Er nahm eine Karte aus der Tasche und schrieb eine Nummer auf die Rückseite. Dann gab er sie dem Jungen. »Wenn du je etwas brauchen solltest.« Er sah entschlossen aus. »Tag und Nacht. Das meine ich ernst.«
Johnny warf einen Blick auf die Karte und steckte sie in die Tasche seiner Jeans. »Wir kommen zurecht«, sagte er und schob den Einkaufswagen um den Cop herum. Der Cop legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Wenn er dich noch mal schlägt ... «
Johnny erstarrte.
»Oder deine Mutter ... «
Johnny schüttelte die Hand ab. »Wir kommen zurecht«, wiederholte er. »Ich hab alles im Griff.«
Er drängte sich an dem Cop vorbei und hatte eine Riesenangst, er könnte ihn festhalten und noch mehr Fragen stellen oder eine der hartgesichtigen Frauen vom Jugendamt rufen.
Der Einkaufswagen schrammte an der Kassentheke vorbei, und die dicke Frau auf dem abgenutzten Hocker senkte den Kopf und zog die Brauen hoch. Sie war neu im Laden, und Johnny erkannte die Frage in ihrem Blick. Er war dreizehn, aber er sah ein paar Jahre jünger aus. Er zog den Hunderter aus der Tasche und legte ihn mit der Vorderseite nach oben auf das Fließband. »Können Sie bitte schnell machen?«
Sie ließ eine Kaugummiblase platzen und runzelte die Stirn. »Immer mit der Ruhe, Schätzchen. Geht gleich los.«
Der Cop trödelte drei Schritte hinter ihm, und Johnny fühlte seinen Blick im Rücken, während die dicke Frau die Einkäufe in die Kasse tippte. Johnny zwang sich zu atmen, und nach einer
Weile ging der Cop an ihm vorbei. »Heb die Karte gut auf«, sagte er.
»Okay.« Johnny brachte es nicht über sich, ihm in die Augen zu sehen.
Der Cop drehte sich um, und sein Lächeln war nicht entspannt. »Es ist immer gut, dich zu sehen, Johnny.«
Er verließ den Supermarkt, und Johnny sah ihn durch die breite Schaufensterscheibe. Er kam an dem Kombi vorbei, kehrte um und blieb kurz stehen. Er spähte durch das Seitenfenster und ging dann nach hinten, um einen Blick auf das Kennzeichen zu werfen. Anscheinend zufriedengestellt, näherte er sich seinem Wagen und öffnete die Tür. Er schob sich ins Halbdunkel und blieb sitzen.Er wartete.
Johnny versuchte seinen rasenden Herzschlag zu bremsen und griff nach dem Wechselgeld in der feuchten, fleischigen Hand der Kassiererin.
Der Cop hieß Clyde Lafayette Hunt. Detective. Das stand auf seiner Karte. Johnny hatte eine ganze Sammlung davon in seiner obersten Schublade, versteckt unter den Strümpfen und einem Foto von seinem Dad. Manchmal dachte er an die Telefonnummer auf der Karte, aber dann dachte er an Waisenhäuser und Pflegestellen. Er dachte an seine verschwundene Schwester und an das Bleirohr zwischen seinem Bett und der Wand, aus der kalte Luft sickerte. Wahrscheinlich meinte der Cop es ernst mit dem, was er sagte. Wahrscheinlich war er in Ordnung. Aber Johnny konnte ihn nie ansehen, ohne an Alyssa zu denken, und solche Gedanken erforderten Konzentration. Er musste sie lebendig und lächelnd vor sich sehen, nicht in einem Keller mit festgestampftem Lehmboden oder im Kofferraum irgendeines Autos. Sie war zwölf, als er sie zuletzt gesehen hatte. Zwölf Jahre alt, mit schwarzem Haar, kurz geschnitten wie bei einem Jungen. Der Einzige, der gesehen hatte, was passiert war, hatte erzählt, sie sei geradewegs auf den Wagen zugegangen und habe gelächelt, als die Wagentür sich öffnete.
Hatte gelächelt, bis jemand sie packte.
Johnny hörte dieses Wort ständig. Gelächelt. Als sei es in seinem Kopf hängen geblieben – ein einziges Wort auf einer Ton-
Copyright © 2009 by Johna Hart
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe beim C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
Übersetzung:»Rainer Schmidt«
Der Fahrer war abgestumpft, aber in seinem Bus hielt er Ordnung. Betrunkenheit, schlechtes Benehmen und lautes Gerede tolerierte er nicht. So hatte seine Momma ihn vor fünfzig Jahren erzogen, und er sah keinen Grund, daran etwas zu ändern. Also hatte er ein Auge auf den Jungen und auf den angespannten, schwitzenden Mann mit dem eifrigen Blick. Er beobachtete, wie der Mann den Jungen beobachtete, und sah, wie er sich auf dem speckigen Sitz zurücklehnte, als das Messer zum Vorschein kam.
Der Junge tat es ganz beiläufig: Er zog es aus der Tasche und ließ die Klinge mit dem Daumen herausschnappen. Er hielt es einen Augenblick lang so, dass man es sehen konnte, und dann nahm er einen Apfel aus seinem Rucksack und zerschnitt ihn mit einer scharfen, sauberen Bewegung. Der Duft erhob sich über die fleckigen Sitze und den schmutzigen Boden. Noch durch den Dieselgestank roch der Fahrer das bittersüße Aroma. Der Junge warf einen kurzen Blick auf die aufgerissenen Augen und das glänzende, ausgelaugte Gesicht des Mannes; dann klappte er das Messer zu und steckte es ein.
Der Fahrer entspannte sich und schaute wieder eine ganze Weile unverwandt nach vorn auf die Straße. Der Junge kam ihm bekannt vor, aber das Gefühl verging gleich wieder. Dreißig Jahre. Er ließ seinen massigen Körper tiefer in den Sitz sinken.
Er hatte schon so viele Jungen gesehen.
So viele, die wegliefen.
Immer, wenn der Fahrer ihn ansah, spürte der Junge es. Das war eine Begabung, die er hatte, ein Talent. Trotz der dunklen Sonnenbrille und der weiten Wölbung im Rückspiegel konnte er es spüren. Es war seine dritte Fahrt mit diesem Bus, die dritte in drei Wochen. Er saß immer auf einem anderen Platz und trug immer andere Kleidung, aber vermutlich würde ihn früher oder später jemand fragen, wieso er um sieben Uhr morgens an einem Schultag mit dem Bus quer durch den Staat fuhr. Und er nahm an, die Frage würde vom Fahrer kommen.
Aber noch war sie nicht gekommen.
Der Junge schaute aus dem Fenster und drehte die Schultern so, dass niemand mehr versuchen würde, ihn anzusprechen. Er beobachtete die Spiegelungen im Glas, die Bewegungen und die Gesichter. Er dachte an himmelhohe Bäume und braune Federn mit Schnee auf den Spitzen.
Das Messer lag wie ein Klumpen in seiner Tasche.
Vierzig Minuten später stoppte der Bus wippend vor einer einräumigen Tankstelle irgendwo in der endlosen Weite aus Kiefern, Gestrüpp und heißer, sandiger Erde. Der Junge schob sich durch
den Gang nach vorn und sprang von der unteren Stufe, bevor der Fahrer erwähnen konnte, dass auf dem Parkplatz nichts als ein Abschleppwagen wartete und dass kein Erwachsener da war, der den Jungen in seine Obhut nehmen konnte – einen Dreizehnjährigen, der aussah, als sei er gerade zehn. Der Junge hielt den Kopf abgewandt, sodass ihm die Sonne in den Nacken brannte, und hüpfte ein paarmal, um den Rucksack auf seinem Rücken zurechtzuschieben. Eine Dieselwolke stieg auf, der Bus setzte sich schaukelnd in Bewegung und rollte in Richtung Süden davon.
Die Tankstelle bestand aus zwei Zapfsäulen, einer langen Bank und einem dürren alten Mann in einem ölfleckigen blauen Overall. Der Mann nickte nur hinter der verschmierten Glasscheibe und kam nicht heraus in die Hitze. Der Getränkeautomat im Schatten des Gebäudes war so alt, dass der Preis auf dem Schild nur fünfzig Cent betrug. Der Junge wühlte fünf dünne Zehn-Cent-Münzen aus der Tasche und wählte ein Traubensoda. Die kalte Glasflasche polterte unten aus dem Schacht. Er hebelte den Kronkorken herunter, schlug die Richtung ein, aus der der Bus gekommen war, und ging auf der staubigen Straße davon, die sich vor ihm wand wie eine schwarze Schlange.
Nach drei Meilen und zwei Kurven verschlechterte sich die Straße; aus Asphalt wurde Schotter, und der Schotter wurde spärlich. Das Schild hatte sich nicht verändert, seit er es zuletzt gesehen hatte. Es war alt und verwittert, und die abblätternde Farbe hob sich wie Federn von dem Holz darunter: ALLIGATOR RIVER RAUBVOGEL-SCHUTZGEBIET. Über den Lettern schwebte ein stilisierter Adler, und auch von seinen Schwingen spreizten sich die Federn aus Farbe.
Der Junge spuckte ein Kaugummi in die flache Hand und klatschte es im Vorbeigehen auf das Schild.
Er brauchte zwei Stunden, um ein Nest zu finden. Zwei Stunden voller Schweiß und Dornenbüsche und Moskitos, die seine Haut mit leuchtend roten Flecken bedeckten. Er entdeckte das dichte Gewirr aus Zweigen in den oberen Ästen einer Pechkiefer, die kerzengerade und hoch aus dem feuchten Boden am Flussufer wuchs. Zweimal ging er um den Baum herum, aber er fand keine Federn auf dem Boden. Sonnenstrahlen spießten sich durch den Wald, und der Himmel war so hell und blau, dass ihm die Augen schmerzten. Das Nest war ein Punkt in der Höhe.
Er streifte den Rucksack ab und fing an zu klettern. Raue Rinde scheuerte an seiner sonnenverbrannten Haut. Wachsam und voller Angst hielt er beim Klettern Ausschau nach dem Adler. Ein ausgestopfter stand auf einem Sockel im Museum in Raleigh, und er sah wild aus. Die Augen waren aus Glas, aber die Schwingen hatten eine Spannweite von anderthalb Metern, und die Krallen waren so lang wie der Mittelfinger des Jungen. Der Schnabel konnte einem erwachsenen Mann die Ohren abreißen.
Er wollte nur eine Feder. Am liebsten eine saubere, weiße Schwanzfeder oder eine der riesigen braunen Federn aus der Schwinge, aber letzten Endes würde auch die kleinste Feder von der weichsten Stelle genügen, eine Stoppelfeder vielleicht, oder eine von der daunenweichen Unterseite der Schwinge bei der Schulter.
Eigentlich war es egal.
Magie war Magie.
Je höher er stieg, desto stärker bogen sich die Äste unter ihm. Der Wind bewegte den Baum und den Jungen mit ihm. Wenn es böig wurde, presste der Junge das Gesicht an die Rinde; sein Herz klopfte, und seine Fingerknöchel wurden weiß. Die Kiefer war eine Königin unter den Bäumen, so hoch, dass selbst der Fluss darunter zusammenschrumpfte.
Er näherte sich dem Wipfel. Aus dieser Nähe war das Nest so breit wie ein Esstisch, und es wog wahrscheinlich hundert Kilo. Es war Jahrzehnte alt, und es stank nach Moder und Scheiße und Kaninchenkadavern. Der Junge öffnete sich diesem Geruch und seiner Macht. Er verschob die Hand und stellte den Fuß auf einen Ast, der grau verwittert und ohne Rinde war. Unter ihm zog sich der Kiefernwald bis zu den fernen Bergen, und der Fluss wand sich schwarz und dunkel und glänzend wie Kohle dahin. Der Junge zog sich über den Rand des Nestes und sah die Küken, zwei Stück. Fahl und fleckig hockten sie in der Mulde. Sie rissen die splitterscharfen Schnäbel auf und bettelten um Futter, und der Junge hörte ein Geräusch wie von Bettlaken an der Leine bei aufkommendem Wind. Er riskierte einen Blick nach oben, und der Adler schoss aus dem makellosen Himmel herab. Einen Moment lang sah der Junge nur Federn, und dann schlugen die Schwingen herab, und die Klauen hoben sich.
Der Vogel kreischte.
Der Junge riss die Arme hoch, als die Klauen sich in ihn bohrten. Dann fiel er, und der Vogel – die Augen gelb und blitzend, die Klauen verhakt in seinem Hemd und seiner Haut –, der Vogel fiel mit ihm.
Um drei Uhr siebenundvierzig rollte ein Bus auf den Parkplatz vor der kleinen Tankstelle. Diesmal fuhr er nach Norden, und es war ein anderer Bus und ein anderer Fahrer. Die Tür öffnete sich klappernd, und eine Handvoll rheumatischer Leute stieg schlurfend aus. Der Fahrer war ein magerer Hispanic, fünfundzwanzig und müde aussehend. Er warf kaum einen Blick auf den dürren Jungen, der von der Bank aufstand und humpelnd zum Bus kam. Er nahm weder die zerrissenen Kleider wahr noch den Gesichtsausdruck, der an Verzweiflung grenzte. Und wenn da Blut an der Hand war, die ihm das Ticket reichte, schien es nicht Sache des Fahrers zu sein, dazu eine Bemerkung zu machen.
Der Junge ließ das Ticket los. Er zog sich die Stufen hinauf und versuchte die Fetzen seines Hemdes zusammenzuhalten. Sein Rucksack war schwer, platzte fast aus den Nähten, die an der Unterseite rot gefärbt waren. Ein Geruch hing an dem Jungen, ein Geruch von Schlamm und Fluss und etwas Rohem, aber auch das ging den Fahrer nichts an. Der Junge schob sich durch den halbdunklen Bus. Einmal taumelte er gegen eine Rückenlehne, dann war er ganz hinten und setzte sich auf einen Platz in der Ecke, wo er allein war. Er drückte seinen Rucksack an die Brust und zog die Füße auf den Sitz. Tiefe Löcher klafften in seiner Haut, und sein Hals war aufgerissen, aber niemand sah ihn an, niemanden kümmerte es. Er umklammerte den Rucksack fester und spürte die Wärme, die noch da war, den zerschmetterten Körper, der sich anfühlte wie ein Sack mit zerbrochenen Zweigen. Er sah die kleinen, flaumigen Küken vor sich, allein im Nest, allein und hungrig.
Der Junge wiegte sich in der Dunkelheit.
Er wiegte sich in der Dunkelheit und weinte bittere Tränen. EINS
Johnny hatte es bald gelernt. Wenn jemand ihn fragte, warum er so anders sei, warum er sich so still verhalte und warum seine Augen das Licht zu verschlucken schienen, dann war das seine Antwort. Er hatte bald gelernt, dass es keinen sicheren Ort gab, nicht im Garten und nicht auf dem Schulhof, nicht auf der Veranda und nicht auf der stillen Straße am Rand der Stadt. Keinen sicheren Ort und niemanden, der einen beschützte.
Die Kindheit war eine Illusion.
Er war seit einer Stunde auf und wartete darauf, dass die Nachtgeräusche schwanden und die Sonne sich so weit herauf-schob, dass man es Morgen nennen konnte. Es war Montag, und es war noch dunkel, aber Johnny schlief wenig. Als er aufwachte, waren die Fenster pechschwarz. Zweimal rüttelte er jede Nacht an den Riegeln und schaute hinaus auf die leere Straße und die ungepflasterte Einfahrt, die kalkweiß aussah, wenn der Mond aufging. Er sah nach seiner Mom, außer wenn Ken im Hause war. Ken war jähzornig, und er trug einen goldenen Ring, der einen tadellos ovalen Bluterguss hinterließ.
Auch das hatte er gelernt.
Johnny zog ein T-Shirt und ausgefranste Jeans an, ging zu seiner Zimmertür und öffnete sie einen Spalt breit. Licht fiel in den schmalen Korridor, und die Luft war verbraucht. Es roch nach Zigaretten und verschüttetem Alkohol, wahrscheinlich Bourbon. Einen Augenblick lang erinnerte Johnny sich daran, wie es früher am Morgen gerochen hatte: nach Eiern und Kaffee und dem herben Duft vom Rasierwasser seines Vaters. Es war eine gute Erinnerung, und deshalb schob er sie weg und erstickte sie. Davon wurde alles nur noch schwerer.
Der Flor des Plüschteppichs in der Diele war steif unter seinen Zehen. Die Tür zum Zimmer seiner Mutter hing lose im Rahmen. Es war eine Wabentür, nicht angestrichen, und sie passte nicht. Die Originaltür lag zersplittert im Garten, war vor einem Monat aus den Angeln getreten worden, als Ken und Johnnys Mutter spätabends aneinandergeraten waren. Sie hatte nie gesagt, weshalb sie sich gestritten hatten, aber Johnny vermutete, dass es um ihn gegangen war. Vor einem Jahr hätte Ken nicht einmal in die Nähe einer Frau wie sie kommen können, und Johnny ließ es ihn nie vergessen. Aber das war ein Jahr her. Ein ganzes Leben.
Sie hatten Ken schon seit Jahren gekannt. Das dachten sie zumindest. Johnnys Dad war Bauunternehmer, und Ken baute ganze Wohnviertel. Sie arbeiteten gut zusammen, weil Johnnys Dad schnell und tüchtig war, und weil Ken klug genug war, ihn zu respektieren. Deshalb war Ken immer freundlich und aufmerksam gewesen, auch nach der Entführung, bis zu dem Augenblick, als Johnnys Dad entschied, dass Schmerz und Schuldgefühle unerträglich wurden. Aber mit Dads Weggang war auch Kens Respekt verschwunden, und er kam immer öfter vorbei. Jetzt war er der Herr im Haus. Er isolierte Johnnys Mutter und hielt sie in Abhängigkeit von Alkohol und Medikamenten. Er sagte ihr, was sie tun sollte, und sie tat es. Brate ein Steak. Geh ins Schlafzimmer. Schließ die Tür ab.
Johnny nahm es mit seinen schwarzen Augen auf, und oft fand er sich unversehens nachts in der Küche wieder, legte drei Finger auf das große Messer im Holzblock, sah die weiche Mulde über Kens Brust vor sich und dachte darüber nach.
Der Mann war ein Raubtier, schlicht und einfach, und Johnnys Mutter war zu einem Nichts verblichen. Sie wog noch knappe fünfundvierzig Kilo und sah abgespannt wie eine Bettlägerige aus, doch Johnny entging nicht, wie die Männer sie anschauten und wie besitzergreifend Ken wurde, wenn sie das Haus einmal verließ. Ihre Haut war blass, aber makellos, und ihre Augen waren groß und tief und verwundet. Sie war dreiunddreißig und sah aus, wie ein Engel aussähe, wenn es ihn gäbe: dunkelhaarig, zerbrechlich, überirdisch. Wenn sie einen Raum betrat, hörten die Männer auf mit dem, was sie gerade taten. Sie starrten sie an, als ginge ein Leuchten von ihr aus, als könnte sie jeden Moment vom Boden abheben.
Ihr war das völlig gleichgültig. Schon bevor ihre Tochter verschwunden war, hatte sie kaum auf ihr Äußeres geachtet. Bluejeans und T-Shirts. Pferdeschwanz und gelegentlich ein bisschen Make-up. Sie hatte in einer kleinen, perfekten Welt gelebt, in der sie ihren Mann und ihre Kinder geliebt hatte. Sie hatte ihren Garten gepflegt, Freiwilligendienste in der Kirche geleistet und an Regentagen vor sich hin gesungen. Doch damit war es vorbei. Jetzt war da nur noch Stille und Leere und Schmerz, nur noch ein Schatten der Person, die sie einmal gewesen war. Aber die Schönheit war geblieben. Johnny sah sie jeden Tag, und jeden Tag verfluchte er die Vollkommenheit, mit der sie so umfassend gesegnet war. Wenn sie hässlich gewesen wäre, hätte Ken keine Verwendung für sie gehabt. Wenn sie hässliche Kinder bekommen hätte, würde seine Schwester immer noch im Nebenzimmer schlafen. Doch sie war wie eine Puppe, wie etwas halb Unwirkliches, das man in eine Vitrine einschließen sollte. Sie war der schönste Mensch, den Johnny je gekannt hatte, und das hasste er an ihr.
Er hasste es.
So sehr hatte sich sein Leben verändert.
Johnny betrachtete die Tür zum Zimmer seiner Mutter. Vielleicht war Ken da drin, vielleicht auch nicht. Er drückte das Ohr an das Holz, und der Atem blieb ihm im Halse stecken. Normalerweise merkte er es, aber er hatte tagelang nicht schlafen können, und als der Schlaf endlich kam, kam er mit Macht. Schwarz und reglos. Tief. Und als er aufwachte, tat er es mit Schrecken, als hätte er Glas zerbrechen hören.
Das war um drei Uhr gewesen.
Unsicher trat er von der Tür zurück und schlich durch den Korridor. Das Badezimmerlicht summte, als er es einschaltete. Der Medizinschrank stand offen, und er sah die Tabletten: Xanax, Prozac, ein paar blaue, ein paar gelbe. Er nahm ein Fläschchen und las, was auf dem Etikett stand. Vicodin. Das war neu. Das Xanax Fläschchen war offen, die Pillen lagen auf dem Waschtisch, und Johnny spürte, wie die Wut in ihm aufstieg. Das Xanax brachte Ken nach einem Abend mit dem guten Stoff wieder herunter.
Das war sein Ausdruck.
Der gute Stoff.
Johnny schraubte die Flasche zu und ging hinaus
Das Haus war eine Bruchbude, und er musste sich daran erinnern, dass es eigentlich nicht ihr Haus war. Ihr wirkliches Haus war sauber und gepflegt. Es hatte ein neues Dach, und er hatte mitgeholfen, es zu decken. In den Frühlingsferien war er jeden Tag auf die Leiter gestiegen und hatte seinem Dad die Schindeln angereicht, und er hatte einen Werkzeuggürtel voller Nägel gehabt, in den sein Name eingeritzt war. Es war ein gutes Haus mit Steinmauern und einem Garten, der mehr zu bieten hatte als harte Erde und Unkraut. Das Haus lag nur ein paar Meilen entfernt, aber ihm kam es weiter vor, in einer anderen Gegend mit schmucken Häusern auf großen, grünen Grundstücken. Es war voll von Erinnerungen, doch jetzt gehörte es der Bank. Die Bank hatte seiner Mutter ein paar Papiere gegeben und ein Schild in den Vorgarten gestellt.
Dieses hier war eins von Kens Mietshäusern. Er besaß ungefähr hundert davon, und Johnny nahm an, dass es wahrscheinlich das schlechteste war, eine beschissene Hütte weit draußen am Stadtrand. Die Küche war klein, mit grünen Metallschränken und einem abgenutzten Linoleumboden, der sich in den Ecken nach oben bog. Eine Glühbirne brannte über dem Herd, und Johnny drehte sich langsam um sich selbst. Es sah ekelhaft aus: Zigarettenstummel in einer Untertasse, leere Flaschen und Schnapsgläser. Der Spiegel lag auf dem Küchentisch, und im Licht sah Johnny die Reste von weißem Pulver. Bei dem Anblick breitete sich ein kaltes Gefühl in seiner Brust aus. Ein zusammengerollter Hundert-Dollar-Schein war auf den Boden gefallen. Johnny hob ihn auf und strich ihn glatt. Er hatte seit einer Woche nichts Richtiges mehr gegessen, und Ken zog sich hier den Koks mit einem Hunderter in die Nase.
Er nahm den Spiegel, wischte ihn mit einem feuchten Tuch ab und hängte ihn wieder an die Wand. Sein Vater hatte immer in diesen Spiegel geschaut, und Johnny sah ihn noch vor sich, wie er sonntags an seinem Schlipsknoten arbeitete, mit großen, steifen Fingern und einer unnachgiebigen Krawatte. Seinen Anzug trug er nur, wenn er in die Kirche ging, und es machte ihn verlegen, wenn er merkte, dass sein Sohn ihn beobachtete. Johnny sah, wie er plötzlich errötete und dann verlegen lächelte. »Dem Himmel sei Dank für deine Mutter«, sagte er dann, und sie band ihm die Krawatte.
Seine Hände in ihrem Kreuz.
Der Kuss und das Augenzwinkern danach.
Johnny wischte noch einmal über den Spiegel und rückte ihn gerade, ein paarmal hin und her, bis er genau richtig hing.
Die Tür zur Vorderveranda bewegte sich steif in den Angeln, und Johnny trat hinaus in den klammen, dunklen Morgen. Fünfzig Meter weiter unten an der Straße flackerte eine Laterne. Autoscheinwerfer erklommen eine ferne Anhöhe.
Kens Wagen war nicht da, und Johnny empfand schändliche, beglückende Erleichterung. Ken wohnte auf der anderen Seite der Stadt in einem großen Haus mit sauberem Anstrich, breiten Fenstern und einer Vierergarage. Johnny atmete tief durch, dachte an seine Mutter, wie sie sich über den Spiegel beugte, und sagte sich, sie sei noch nicht so weit hinüber. Das hier war Kens Stoff, nicht ihrer. Gewaltsam lockerte er die Fäuste. Die Luft war frisch, und er konzentrierte sich auf sie. Es war ein neuer Tag, sagte er sich, da konnte etwas Gutes passieren. Aber der Morgen war schlecht für seine Mutter. Es gab da einen Moment, wenn sie die Augen öffnete, einen Flash, bevor sie sich erinnerte, dass man ihre ein - zige Tochter nie gefunden hatte.
Johnnys Schwester.
Seine Zwillingsschwester.
Alyssa war drei Minuten nach ihm zur Welt gekommen, und sie waren einander so ähnlich, wie zweieiige Zwillinge es nur sein konnten. Sie hatten das gleiche Haar, das gleiche Gesicht, das gleiche Lachen. Sie war ein Mädchen, okay, aber schon auf fünf Schritte war es schwer, sie beide auseinanderzuhalten. Ihre Haltung war die gleiche, ihr Gang war der gleiche. Meistens wachten sie morgens um dieselbe Zeit auf, obwohl sie in verschiedenen Zimmern schliefen. Johnnys Mom erzählte, sie hätten eine eigene Sprache gesprochen, als sie klein waren, doch daran konnte er sich nicht erinnern. Er erinnerte sich nur, dass er die meiste Zeit seines Lebens nie allein gewesen war. Es gab ein spezielles Gefühl der Zusammengehörigkeit, das nur sie beide wirklich verstanden
hatten. Aber Alyssa war fort, und alles andere mit ihr. Das war die unausweichliche Wahrheit, und sie hatte seine Mutter ausgehöhlt. Also tat Johnny, was er konnte. Er kontrollierte abends die Türschlösser und Fensterriegel und räumte den Dreck weg. Heute brauchte er zwanzig Minuten dazu. Dann setzte er den Kaffee auf und dachte an den zusammengerollten Geldschein.
Hundert Dollar.
Essen und Kleidung.
Er machte einen letzten Kontrollgang durch das Haus. Flaschen – weg. Koksspuren – weg. Er öffnete Fenster und ließ die Welt herein, dann warf er einen Blick in den Kühlschrank. Im Milchkarton rasselte es, als er ihn schüttelte. Ein einsames Ei in der Pappe. Er öffnete die Handtasche seiner Mutter. Sie hatte neun Dollar und etwas Kleingeld. Johnny ließ das Geld drin und klappte die Tasche zu. Er ließ Wasser in ein Glas laufen, schüttelte zwei Aspirin aus dem Röhrchen, ging durch den Flur und öffnete die Tür seiner Mutter.
Das erste rohe Licht der Morgendämmerung drängte an die Fensterscheibe, eine orangegelbe Wölbung hinter den schwarzen Bäumen. Seine Mutter lag auf der Seite, das Haar war ihr über das Gesicht gefallen. Illustrierte und Bücher bedeckten den Nachttisch. Er machte Platz für das Wasserglas und legte die beiden Tabletten auf das narbige Holz. Einen Moment lang lauschte er ihrem Atem, dann fiel sein Blick auf die Geldscheine, die Ken neben dem Bett hinterlassen hatte. Ein paar Zwanziger, ein Fünfziger. Ein paar hundert Dollar vielleicht, zerknüllt und verschmiert.
Von einer Rolle heruntergeblättert.Hingeworfen.
Der Wagen in der Einfahrt war alt, ein Kombi, den Johnnys Vater vor Jahren gekauft hatte. Der Lack war sauber und gewachst, und der Reifendruck wurde jede Woche kontrolliert, aber das war alles, was Johnny konnte. Noch immer quoll blauer Qualm aus dem Auspuff, wenn er den Zündschlüssel umdrehte, und das Beifahrerfenster ließ sich nicht vollständig schließen. Er wartete, bis der Qualm weiß wurde, dann legte er den Rückwärtsgang ein und rollte bis zum Ende der Einfahrt. Er hatte natürlich keinen Führerschein, deshalb sah er sich wachsam um, bevor er langsam auf die Straße hinausfuhr. Er hielt die Geschwindigkeit niedrig und blieb auf den Nebenstraßen. Der nächste Supermarkt war nur zwei Meilen weit entfernt, aber er war groß und lag an einer Hauptstraße, und Johnny wusste, dass man ihn dort vielleicht erkennen würde. Deshalb fuhr er noch drei Meilen weiter zu einem kleinen Laden, dessen Kundschaft schäbiger war. Das Benzin kostete Geld, und die Lebensmittel waren teurer, doch ihm blieb keine andere Wahl. Das Jugendamt war schon zweimal bei ihnen gewesen.
Der Wagen verschwand zwischen denen, die bereits dastanden. Zum größten Teil waren es alte, amerikanische Fabrikate. Ein dunkler Personenwagen rollte hinter ihm auf den Parkplatz und hielt in der Nähe des Eingangs an. Das Sonnenlicht spiegelte sich in den Fenstern, und ein einzelner, gesichtsloser Mann saß am Steuer. Er stieg nicht aus, und Johnny beobachtete ihn, während er auf den Laden zuging.
Er hatte große Angst vor einzelnen Männern in parkenden Autos.
Der Einkaufswagen wackelte, als er ihn den Gang hinauf und den zweiten wieder hinunter schob. Nur das Nötigste, entschied er: Milch, Saft, Speck, Eier, Sandwichbrot, Obst. Er kaufte neues Aspirin für seine Mutter. Tomatensaft schien ihr auch zu helfen.
Der Cop erwartete ihn am Ende von Gang acht. Er war groß und breitschultrig, hatte braune Augen, die zu sanft waren für die Falten in seinem Gesicht und die harten Konturen seines Kiefers. Er hatte keinen Einkaufswagen. Mit den Händen in den Taschen stand er da, und Johnny begriff auf den ersten Blick, dass er ihm gefolgt war. Er hatte diesen Blick. Eine Art von geduldiger Resignation.
Und Johnny wollte weglaufen.
»Hey, Johnny«, sagte der Cop. »Wie geht’s?«
Sein Haar war länger, als Johnny es in Erinnerung hatte. Es war so braun wie seine Augen und fiel in strähnigen Locken über den Kragen, an den Seiten durchzogen von ein paar neuen silbernen Fäden. Sein Gesicht war schmaler geworden, und in einem Winkel seines Herzens erkannte Johnny, dass das Jahr für ihn ebenfalls hart gewesen war. So groß der Cop auch war, er wirkte niedergedrückt und gehetzt. Aber so sah in Johnnys Augen fast die ganze Welt aus, und deshalb war er nicht sicher. Die Stimme des Mannes klang tief und teilnahmsvoll. Sie weckte so viele schlimme Erinnerungen, dass Johnny sich einen Augenblick lang weder rühren noch sprechen konnte. Der Cop kam näher und zeigte den nachdenklichen Gesichtsausdruck, den Johnny so oft gesehen hatte, den gleichen sanften, sorgenvollen Blick. Ein Teil seiner selbst hätte den Mann gerne gemocht und ihm vertraut, aber es war immer noch derselbe Mann, der zugelassen hatte, dass Alyssa sich in nichts auflöste. Er war immer noch derjenige, der sie verloren hatte.
»Ganz gut«, sagte Johnny. »Sie wissen schon. Man schlägt sich durch.«
Der Cop warf einen Blick auf die Uhr, dann auf Johnnys schmuddelige Kleider und sein ungebärdiges schwarzes Haar. Es war zwanzig vor sieben an einem Schultag. »Was von deinem Vater gehört?«, fragte er.
»Nein.« Johnny bemühte sich, die plötzliche Scham zu verbergen. »Nichts.«
»Das tut mir leid.«
Der Augenblick dehnte sich in die Länge, aber der Cop rührte sich nicht. Der Blick seiner braunen Augen blieb fest, und aus der Nähe sah er noch genauso groß und ruhig aus wie beim ersten Mal, als er in Johnnys Haus gekommen war. Aber das war eine andere Erinnerung, und deshalb starrte Johnny das breite Handgelenk des Mannes an, die sauberen, stumpfen Fingernägel. Seine Stimme war brüchig, als er sprach. »Meine Mutter hat einmal einen Brief gekriegt. Sie sagt, er war in Chicago und wollte vielleicht nach Kalifornien.« Er schwieg, und sein Blick wanderte von der Hand zum Boden. »Der kommt schon wieder.«
Johnny sagte es ohne Überzeugung. Der Cop nickte einmal und wandte den Kopf ab. Spencer Merrimon war zwei Wochen nach der Entführung seiner Tochter verschwunden. Zu viel Schmerz. Zu viele Schuldgefühle. Seine Frau ließ ihn keinen Augenblick lang vergessen, dass er das Mädchen hatte abholen sollen, ließ ihn nie vergessen, dass das Kind niemals in der Abenddämmerung die Straße entlanggegangen wäre, wenn er getan hätte, was er hätte tun sollen.
»Es war nicht seine Schuld«, sagte Johnny.
»Das habe ich nie behauptet.«
»Er hat gearbeitet. Er hat nicht auf die Zeit geachtet. Es war nicht seine Schuld.«
»Wir alle machen Fehler, mein Junge. Jeder von uns. Dein Vater ist ein guter Mann. Daran darfst du niemals zweifeln.«
»Tu ich nicht.« Johnny klang plötzlich gereizt.»Ist okay.«
»Das würde ich niemals tun.« Johnny spürte, dass die Farbe aus seinem Gesicht wich. Er wusste nicht, wann er das letzte Mal so viel zu einem Erwachsenen gesagt hatte, doch der Cop hatte irgendetwas an sich. Er war steinalt, bestimmt vierzig, aber er überstürzte nie etwas, und sein Gesicht hatte etwas Warmes, eine Freundlichkeit, die nicht gespielt wirkte, nicht dazu gedacht, einen Jungen auszutricksen, damit er ihm vertraute. Seine Augen waren immer still, und im Grunde seines Herzens hoffte Johnny, dass der Mann als Polizist gut genug war, um noch alles in Ordnung zu bringen. Aber inzwischen war ein Jahr vergangen, und seine Schwester war nach wie vor verschwunden. Johnny musste sich um die Gegenwart kümmern, und in der Gegenwart war dieser Cop kein Freund.
Da war das Jugendamt, das nur auf einen Vorwand wartete. Dazu kam das, was Johnny tat und wohin er ging, wenn er die Schule schwänzte – die Risiken, die er einging, wenn er sich nach Mitternacht hinausschlich. Wenn der Cop wüsste, was Johnny tat, wäre er gezwungen, etwas zu unternehmen. Pflegeeltern. Gericht.
Er würde Johnny stoppen, wenn er könnte.
»Wie geht’s deiner Mom?«, fragte der Cop. Sein Blick war durchdringend, und seine Hand lag auf dem Einkaufswagen.
»Müde«, sagte Johnny. »Lupus, wissen Sie. Sie wird schnell müde.«
Zum ersten Mal runzelte der Cop die Stirn. »Beim letzten Mal, als ich dich hier gefunden habe, hast du gesagt, sie hat die Lyme Krankheit.«
Er hatte recht. »Nein. Lupus, habe ich gesagt.«
Der Blick des Cops wurde milder, und er nahm die Hand vom Wagen. »Es gibt Leute, die helfen wollen. Leute, die das verstehen.«
Plötzlich war Johnny wütend. Niemand verstand es, und niemand bot seine Hilfe an. Nie. »Sie ist nur ein bisschen angeschlagen. Abgespannt.«
Der Cop sah über die Lüge hinweg, aber sein Gesicht blieb traurig. Sein Blick fiel auf das Aspirinfläschchen, auf den Tomatensaft, und es war offensichtlich, dass er über Trinker und Junkies besser Bescheid wusste als die meisten. »Du bist nicht der Einzige, der leidet, Johnny. Du bist nicht allein.«
»Allein genug.«
Der Cop seufzte tief. Er nahm eine Karte aus der Tasche und schrieb eine Nummer auf die Rückseite. Dann gab er sie dem Jungen. »Wenn du je etwas brauchen solltest.« Er sah entschlossen aus. »Tag und Nacht. Das meine ich ernst.«
Johnny warf einen Blick auf die Karte und steckte sie in die Tasche seiner Jeans. »Wir kommen zurecht«, sagte er und schob den Einkaufswagen um den Cop herum. Der Cop legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Wenn er dich noch mal schlägt ... «
Johnny erstarrte.
»Oder deine Mutter ... «
Johnny schüttelte die Hand ab. »Wir kommen zurecht«, wiederholte er. »Ich hab alles im Griff.«
Er drängte sich an dem Cop vorbei und hatte eine Riesenangst, er könnte ihn festhalten und noch mehr Fragen stellen oder eine der hartgesichtigen Frauen vom Jugendamt rufen.
Der Einkaufswagen schrammte an der Kassentheke vorbei, und die dicke Frau auf dem abgenutzten Hocker senkte den Kopf und zog die Brauen hoch. Sie war neu im Laden, und Johnny erkannte die Frage in ihrem Blick. Er war dreizehn, aber er sah ein paar Jahre jünger aus. Er zog den Hunderter aus der Tasche und legte ihn mit der Vorderseite nach oben auf das Fließband. »Können Sie bitte schnell machen?«
Sie ließ eine Kaugummiblase platzen und runzelte die Stirn. »Immer mit der Ruhe, Schätzchen. Geht gleich los.«
Der Cop trödelte drei Schritte hinter ihm, und Johnny fühlte seinen Blick im Rücken, während die dicke Frau die Einkäufe in die Kasse tippte. Johnny zwang sich zu atmen, und nach einer
Weile ging der Cop an ihm vorbei. »Heb die Karte gut auf«, sagte er.
»Okay.« Johnny brachte es nicht über sich, ihm in die Augen zu sehen.
Der Cop drehte sich um, und sein Lächeln war nicht entspannt. »Es ist immer gut, dich zu sehen, Johnny.«
Er verließ den Supermarkt, und Johnny sah ihn durch die breite Schaufensterscheibe. Er kam an dem Kombi vorbei, kehrte um und blieb kurz stehen. Er spähte durch das Seitenfenster und ging dann nach hinten, um einen Blick auf das Kennzeichen zu werfen. Anscheinend zufriedengestellt, näherte er sich seinem Wagen und öffnete die Tür. Er schob sich ins Halbdunkel und blieb sitzen.Er wartete.
Johnny versuchte seinen rasenden Herzschlag zu bremsen und griff nach dem Wechselgeld in der feuchten, fleischigen Hand der Kassiererin.
Der Cop hieß Clyde Lafayette Hunt. Detective. Das stand auf seiner Karte. Johnny hatte eine ganze Sammlung davon in seiner obersten Schublade, versteckt unter den Strümpfen und einem Foto von seinem Dad. Manchmal dachte er an die Telefonnummer auf der Karte, aber dann dachte er an Waisenhäuser und Pflegestellen. Er dachte an seine verschwundene Schwester und an das Bleirohr zwischen seinem Bett und der Wand, aus der kalte Luft sickerte. Wahrscheinlich meinte der Cop es ernst mit dem, was er sagte. Wahrscheinlich war er in Ordnung. Aber Johnny konnte ihn nie ansehen, ohne an Alyssa zu denken, und solche Gedanken erforderten Konzentration. Er musste sie lebendig und lächelnd vor sich sehen, nicht in einem Keller mit festgestampftem Lehmboden oder im Kofferraum irgendeines Autos. Sie war zwölf, als er sie zuletzt gesehen hatte. Zwölf Jahre alt, mit schwarzem Haar, kurz geschnitten wie bei einem Jungen. Der Einzige, der gesehen hatte, was passiert war, hatte erzählt, sie sei geradewegs auf den Wagen zugegangen und habe gelächelt, als die Wagentür sich öffnete.
Hatte gelächelt, bis jemand sie packte.
Johnny hörte dieses Wort ständig. Gelächelt. Als sei es in seinem Kopf hängen geblieben – ein einziges Wort auf einer Ton-
Copyright © 2009 by Johna Hart
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe beim C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
Übersetzung:»Rainer Schmidt«
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Autoren-Porträt von John Hart
John Hart wurde 1965 in North Carolina geboren. Sein erster Roman »Der König der Lügen« - ausgezeichnet mit dem Edgar Award für den besten ersten Roman - schaffte es ebenso auf Anhieb auf die New York Times Bestsellerliste wie sein zweiter Roman »Der dunkle Fluss«, der mit dem Edgar Award für den besten Thriller des Jahres ausgezeichnet wurde. Der Autor lebt mit seiner Familie in Rowan County, North Carolina.
Bibliographische Angaben
- Autor: John Hart
- 2009, 446 Seiten, Maße: 13,8 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Schmidt, Rainer
- Übersetzer: Rainer Schmidt
- Verlag: C. Bertelsmann
- ISBN-10: 3570100375
- ISBN-13: 9783570100370
Rezension zu „Das letzte Kind “
"Schon mit "Der Dunkle Fluss" hat (...) John Hart bewiesen, dass er ebenso spannend wie komplex erzählen kann. "Das letzte Kind" aber ist sein Meisterstück - eine subtile Geschichte über kindliche Unschuld und Freundschaft und über deren Abgründe: Tom Sawyer und Huckleberry Finn im 21. Jahrhundert."
Kommentar zu "Das letzte Kind"
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