Das Pferd, das den Bussard jagte
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In den Niederlanden wird 't Hart vor allem als Geschichtenerzähler geschätzt. Nun kann auch hierzulande diese Seite des Erzählers entdeckt werden.
Das Pferd, das einen Bussard jagte von Maarten 't Hart
LESEPROBE
Er holte dieKinderbahre. Das schien tatsächlich der ideale Gegenstand, um Schlittschuhlaufen zu lernen. Da sie mit vier Beinen auf dem Eis stand, fiel sie nie um.Ich konnte mich prächtig festhalten. Schon sehr bald schob ich dieKinderbahre vom einen Ende des Grabens zum anderen Ende, wo dieEisenbahngleise lagen und einmal der Holland-Warschau-Expreßvorbeidonnerte.
Zwei Nachmittagelang übte ich mit der Kinderbahre. Kurz bevor der Friedhof geschlossen wurde, sagtemein Vater: »So, und nun einmal ohne, denn morgen wird der Kleine von Van Beest beerdigt, unddaher mußt du es dann ohne Bahre schaffen. «
Es dämmertebereits. Das Schilf im Graben zwischen Friedhof und Bahngleisen bewegtesich nicht mehr. Eingelblicher Lichtstreifen funkelte hinter derOberleitung. Ich lief darauf zu, fiel, stand wieder auf, fiel wieder, und mein Vater sagte: »Ja, es sind vielleicht hübsche Schlittschuhe zum Lernen,aber ohne Bahre kommst du nicht damitzurecht.«
»Ich krieg neuevon Onkel Henk«, sagte ich.
»Bist du nun völlig verrücktgeworden«, sagte mein Vater, »ich kauf dirselbst ein Paar gute, neue Schlittschuhe.«
»Du hast neulichnoch gesagt, daß es Sünde sei, für ein paarTage Eis neue Schlittschuhe zu kaufen...«
»Ich habe gar nichts gesagt, komm jetzt mal darunter, wirgehen sofort eben bei Smitje de Smitvorbei.«
Nie werde ich vergessen, wie es war,am nächsten Tag, nach der Beerdigung von Bertje van Beest, instrahlendem Sonnenschein und bei bittererKälte mit nagelneuen Schlittschuhen auf dem Friedhofsgraben zu laufen. Es war, als hätte ich es niemals lernenmüssen, als hätte ich es schon immergekonnt, und mein Vater sagte: »Du wirst nie ein Eisschnelläufer werden.«
Aber das machtemir nichts aus. Es war, als müßte man sich immerso und nicht anders fortbewegen. Als wäre dies das eigentliche Gehen und das Zufußgehennur ein armseliger Ersatz dafür. Als hätte ich immer nur darauf gewartet, diestun zudürfen.
»Morgen mußt du mal auf den Boonervliet«,sagtemein Vater, »falls das noch möglich ist. Mein Hühnerauge meldet sich soabscheulich, daß die Gemeinde schon mal Streusalz bisAugust nachbestellen kann. Da sitzt ein ganzer Haufen Schnee in meinem linkenBein.«
Als wir nacheinem kurzen Fußweg, bei dem mir war, als müßteich wieder laufen lernen, nach Hause kamen, sagte meine Mutter: »Ich höre den Zug noch immernicht.«
So lief ich am nächsten Tag zwischen Hunderten von anderen Schlittschuhläufern aufdem Boonervliet zur Blauwe Brug. In dem berauschenden kalten Sonnenlicht lief ich über das schwarze Eis zurückbis zum Schöpfwerk. Dort wendete ich. Gegen den steifen, ungleichmäßigwehenden Nordost lief ich zur Blauwe Brug und spürte stärkerals zuvor die Macht des Windes. Alsich das Ganze fünfmal gemacht hatte,wobei ich gegen Schlittschuhläufer stieß, die niemals böse wurden, und Schlitten auswich, auf denen eingepackte Kinder froren, gezogen von Müttern auf eleganten Schlittschuhen, und immer wieder zu den Zehntausendenvon Staren schaute, die auf den Wiesen vergeblichnach Futter suchten, war ich so müde, daß ich eine Viertelstunde für den Weg nach Hause brauchte. Im Sommer mit meiner Angel legte ich denselben Weg in fünf Minuten zurück.
Unten am Deichstolperte ich am Haus von Tante Riek vorbei. MeinGroßvater saß am Fenster und rief: »Henk, da ist Maartenvon Pau.«
Onkel Henk kamzur Haustür.
»Hast du's ein bißchen im Griff?« fragte er.
»Ja«, sagteich.
»Gehen wir dannmorgen zusammen los?« »Wenn wir nicht zu weit weg ... «
»Nein, natürlichnicht, wir laufen zum Bommeer, trinken dort jeder zwei Becherheißen Kakao
auf dem Eis undkommen dann wieder zurück.«
Am nächsten Taglief ich wieder in dem kalten Sonnenlicht über das schwarze Eis. Es waren schon Rissedarin. Onkel Henk lavierte geschickt drum herum. Ängstlich blieb ich hinterihm. Sein breiter Heizerrücken hielt den starken Nordost ab. MeineSchlittschuhe saßen nicht so fest wie sonst. Onkel Henk hatte sie mirangeschnallt. Nein, das konnte mein Vater besser.
Auf den Knienkrochen wir unter der Blauwe Brug durch. Dahinter lag eine unendliche, still glänzendeEisfläche. Dort waren nur wenige Schlittschuhläufer. Der Wind blies uns direktins Gesicht. Am Ufer schrien hungrige Dohlen. Ein Stück weiter,nach einem hohen grauen, einsamen Haus, wo ein Hund jeden vorüberkommendenSchlittschuhläufer wütend anbellte, wurde es belebter.
»Wir sind jetztbald bei den Schlittschuhläufern aus Vlaardingen und Delft«, rief Onkel Henk.
Dann fuhren wiraufs Bommeer. Hunderte von Schlittschuhläufernwaren bereits dort, drehten ihre Runden oder standen bei einer der Buden, jagtenhintereinander her oder schnallten sich am Ufer ihre Schlittschuhe ab.
»So«, sagte OnkelHenk, »jetzt gehen wir erst mal in eine gemütliche Bude.«
Langsam lief eran den dunkelblauen Ständen entlang.
© PiperVerlag
Übersetzung: Marianne Holberg
Autoren-Porträt vonMaarten 't Hart
Maarten 't Hart, geboren 1944 in Maassluis.Studium der Biologie in Leiden und dort Dozent für Tierethologie. Nach seinenJugenderinnerungen zahlreiche weitere Veröffentlichungen, die Bestsellerwurden. Der Autor lebt in Warmond bei Leiden.
- Autor: Maarten 't Hart
- 2004, 66. Aufl., 320 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Marianne Holberg
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492238270
- ISBN-13: 9783492238274
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