Deathbook
Die 15-jährige Kathi war Andreas Winkelmanns Lieblingsnichte. Und jetzt wurde das lebenslustige Mädchen vom Zug überrollt. Selbstmord? Winkelmann kann das nicht glauben und recherchiert. Auf Kathis PC findet er seltsame Videos. Die Spur...
Leider schon ausverkauft
Taschenbuch
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Deathbook “
Die 15-jährige Kathi war Andreas Winkelmanns Lieblingsnichte. Und jetzt wurde das lebenslustige Mädchen vom Zug überrollt. Selbstmord? Winkelmann kann das nicht glauben und recherchiert. Auf Kathis PC findet er seltsame Videos. Die Spur führt immer tiefer ins Netz - zu einem tödlichen Spiel: "Death Book"!
Klappentext zu „Deathbook “
Auf den Gleisen liegt ein Mädchen. Das jämmerliche Kreischen von Metall auf Metall. Ein zerstörter Körper. Unmengen an Blut. Ein Selbstmord?Die 15-jährige Kathi war Andreas Winkelmanns Lieblingsnichte. Der Thrillerautor kann nicht glauben, dass sich das lebenslustige Mädchen das Leben genommen hat, und macht sich auf die Suche nach Hinweisen.
Auf ihrem Computer findet er seltsame Videos. Videos, die zeigen, dass Kathi verfolgt wurde. Die Spur führt immer tiefer ins Netz hinein, zu immer grausameren Videos. Worauf hat sich Kathi da eingelassen? Und in wessen Hände ist sie dabei geraten? Als Andreas Hinweise auf eine Webseite namens Deathbook entdeckt, ahnt er, dass Kathi ein tödliches Spiel gespielt hat - und dass sie nicht die Einzige war. Denn wer einmal in die Fänge des Deathbook geraten ist, den lässt es nicht mehr los ...
"Deathbook" erschien zuerst als digitaler, interaktiver Serien-Thriller in 10 Episoden. Diese gedruckte Ausgabe ist eine vom Autor ergänzte reine Textfassung, mit zahlreichen neuen Passagen. Hochspannung garantiert!
Lese-Probe zu „Deathbook “
Deathbook von Andreas WinkelmannP R O L O G
Im Netz bin ich überall und jederzeit, bin Bedrohung und Erfüllung zugleich. Ich bin in den Leitungen, Verbindungen und Schaltkreisen aus Kunststoff, Silizium und Kupfer, schwinge als millionenfaches Raunen und Wispern ungebunden durch kabellose Sphären, finde meinen Weg und mein Ziel in einer Dimension, die der Mensch nicht versteht. Unwissentlich hat er mir einen virtuellen Raum und eine endlose Zeit geschaffen, in der ich allgegenwärtig sein kann. Technik hat mich nicht domestiziert, sondern befreit. Eingesperrt ist nur der Mensch, in dem von ihm selbst geschaffenen Raum. Und darin ist Sterben so einfach wie ein Mausklick. Jemanden zu finden, der stirbt, so einfach wie ein Download. Wenn nichts mehr geheim ist, wenn die digitale Welt der realen ihre Verstecke und Rückzugsräume raubt, dann liegt das Leben der Menschen offen wie Eingeweide in einem aufgeschlitzten Bauch. Wo bist du heute um acht? Ich weiß es, bevor du selbst dort bist. Wo wirst du in einer Woche sein, wer ist bei dir, zu welcher Minute bist du an welchem Ort allein, schutzlos, ausgeliefert? Ich weiß es, bevor du die Gefahr auch nur ahnst. Welche Wünsche und Sehnsüchte treiben dich? Du vertraust sie mir an, bevor sie dir selbst bewusst sind. Datenschutz. Privatsphäre. Vergiss es! Du bist längst durchschaut, ich habe alles, was ich brauche. Ich bin schon lange nicht mehr nur auf den Friedhöfen und in den Mausoleen, nicht in den Sterbestationen und Altenheimen. Ich habe die Pest- und Choleraenklaven hinter mir gelassen und den alten Schlachtfeldern den Rücken gekehrt. Ich bin das Raunen und Rauschen im Netz. Ich bin die Eins zwischen den Nullen, der Anhang, der Download, die Datei. Ich bin der Tod 3. 0.
... mehr
E P I S O D E 1
Zwei stählerne Adern zerteilten die Schwärze. Ihre Oberflächen, blank poliert von Tausenden Tonnen rasender Last, glänzten matt im schwachen Licht des halben Mondes, so als flösse silbernes Blut hindurch. Sie zogen sich endlos dahin, eingebettet in eine zehn Meter breite grauschwarze Schneise. Wie scharfgeschnittene Klüfte ragte der Wald an ihren Rändern auf und schirmte den leblosen Todesstreifen ab. Keine Geräusche, keine Blicke drangen hinein. Stille. Aber nur scheinbar. Ein feines Vibrieren strömte bereits durch die glänzenden metallenen Adern, genau wie Blut durch menschliche Venen. Es sickerte in den Boden, in die kapillarfeinen Wurzeln der nahestehenden Bäume, drang durch das Holz in die Kronen empor und ließ Blätter und Nadeln schwingen. Kaum wahrnehmbar. Aber das Mädchen spürte es. Ihr Blick zuckte von rechts nach links, immer wieder und immer schneller. Die großen, von langen Wimpern eingefassten Augen suchten etwas, fanden es aber nicht. Tränen tropften aus den Augenwinkeln die Wangen hinab. Sie ließen die Wimperntusche zerfließen, und es sah aus, als verließe dunkles, zähes Blut den Kopf des Mädchens durch die Augenhöhlen. Mit dem Nacken lag sie auf dem einen Schienenstrang, mit den Oberschenkeln auf dem anderen, dazwischen ihr schmaler Körper auf dem Schotterbett, die Arme locker an den Seiten, die Finger auf den schmutzigen Steinen. Sie war gekleidet in eng anliegende Jeans, wadenhohe braune Stiefel und eine kurze schwarze Jacke. Ihr Brustkorb hob und senkte sich unter kurzen, raschen Atemzügen. Aus Westen näherten sich drei Augen. Kreisrunde, glimmende Kugeln, die in der Nacht schwebten. Diese Augen und das feine Vibrieren in den Stahlsträngen gehörten untrennbar zusammen. Das Mädchen wusste das, und ihre Atmung wurde schneller und schneller. Sie hechelte jetzt wie ein Hund. Die Atmosphäre im Todesstreifen lud sich mit der Energie des herannahenden Kolosses auf. Vielleicht verlieh diese Energie dem Mädchen zusätzliche Kraft, vielleicht wurde ihre Angst übermächtig, denn sie wandte unter äußerster Anstrengung den Kopf nach rechts, den drei Augen entgegen. Sie waren größer geworden in den vergangenen Sekunden und wuchsen weiter heran. Aus dem Glimmen wurde kräftiges gelbes Licht, das auf die Stahlstränge fiel und dem Koloss vorauseilte. Die Erde begann zu beben. Das Mädchen schwitzte stark. Keuchend kämpfte sie gegen den Fluchtreflex an. Doch sie blieb liegen und ließ das metallene Ungeheuer kommen. Blickte ihm in die Augen, die größer und heller wurden und den Todesstreifen mit Licht fluteten. Licht, das den jugendlichen Körper des Mädchens aus der Dunkelheit riss. Ohrenbetäubender Lärm erfüllte die Luft, die Schienenstränge schüttelten den Körper durch.
Ganz sacht bewegten sich die Finger des Mädchens, ertasteten den scharfkantigen Schotter, schienen sich daran festhalten zu wollen. Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer grauenvollen Maske. In ihren letzten Sekunden ertrug sie den Anblick nicht mehr und kniff die Augen zusammen. Den Mund aber riss sie weit auf, und vielleicht verließ jetzt doch ein Schrei ihre Lippen. Hören konnte ihn niemand. Als der Lokführer das Hindernis auf den Schienen entdeckte, leitete er sofort die Bremsung ein, doch es war zu spät. Der Körper verschwand unter seiner Lok, als wäre er gar nicht da gewesen. Kein Rumpeln oder Zittern, nur das jämmerliche Quietschen von Metall auf Metall wie das Geschrei einer zänkischen alten Hexe.
Ein wenig Blut spritzte auf die ohnehin schon schmutzige Frontscheibe. Der Lokführer klammerte sich mit beiden Händen an die Haltegriffe, um nicht nach vorn gegen die Instrumententafel zu kippen, und starrte auf die rotbraunen Flecken. Dann wandte er das Gesicht ab und kämpfte gegen den Würgereflex an. Durch die Seitenscheibe meinte er, im dunklen Unterholz des nahen Waldes schwarze Schatten umherhuschen zu sehen. Wild vielleicht, das vor dem Lärm flüchtete. Aber er sah auch ein bläuliches Licht, wie von Glühwürmchen. In anderthalb Meter Höhe zuckte es unruhig umher. Als der lange Güterzug endlich stand, hatte er das Gesehene bereits wieder vergessen.
TAG 4
Dieses Bild von Kathi mochte ich besonders. Darauf sitzt sie in ihrem Zimmer vor der vertäfelten Wand und hält ihre schwarzweiße Katze «Lady». Dem Betrachter dieses Fotos drängt sich unweigerlich der Eindruck auf, von zwei Katzen angeschaut zu werden. Die Aufnahme wird von den Augen der beiden beherrscht. Ladys sind weit geöffnet und von intensiver grüner Färbung, mit den katzentypischen, aufrecht stehenden Pupillen. Kathis Augen sind ebenfalls grün. Es gab nicht viele Teenager mit solchen Augen, voller Neugierde und dem unbändigen Drang, alles zu erfahren, und ich stellte mir nicht zum ersten Mal die Frage, ob an der hinduistischen These der Wiedergeburt etwas dran sein könnte - so viel Weisheit lag darin. In diesem Moment wollte ich daran glauben. Denn Kathi war tot. Ich ließ das vor Lebendigkeit vibrierende Bild auf mich wirken und spürte, wie mir der Hals eng wurde. In meiner Familie haben die Männer nie viel geweint, und ich war da keine Ausnahme. Kathi war vor gerade mal drei Tagen gestorben, und noch hielten der Schock und die bohrenden Fragen nach dem Wie und Warum die Tränen zurück. Ich konnte vor lauter Grübelei nicht mehr schlafen - schon gar nicht schreiben. Warum, warum, warum? Keine Erklärung, von niemandem. Und was die Polizei zu berichten hatte, war absolut unglaubwürdig. Ich war zwar nur Kathis Onkel, aber ich wusste es besser. Nie und nimmer hatte es sich so zugetragen. Sie war häufig bei mir gewesen, hatte sich mir anvertraut, wenn es in der Schule oder zu Hause mal wieder Ärger gegeben hatte. Zu behaupten, ich hätte sie besser gekannt als mein Bruder und seine Frau, wäre vermessen, aber ich konnte in vielen Dingen lockerer sein als Kathis Eltern, und Kathi vertraute mir. Ach, verdammt ... die Enge im Hals verstärkte sich, und ich spürte, wie meine Mundwinkel zu zittern begannen. Vielleicht hätte ich heute nicht herkommen sollen. Vielleicht hätte ich das Foto nicht ausdrucken und in den schlichten Holzrahmen stecken sollen. Kathi hatte es mir erst vor ein paar Wochen per Dateianhang zugeschickt.
Das war kurz nach ihrem Praktikum bei mir gewesen. Sie hatte mich angefleht, den Zukunftstag der Schule bei mir verbringen zu dürfen. Ihre Lehrerin hatte nichts dagegen gehabt, auch wenn es ein wenig ungewöhnlich war. Und ich gebe zu, ich fühlte mich geschmeichelt. Sie hatte gesagt, sie würde in der Schule mit mir angeben, und ich bezichtige jeden der Lüge, der behauptet, so etwas würde nicht der Eitelkeit schmeicheln. Kathi war es nicht darum gegangen, diesen Praktikumstag möglichst bequem irgendwie herumzukriegen. Ich wusste ja schon länger von ihrer Leidenschaft für Bücher und ihrem Wunsch, selbst etwas zu schreiben. Vielleicht rührte auch daher unsere enge Verbundenheit. Jetzt kamen die Tränen. Sie taten weh, und ich schämte mich ihrer nicht. Die ersten tropften auf Kathis Bild. Ich wischte sie mit dem Ärmel meines Pullovers fort und sah genauer hin. Kathi strahlte nicht nur mit ihren Augen, sondern mit dem ganzen Gesicht. Sie hatte einen breiten Mund, fast wie Julia Roberts, mit zwei Reihen weißer, gerader Zähne. Einzig die beiden oberen Schneidezähne waren ein wenig länger, aber nicht viel, und diese kleine Unregelmäßigkeit machte sie nur noch hübscher. Aus diesem Mädchen wäre eine Schönheit geworden, die viele Jungs um den Verstand gebracht hätte. Davon war nichts mehr übrig.
Ich sah zum Sarg hinüber. Er stand auf zwei Holzböcken im halbrunden Anbau der Kapelle zwischen den beiden bodentiefen Buntglasfenstern. Es fiel kaum Licht herein, die Dämmerung hatte bereits eingesetzt. Ich war absichtlich so spät gekommen. Morgen würde Kathi beerdigt werden. Viele Menschen würden ihr letztes Geleit gewähren, und das war kein Rahmen, in dem ich Abschied nehmen konnte. Dafür musste ich heute hier mit ihr allein sein. Dort lag sie also, in dieser aufwendig gearbeiteten Holzkiste. Trotz all der schmückenden Messingbeschläge und Schnitzereien war es doch nichts weiter als eine Holzkiste, die irgendwann im Erdboden verrotten würde. Genau wie Kathis Körper. Der lange schwere Güterzug hatte nicht viel von ihm übrig gelassen. Einige Teile waren gar nicht gefunden worden.
Tiere hatten sie wohl in den Wald getragen und gefressen. Manches war einfach zermalmt und vom Regen in den Boden gewaschen worden. Deshalb hatte ich das Foto mitgebracht. Ich kannte meine Phantasie, mir war klar gewesen, wenn ich den Sarg betrachtete, würde ich mir automatisch diesen zerstörten Körper vorstellen. Ich konnte das nicht abstellen, nicht einmal bei Kathi. Es war Teil meines Ichs. Fluch und Segen zugleich. Ich lebte gut davon. Und jetzt fragte ich mich zum ersten Mal, ob das nicht schäbig war. Kathi hatte bei mir stets elterliche Gefühle ausgelöst, und es hatte mir gutgetan, dass sie mich ab und an gebraucht hatte. Aber war ich wirklich für sie da gewesen? Ich erinnerte mich an ihren letzten Anruf, drei Tage vor dem Unglück. Wenn ich schrieb, befand ich mich oft «im Tunnel». Ich nannte diesen Zustand so, weil ich mich dann abkapselte und nichts von der Außenwelt mitbekam. Ich ging dann nicht einmal ans Telefon. Nur bei meinem Agenten, zwei guten Freunden und eben Kathi machte ich eine Ausnahme. Aber wenn ich im Tunnel war, war ich kein guter Zuhörer. Bei ihrem letzten Anruf hatte mich Kathi gefragt, ob ich noch Kontakt zu diesem Hacker hätte. Wahrscheinlich hatte sie mal wieder Probleme mit ihrem Computer. Ich hatte ihr versprochen, mich darum zu kümmern. Diesem Versprechen war ich bis heute nicht nachgekommen.
Ich stand von dem harten Besucherstuhl auf, trat vor den Sarg hin und stellte das Bild vorn auf den Deckel des Sarges. Von dort aus würde Kathi morgen während der Beerdigung die Trauergäste anlächeln. Genau so sollten alle sie in Erinnerung behalten. Keinen Moment sollten sie daran denken, was der Güterzug aus ihr gemacht hatte. Es reichte, wenn die Bilder meinen Kopf füllten. «Das kann nicht die Wahrheit sein», sagte ich leise. In der stillen engen Kapelle klangen meine Worte trotzdem laut. «Niemals hättest du so etwas getan.» Ich strich mit dem Daumen über das Foto, über ihr Gesicht. «Wenn es etwas herauszufinden gibt, ich schwöre dir, ich finde es heraus. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue.» Die basslastige Musik klang über die neuen interaktiven Lautsprecher und den übergroßen Subwoofer besonders intensiv. Er hörte die Musik nicht nur, er spürte sie. In seinen Knochen, seinen Muskeln, seinem Kopf. Sie füllte ihn aus und ließ ihn sich lebendig fühlen. Alles in ihm vibrierte.
Und genau das brauchte er jetzt. Vor ihm auf dem Bildschirm befand sich das Video-Rohmaterial. Es war eine äußerst filigrane und langwierige Arbeit, jeden einzelnen Frame zu bearbeiten, aber er würde sich niemals mit einem Ergebnis zufriedengeben, bei dem nicht jede Kleinigkeit seinen Vorstellungen entsprach. Sobald er dieses Video öffentlich machte, würde alle Welt daran herummäkeln und im Nachhinein seinen Stolz und seine Freude zerstören. So war das eben heutzutage. Das Web war zu einer Müllhalde verkommen, in der schmierige Subjekte ohne eigenen Anspruch und ohne Kreativität es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatten, alles zu kritisieren, was andere erschufen. Beurteile, rezensiere, kritisiere, darauf reduzierte sich alles.
Die in der Schule verhasste Allmacht der Lehrerschaft mit ihrem staatlich organisierten System von Unterdrückung und Herabsetzung war ins Netz gesickert und hatte es verpestet. Spießigkeit und Intoleranz waren eingezogen, jeder war nur noch daran interessiert, sich über den anderen zu stellen. Freiheit gab es schon lange nicht mehr. Zumindest nicht für die breite Masse. Er öffnete den nächsten Frame. Er zeigte ihr Gesicht kurz vor dem Aufprall. Wegen der schlechten Lichtverhältnisse war die Aufnahme nicht besonders gut, und er war auch nicht wirklich nah dran gewesen. Schon fragte er sich, ob es überhaupt eine gute Idee gewesen war, es auf diese Art zu tun. Da war zu viel Schnelligkeit, zu viel Energie im Spiel gewesen. Er hatte nicht die volle Kontrolle gehabt, war nicht Herr der Situation gewesen. Aber wahrscheinlich spielte es für den Erfolg des Videos keine große Rolle. Die User würden sich darauf stürzen wie die Maden auf rohes Fleisch, das wusste er. Allein schon wegen des vielen Blutes und der abgetrennten Körperteile.
Doch er selbst hatte etwas anderes erhofft. Je länger er durch die Frames zappte, desto größer wurde seine Enttäuschung. Er fand Angst und Panik in ihrem Gesicht, sah Zerstörung und Tod - aber nicht das, wonach er suchte. Bevor aus Enttäuschung Ärger werden konnte, öffnete sich auf dem zweiten Bildschirm ein Chat-Fenster, und eine Nachricht erschien. Absender war ein gewisser TommyX5.
Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
E P I S O D E 1
Zwei stählerne Adern zerteilten die Schwärze. Ihre Oberflächen, blank poliert von Tausenden Tonnen rasender Last, glänzten matt im schwachen Licht des halben Mondes, so als flösse silbernes Blut hindurch. Sie zogen sich endlos dahin, eingebettet in eine zehn Meter breite grauschwarze Schneise. Wie scharfgeschnittene Klüfte ragte der Wald an ihren Rändern auf und schirmte den leblosen Todesstreifen ab. Keine Geräusche, keine Blicke drangen hinein. Stille. Aber nur scheinbar. Ein feines Vibrieren strömte bereits durch die glänzenden metallenen Adern, genau wie Blut durch menschliche Venen. Es sickerte in den Boden, in die kapillarfeinen Wurzeln der nahestehenden Bäume, drang durch das Holz in die Kronen empor und ließ Blätter und Nadeln schwingen. Kaum wahrnehmbar. Aber das Mädchen spürte es. Ihr Blick zuckte von rechts nach links, immer wieder und immer schneller. Die großen, von langen Wimpern eingefassten Augen suchten etwas, fanden es aber nicht. Tränen tropften aus den Augenwinkeln die Wangen hinab. Sie ließen die Wimperntusche zerfließen, und es sah aus, als verließe dunkles, zähes Blut den Kopf des Mädchens durch die Augenhöhlen. Mit dem Nacken lag sie auf dem einen Schienenstrang, mit den Oberschenkeln auf dem anderen, dazwischen ihr schmaler Körper auf dem Schotterbett, die Arme locker an den Seiten, die Finger auf den schmutzigen Steinen. Sie war gekleidet in eng anliegende Jeans, wadenhohe braune Stiefel und eine kurze schwarze Jacke. Ihr Brustkorb hob und senkte sich unter kurzen, raschen Atemzügen. Aus Westen näherten sich drei Augen. Kreisrunde, glimmende Kugeln, die in der Nacht schwebten. Diese Augen und das feine Vibrieren in den Stahlsträngen gehörten untrennbar zusammen. Das Mädchen wusste das, und ihre Atmung wurde schneller und schneller. Sie hechelte jetzt wie ein Hund. Die Atmosphäre im Todesstreifen lud sich mit der Energie des herannahenden Kolosses auf. Vielleicht verlieh diese Energie dem Mädchen zusätzliche Kraft, vielleicht wurde ihre Angst übermächtig, denn sie wandte unter äußerster Anstrengung den Kopf nach rechts, den drei Augen entgegen. Sie waren größer geworden in den vergangenen Sekunden und wuchsen weiter heran. Aus dem Glimmen wurde kräftiges gelbes Licht, das auf die Stahlstränge fiel und dem Koloss vorauseilte. Die Erde begann zu beben. Das Mädchen schwitzte stark. Keuchend kämpfte sie gegen den Fluchtreflex an. Doch sie blieb liegen und ließ das metallene Ungeheuer kommen. Blickte ihm in die Augen, die größer und heller wurden und den Todesstreifen mit Licht fluteten. Licht, das den jugendlichen Körper des Mädchens aus der Dunkelheit riss. Ohrenbetäubender Lärm erfüllte die Luft, die Schienenstränge schüttelten den Körper durch.
Ganz sacht bewegten sich die Finger des Mädchens, ertasteten den scharfkantigen Schotter, schienen sich daran festhalten zu wollen. Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer grauenvollen Maske. In ihren letzten Sekunden ertrug sie den Anblick nicht mehr und kniff die Augen zusammen. Den Mund aber riss sie weit auf, und vielleicht verließ jetzt doch ein Schrei ihre Lippen. Hören konnte ihn niemand. Als der Lokführer das Hindernis auf den Schienen entdeckte, leitete er sofort die Bremsung ein, doch es war zu spät. Der Körper verschwand unter seiner Lok, als wäre er gar nicht da gewesen. Kein Rumpeln oder Zittern, nur das jämmerliche Quietschen von Metall auf Metall wie das Geschrei einer zänkischen alten Hexe.
Ein wenig Blut spritzte auf die ohnehin schon schmutzige Frontscheibe. Der Lokführer klammerte sich mit beiden Händen an die Haltegriffe, um nicht nach vorn gegen die Instrumententafel zu kippen, und starrte auf die rotbraunen Flecken. Dann wandte er das Gesicht ab und kämpfte gegen den Würgereflex an. Durch die Seitenscheibe meinte er, im dunklen Unterholz des nahen Waldes schwarze Schatten umherhuschen zu sehen. Wild vielleicht, das vor dem Lärm flüchtete. Aber er sah auch ein bläuliches Licht, wie von Glühwürmchen. In anderthalb Meter Höhe zuckte es unruhig umher. Als der lange Güterzug endlich stand, hatte er das Gesehene bereits wieder vergessen.
TAG 4
Dieses Bild von Kathi mochte ich besonders. Darauf sitzt sie in ihrem Zimmer vor der vertäfelten Wand und hält ihre schwarzweiße Katze «Lady». Dem Betrachter dieses Fotos drängt sich unweigerlich der Eindruck auf, von zwei Katzen angeschaut zu werden. Die Aufnahme wird von den Augen der beiden beherrscht. Ladys sind weit geöffnet und von intensiver grüner Färbung, mit den katzentypischen, aufrecht stehenden Pupillen. Kathis Augen sind ebenfalls grün. Es gab nicht viele Teenager mit solchen Augen, voller Neugierde und dem unbändigen Drang, alles zu erfahren, und ich stellte mir nicht zum ersten Mal die Frage, ob an der hinduistischen These der Wiedergeburt etwas dran sein könnte - so viel Weisheit lag darin. In diesem Moment wollte ich daran glauben. Denn Kathi war tot. Ich ließ das vor Lebendigkeit vibrierende Bild auf mich wirken und spürte, wie mir der Hals eng wurde. In meiner Familie haben die Männer nie viel geweint, und ich war da keine Ausnahme. Kathi war vor gerade mal drei Tagen gestorben, und noch hielten der Schock und die bohrenden Fragen nach dem Wie und Warum die Tränen zurück. Ich konnte vor lauter Grübelei nicht mehr schlafen - schon gar nicht schreiben. Warum, warum, warum? Keine Erklärung, von niemandem. Und was die Polizei zu berichten hatte, war absolut unglaubwürdig. Ich war zwar nur Kathis Onkel, aber ich wusste es besser. Nie und nimmer hatte es sich so zugetragen. Sie war häufig bei mir gewesen, hatte sich mir anvertraut, wenn es in der Schule oder zu Hause mal wieder Ärger gegeben hatte. Zu behaupten, ich hätte sie besser gekannt als mein Bruder und seine Frau, wäre vermessen, aber ich konnte in vielen Dingen lockerer sein als Kathis Eltern, und Kathi vertraute mir. Ach, verdammt ... die Enge im Hals verstärkte sich, und ich spürte, wie meine Mundwinkel zu zittern begannen. Vielleicht hätte ich heute nicht herkommen sollen. Vielleicht hätte ich das Foto nicht ausdrucken und in den schlichten Holzrahmen stecken sollen. Kathi hatte es mir erst vor ein paar Wochen per Dateianhang zugeschickt.
Das war kurz nach ihrem Praktikum bei mir gewesen. Sie hatte mich angefleht, den Zukunftstag der Schule bei mir verbringen zu dürfen. Ihre Lehrerin hatte nichts dagegen gehabt, auch wenn es ein wenig ungewöhnlich war. Und ich gebe zu, ich fühlte mich geschmeichelt. Sie hatte gesagt, sie würde in der Schule mit mir angeben, und ich bezichtige jeden der Lüge, der behauptet, so etwas würde nicht der Eitelkeit schmeicheln. Kathi war es nicht darum gegangen, diesen Praktikumstag möglichst bequem irgendwie herumzukriegen. Ich wusste ja schon länger von ihrer Leidenschaft für Bücher und ihrem Wunsch, selbst etwas zu schreiben. Vielleicht rührte auch daher unsere enge Verbundenheit. Jetzt kamen die Tränen. Sie taten weh, und ich schämte mich ihrer nicht. Die ersten tropften auf Kathis Bild. Ich wischte sie mit dem Ärmel meines Pullovers fort und sah genauer hin. Kathi strahlte nicht nur mit ihren Augen, sondern mit dem ganzen Gesicht. Sie hatte einen breiten Mund, fast wie Julia Roberts, mit zwei Reihen weißer, gerader Zähne. Einzig die beiden oberen Schneidezähne waren ein wenig länger, aber nicht viel, und diese kleine Unregelmäßigkeit machte sie nur noch hübscher. Aus diesem Mädchen wäre eine Schönheit geworden, die viele Jungs um den Verstand gebracht hätte. Davon war nichts mehr übrig.
Ich sah zum Sarg hinüber. Er stand auf zwei Holzböcken im halbrunden Anbau der Kapelle zwischen den beiden bodentiefen Buntglasfenstern. Es fiel kaum Licht herein, die Dämmerung hatte bereits eingesetzt. Ich war absichtlich so spät gekommen. Morgen würde Kathi beerdigt werden. Viele Menschen würden ihr letztes Geleit gewähren, und das war kein Rahmen, in dem ich Abschied nehmen konnte. Dafür musste ich heute hier mit ihr allein sein. Dort lag sie also, in dieser aufwendig gearbeiteten Holzkiste. Trotz all der schmückenden Messingbeschläge und Schnitzereien war es doch nichts weiter als eine Holzkiste, die irgendwann im Erdboden verrotten würde. Genau wie Kathis Körper. Der lange schwere Güterzug hatte nicht viel von ihm übrig gelassen. Einige Teile waren gar nicht gefunden worden.
Tiere hatten sie wohl in den Wald getragen und gefressen. Manches war einfach zermalmt und vom Regen in den Boden gewaschen worden. Deshalb hatte ich das Foto mitgebracht. Ich kannte meine Phantasie, mir war klar gewesen, wenn ich den Sarg betrachtete, würde ich mir automatisch diesen zerstörten Körper vorstellen. Ich konnte das nicht abstellen, nicht einmal bei Kathi. Es war Teil meines Ichs. Fluch und Segen zugleich. Ich lebte gut davon. Und jetzt fragte ich mich zum ersten Mal, ob das nicht schäbig war. Kathi hatte bei mir stets elterliche Gefühle ausgelöst, und es hatte mir gutgetan, dass sie mich ab und an gebraucht hatte. Aber war ich wirklich für sie da gewesen? Ich erinnerte mich an ihren letzten Anruf, drei Tage vor dem Unglück. Wenn ich schrieb, befand ich mich oft «im Tunnel». Ich nannte diesen Zustand so, weil ich mich dann abkapselte und nichts von der Außenwelt mitbekam. Ich ging dann nicht einmal ans Telefon. Nur bei meinem Agenten, zwei guten Freunden und eben Kathi machte ich eine Ausnahme. Aber wenn ich im Tunnel war, war ich kein guter Zuhörer. Bei ihrem letzten Anruf hatte mich Kathi gefragt, ob ich noch Kontakt zu diesem Hacker hätte. Wahrscheinlich hatte sie mal wieder Probleme mit ihrem Computer. Ich hatte ihr versprochen, mich darum zu kümmern. Diesem Versprechen war ich bis heute nicht nachgekommen.
Ich stand von dem harten Besucherstuhl auf, trat vor den Sarg hin und stellte das Bild vorn auf den Deckel des Sarges. Von dort aus würde Kathi morgen während der Beerdigung die Trauergäste anlächeln. Genau so sollten alle sie in Erinnerung behalten. Keinen Moment sollten sie daran denken, was der Güterzug aus ihr gemacht hatte. Es reichte, wenn die Bilder meinen Kopf füllten. «Das kann nicht die Wahrheit sein», sagte ich leise. In der stillen engen Kapelle klangen meine Worte trotzdem laut. «Niemals hättest du so etwas getan.» Ich strich mit dem Daumen über das Foto, über ihr Gesicht. «Wenn es etwas herauszufinden gibt, ich schwöre dir, ich finde es heraus. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue.» Die basslastige Musik klang über die neuen interaktiven Lautsprecher und den übergroßen Subwoofer besonders intensiv. Er hörte die Musik nicht nur, er spürte sie. In seinen Knochen, seinen Muskeln, seinem Kopf. Sie füllte ihn aus und ließ ihn sich lebendig fühlen. Alles in ihm vibrierte.
Und genau das brauchte er jetzt. Vor ihm auf dem Bildschirm befand sich das Video-Rohmaterial. Es war eine äußerst filigrane und langwierige Arbeit, jeden einzelnen Frame zu bearbeiten, aber er würde sich niemals mit einem Ergebnis zufriedengeben, bei dem nicht jede Kleinigkeit seinen Vorstellungen entsprach. Sobald er dieses Video öffentlich machte, würde alle Welt daran herummäkeln und im Nachhinein seinen Stolz und seine Freude zerstören. So war das eben heutzutage. Das Web war zu einer Müllhalde verkommen, in der schmierige Subjekte ohne eigenen Anspruch und ohne Kreativität es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatten, alles zu kritisieren, was andere erschufen. Beurteile, rezensiere, kritisiere, darauf reduzierte sich alles.
Die in der Schule verhasste Allmacht der Lehrerschaft mit ihrem staatlich organisierten System von Unterdrückung und Herabsetzung war ins Netz gesickert und hatte es verpestet. Spießigkeit und Intoleranz waren eingezogen, jeder war nur noch daran interessiert, sich über den anderen zu stellen. Freiheit gab es schon lange nicht mehr. Zumindest nicht für die breite Masse. Er öffnete den nächsten Frame. Er zeigte ihr Gesicht kurz vor dem Aufprall. Wegen der schlechten Lichtverhältnisse war die Aufnahme nicht besonders gut, und er war auch nicht wirklich nah dran gewesen. Schon fragte er sich, ob es überhaupt eine gute Idee gewesen war, es auf diese Art zu tun. Da war zu viel Schnelligkeit, zu viel Energie im Spiel gewesen. Er hatte nicht die volle Kontrolle gehabt, war nicht Herr der Situation gewesen. Aber wahrscheinlich spielte es für den Erfolg des Videos keine große Rolle. Die User würden sich darauf stürzen wie die Maden auf rohes Fleisch, das wusste er. Allein schon wegen des vielen Blutes und der abgetrennten Körperteile.
Doch er selbst hatte etwas anderes erhofft. Je länger er durch die Frames zappte, desto größer wurde seine Enttäuschung. Er fand Angst und Panik in ihrem Gesicht, sah Zerstörung und Tod - aber nicht das, wonach er suchte. Bevor aus Enttäuschung Ärger werden konnte, öffnete sich auf dem zweiten Bildschirm ein Chat-Fenster, und eine Nachricht erschien. Absender war ein gewisser TommyX5.
Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
... weniger
Autoren-Porträt von Andreas Winkelmann
Winkelmann, AndreasAndreas Winkelmann, geboren 1968 in Niedersachsen, ist verheiratet und hat eine Tochter. Er lebt mit seiner Familie in einem einsamen Haus am Waldrand nahe Bremen. Wenn er nicht gerade in menschliche Abgründe abtaucht, überquert er zu Fuß die Alpen, steigt dort auf die höchsten Berge oder fischt und jagt mit Pfeil und Bogen in der Wildnis Kanadas.
Bibliographische Angaben
- Autor: Andreas Winkelmann
- 2013, 2. Aufl., 448 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 12,5 x 20,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Wunderlich
- ISBN-10: 3805250649
- ISBN-13: 9783805250641
- Erscheinungsdatum: 06.12.2013
Rezension zu „Deathbook “
Wer einmal in die Fänge des Deathbook geraten ist, den lässt es nicht mehr los. Der Anzeiger
Kommentare zu "Deathbook"
5 von 5 Sternen
5 Sterne 4Schreiben Sie einen Kommentar zu "Deathbook".
Kommentar verfassen