Das Mädchen mit den Schmetterlingen
Roman. Deutsche Erstausgabe
Kann ein kleines Mädchen eine Mörderin sein?
Das Leben der irischen Farmerfamilie Byrne ändert sich schlagartig, als der für seine Trunksucht und Brutalität bekannte Michael Byrne tot aufgefunden wird. Neben ihm seine...
Das Leben der irischen Farmerfamilie Byrne ändert sich schlagartig, als der für seine Trunksucht und Brutalität bekannte Michael Byrne tot aufgefunden wird. Neben ihm seine...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Das Mädchen mit den Schmetterlingen “
Kann ein kleines Mädchen eine Mörderin sein?
Das Leben der irischen Farmerfamilie Byrne ändert sich schlagartig, als der für seine Trunksucht und Brutalität bekannte Michael Byrne tot aufgefunden wird. Neben ihm seine elfjährige, autistische Tochter Tess, in ihrer Hand der Stein, mit dem ihr Vater erschlagen wurde. Das verängstige Mädchen schweigt zu allen Vorwürfen und wird des Mordes schuldig gesprochen in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen. Zehn Jahre später kehrt sie in ihr Heimatdorf zurück, und die alten Mauern des Schweigens beginnen zu brechen ...
Das Leben der irischen Farmerfamilie Byrne ändert sich schlagartig, als der für seine Trunksucht und Brutalität bekannte Michael Byrne tot aufgefunden wird. Neben ihm seine elfjährige, autistische Tochter Tess, in ihrer Hand der Stein, mit dem ihr Vater erschlagen wurde. Das verängstige Mädchen schweigt zu allen Vorwürfen und wird des Mordes schuldig gesprochen in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen. Zehn Jahre später kehrt sie in ihr Heimatdorf zurück, und die alten Mauern des Schweigens beginnen zu brechen ...
Klappentext zu „Das Mädchen mit den Schmetterlingen “
Kann ein kleines Mädchen eine Mörderin sein?Das Leben der irischen Farmerfamilie Byrne ändert sich schlagartig, als der für seine Trunksucht und Brutalität bekannte Michael Byrne tot aufgefunden wird. Neben ihm seine elfjährige, autistische Tochter Tess, in ihrer Hand der Stein, mit dem ihr Vater erschlagen wurde. Das verängstige Mädchen schweigt zu allen Vorwürfen und wird des Mordes schuldig gesprochen in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen. Zehn Jahre später kehrt sie in ihr Heimatdorf zurück, und die alten Mauern des Schweigens beginnen zu brechen
Lese-Probe zu „Das Mädchen mit den Schmetterlingen “
Das Mädchen mit den Schmetterlingen von Carol CoffeyCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München.
Kapitel 1
1981
... mehr
Eigentlich hatte sich Tess Byrne auf eine schlaflose Nacht eingestellt, doch dann wurde sie vom Geräusch der Putzfrauen geweckt, die den langen Korridor vor ihrer Zimmertür wischten. Es war ein beruhigendes Geräusch, an das sie sich während ihrer zehn Jahre in dieser Anstalt gewöhnt hatte. Sie stellte ihre nackten Füße auf die kalten Fliesen und ging auf Zehenspitzen zum Fenster hinüber, um in den hellen, frostkalten Februarmorgen hinauszublicken. Tess genoss ihr morgendliches Ritual, freute sich, immer die gleichen Dinge zu sehen: die Autos auf der Straße, die Fahrradfahrer, die auf dem Weg zur Arbeit die Abkürzung über das Anstaltsgelände nahmen, die Krankenschwestern, die nach und nach eintrafen. Doch dieser Morgen war anders. Dieser Morgen war der letzte, an dem sie das alles beobachten würde, es war der letzte Tag, den sie hier verbringen würde. Heute war der Tag ihrer Entlassung. Langsam und systematisch zog Tess sich an, wobei sie gewissenhaft jedes Kleidungsstück einzeln auseinanderfaltete. Sie holte den kleinen Koffer unter ihrem Bett hervor und packte schweigend ihre Sachen. Viel gab es nicht zu verstauen, hauptsächlich ihre Zeichnungen und die Buntstifte, zusammen mit ein bisschen Wäsche. Als sie fertig war, setzte sie sich aufs Bett und ließ den Blick durch das spärlich eingerichtete Zimmer schweifen. Außer ihrem Bett und dem Schrank gab es nur noch eine alte Holzkommode, die nach Mottenkugeln roch. Die kleine Kammer war weiß getüncht, was den stillen Raum kälter wirken ließ, als er eigentlich war. Abgesehen von einigen Zeichnungen, die sie hierlassen wollte, hing an den Wänden nur eine runde weiße Plastikuhr und ein großes hölzernes Kruzifix, an das sie sich erst nach geraumer Zeit gewöhnt hatte. Was ihr an ihrem Zimmer am besten gefiel, war das große Fenster mit den Fensterläden und der breiten Fensterbank, auf der sie oft gesessen und gemalt hatte.
Tess setzte sich, erst in einer guten halben Stunde würde man sie zum Frühstück rufen. Sie holte ein kleines Notizbuch aus ihrem Koffer und schlug die erste Seite auf. Unter der in Schönschrift verfassten Überschrift »Entschuldigen« war dort in großen, roten Buchstaben eine Liste zu lesen.
Entschuldigen
Seán
Kate
Ben
Dr. Cosgrove hatte sie oft gefragt, was diese Liste zu bedeuten hatte, aber sie hatte es ihm nicht verraten. Das war ihr Geheimnis, und Geheimnisse darf man nicht weitersagen. Sie legte das Notizbuch in den Koffer zurück und holte einmal tief und zufrieden Luft. Heute begann ein neues Leben. Sie kehrte nach Hause zurück und hatte dort einiges zu erledigen. Dr. Martin Cosgrove ließ seinen massigen Körper in den schwarzen Ledersessel sinken und blickte aus seinem stickigen Büro auf den Innenhof der Anstalt hinunter. Er beugte sich vor, wobei seine blonden Haare über die dunkel gerahmte Brille fielen, und beobachtete die Kinder, die unter der Aufsicht zweier Pfleger draußen im Hof spielten. Er seufzte, als er an die Verantwortung dachte, die seine Arbeit mit sich brachte, gab es doch keinerlei Gewissheit, ob er irgendeinem der vielen hundert verhaltensgestörter Kinder, die diese Anstalt durchlaufen hatten, wirklich hatte helfen können.
Das galt auch für Tess Byrne. Bei der Durchsicht ihrer Akte konnte er kaum glauben, dass sie einem anderen Menschen etwas angetan haben sollte. In den ersten Jahren hatte es ein paar kleinere Zwischenfälle gegeben, sodass man ihr schließlich ein Einzelzimmer zugewiesen hatte. Als sich ihr Verhalten dann gebessert hatte, wollte keines der anderen Kinder mit ihr zusammenwohnen. Sie sagten, Tess würde sich seltsam benehmen und sie die ganze Zeit anstarren. Über Jahre hatte er versucht, mit der stummen Einzelgängerin ins Gespräch zu kommen, und das durchaus mit einem gewissen Erfolg. Und doch konnte er die wenigen Male, an denen sie in den letzten zehn Jahren ein paar zusammenhängende Sätze gesprochen hatte, fast an einer Hand abzählen.
Cosgrove seufzte laut. Tess würde heute von ihren Angehörigen, die in einem entlegenen Teil von County Wicklow einen Hof bewirtschafteten, abgeholt werden, und es sah ganz danach aus, als würde sie den Rest ihres Lebens ohne Kontakt zur Außenwelt verbringen. Aber ihm waren die Hände gebunden. Sie war einundzwanzig Jahre alt und zeigte, abgesehen von ihrem apathischen Wesen und den gelegentlichen Gefühlsausbrüchen, keinerlei Anzeichen für eine Geisteskrankheit.
Er kannte sich ein wenig mit ihrem Leiden, Autismus, aus und wusste auch, dass ihr jüngerer Bruder deutlich stärker davon betroffen war, aber er konnte nicht behaupten, dass er verstand, was in Tess wirklich vorging. Alle Kinder, die bei ihm im Büro landeten, waren verhaltensauffällig, die meisten aufgrund einer psychischen Störung, dennoch hatte er das Gefühl, dass Tess eigentlich nicht hierhergehört hätte. Das stimmte den erschöpften Psychiater traurig, und er wünschte, er hätte im Lauf der Jahre mehr für sie tun können. Zu seinem Bedauern hatten sich Tess' Geschwister nie hier sehen lassen, weshalb er sich an den Arzt ihres Heimatortes gewandt hatte. Von ihm erfuhr er, dass zwar Tess' älterer Bruder Alkoholiker sei, ihre Schwester aber eine tüchtige Frau, die sich sicherlich gut um Tess kümmern würde. Da Cosgrove auch persönlich mit ihren Geschwistern sprechen wollte, rief er sie an. Kate Byrnes leise Stimme ließ eher auf eine leichte Depression schließen als auf die Stärke, von der Dr. Doyle gesprochen hatte, was Cosgrove beunruhigte. Tess stand ein bedeutender Schritt, bevor und er musste sicher sein, dass alles, was er veranlasste, zu ihrem Besten war. Cosgrove beschloss, die Gemeindeschwester anzurufen und sie zu bitten, sich um Tess zu kümmern. So konnte er sie ein wenig im Blick behalten, bis er wirklich überzeugt war, dass es ihr gut ging.
Als er mit Tess über ihren bevorstehenden Abschied gesprochen hatte, hatte sie ihn wortlos angestarrt und an ihrem Pullover gezupft, während sie die Neuigkeit verarbeitete. Tess war zu einer schönen jungen Frau herangewachsen, ihr porzellanfarbener Teint war umrahmt von kräftigem, schwarzem Haar. Ihr unbewegtes Gesicht wirkte fast wie das einer Puppe. »Freust du dich, Tess?«, hatte er lächelnd gefragt. Das Mädchen hatte keine Miene verzogen, wie üblich starr an ihm vorbeigeblickt und mit einem kurzen Nicken sein Büro verlassen. Cosgrove stemmte sich langsam aus seinem Sessel. Er blieb in Gedanken versunken stehen und umklammerte Tess' Krankenakte, bis ihn das Schrillen der Schulglocke aufschreckte. Er steckte die Akte langsam in den großen, metallenen Aktenschrank.
Behutsam schloss er die Schublade, griff nach den Akten der beiden Kinder, die heute neu eingetroffen waren, und bereitete sich auf seine Visite vor.
Dermot Lynch war ein ernsthafter Mann. Im Alter von dreißig Jahren stand er nach einer Auseinandersetzung mit seinem starrsinnigen, dominanten Vater von einem Tag auf den anderen nicht nur ohne Land, sondern auch ohne Dach über dem Kopf da. Dan Lynch war längst im Ruhestand, trotzdem hatte er sich ständig eingemischt und seinem ältesten Sohn vorgeschrieben, wie er den Hof zu führen hatte. Bis Dermot schließlich die Nase voll hatte. Dermot hatte mit dem Gedanken gespielt, nach London oder New York, ja, vielleicht sogar nach Sydney zu gehen, wo überall Verwandte von ihm lebten. Aber er wusste auch, dass er nicht für das Baugewerbe geschaffen war, und für ein Leben als Fabrikarbeiter erst recht nicht. Stattdessen war er hierher nach Wicklow gekommen, wo er im Pub seiner Tante und seines Onkels arbeitete und außerdem halbtags als Knecht auf dem Hof der Byrnes. Der Hof würde ihm zwar nie gehören, aber die Arbeit machte ihm Spaß. Wie zu Hause in Galway galt es, das Vieh zu versorgen. Das Klima im Osten war milder, und es regnete deutlich weniger. Er fühlte sich wohl hier, arbeitete hart und ging seinen Arbeitgebern aus dem Weg, obwohl er durchaus nichts gegen sie hatte. Der Bruder, Seán, hatte offenbar ein Alkoholproblem und packte nur selten mit an. Die Schwester, Kate, sah nicht schlecht aus, machte den Haushalt und kümmerte sich um ihren kleinen Bruder Ben, der stumm war wie ein Fisch, sich ständig zu irgendwelchen unhörbaren Klängen wiegte und vor sich hin summte. Die Stille im Haus war mit Händen zu greifen, und Dermot hielt sich dort so wenig wie möglich auf. Er aß, was ihm vorgesetzt wurde, und versuchte, dem starren Blick des Jungen auszuweichen, bevor er sich hastig wieder an seine Arbeit machte.
Im Grunde genommen störte ihn die merkwürdige Atmosphäre aber nicht. Niemand stellte ihm Fragen, was ihm nur recht war. Das Letzte, was er gebrauchen konnte, war, dass im Dorf darüber getratscht wurde, dass er den eigenen Hof an seinen jüngeren Bruder verloren hatte. Man schrieb zwar das Jahr 1981, aber in Irland gingen die Uhren langsamer, und er hatte keine Lust, Thema des Dorfklatsches in dem kleinen Ort zu sein, den er mittlerweile sein Zuhause nannte.
Dermots Tage verliefen immer gleich. Er kümmerte sich um das Vieh, mistete die Ställe aus, und wenn Seán Byrne nüchtern genug war, gingen sie zusammen auf den Markt. Doch heute Morgen war alles anders. Dermot wunderte sich, dass Seán und Kate Byrne nicht selbst nach Dublin fuhren, um ihre Schwester abzuholen, die, wie er dem Dorfklatsch entnehmen konnte, »nicht alle Tassen im Schrank hatte«. Diese Aufgabe war ihm unangenehm, und es wäre ihm ausnahmsweise lieber gewesen, wenn einer der Byrnes ihn begleitet hätte. Warum holten sie sie nicht selber ab? Warum lebte sie überhaupt in so einer Anstalt? War sie vielleicht wirklich nicht ganz dicht und wurde auf der Rückfahrt womöglich handgreiflich? All diese Fragen verdüsterten Dermots normalerweise heiteres Gemüt, bis er mit Kopfschmerzen und Magenkrämpfen die Anstalt erreichte. Sein Vater hätte sich totgelacht, wenn er gewusst hätte, was sein Sohn an diesem Morgen trieb. Allein der Gedanke daran machte Dermot wütend.
Im Wartebereich der Klinik trat er unruhig von einem Fuß auf den anderen. Schließlich erschien ein stattlicher Mann, der aussah, als hätte er hier etwas zu sagen. Sein Lächeln wirkte eher nervös als freundlich. »Guten Tag, ich bin Dr. Cosgrove«, stellte er sich vor und schüttelte Dermot ein wenig zu enthusiastisch die Hand. »Ich bin Psychiater. Und Sie müssen Seán sein, der Bruder von Tess?«
Dermot spürte, wie er rot wurde. Er war es nicht gewöhnt, mit gebildeten Menschen wie diesem Psychiater zu sprechen, und außerdem hatte der Mann anscheinend Dermots Arbeitgeber erwartet.
»Ähm, nein, ich ... ich meine ... ich arbeite für die Familie Byrne ... sie haben mich hergeschickt, um sie abzuholen ... also, Tess, meine ich.« Dermot bemerkte die entsetzte Miene des Arztes und wusste beim besten Willen nicht, was er noch sagen sollte.
Nach einer Ewigkeit, wie es ihm schien, entgegnete der Arzt: »Sind die Angehörigen denn krank geworden ... ist etwas passiert?«
»Nein«, erwiderte Dermot. Er wusste nicht, welche Antwort seine Arbeitgeber in ein halbwegs freundliches Licht hätte rücken können, schließlich empfand auch er es als äußerst unhöflich, dass sie nicht selbst hergekommen waren. »Sie haben mich nur gebeten, hierherzufahren. Ich heiße Dermot Lynch und arbeite auf dem Hof ...« Seine Stimme wurde immer leiser, je weiter sich das ungläubige Staunen auf dem Gesicht des Arztes ausbreitete.
»Aber sie kennt Sie doch, sie hat Sie schon einmal gesehen, oder?«
»Nein, Sir, ähm, Herr Doktor ... ich hab erst vor ein paar Monaten dort angefangen. Wollen Sie sie anrufen? Ich meine ... nachprüfen, wer ich bin und so weiter?«
Dr. Cosgrove starrte den jungen Mann ungläubig an. Er konnte nicht glauben, dass Tess' Angehörige, die doch um ihren Zustand wussten, sie von einem völlig fremden Menschen abholen ließen. Plötzlich kamen ihm schwere Bedenken gegen ihre Entlassung, aber er wusste, dass er letztlich machtlos war.
Sie war schließlich erwachsen und konnte nicht länger auf dieser Station bleiben. Eigentlich hätte sie schon nach ihrem achtzehnten Geburtstag in die Erwachsenenabteilung verlegt werden müssen, aber er hatte alles in seiner Macht Stehende unternommen, um das zu verhindern, und darauf verwiesen, dass die Erwachsenenabteilung für ihre Störung ungeeignet war. In den ersten Jahren hatte er immer wieder befürchtet, dass sie dort enden und den Rest ihres Lebens in einer Pflegeeinrichtung verbringen würde, aber irgendwann hatte sie sich eingelebt, und so hatte er keinen Grund gesehen, sie nicht in den Schoß ihrer Familie zu entlassen. Bis jetzt. Es hatte ihn zwar beunruhigt, dass ihre Angehörigen sie in all den Jahren nie besucht hatten, aber er wusste auch, dass Tess' Geschwister durch den Tod ihrer Eltern, die alleinige Verantwortung für den Hof und die Pflege des jüngeren Bruders sehr belastet waren. Eigentlich hätte Tess schon vor einigen Jahren entlassen werden können, aber ihre Geschwister hatten nie auf seine Bitten reagiert, sich an den Entwicklungsgesprächen zu beteiligen. Die große Schwester schickte zu jedem Geburtstag und zu Weihnachten ein Geschenk, aber Cosgrove hatte sich doch gefragt, warum sie Tess nicht wenigstens gelegentlich besuchten.
Und jetzt das! Sie brauchte doch ein vertrautes Gesicht und nicht das eines Fremden, vor dem sie mit Sicherheit Angst hatte. Der Arzt fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und wandte sich ab. Sein Blick wanderte durch das weitläufige Foyer, als ließe sich in der einen oder anderen unwirtlichen Ecke vielleicht eine Antwort finden - und dann sah er sie. Dort stand sie neben ihrem Gepäck, abwartend, beobachtend.
»Tess! Ähm ... das ist Mr. ..., Entschuldigung, wie, sagten Sie, war Ihr Name?«
»Dermot, Dermot Lynch.«
»Mr. Lynch. Er ist gekommen, um dich nach Hause zu bringen. Wie bist du hierhergekommen?«
Das war auch so eine Geschichte. Er begegnete Tess immer wieder auf Treppen, auf denen sie nichts zu suchen hatte, in Zimmern, zu denen ihr der Zutritt verboten war, und das Personal wusste nie, wie sie dort hingeraten war. Nach mehreren Vorkommnissen dieser Art hatte er aufgehört, sie danach zu fragen, da sie niemals das Gelände verließ und auch sonst nichts Verbotenes tat. So hatten sie sich alle daran gewöhnt, dass Tess immer da war, wo sie eigentlich nicht sein sollte, und nie dort, wo man sie erwartete.
»Tut mir leid, Tess. Ich war eigentlich davon ausgegangen, dass dein Bruder oder deine Schwester dich abholen. Ich weiß nicht, was passiert ist, aber ich rufe sofort bei ihnen an und bitte sie, dich an einem anderen Tag abzuholen.«
Tess schüttelte den Kopf und ging langsam auf den verlegenen jungen Mann zu.
Dermot kam sich vor wie in einer Fernsehsendung, in der einem irgendeine Falle gestellt wird und die ganze Welt zuschauen kann, wie man veräppelt wird. Dr. Cosgrove glaubte, dass sie ihn nicht richtig verstanden hatte. »Tess, das ist nicht dein Bruder, aber ich rufe ihn gleich an und kläre das Ganze. Es tut mir leid, Tess.« Er wusste, wie sie sich auf diesen Tag gefreut hatte.
»Ich gehe«, erklärte Tess nüchtern.
Dr. Cosgrove war verdutzt, fasste sich aber schnell wieder.
»Es tut mir leid, Tess«, sagte er noch einmal, wobei ihm bewusst war, dass er sich nicht für das momentane Durcheinander entschuldigte, sondern für all die Jahre, in denen er ihr nicht wirklich hatte helfen können. »Auf Wiedersehen. Melde dich mal wieder. Und falls du irgendetwas brauchst oder ...«
Sie war bereits auf dem Weg zum Ausgang, vorbei an den Krankenschwestern und Pflegern, die so viele Jahre ein Teil ihres Lebens gewesen waren. Sie schaute weder rechts noch links, sondern ging mit dem Koffer in der Hand schnurstracks geradeaus. Flink stieg sie in den Lieferwagen und warf nur einen kurzen Blick zurück auf ihr Zimmerfenster, um es auch einmal von außen zu betrachten. Das hatte sie sich fest vorgenommen, auch wenn sie nicht wusste, warum, und dachte darüber nach, als der Lieferwagen sich in Bewegung setzte und
sie sich auf den Weg nach Hause machten.
Árd Glen war eine kleine Bauerngemeinde im Südwesten von County Wicklow. Trotz der bezaubernden Lage, umgeben von Bergen und Seen, hatte sich die Zahl der rund dreihundert Einwohner über die Jahre nie nennenswert verändert. Es gab kaum Arbeit, und die meisten Familien betrieben eine kleine Viehzucht, da das Land für den Getreideanbau zu hügelig war. Im Frühling musste man sich um die neugeborenen Lämmer kümmern und im Sommer kamen für gewöhnlich ein paar, überwiegend amerikanische, Touristen, auf der Suche nach dem Grab ihrer Urgroßeltern vorbei. Doch im Herbst und Winter legte sich der Himmel wie eine schwere, graue Decke über das Dorf und überließ die Bewohner ihren Erinnerungen, den guten wie den schlechten.
Die Erinnerungen waren es auch, die Seán Byrne unruhig in der Küche des bescheidenen Hauses auf und ab laufen ließen, in dem er seit seiner Geburt lebte. Das Haus teilte ein lang gezogener, dunkler Flur. Das Zimmer zur Linken, ein ehemaliges Schlafzimmer, war zu einem Wohnzimmer umfunktioniert worden, das jedoch kaum benutzt wurde. Das Zimmer auf der rechten Seite bewohnten Seán und Ben, während Kate und Tess sich einen Raum am hinteren Ende des Flurs teilten, der dem kleinen Badezimmer gegenüberlag, das Seán hinten ans Haus angebaut hatte. Sein Vater war viel zu geizig gewesen, um seiner Familie zu seinen Lebzeiten einen derartigen »Luxus« zu gönnen. Das linke Flurende führte in die Küche.
Sie wurde von einem riesigen, altmodischen Küchenofen beherrscht, der die einst weißen Wände schwarz gefärbt hatte. Unter dem Fenster mit Blick auf den Hinterhof stand die Spüle, links und rechts flankiert von zwei Schränken, deren Lack überall abblätterte. Den Raum in der Mitte der Küche nahmen ein altmodischer Holztisch und vier abgewetzte Polsterstühle ein.
Seán war stolz auf die Veränderungen, die er als junger Mann an Haus und Hof vorgenommen hatte. Die Arbeit auf dem Hof war ihm schon immer lieber gewesen, als für die Schule zu lernen, und so hatte er den Büchern mit dreizehn Lebewohl gesagt. Seine Familie genoss im Dorf nicht den besten Ruf, und er hatte im Lauf der späteren Sechzigerjahre viel Mühe daran gesetzt, das zu ändern. Vergebens. Seine ganze Jugend hatte er dem Versuch gewidmet, sich einen Hof und einen guten Ruf aufzubauen, der schneller wieder ruiniert war als ein Feuer sich durch einen Heuschober frisst. Er konnte sich selbst schon kaum mehr daran erinnern, wie er damals gewesen war - jung, voller Kraft und voller Hoffnung. Jetzt verbrachte er seine Tage damit, seinen Alkoholkonsum vor seiner mittlerweile ständig nörgelnden Schwester und dem Knecht zu verbergen, der zwar nichts sagte, aber sehr wohl bemerkt hatte, dass sein Arbeitgeber trank. Während der vergangenen zehn Jahre war es ihnen gelungen, eine Art Scheinnormalität zu wahren: Seán arbeitete auf dem Hof, so gut er konnte, damit wenigstens ein bisschen Geld hereinkam. Kate besorgte übellaunig den Haushalt und kümmerte sich um Ben, der nie ein Mann werden und noch lange nach ihrem Tod auf Pflege angewiesen sein würde. Trotzdem waren sie immer irgendwie über die Runden gekommen. Und ausgerechnet jetzt, wo es so aussah, als bekämen sie wieder Boden unter die Füße und könnten Vergangenes vergessen sein lassen, erhob die Vergangenheit in Gestalt ihrer kleinen Schwester wieder ihr hässliches Haupt. Im Dorf würde man die alte Geschichte wieder ausgraben, und das ganze Gerede ginge von vorne los. Wenn sie sie doch bloß nicht zurücknehmen müssten. Wenn die Anstalt sie doch bloß behalten würde oder sie in der Lage wäre, in Dublin oder in einer betreuten Wohngemeinschaft ihr eigenes Leben zu führen. Er hatte ja versucht, diesen aufdringlichen Psychiater abzuwimmeln, hatte die Briefe mit den Berichten über ihre Entwicklung in den Papierkorb geworfen, hatte sie nie besucht. Das hätten die dort doch kapieren müssen. Aber nein. Er konnte ja schlecht sagen: »Wir wollen sie nicht wiederhaben. « Das hätte einen schlechten Eindruck gemacht, und die Leute hätten erst recht angefangen, sich das Maul zu zerreißen.
Er spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg, und wusste selbst nicht genau, ob aus Wut oder Scham, als Kate seine Gedanken unterbrach.
»Es nützt alles nichts, wir müssen das Beste draus machen. Vielleicht hat sie sich ja verändert, ist ein bisschen ruhiger geworden. Sie war ja noch ein Kind, musst du bedenken. Womöglich kann sie uns sogar mit dem Jungen zur Hand gehen.
Weiß Gott, wahrscheinlich versteht sie ihn besser als ich.« Kate wusste immer ganz genau, was er dachte, ja, sogar, was er fühlte. Kate war ihm immer einen Schritt voraus, kühl und berechnend und klüger, viel klüger. Seán betrachtete seine Schwester. Sie erinnerte ihn an seine Mutter, in sich ruhend und wunderschön. Ihm war immer bewusst gewesen, wie stark er sich äußerlich von seinen Geschwistern und Eltern unterschied. Er war der einzige Rotschopf in einer schwarz haarigen Familie. Er hatte grüne Augen und Sommersprossen, seine Geschwister dagegen blaue Augen und helle, weiße Haut, die weder rot noch braun wurde. Er beneidete Kate um ihre Gelassenheit. Seine Schwester hätte viel mehr Grund gehabt als er, Tess' Rückkehr zu bedauern - sie war zum Zeitpunkt des »Unfalls«, wie sie es zu nennen pflegten, verlobt gewesen. Damals war Kate noch eine ganz andere Frau, allseits beliebt und kurz davor, den ältesten Sohn der Moores zu heiraten, der einmal einen großen Hof und dazu noch einen Batzen Geld erben würde. Aber es war mehr als das. Sie hatte Noel Moore geliebt. Seine Familie war anfangs nicht besonders glücklich über diese Verbindung, aber Kate hatte sie schon bald auf ihre Seite gezogen, sogar Noels Mutter, für deren Ältesten keine gut genug sein konnte. Kate hatte eine strahlende und glückliche Zukunft vor Augen gehabt, doch hinter den Kulissen hatte Tess gelauert und alles zerstört. Beklommen hockte Dermot auf dem Fahrersitz des verbeulten Lieferwagens und warf Tess ein unsicheres Lächeln zu. Sie machte nicht gerade einen gefährlichen Eindruck. Sie war klein und sah, genau wie ihre große Schwester, nicht übel aus. Wie eine jüngere Ausgabe von Kate, das lange Haar so schwarz, dass ihre weiße Haut noch bleicher wirkte. Es fiel ihm auf, dass sie ihn nicht ansah, wenn er sprach, und dass in ihren dunkelblauen Augen weder Freude noch Traurigkeit zu lesen war. Er hatte sich, ohne es zu merken, allerhand Gedanken gemacht, wie sie wohl darauf reagieren würde, die Anstalt zu verlassen und nach Hause zu kommen, aber es schien sie nicht sonderlich zu berühren. Jedenfalls starrte sie die ganze Fahrt über aus dem dreckverkrusteten Seitenfenster des Lieferwagens. Die Stille machte Dermot nervös.
»Um diese Zeit werden wir nicht lange brauchen, bei dem bisschen Verkehr.«
Keine Reaktion.
»Du freust dich bestimmt auf deine Familie. Es ist ja lange her.«
Schweigen.
»Gibst du denn keine Antwort, wenn man dich was fragt?«
»Doch.«
»Aber warum antwortest du dann nicht auf meine Fragen?«
»Du hast mir keine Frage gestellt. ›Um diese Zeit werden wir nicht lange brauchen, bei dem bisschen Verkehr‹ und ›Du freust dich bestimmt auf deine Familie. Es ist ja lange her‹ sind keine Fragen.«
Dermot starrte das seltsame Mädchen an und wunderte sich, dass sie seine Sätze Wort für Wort wiedergegeben hatte. Außerdem ärgerte er sich ein wenig darüber, dass sie Recht hatte: Er hatte ihr keine Frage gestellt.
»Tut mir leid«, erwiderte er. »Du hast Recht. Das waren keine Fragen.«
»Ich weiß«, entgegnete Tess kühl und sah wieder aus dem Fenster.
Sie wollte nicht mit diesem Mann reden, den sie noch nie gesehen hatte. Sie wollte jede Minute dieser Fahrt genießen, rasch das lärmende Dublin hinter sich lassen und Wicklow mit seinen Bergen und Seen wiedersehen. Hoffentlich war noch alles so wie in ihrer Erinnerung. Dermot spürte, dass sie in Ruhe gelassen werden wollte und trat aufs Gas. Er war ohnehin nicht der geborene Unterhalter, aber hier war Hopfen und Malz verloren. Mit ihr war gar keine Unterhaltung möglich. Er wollte diese Aufgabe so schnell wie möglich erledigen und sich wieder der Tätigkeit widmen, die ihm die liebste war: die Tiere versorgen.
Eigentlich hatte sich Tess Byrne auf eine schlaflose Nacht eingestellt, doch dann wurde sie vom Geräusch der Putzfrauen geweckt, die den langen Korridor vor ihrer Zimmertür wischten. Es war ein beruhigendes Geräusch, an das sie sich während ihrer zehn Jahre in dieser Anstalt gewöhnt hatte. Sie stellte ihre nackten Füße auf die kalten Fliesen und ging auf Zehenspitzen zum Fenster hinüber, um in den hellen, frostkalten Februarmorgen hinauszublicken. Tess genoss ihr morgendliches Ritual, freute sich, immer die gleichen Dinge zu sehen: die Autos auf der Straße, die Fahrradfahrer, die auf dem Weg zur Arbeit die Abkürzung über das Anstaltsgelände nahmen, die Krankenschwestern, die nach und nach eintrafen. Doch dieser Morgen war anders. Dieser Morgen war der letzte, an dem sie das alles beobachten würde, es war der letzte Tag, den sie hier verbringen würde. Heute war der Tag ihrer Entlassung. Langsam und systematisch zog Tess sich an, wobei sie gewissenhaft jedes Kleidungsstück einzeln auseinanderfaltete. Sie holte den kleinen Koffer unter ihrem Bett hervor und packte schweigend ihre Sachen. Viel gab es nicht zu verstauen, hauptsächlich ihre Zeichnungen und die Buntstifte, zusammen mit ein bisschen Wäsche. Als sie fertig war, setzte sie sich aufs Bett und ließ den Blick durch das spärlich eingerichtete Zimmer schweifen. Außer ihrem Bett und dem Schrank gab es nur noch eine alte Holzkommode, die nach Mottenkugeln roch. Die kleine Kammer war weiß getüncht, was den stillen Raum kälter wirken ließ, als er eigentlich war. Abgesehen von einigen Zeichnungen, die sie hierlassen wollte, hing an den Wänden nur eine runde weiße Plastikuhr und ein großes hölzernes Kruzifix, an das sie sich erst nach geraumer Zeit gewöhnt hatte. Was ihr an ihrem Zimmer am besten gefiel, war das große Fenster mit den Fensterläden und der breiten Fensterbank, auf der sie oft gesessen und gemalt hatte.
Tess setzte sich, erst in einer guten halben Stunde würde man sie zum Frühstück rufen. Sie holte ein kleines Notizbuch aus ihrem Koffer und schlug die erste Seite auf. Unter der in Schönschrift verfassten Überschrift »Entschuldigen« war dort in großen, roten Buchstaben eine Liste zu lesen.
Entschuldigen
Seán
Kate
Ben
Dr. Cosgrove hatte sie oft gefragt, was diese Liste zu bedeuten hatte, aber sie hatte es ihm nicht verraten. Das war ihr Geheimnis, und Geheimnisse darf man nicht weitersagen. Sie legte das Notizbuch in den Koffer zurück und holte einmal tief und zufrieden Luft. Heute begann ein neues Leben. Sie kehrte nach Hause zurück und hatte dort einiges zu erledigen. Dr. Martin Cosgrove ließ seinen massigen Körper in den schwarzen Ledersessel sinken und blickte aus seinem stickigen Büro auf den Innenhof der Anstalt hinunter. Er beugte sich vor, wobei seine blonden Haare über die dunkel gerahmte Brille fielen, und beobachtete die Kinder, die unter der Aufsicht zweier Pfleger draußen im Hof spielten. Er seufzte, als er an die Verantwortung dachte, die seine Arbeit mit sich brachte, gab es doch keinerlei Gewissheit, ob er irgendeinem der vielen hundert verhaltensgestörter Kinder, die diese Anstalt durchlaufen hatten, wirklich hatte helfen können.
Das galt auch für Tess Byrne. Bei der Durchsicht ihrer Akte konnte er kaum glauben, dass sie einem anderen Menschen etwas angetan haben sollte. In den ersten Jahren hatte es ein paar kleinere Zwischenfälle gegeben, sodass man ihr schließlich ein Einzelzimmer zugewiesen hatte. Als sich ihr Verhalten dann gebessert hatte, wollte keines der anderen Kinder mit ihr zusammenwohnen. Sie sagten, Tess würde sich seltsam benehmen und sie die ganze Zeit anstarren. Über Jahre hatte er versucht, mit der stummen Einzelgängerin ins Gespräch zu kommen, und das durchaus mit einem gewissen Erfolg. Und doch konnte er die wenigen Male, an denen sie in den letzten zehn Jahren ein paar zusammenhängende Sätze gesprochen hatte, fast an einer Hand abzählen.
Cosgrove seufzte laut. Tess würde heute von ihren Angehörigen, die in einem entlegenen Teil von County Wicklow einen Hof bewirtschafteten, abgeholt werden, und es sah ganz danach aus, als würde sie den Rest ihres Lebens ohne Kontakt zur Außenwelt verbringen. Aber ihm waren die Hände gebunden. Sie war einundzwanzig Jahre alt und zeigte, abgesehen von ihrem apathischen Wesen und den gelegentlichen Gefühlsausbrüchen, keinerlei Anzeichen für eine Geisteskrankheit.
Er kannte sich ein wenig mit ihrem Leiden, Autismus, aus und wusste auch, dass ihr jüngerer Bruder deutlich stärker davon betroffen war, aber er konnte nicht behaupten, dass er verstand, was in Tess wirklich vorging. Alle Kinder, die bei ihm im Büro landeten, waren verhaltensauffällig, die meisten aufgrund einer psychischen Störung, dennoch hatte er das Gefühl, dass Tess eigentlich nicht hierhergehört hätte. Das stimmte den erschöpften Psychiater traurig, und er wünschte, er hätte im Lauf der Jahre mehr für sie tun können. Zu seinem Bedauern hatten sich Tess' Geschwister nie hier sehen lassen, weshalb er sich an den Arzt ihres Heimatortes gewandt hatte. Von ihm erfuhr er, dass zwar Tess' älterer Bruder Alkoholiker sei, ihre Schwester aber eine tüchtige Frau, die sich sicherlich gut um Tess kümmern würde. Da Cosgrove auch persönlich mit ihren Geschwistern sprechen wollte, rief er sie an. Kate Byrnes leise Stimme ließ eher auf eine leichte Depression schließen als auf die Stärke, von der Dr. Doyle gesprochen hatte, was Cosgrove beunruhigte. Tess stand ein bedeutender Schritt, bevor und er musste sicher sein, dass alles, was er veranlasste, zu ihrem Besten war. Cosgrove beschloss, die Gemeindeschwester anzurufen und sie zu bitten, sich um Tess zu kümmern. So konnte er sie ein wenig im Blick behalten, bis er wirklich überzeugt war, dass es ihr gut ging.
Als er mit Tess über ihren bevorstehenden Abschied gesprochen hatte, hatte sie ihn wortlos angestarrt und an ihrem Pullover gezupft, während sie die Neuigkeit verarbeitete. Tess war zu einer schönen jungen Frau herangewachsen, ihr porzellanfarbener Teint war umrahmt von kräftigem, schwarzem Haar. Ihr unbewegtes Gesicht wirkte fast wie das einer Puppe. »Freust du dich, Tess?«, hatte er lächelnd gefragt. Das Mädchen hatte keine Miene verzogen, wie üblich starr an ihm vorbeigeblickt und mit einem kurzen Nicken sein Büro verlassen. Cosgrove stemmte sich langsam aus seinem Sessel. Er blieb in Gedanken versunken stehen und umklammerte Tess' Krankenakte, bis ihn das Schrillen der Schulglocke aufschreckte. Er steckte die Akte langsam in den großen, metallenen Aktenschrank.
Behutsam schloss er die Schublade, griff nach den Akten der beiden Kinder, die heute neu eingetroffen waren, und bereitete sich auf seine Visite vor.
Dermot Lynch war ein ernsthafter Mann. Im Alter von dreißig Jahren stand er nach einer Auseinandersetzung mit seinem starrsinnigen, dominanten Vater von einem Tag auf den anderen nicht nur ohne Land, sondern auch ohne Dach über dem Kopf da. Dan Lynch war längst im Ruhestand, trotzdem hatte er sich ständig eingemischt und seinem ältesten Sohn vorgeschrieben, wie er den Hof zu führen hatte. Bis Dermot schließlich die Nase voll hatte. Dermot hatte mit dem Gedanken gespielt, nach London oder New York, ja, vielleicht sogar nach Sydney zu gehen, wo überall Verwandte von ihm lebten. Aber er wusste auch, dass er nicht für das Baugewerbe geschaffen war, und für ein Leben als Fabrikarbeiter erst recht nicht. Stattdessen war er hierher nach Wicklow gekommen, wo er im Pub seiner Tante und seines Onkels arbeitete und außerdem halbtags als Knecht auf dem Hof der Byrnes. Der Hof würde ihm zwar nie gehören, aber die Arbeit machte ihm Spaß. Wie zu Hause in Galway galt es, das Vieh zu versorgen. Das Klima im Osten war milder, und es regnete deutlich weniger. Er fühlte sich wohl hier, arbeitete hart und ging seinen Arbeitgebern aus dem Weg, obwohl er durchaus nichts gegen sie hatte. Der Bruder, Seán, hatte offenbar ein Alkoholproblem und packte nur selten mit an. Die Schwester, Kate, sah nicht schlecht aus, machte den Haushalt und kümmerte sich um ihren kleinen Bruder Ben, der stumm war wie ein Fisch, sich ständig zu irgendwelchen unhörbaren Klängen wiegte und vor sich hin summte. Die Stille im Haus war mit Händen zu greifen, und Dermot hielt sich dort so wenig wie möglich auf. Er aß, was ihm vorgesetzt wurde, und versuchte, dem starren Blick des Jungen auszuweichen, bevor er sich hastig wieder an seine Arbeit machte.
Im Grunde genommen störte ihn die merkwürdige Atmosphäre aber nicht. Niemand stellte ihm Fragen, was ihm nur recht war. Das Letzte, was er gebrauchen konnte, war, dass im Dorf darüber getratscht wurde, dass er den eigenen Hof an seinen jüngeren Bruder verloren hatte. Man schrieb zwar das Jahr 1981, aber in Irland gingen die Uhren langsamer, und er hatte keine Lust, Thema des Dorfklatsches in dem kleinen Ort zu sein, den er mittlerweile sein Zuhause nannte.
Dermots Tage verliefen immer gleich. Er kümmerte sich um das Vieh, mistete die Ställe aus, und wenn Seán Byrne nüchtern genug war, gingen sie zusammen auf den Markt. Doch heute Morgen war alles anders. Dermot wunderte sich, dass Seán und Kate Byrne nicht selbst nach Dublin fuhren, um ihre Schwester abzuholen, die, wie er dem Dorfklatsch entnehmen konnte, »nicht alle Tassen im Schrank hatte«. Diese Aufgabe war ihm unangenehm, und es wäre ihm ausnahmsweise lieber gewesen, wenn einer der Byrnes ihn begleitet hätte. Warum holten sie sie nicht selber ab? Warum lebte sie überhaupt in so einer Anstalt? War sie vielleicht wirklich nicht ganz dicht und wurde auf der Rückfahrt womöglich handgreiflich? All diese Fragen verdüsterten Dermots normalerweise heiteres Gemüt, bis er mit Kopfschmerzen und Magenkrämpfen die Anstalt erreichte. Sein Vater hätte sich totgelacht, wenn er gewusst hätte, was sein Sohn an diesem Morgen trieb. Allein der Gedanke daran machte Dermot wütend.
Im Wartebereich der Klinik trat er unruhig von einem Fuß auf den anderen. Schließlich erschien ein stattlicher Mann, der aussah, als hätte er hier etwas zu sagen. Sein Lächeln wirkte eher nervös als freundlich. »Guten Tag, ich bin Dr. Cosgrove«, stellte er sich vor und schüttelte Dermot ein wenig zu enthusiastisch die Hand. »Ich bin Psychiater. Und Sie müssen Seán sein, der Bruder von Tess?«
Dermot spürte, wie er rot wurde. Er war es nicht gewöhnt, mit gebildeten Menschen wie diesem Psychiater zu sprechen, und außerdem hatte der Mann anscheinend Dermots Arbeitgeber erwartet.
»Ähm, nein, ich ... ich meine ... ich arbeite für die Familie Byrne ... sie haben mich hergeschickt, um sie abzuholen ... also, Tess, meine ich.« Dermot bemerkte die entsetzte Miene des Arztes und wusste beim besten Willen nicht, was er noch sagen sollte.
Nach einer Ewigkeit, wie es ihm schien, entgegnete der Arzt: »Sind die Angehörigen denn krank geworden ... ist etwas passiert?«
»Nein«, erwiderte Dermot. Er wusste nicht, welche Antwort seine Arbeitgeber in ein halbwegs freundliches Licht hätte rücken können, schließlich empfand auch er es als äußerst unhöflich, dass sie nicht selbst hergekommen waren. »Sie haben mich nur gebeten, hierherzufahren. Ich heiße Dermot Lynch und arbeite auf dem Hof ...« Seine Stimme wurde immer leiser, je weiter sich das ungläubige Staunen auf dem Gesicht des Arztes ausbreitete.
»Aber sie kennt Sie doch, sie hat Sie schon einmal gesehen, oder?«
»Nein, Sir, ähm, Herr Doktor ... ich hab erst vor ein paar Monaten dort angefangen. Wollen Sie sie anrufen? Ich meine ... nachprüfen, wer ich bin und so weiter?«
Dr. Cosgrove starrte den jungen Mann ungläubig an. Er konnte nicht glauben, dass Tess' Angehörige, die doch um ihren Zustand wussten, sie von einem völlig fremden Menschen abholen ließen. Plötzlich kamen ihm schwere Bedenken gegen ihre Entlassung, aber er wusste, dass er letztlich machtlos war.
Sie war schließlich erwachsen und konnte nicht länger auf dieser Station bleiben. Eigentlich hätte sie schon nach ihrem achtzehnten Geburtstag in die Erwachsenenabteilung verlegt werden müssen, aber er hatte alles in seiner Macht Stehende unternommen, um das zu verhindern, und darauf verwiesen, dass die Erwachsenenabteilung für ihre Störung ungeeignet war. In den ersten Jahren hatte er immer wieder befürchtet, dass sie dort enden und den Rest ihres Lebens in einer Pflegeeinrichtung verbringen würde, aber irgendwann hatte sie sich eingelebt, und so hatte er keinen Grund gesehen, sie nicht in den Schoß ihrer Familie zu entlassen. Bis jetzt. Es hatte ihn zwar beunruhigt, dass ihre Angehörigen sie in all den Jahren nie besucht hatten, aber er wusste auch, dass Tess' Geschwister durch den Tod ihrer Eltern, die alleinige Verantwortung für den Hof und die Pflege des jüngeren Bruders sehr belastet waren. Eigentlich hätte Tess schon vor einigen Jahren entlassen werden können, aber ihre Geschwister hatten nie auf seine Bitten reagiert, sich an den Entwicklungsgesprächen zu beteiligen. Die große Schwester schickte zu jedem Geburtstag und zu Weihnachten ein Geschenk, aber Cosgrove hatte sich doch gefragt, warum sie Tess nicht wenigstens gelegentlich besuchten.
Und jetzt das! Sie brauchte doch ein vertrautes Gesicht und nicht das eines Fremden, vor dem sie mit Sicherheit Angst hatte. Der Arzt fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und wandte sich ab. Sein Blick wanderte durch das weitläufige Foyer, als ließe sich in der einen oder anderen unwirtlichen Ecke vielleicht eine Antwort finden - und dann sah er sie. Dort stand sie neben ihrem Gepäck, abwartend, beobachtend.
»Tess! Ähm ... das ist Mr. ..., Entschuldigung, wie, sagten Sie, war Ihr Name?«
»Dermot, Dermot Lynch.«
»Mr. Lynch. Er ist gekommen, um dich nach Hause zu bringen. Wie bist du hierhergekommen?«
Das war auch so eine Geschichte. Er begegnete Tess immer wieder auf Treppen, auf denen sie nichts zu suchen hatte, in Zimmern, zu denen ihr der Zutritt verboten war, und das Personal wusste nie, wie sie dort hingeraten war. Nach mehreren Vorkommnissen dieser Art hatte er aufgehört, sie danach zu fragen, da sie niemals das Gelände verließ und auch sonst nichts Verbotenes tat. So hatten sie sich alle daran gewöhnt, dass Tess immer da war, wo sie eigentlich nicht sein sollte, und nie dort, wo man sie erwartete.
»Tut mir leid, Tess. Ich war eigentlich davon ausgegangen, dass dein Bruder oder deine Schwester dich abholen. Ich weiß nicht, was passiert ist, aber ich rufe sofort bei ihnen an und bitte sie, dich an einem anderen Tag abzuholen.«
Tess schüttelte den Kopf und ging langsam auf den verlegenen jungen Mann zu.
Dermot kam sich vor wie in einer Fernsehsendung, in der einem irgendeine Falle gestellt wird und die ganze Welt zuschauen kann, wie man veräppelt wird. Dr. Cosgrove glaubte, dass sie ihn nicht richtig verstanden hatte. »Tess, das ist nicht dein Bruder, aber ich rufe ihn gleich an und kläre das Ganze. Es tut mir leid, Tess.« Er wusste, wie sie sich auf diesen Tag gefreut hatte.
»Ich gehe«, erklärte Tess nüchtern.
Dr. Cosgrove war verdutzt, fasste sich aber schnell wieder.
»Es tut mir leid, Tess«, sagte er noch einmal, wobei ihm bewusst war, dass er sich nicht für das momentane Durcheinander entschuldigte, sondern für all die Jahre, in denen er ihr nicht wirklich hatte helfen können. »Auf Wiedersehen. Melde dich mal wieder. Und falls du irgendetwas brauchst oder ...«
Sie war bereits auf dem Weg zum Ausgang, vorbei an den Krankenschwestern und Pflegern, die so viele Jahre ein Teil ihres Lebens gewesen waren. Sie schaute weder rechts noch links, sondern ging mit dem Koffer in der Hand schnurstracks geradeaus. Flink stieg sie in den Lieferwagen und warf nur einen kurzen Blick zurück auf ihr Zimmerfenster, um es auch einmal von außen zu betrachten. Das hatte sie sich fest vorgenommen, auch wenn sie nicht wusste, warum, und dachte darüber nach, als der Lieferwagen sich in Bewegung setzte und
sie sich auf den Weg nach Hause machten.
Árd Glen war eine kleine Bauerngemeinde im Südwesten von County Wicklow. Trotz der bezaubernden Lage, umgeben von Bergen und Seen, hatte sich die Zahl der rund dreihundert Einwohner über die Jahre nie nennenswert verändert. Es gab kaum Arbeit, und die meisten Familien betrieben eine kleine Viehzucht, da das Land für den Getreideanbau zu hügelig war. Im Frühling musste man sich um die neugeborenen Lämmer kümmern und im Sommer kamen für gewöhnlich ein paar, überwiegend amerikanische, Touristen, auf der Suche nach dem Grab ihrer Urgroßeltern vorbei. Doch im Herbst und Winter legte sich der Himmel wie eine schwere, graue Decke über das Dorf und überließ die Bewohner ihren Erinnerungen, den guten wie den schlechten.
Die Erinnerungen waren es auch, die Seán Byrne unruhig in der Küche des bescheidenen Hauses auf und ab laufen ließen, in dem er seit seiner Geburt lebte. Das Haus teilte ein lang gezogener, dunkler Flur. Das Zimmer zur Linken, ein ehemaliges Schlafzimmer, war zu einem Wohnzimmer umfunktioniert worden, das jedoch kaum benutzt wurde. Das Zimmer auf der rechten Seite bewohnten Seán und Ben, während Kate und Tess sich einen Raum am hinteren Ende des Flurs teilten, der dem kleinen Badezimmer gegenüberlag, das Seán hinten ans Haus angebaut hatte. Sein Vater war viel zu geizig gewesen, um seiner Familie zu seinen Lebzeiten einen derartigen »Luxus« zu gönnen. Das linke Flurende führte in die Küche.
Sie wurde von einem riesigen, altmodischen Küchenofen beherrscht, der die einst weißen Wände schwarz gefärbt hatte. Unter dem Fenster mit Blick auf den Hinterhof stand die Spüle, links und rechts flankiert von zwei Schränken, deren Lack überall abblätterte. Den Raum in der Mitte der Küche nahmen ein altmodischer Holztisch und vier abgewetzte Polsterstühle ein.
Seán war stolz auf die Veränderungen, die er als junger Mann an Haus und Hof vorgenommen hatte. Die Arbeit auf dem Hof war ihm schon immer lieber gewesen, als für die Schule zu lernen, und so hatte er den Büchern mit dreizehn Lebewohl gesagt. Seine Familie genoss im Dorf nicht den besten Ruf, und er hatte im Lauf der späteren Sechzigerjahre viel Mühe daran gesetzt, das zu ändern. Vergebens. Seine ganze Jugend hatte er dem Versuch gewidmet, sich einen Hof und einen guten Ruf aufzubauen, der schneller wieder ruiniert war als ein Feuer sich durch einen Heuschober frisst. Er konnte sich selbst schon kaum mehr daran erinnern, wie er damals gewesen war - jung, voller Kraft und voller Hoffnung. Jetzt verbrachte er seine Tage damit, seinen Alkoholkonsum vor seiner mittlerweile ständig nörgelnden Schwester und dem Knecht zu verbergen, der zwar nichts sagte, aber sehr wohl bemerkt hatte, dass sein Arbeitgeber trank. Während der vergangenen zehn Jahre war es ihnen gelungen, eine Art Scheinnormalität zu wahren: Seán arbeitete auf dem Hof, so gut er konnte, damit wenigstens ein bisschen Geld hereinkam. Kate besorgte übellaunig den Haushalt und kümmerte sich um Ben, der nie ein Mann werden und noch lange nach ihrem Tod auf Pflege angewiesen sein würde. Trotzdem waren sie immer irgendwie über die Runden gekommen. Und ausgerechnet jetzt, wo es so aussah, als bekämen sie wieder Boden unter die Füße und könnten Vergangenes vergessen sein lassen, erhob die Vergangenheit in Gestalt ihrer kleinen Schwester wieder ihr hässliches Haupt. Im Dorf würde man die alte Geschichte wieder ausgraben, und das ganze Gerede ginge von vorne los. Wenn sie sie doch bloß nicht zurücknehmen müssten. Wenn die Anstalt sie doch bloß behalten würde oder sie in der Lage wäre, in Dublin oder in einer betreuten Wohngemeinschaft ihr eigenes Leben zu führen. Er hatte ja versucht, diesen aufdringlichen Psychiater abzuwimmeln, hatte die Briefe mit den Berichten über ihre Entwicklung in den Papierkorb geworfen, hatte sie nie besucht. Das hätten die dort doch kapieren müssen. Aber nein. Er konnte ja schlecht sagen: »Wir wollen sie nicht wiederhaben. « Das hätte einen schlechten Eindruck gemacht, und die Leute hätten erst recht angefangen, sich das Maul zu zerreißen.
Er spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg, und wusste selbst nicht genau, ob aus Wut oder Scham, als Kate seine Gedanken unterbrach.
»Es nützt alles nichts, wir müssen das Beste draus machen. Vielleicht hat sie sich ja verändert, ist ein bisschen ruhiger geworden. Sie war ja noch ein Kind, musst du bedenken. Womöglich kann sie uns sogar mit dem Jungen zur Hand gehen.
Weiß Gott, wahrscheinlich versteht sie ihn besser als ich.« Kate wusste immer ganz genau, was er dachte, ja, sogar, was er fühlte. Kate war ihm immer einen Schritt voraus, kühl und berechnend und klüger, viel klüger. Seán betrachtete seine Schwester. Sie erinnerte ihn an seine Mutter, in sich ruhend und wunderschön. Ihm war immer bewusst gewesen, wie stark er sich äußerlich von seinen Geschwistern und Eltern unterschied. Er war der einzige Rotschopf in einer schwarz haarigen Familie. Er hatte grüne Augen und Sommersprossen, seine Geschwister dagegen blaue Augen und helle, weiße Haut, die weder rot noch braun wurde. Er beneidete Kate um ihre Gelassenheit. Seine Schwester hätte viel mehr Grund gehabt als er, Tess' Rückkehr zu bedauern - sie war zum Zeitpunkt des »Unfalls«, wie sie es zu nennen pflegten, verlobt gewesen. Damals war Kate noch eine ganz andere Frau, allseits beliebt und kurz davor, den ältesten Sohn der Moores zu heiraten, der einmal einen großen Hof und dazu noch einen Batzen Geld erben würde. Aber es war mehr als das. Sie hatte Noel Moore geliebt. Seine Familie war anfangs nicht besonders glücklich über diese Verbindung, aber Kate hatte sie schon bald auf ihre Seite gezogen, sogar Noels Mutter, für deren Ältesten keine gut genug sein konnte. Kate hatte eine strahlende und glückliche Zukunft vor Augen gehabt, doch hinter den Kulissen hatte Tess gelauert und alles zerstört. Beklommen hockte Dermot auf dem Fahrersitz des verbeulten Lieferwagens und warf Tess ein unsicheres Lächeln zu. Sie machte nicht gerade einen gefährlichen Eindruck. Sie war klein und sah, genau wie ihre große Schwester, nicht übel aus. Wie eine jüngere Ausgabe von Kate, das lange Haar so schwarz, dass ihre weiße Haut noch bleicher wirkte. Es fiel ihm auf, dass sie ihn nicht ansah, wenn er sprach, und dass in ihren dunkelblauen Augen weder Freude noch Traurigkeit zu lesen war. Er hatte sich, ohne es zu merken, allerhand Gedanken gemacht, wie sie wohl darauf reagieren würde, die Anstalt zu verlassen und nach Hause zu kommen, aber es schien sie nicht sonderlich zu berühren. Jedenfalls starrte sie die ganze Fahrt über aus dem dreckverkrusteten Seitenfenster des Lieferwagens. Die Stille machte Dermot nervös.
»Um diese Zeit werden wir nicht lange brauchen, bei dem bisschen Verkehr.«
Keine Reaktion.
»Du freust dich bestimmt auf deine Familie. Es ist ja lange her.«
Schweigen.
»Gibst du denn keine Antwort, wenn man dich was fragt?«
»Doch.«
»Aber warum antwortest du dann nicht auf meine Fragen?«
»Du hast mir keine Frage gestellt. ›Um diese Zeit werden wir nicht lange brauchen, bei dem bisschen Verkehr‹ und ›Du freust dich bestimmt auf deine Familie. Es ist ja lange her‹ sind keine Fragen.«
Dermot starrte das seltsame Mädchen an und wunderte sich, dass sie seine Sätze Wort für Wort wiedergegeben hatte. Außerdem ärgerte er sich ein wenig darüber, dass sie Recht hatte: Er hatte ihr keine Frage gestellt.
»Tut mir leid«, erwiderte er. »Du hast Recht. Das waren keine Fragen.«
»Ich weiß«, entgegnete Tess kühl und sah wieder aus dem Fenster.
Sie wollte nicht mit diesem Mann reden, den sie noch nie gesehen hatte. Sie wollte jede Minute dieser Fahrt genießen, rasch das lärmende Dublin hinter sich lassen und Wicklow mit seinen Bergen und Seen wiedersehen. Hoffentlich war noch alles so wie in ihrer Erinnerung. Dermot spürte, dass sie in Ruhe gelassen werden wollte und trat aufs Gas. Er war ohnehin nicht der geborene Unterhalter, aber hier war Hopfen und Malz verloren. Mit ihr war gar keine Unterhaltung möglich. Er wollte diese Aufgabe so schnell wie möglich erledigen und sich wieder der Tätigkeit widmen, die ihm die liebste war: die Tiere versorgen.
... weniger
Autoren-Porträt von Carol Coffey
Carol Coffey lebt im irischen County Wicklow. Bevor sie sich ihrer schriftstellerischen Karriere zuwandte, sammelte sie viele Erfahrungen in Pflegeberufen, so auch in einem Heim für autistische Jugendliche, was ihrem Schreiben große Authentizität verleiht.
Bibliographische Angaben
- Autor: Carol Coffey
- 2011, 376 Seiten, Maße: 12,1 x 18,9 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Aus d. Engl. v. Leo Strohm
- Übersetzer: Leo Strohm
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442473179
- ISBN-13: 9783442473175
Rezension zu „Das Mädchen mit den Schmetterlingen “
"Nicht der Mord steht im Mittelpunkt, sondern die autistische Protagonistin, was wiederum ein facettenreiches Familienportrait ergibt."
Kommentare zu "Das Mädchen mit den Schmetterlingen"
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