Dein Name
Roman. Kermani wurde mit Bezug zu "Dein Name" ausgezeichnet mit dem Joseph-Breitenbach-Preis 2014
Am Donnerstag, dem 8. Juni 2006, 11:23 Uhr beginnt Navid Kermani sein neues Buch, und aus diesem Anfang wird einer der ungewöhnlichsten Romane unserer Zeit. Hier schreibt einer alles, was es zu wissen gibt über sein Leben und das Leben überhaupt: Kermani...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Dein Name “
Am Donnerstag, dem 8. Juni 2006, 11:23 Uhr beginnt Navid Kermani sein neues Buch, und aus diesem Anfang wird einer der ungewöhnlichsten Romane unserer Zeit. Hier schreibt einer alles, was es zu wissen gibt über sein Leben und das Leben überhaupt: Kermani erzählt von heute und von der Vergangenheit seiner Familie, er erinnert an gestorbene Freunde und an Jean Paul und Hölderlin. Alles aber, was er schreibt, macht er zu einem Teil seines Lebens.
Klappentext zu „Dein Name “
Am 8. Juni 2006 beginnt Navid Kermani sein neues Buch, und es wird einer der ungewöhnlichsten Romane unserer Zeit. Hier schreibt einer über alles, was es zu wissen gibt über sein Leben und das Leben überhaupt: die Gegenwart und die Vergangenheit seiner Familie, die Erinnerung an gestorbene Freunde und die mitreißende Lektüre Jean Pauls und Hölderlins. Die Geschichte seines Großvaters, der von Nahost nach Deutschland ging, wird zum Herzstück des Romans. Immer wieder drängt sich dem Romancier der entscheidende Moment dazwischen: der des Schreibens. "Dein Name" ist ein Roman, der das Privateste ebenso in den Blick nimmt wie die Geschichte, in der wir leben - ein Buch, das unser Bild der Gegenwart nachhaltig verändern wird.
Lese-Probe zu „Dein Name “
Dein Name von Navid Kermani... mehr
Nach dem Frühstück fing er an, das Ritualgebet zu erlernen, die salât oder persisch das namâz. Die wesentlichen Texte und Abläufe sind ihm bekannt, hinter oder neben anderen hat er schon häufig gebetet. Aber allein zu beten, so dass man die Texte und Abläufe ohne nachzudenken selbst abspulen muss, ist anders. Man kommt schnell durcheinander. Er ist daher, als er einsah, beten zu müssen, weil er weder schreiben noch lesen konnte, zu den Vermietern der Scheune gegangen, um aus dem Internet eine Gebetsanleitung auf den Laptop zu laden. Man wird selbst mit der Analogleitung rasch fündig, tippt »Islamisches Gebet« in die Suchmaschine und kann schon den ersten Link gebrauchen. Da er den Laptop schlecht mit ans Waschbecken nehmen konnte, notierte er sich die neun Abschnitte der rituellen Waschung, des wozuh, am Rande des Feuilletons, das er unter der Ablage aus einer Kiste mit Altpapier nahm. Claus Peymann inszeniert Peter Handkes Spuren der Verirrten am Berliner Ensemble, was man auch nicht gesehen haben muss. Die Waschung hatte er schon oft vollzogen, musste nur die Reihenfolge der Körperteile sich merken, was keine Viertelstunde dauerte. Anschließend breitete er die gelbe Vliesdecke, auf der die Frau morgens Gymnastik treibt, neben dem Schreibtisch aus, richtete den Bildschirm so ein, dass er die Gebetsanleitung aus einem Meter Entfernung lesen konnte, stellte sich in Richtung Mekka auf das sozusagen goldene Vlies und betete. Dem Sohn, der immer wieder neben sich auf den Laptop blickte, sich auch mal verhaspelte und deshalb ein Gebet neu aufsagen oder die Verbeugung wiederholen musste, gelang es nur sehr eingeschränkt, »seine Verbindung zur Außenwelt« abzubrechen und »sich nun in Gedanken vor Allah (t)« zu befinden, wie es die Gebetsanleitung vom Gläubigen verlangt. Im Sinne der Rechtsschulen war sein Gebet sicher nicht gültig, obwohl auch sie, andererseits, die gute Absicht honorieren und sein Bemühen daher kaum tadeln würden. Ihm half es am Morgen, er will nicht sagen: es befriedete, aber, nein, abgelenkt kann er es auch nicht nennen, das wäre zu schwach, ihm hat das Gebet ermöglicht, diesen Absatz zu beginnen, statt weiter die Scheune wie eine Tier im Käfig auf und ab zu gehen. Wann er wieder zu beten aufhört, gehört nicht zum Gelübde. Er mag die Worte, ihren Klang, die Melodie der Reime genauso wie die Bedeutung, er mag die Bewegungen. Es könnte eine Befreiung sein, sich am Tag einige Mal zu verbeugen, sich niederzuwerfen auf die Stirn - und dann wieder aufrecht zu stehen. Wenn seit vierzehnhundert Jahren Menschen ebendiese Verse in eben dieser Abfolge von Körperhaltungen täglich fünfmal aufsagen, muss ein Segen darin wohnen. Ob es Gott gibt, steht auf einem anderen Blatt. Nicht um Ihn ist es den Religionen zu tun, von dem sie ohnehin nur Namen aussprechen, vielmehr um die Menschen, deren Handlungen mit oder ohne Gott genauso gut oder schlecht, richtig oder falsch, sinnvoll oder unnütz sind - sofern es ohne Gott gut oder schlecht gibt, richtig oder falsch, sinnvoll oder unnütz. Mit oder ohne Gott fing er heute morgen mit dem Gebet an, aber für den Vater, der keinen der vier Söhne je mit der Religion bedrängte und gerade deshalb mit Achtzig noch einen Freudensprung machen würde. Es war die einzige Möglichkeit, bei ihm zu sein, so empfand es der Jüngste, der gestern Nachmittag mit der Frühgeborenen vor dem Bauch nichtsahnend aus dem Haus gegangen war, um zu spazieren, als der Internist auf dem Handy anrief. Weil die Operation der Herzklappe zu riskant schien und das Blut nicht gerinnt, hatte der Kardiologe im St. Marien allenfalls einen kleinen, oberflächlichen Eingriff in Erwägung gezogen, um die Drähte des Schrittmachers freizulegen, und deshalb einen Termin in einem Herzzentrum besorgt, wo der Chef dem Vater während der ersten Visite mitteilte, dass die Klappe ersetzt werden müsse, Risiko hin oder her, sonst läge die Lebenserwartung bei höchstens einem Jahr, wahrscheinlicher einem halben, gleich morgen also, da jeder Tag zählt, also heute, also jetzt, Donnerstag, 19. Juli 2007, 11:28, jetzt gerade liegt der Vater auf der gebogenen Streckbank aufgespannt wie auf einem großen
Ball, rasiert von Hals bis Fuß, mit aufgeschnittenem Brustkorb, umringt von Ärzten, Schwestern, Apparaten, und Gott entscheidet sich, wenn es Ihn gibt, ob Er den Vater wieder zum Leben erweckt. Dem Sohn wird schlecht bei dem Gedanken, dass die Entscheidung gegen den Vater ausfallen könnte. Auch das Gebet hilft jetzt nicht mehr, schon ist die Wirkung verpufft. Kurz nach acht sollte die Operation beginnen, zweieinhalb Stunden sollte sie dauern, die Ärzte könnten also längst fertig sein, sie könnten sagen, puh, das scheint gutgegangen zu sein, oder das Gegenteil. Sie haben auch gesagt, dass es länger dauern könnte, je nachdem, was sie vorfinden und was mit der Blutgerinnung ist. Sie haben die besten, modernsten Apparate und eine neue Methode, der Chef selbst operiert, für sie ist es Routine, wie der Jüngste sich immer wieder zuredet, sie machen das jeden Tag und unter widrigen Umständen als bei dem Vater, nach Unfällen etwa, wenn die Patienten mit dem Hubschrauber eingeflogen werden und die Voruntersuchungen wegfallen. Der Vater hat so oft Glück gehabt, wirkliche Wunder erlebt (der Sohn wird es bedenken, aber so Gott will nicht bald), hat schon dreimal Aufschub erhalten vom Tod, vor zehn Jahren die erste Herzoperation, und ging auch im Leben aus so vielen Dramen heil hervor, der Heimatverlust nach dem Sturz Mossadeghs und der Beginn in Deutschland mit Frau und drei Söhnen auf achtzehn Quadratmetern, Autounfall, Konkurs, Schulden, und jedesmal die Rettung, das war die Furcht, sein bisheriges Glück, und dass der Sohn nicht die Ungerechtigkeit beklagen dürfte, wenn der Vater nach achtzig prallen Jahren ohne Siechtum stürbe, nein, darüber darf man sich nicht beschweren, und dennoch - einer geht noch, sagte der Sohn zur Frau, einer geht noch, während er gestern Nachmittag zum Herzzentrum raste, um den Vater noch einmal zu sehen - jetzt schreibt er selbst schon: noch einmal, als sei's das letzte Mal gewesen -, um den Vater also zu sehen und der Mutter beizustehen, die immer alles wegwischt - ach, deinem Vater geht's prima, stellt sich nur ein bißchen an, der Arzt sagt, er habe den Körper eines Sechzigjährigen. Jetzt trifft sie die Möglichkeit, dass es heute nicht mehr weitergeht, nie mehr mit dem Vater, um so wehrloser. Das Herzzentrum wird gleich nach der Operation den Sohn anrufen, der gerade im Zimmer war, als die Krankenschwester die Nummer eines Angehörigen auf dem Laufzettel notieren wollte. Gegen 14 Uhr, sagte sie, könne er mit dem Anruf rechnen, natürlich auch etwas früher oder viel später, das sei unmöglich zu prognostizieren, sie rufen an, versprochen, ein Arzt ruft an, sobald er den Operationssaal verläßt. Erst im nachhinein merkte der Sohn, dass er die Zeitrechnung nicht versteht, wieso 14 Uhr, wenn die Operation kurz nacht acht beginnen und zweieinhalb Stunden dauern sollte? Die Tanten meldeten sich gestern abend noch alle aus Iran und Amerika, der Sohn hat keine Ahnung, wie sie die Nummer und überhaupt die Nachricht so schnell erreicht hat, blitzartig ging es um die Welt, was auch etwas Schönes ist, zu wissen, dass so viele Menschen an den Vater denken - jetzt. Um 11:57 Uhr ... klingelte das Handy, aber es war nur ein Festival, das ihn zur Lesung einlädt. Schon an der Vorwahl bemerkte er, dass es nicht das Herzzentrum sein konnte, aber innerhalb der Sekunde oder der zwei Sekunden, die es dauert, bis der Anrufer sich vorstellt, spielt man dennoch alle Möglichkeiten durch, eine Rufumleitung vielleicht oder der Vater mit dem Hubschrauber in eine andere Spezialklinik verlegt? So schwer es fiel, ist der Sohn halbwegs höflich geblieben. Im Herzzentrum vermieden sie gestern abend alle Andeutungen, dass sie sich zum letzten Mal gesehen haben könnten, vermieden es so auffällig, dass dennoch alle sahen, dass auch die anderen an die Möglichkeit dachten. Der Vater schien zum Abschied bereit, ob er auch das Wort vermied, pries in allmählich ansteckender Heiterkeit Gott und seine Familie für alles, was sie ihm geschenkt, und fragte die Söhne, mit welchem Recht er mehr verlangen könne. Um halb neun schickte die Krankenschwester die Angehörigen aus dem Zimmer, weil sie die letzten Vorkehrungen treffen musste, rasiert war der Vater schon, also auch am Körper, vor dem Nachtgebet, das er im Laufzettel eintragen ließ, stand noch der Einlauf aus, nach dem Gebet die Schlaftabletten, um zehn vor sieben würden sie ihn morgen früh abholen, also heute. Es ist 12:06 Uhr: Fährt der Sohn noch hinunter ins Dorf, um Brot, Obst und einen Liter
Milch zu kaufen? Alles andere hat er, um sich bis Samstag zu versorgen. Oder wartet er, bis er angerufen wird? Je nachdem, braucht er ohnehin kein Brot. Der Raum, in dem er sitzt, die Landschaft mit Kühen, auf die er blickt, fühlen sich an, als könne er sie jederzeit ausknipsen. Es ist der gleiche Platz, der gleiche Blick, der gestern um die Zeit noch wirklich war. Davon soll der Roman, den ich schreibe, ja erzählen wie alle Romantik: wie die Wirklichkeit einfach ausgeknipst werden kann und man dadurch erst ihre Helligkeit begreift. In der japanischen Ästhetik von früher, in der es ebenfalls um Relationen gehe, vertrüge sich das strahlende Weiß der Zähne nicht mit der Dunkelheit der Mundhöhle und nähme es dem Gesicht von seinem hellgepuderten Schein. Der Sohn will nicht aus dem Herzzentrum angerufen werden, wenn er gerade in der Bäckerei oder im Supermarkt steht. Andererseits kann er nicht einfach warten, also nichts tun außer sitzen oder auf- und ab gehen. Am ehesten würde noch eine gewöhnliche Arbeit unter Menschen ablenken, länger als das Gebet. Am schnellsten ging die Zeit vorüber, die er für diesen Absatz brauchte, jetzt schon 12:12 Uhr. Freilich verbraucht sich das Schreiben ebenfalls, wie er gerade feststellt, weil der Absatz länger nicht geht. Wenn er bereits vom Vater schriebe, käme es ihm vor, als rechnete er mit dessen Tod. Vielleicht fährt er doch Brot kaufen.
Beinah pünktlich um 14:30 Uhr der Anruf: Der Vater verliert Blut. Wenn sein Herz nicht aufhört zu bluten, muss der Brustkorb ein zweites Mal aufgeschnitten werden. Oder was heißt aufgeschnitten: aufgebrochen werden, aufgesägt doch wohl. Auf der Autobahn ruft die Redakteurin eines multikulturellen Senders an, die bereits am Vormittag alle Vorurteile des Sohnes gegen Negerradios bestätigte. Er bekräftigt, dass er wie alles andere auch das morgige Interview absagen müsse, da sein Vater am Herzen operiert worden sei, es Komplikationen gebe und er gerade zur Klinik führe, es sei ernst. Das tue ihr leid, aber das Interview ... - Entschuldigung, es ist ernst, ich kann kein Interview geben! Sie verstehe seine Situation, aber er müsse auch sie verstehen, die Sendung ... Da schneidet er ihr das Wort erneut ab, allerdings mit einem Hinweis, den er noch innerhalb des Satzes bereut: Entschuldigung, mein Vater liegt im Sterben. Er hat es ausgesprochen. Er hat ausgesprochen und nicht nur gedacht, dass der Vater sterben könnte, schlimmer: sterben wird, und das nur, um ein Telefongespräch zu beenden, er hat es ausgesprochen, die Ankündigung sitzt im Auto nun neben ihm und fährt mit zum Herzzentrum. Der Nachsatz, mit dem er ohne Verabschiedung auflegt, ist in Ordnung: Hiermit beende ich das Gespräch, nur dass er sich weniger gegen die Redakteurin richtet als gegen ihn selbst, der ein solcher Tor war, überhaupt ans Telefon zu gehen - eine Berliner Nummer auf dem Display konnte mit dem Vater nichts zu tun haben - und dann auch noch zu allem Überfluß das Wort sterben freizugeben, nicht dass er mit den Brüdern und der Frau heute nicht über die Möglichkeit des Todes sprechen würde, aber so, gegenüber dieser unmöglichen Person, ist es eine Entweihung. Im nächsten Telefonat bei Tempo 200 im auch nicht mehr jugendlichen BMW erklärt ihm der Internist, der bereits im Herzzentrum eingetroffen ist, wie es steht: Wenn die Blutung nicht in den nächsten ein, zwei Stunden aufhöre, müßten die Kardiologen in der nicht einmal großen Hoffnung, eine blutende Wunde vorzufinden, den Brustkorb ein zweites mal öffnen. Sollte sich die Blutung, was wahrscheinlicher sei, als »diffus« erweisen, könnten sie nichts anderes tun, als den Brustkorb auszutamponieren. Die Gefahr dabei sei, dass ... und so weiter, es sind vier, fünf, sechs mögliche Komplikationen, die der Internist aufzählt. Als der Jüngste einen Parkplatz sucht, liest er die Mutter auf, die die Straße vor dem Herzzentrum auf und ab geht. Das Auf-und-abGehen werden sie an diesem Tag noch häufig praktizieren, in Choreographien zu zweit oder zu dritt, erst auf größerem, den Abend über auf kleinem Raum. Sie treffen den Internisten in der Eingangshalle und klingeln an der Intensivstation. Sie warten. Die Nachrichten, die der Kardiologe dem Internisten überbringt, sind nicht schlecht, wie der Jüngste aus dem Fachgespräch heraushört. Die Blutung hat nachgelassen, minimal zwar, unverständliche Zahlenreihen, gute Zahlen, böse Zahlen, x wäre ein Durchbruch, y ist zuwenig, doch will man die Entwicklung zunächst ein, zwei weitere Stunden beobachten, bevor man den Brustkorb des Vaters tatsächlich ein zweites Mal aufbricht. Ein, zwei Stunden später hat sich die Zahlenreihe ein weiteres minimales Stück Richtung x bewegt, weshalb man die Operation weiter hinauszögert. Selbst der Internist kann nun nicht mehr anders, als nach dem Stöckchen Optimismus zu schnappen, das ihnen aus der elektrischen Schwingtür der Intensivstation gereicht wird. Die Brüder beschließen, dass der Jüngste mit der Mutter in den Kurort geht, um die Utensilien für die Nacht zu besorgen. Anschließend würde er die Bewachung der Schwingtür übernehmen, damit der Internist etwas ißt. Als die Mutter es schon aufgegeben hat, entdeckt der Jüngste einen Supermarkt, der um halb acht noch Zahnbürste, T-Shirt, Schokoriegel und dergleichen verkauft. Niemand hat Hunger, aber es kann eine lange Nacht werden, erklärt er der Mutter, nichts wüßten sie über den Morgen, man müsse sich vorbereiten und mit den Kräften haushalten. Man kann mit der Mutter nicht essen gehen, man landet zwingend im falschen Restaurant, sie erwischt automatisch das falsche Essen, und zu teuer ist ohnehin alles, was nicht All -you-can-eat ist, so dass der Jüngste sich freut, in der leergefegten Fußgängerzone einen asiatischen Imbiß zu entdecken, bei dem die Mutter sich wenigstens nicht über den Preis ärgert. Natürlich ärgert er sich darüber, dass sie das billigste Essen aussucht, 4,90 Euro. Er bestellt für die Mutter dennoch knuspriges Hühnchen mit pikanter Soße für 5,50 Euro, weil er sicher ist, dass es ihr besser schmeckt als süß-sauer. Ungeachtet ihres Einspruchs, nicht durstig zu sein, nimmt er außerdem ein Mineralwasser aus dem Kühlschrank vor der Verkaufstheke. Nein, nicht das Wasser, gibt sie ihren Widerstand auf, wenn schon, bring mir eine Fanta. Gerade als der Chinese ihnen das Essen an den Stehtisch bringt - der Jüngste ist seiner Empfehlung gefolgt, Rindfleisch Sezuan für 6,50 Euro, dazu das Pils aus dem Taunus, weil er grundsätzlich Produkte aus der Region bevorzugt -, ruft der Internist endlich zurück, den der Jüngste vorhin nicht erreicht hat: Die Brust des Vaters muss geöffnet werden. Was gerade noch fehlte: Die beiden Operationsräume sind besetzt. - Wie, die sind besetzt? Ja, die sind besetzt, ganz einfach, mehr als zwei Operationsräume hat nicht einmal das Herzzentrum. Die Öffnung der Brust verschiebt sich also weiter, aber nicht mehr wegen x. Notfalls operieren sie auf der Intensivstation, das wäre ungünstig. Wo seid ihr? fragt der Internist, der vor der elektronischen Schwingtür nichts mehr tun kann. Die Mutter, die zusah, wie der Jüngste telefonierte und auf persisch immer wieder schrie was ist denn?, was ist denn?, bringt den Teller sofort zur Theke, um sich das Essen einpacken zu lassen, auch die Fanta, die allerdings schon offen ist. Das Wort Pfand hört der Jüngste, während er die Gabel in das Rindfleisch hämmert. Eine Warmhaltebox aus Aluminium und einen Plastikbecher mit Fanta in der Hand, verläßt die Mutter den asiatischen Imbiß. In dieser Minute kann er sie auch nicht mehr trösten oder halten oder umarmen. Hätte sie nicht das Theater mit dem Essen gemacht, wäre er kaum auf dem Hocker sitzen geblieben. So entlädt sich seine Wut auf dem Rindfleisch Sezuan, damit zugleich auf der Mutter. Er klammert sich an die Absicht, wenigstens das Fleisch zu essen, und schluckt die Stücke ohne zu kauen. Appetit hat er nicht, doch genausowenig sperrt sich sein Magen. Er könnte auch zwei Teller essen, drei, es ist völlig egal. Nur den Reis läßt er zu dreiviertel stehen, weil er nicht hineinstechen kann wie ins Fleisch. Der Chinese, der das Wort Klinik aufgeschnappt hat, nimmt an - bezeichnend für ihren Zustand seit gestern -, dass die Mutter die Patientin sei und sie die Parkinson-Klinik meinten. Nein, Herzzentrum und mein Vater, klärt der Jüngste ihn auf, Operation. Noch beim Rausgehen lächelt der Chinese ihm aufmunternd zu, dass die Klinik die besten Ärzte und Apparate habe, wirklich keine Sorge: eine säh guute Kaggenhaus. Später kehrt der Jüngste mit dem Internisten zurück in den Imbiß und empfiehlt Rindfleisch Sezuan. Die Mutter sucht derweil in der Fußgängerzone ein Klo, um vermutlich im Kurpark fündig zu werden in ihrer Verwirrung. Sein Essen muss der Internist unterbrechen, weil den Jüngsten ein Heulkrampf schüttelt. Kurz darauf wiederholt sich die Szene in umgekehrter Stellung: Der Jüngste hält den heulenden Internisten im Arm. Gott sei gepriesen schweigt der Chinese. Bis das
Herzzentrum um halb zehn schließt, nutzen Mutter und Söhne den Vorplatz, um ihre Choreographie beim letzten Tageslicht einzustudieren. Die Pförtnerin erklärt, wie sie nachts das Herzzentrum verlassen können, und gibt ihnen kostenlos zwei Flaschen Mineralwasser mit nach oben. Die Mutter bittet die Pförtnerin, für den Vater zu beten, da stammelt die Pförtnerin, die offenbar vollständig areligiös ist, dass sie positive Energien beisteuern würde. Das ist doch Scheiße mit euren Energien, denkt der Jüngste, während er zum Aufzug vorangeht, dann laßt es doch gleich, wenn ihr nicht an Gebete glaubt. Die folgenden zwei Stunden sind nicht sehr verschieden von Folter, von der sie sich mit keinem Geständnis erlösen können, eine Enttäuschung jedes Öffnen der elektronischen Schwingtür, deren Tonfolge sich in ihr Gehirn einbrennt, eine Fehlanzeige jeder Gang über den Flur oder die Schritte im Treppenhaus, ein Schlag ins Wasser jedes Geräusch des Aufzugs. Eine Ärztin, die Feierabend hat, erklärt, die Operation habe um Viertel vor acht begonnen, eine Krankenschwester der benachbarten Station ist hundertprozentig sicher, dass der Vater erst gegen neun an ihr vorbei in den Operationssaal gerollt wurde. Beide sind sie von Kopf bis Fuß blau bekleidet, Hose, Hemd und Mütze wenn auch verwaschen fast im Yves-Klein-Ton und schon deshalb wie vom andern Stern. Die Mutter jammert vor sich hin oder murmelt, wie gut es sei, dass die Söhne bei ihr sind, allein wäre sie längst durchgedreht. Dabei gehen die Söhne auch nur den fensterlosen Raum zwischen dem Aufzug und der elektronischen Schwingtür auf und ab, in der Ecke die Tür zum Treppenhaus, wenn sie nicht zwischendurch in einer der vier orangen Plastikschalen sitzen, die auf eine metallene Stange geschraubt sind. Es fehlt nicht viel, und der Jüngste würde sein Ohr auf den Linoleumboden legen, um irgendeinen Hinweis auf den Zustand des Vaters zu erlauschen, wie ein Indianer die feindlichen Reiter. Sie sprechen nicht darüber, aber was sie alle beunruhigt, auch die Verwandten am Telefon, so meint der Jüngste zu merken, sind die bösen Vorahnungen. Niemand ruft: Ich glaube daran, ich habe so ein Gefühl. In seinem Kopf fügen sich die Dinge zusammen, die dem Zeitpunkt einen Sinn verleihen würden. Klar ist, dass niemand lamentieren dürfte, nichts an dem Vorgang wirbelt Weltanschauungen durcheinander, nichts daran ist außergewöhnlich. Auch dass es der Familie so gut ging zuletzt, spricht dafür, dass sich der Boden wieder auftut. Er sagt sich: In Ordnung, es gibt sie, was wir jetzt brauchen, ist ein Wunder. Um 23:15 Uhr öffnet sich die Schwingtür für einen Blaugewandeten, der die Angehörigen anschaut, statt eilig zum Aufzug zu schreiten. Schon am Gesichtsausdruck erkennt der Jüngste, dass der Vater jedenfalls nicht tot ist. Es ist viel mehr als nur überleben: Die Kardiologen haben auf Anhieb eine Wunde gefunden, aus der das Blut nur so spritzte. Nun scheint die Blutung gestillt. Der Brustkorb bleibt bis zum Morgen offen für den Fall, dass das Herz erneut zu bluten beginnt. Alle Werte sind stabil. Der Jüngste ist es, der Laie, der fragt, ob sie den Vater sehen dürften. Der Blaugewandete zögert zunächst, blickt die Angehörigen prüfend an und schaut ungewöhnlich lang auf den Boden, bevor er schließlich ja sagt, er würde die Söhne rufen lassen, sobald der Vater fertig angeschlossen sei, die Mutter warte besser draußen. Angeschlossen, sagt er, angeschlossen, als sei der Vater selbst schon ein Apparat. Der hinten zu verschließende Kittel, die Desinfektion, der gedämpfte Ton, die Zimmer ohne Tür mit je zwei Patienten, Bildschirmen und zweitausend blinkenden Lichtern, das kennt der Jüngste alles. So ist er auch nicht schockiert, als er vor dem Bett des Vaters steht, zumal dessen Körper von einer Wärmedecke bedeckt ist ähnlich einer Alufolie. Natürlich, die Schläuche und Kanülen, überall, auch im offengehaltenen Mund, aber er wirkt friedlich, der Vater, er schläft, wirkt kräftiger sogar, größer, als ihn der Jüngste in Erinnerung hat. Vielleicht hat es mit dem Wasser zu tun, das im Körper des Vaters mal mehr, mal weniger wird. Der Jüngste betet, betet eben so laut, dass der Vater ihn hören könnte, rezitiert den Koran, spricht zu ihm, etwa, dass der Vater noch die herausgerissene Gardinenstange neu anbringen und die Frühgeborene aufwachsen sehen müsse. Er hat den Eindruck, in Zonen, die er nicht kennt, vom Vater wahrgenommen zu werden. Beim Herausgehen erklärt er dem Internisten, dass es heißt, der göttliche Frieden senke sich herab, wo immer der Koran rezitiert wird. Im Hotelzimmer, das sie weit nach Mitternacht noch finden, weist der Internist den Jüngsten darauf hin, dass der Kreislauf, der kaum meßbar gewesen, im Laufe ihres Besuchs sprunghaft angestiegen sei, sogar auf zu hohe Werte, um sich schließlich fast auf dem Idealwert einzupendeln. Während ich den Koran rezitierte? Ja. Der Jüngste will es als Laie nicht überbewerten, aber es wird schon etwas mit dem zu tun haben, was die Pförtnerin mit Energien meinte. Stört dich die Leselampe? fragt er den Internisten und fängt an zu schreiben, dass beinah pünktlich um 14:30 Uhr der Anruf erfolgte: Der Vater verliert Blut. Der Absatz verläuft ohne weitere Komplikationen, also Anrufen aus dem Herzzentrum. Der Internist schreckt einmal heftig aus dem Schlaf und liegt ab fünf Uhr wach. Woran schreibst du? fragt er. Nur eine weitere Notiz, druckst der Jüngste herum und läßt den Roman, den ich schreibe, eilig vom Bildschirm verschwinden.
Am Morgen danach sprachen sie länger mit dem Chef des Herzzentrums, der die Grenzen der Medizin zu kennen und deshalb ein um so besserer Mediziner zu sein scheint. Keine Frage, der Tod ist übermächtig, aber was wir tun können, tun wir und wird von Jahr zu Jahr mehr, sagte sein melancholischer Blick. Ausdrücklich sagte er: Diese zweite Klappe operiert niemand gern, zumal nicht bei dem Alter Ihres Vaters und dessen Leberinsuffizienz, das ist nicht schön, das Problem der Blutung tritt beinah planmäßig auf, doch gab es praktisch keine Wahl, ein Wunder, dass Ihr Vater mit der Herzklappe so lang überlebt hat, völlig zerfleddert, wieder Zahlen, Zentimetergrößen, höchstens ein paar Monate wäre das noch gegangen, und jetzt scheint das Blut gestillt zu sein, das ist das Wesentliche, nein, ich glaube nicht, dass etwas zurückgeblieben ist, nein, nein, auch nicht im Gehirn, hoffen wir, aber müssen ihn erst einmal langsam in den Wachzustand überführen, nichts überstürzen, heute oder morgen, ganz behutsam, wenn er dann bei Bewußtsein ist, sehen wir weiter. Sicher kann es auch danach Komplikationen geben, aber dann haben wir auch unsere Möglichkeiten. Der Chef ist das ganze Wochenende im Herzzentrum und jederzeit für die Söhne erreichbar. Persönlich führte er die Brüder nochmals zum Vater, der mit weitgeöffnetem Mund und darin drei Schläuchen ruhig und regelmäßig atmete, die Gesichtszüge unendlich entspannt, auf dem Leib die silberne Decke, die schwankt und glitzert wie sonniges Meer. Minuten betrachteten sie den Vater, nur der Chef des Herzzentrums und der Internist flüsterten sich hier und dort etwas zu. Dieser Frieden ist zugleich so wunderschön, dachte der Jüngste, und so grauenvoll: Mein Vater ist jetzt auch ein Engel. »Denn weil die Seligsten nicht fühlen von selbst, / Muss wohl, wenn solches zu sagen / Erlaubt ist, in der Götter Namen / Teilnehmend fühlen ein andrer.« Sie, wenn es Sie im Roman, den ich schreibe, je großgeschrieben gibt, Sie haben den Vorteil, dass Sie einfach umblättern oder, Gott verhüte, daran, dass mit dem nächsten Absatz ein neues Kapitel beginnt, in zwei, drei Zeilen womöglich - dass Sie bereits erkennen können, was bestimmt ist. Der Sohn hingegen weiß nichts. Gestern war er am Ende, heute lebt der Vater doch weiter. Und morgen? Schon die Tatsache, dass gestern gestern war, erscheint ihm absurd. Seit dem vorigen Absatz ist viel mehr Zeit vergangen, ein Monat oder ein Jahr, ein Leben oder nicht. Die Raststätte an der A 45 kurz vor Siegen heißt Katzenfurt. Auf einer der nächsten Rückfahrten ißt er dort eine Currywurst, falls sie dreißig Jahre später noch auf der Speisekarte steht.
Der 22. Juli 2007 beendet die Friedensverhandlungen zwischen Gott und den Blaugewandeten morgens kurz vor sechs mit der Nachricht, dass der Vater wieder blutet, es mit der Atmung nicht klappt, die Herz-Lungen-Maschine wieder eingeschaltet werden musste, das Röntgenbild Anzeichen einer Lungenentzündung aufweist und ... das Schlimmste sind die Blutungen. Die Kardiologen wollen noch ein, zwei Stunden abwarten und dann, so der Blutverlust nicht wider Erwarten nachläßt, erneut den Brustkorb aufsägen, eine ähnliche Situation wie am Mittwoch, nur dass die Komplikationen nach der dritten Operation am offenen Herzen wahrscheinlicher,auch schwerwiegender sein würden und die Hoffnung geringer, eine Wunde vorzufinden statt diffuses Blut. Hinzu kommen die zusätzlichen Tage, die der Vater durchgehend in Narkose sein würde, noch mindestens bis Donnerstag, Freitag, die Gefahr der Lungenentzündung, die durch den fortdauernden Einsatz der Herz-Lungen-Maschine noch stiege. Selbst wenn die Operation gelänge, was unwahrscheinlich genug ist, wäre die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Wunde sich entzünden und eitern würde, so dass den Vater über Monate schlimme Schmerzen in der Brust plagen würden und er sich so gut wie nicht bewegen dürfte. Alle drei Tage würden bei lokaler Narkose die Binden ausgetauscht, die den Eiter aufsaugen. Der Jüngste ist nicht sicher, wie es dann mit dem Lebenswillen des Vaters aussähe, den die Enkel nur noch den »Stürmer« nennen, um sich Mut zu machen (von irgendwem haben sie das Wort aufgeschnappt und fanden es treffend). Der Internist bezweifelt, ob der Lebenswille, so stark auch immer, dann noch ausreichen würde bei einem Achtzigjährigen, dem man über Monate am Herzen rumfuchtelt, unter chronischen Qualen und ebensolcher Todesangst, bei völliger Regungslosigkeit und vollem Bewußtsein. Würde der Vater sie nicht fragen, warum sie ihn nicht haben sterben lassen? Darüber ließe sich wahrscheinlich lange philosophieren, theologisieren und psychologisieren, nur müssen die Brüder es im gegebenen Fall wohl innerhalb von Minuten entscheiden. Wenn irgend nur möglich, erklärt der Internist, den der Jüngste diesmal in Siegen abholt, um gemeinsam zum Herzzentrum zu rasen, vor dem die Mutter wieder auf und ab geht, wenn irgend nur möglich, bleibt die Brust zu. Das »Niemand operiert so etwas gern« des Chefarztes klingt dem Jüngsten noch im Ohr, und das bezog sich auf den ersten Eingriff. Ein, zwei Stunden nach ihrer Ankunft im Herzzentrum die erste Neuigkeit: keine Veränderung, was nahe an der schlimmstmöglichen Veränderung liegt, allerdings ist der Oberarzt gerade mit einem anderen Herzen beschäftigt und soll das Herz des Vaters nicht mit dem Assistenten vorliebnehmen. In höchstens einer Stunde ist der Oberarzt soweit. Eine Stunde ist vergangen, behauptet die Uhr, als in der ungewöhnlich belebten Fußgängerzone des Kurorts das Handy des Internisten klingelt und dessen Blick aufs Display dem Jüngsten verrät, dass es die Intensivstation ist. Ungleich schneller als sein Navigator berechnet der Jüngste die wahrscheinlichste Route. Fest steht erstens: Eine Intensivstation ruft nur in Fällen an, die selbst für die dortigen Verhältnisse dringend sind. Fest steht zweitens, dass der Vater operiert wird. Und schließlich steht fest, dass die Operation unmöglich schon zu Ende sein kann, erfolgreich zu Ende. Ein paar Minuten bevor sein Handy klingelte, hatte der Internist gestanden, dass seine Hoffnung nur noch darin gründe, keine Hoffnung mehr zu haben, schließlich seien bisher alle Hoffnungen enttäuscht worden und könne das der Hoffnungslosigkeit doch genauso widerfahren. Kurz darauf klingelt sein Handy und ist der Jüngste auf der Überholspur in Richtung seines eigenen Bestimmungsorts. Erregt zeigt der Internist mit dem Daumen nach unten. Der Jüngste denkt im ersten Augenblick, der Vater sei tot, dann hört er das Wort »deutlich« und nimmt an, dass der Vater wenigstens noch leben müsse, sonst wäre doch nichts deutlich, man sagt doch nicht »deutlich« tot, sondern einfach, es tut uns leid, niemandem tut es »deutlich leid«, also vermutet der Jüngste, dass die Blutwerte sich deutlich verschlechtert haben und der Vater sofort operiert werden musste, Oberarzt hin oder her, dann eben vom Assistenten, bis der Internist bemerkt, wie der Jüngste den Daumen deutet, wohl deuten muss, ich meine, Daumen runter ist doch nun einmal negativ, das kann man nicht mehr deuten oder zurechtbiegen, das ist negativ, wenn nicht der Tod, dann die Aussichtslosigkeit, da reißt der Bruder den Daumen nach oben, ruft an der Sprechmuschel vorbei, dass es eine gute Nachricht sei, eine GUTE Nachricht, und der Jüngste begreift im weiteren Verlauf des Telefonats, dass die Blutung »deutlich« nachgelassen habe (das meinte der Internist mit dem Daumen nach unten) und der Vater nun Aussicht habe, eine realistische Chance, doch nicht operiert zu werden, man warte vorerst ab. Als sie gegen Abend auf die Autobahn einscheren, mahnt der Internist scherzhaft, der Jüngste solle das Mißverständnis mit dem Daumen bloß nicht in einer Geschichte verwenden. Der Roman, den ich schreibe, ist keine Geschichte.
Im Hintergrund läuft laut die Tour de France, die der Zimmernachbar des Vaters eingeschaltet hat, als er kurz wach war. Man kann nicht anders, als zu registrieren, was zur selben Zeit in den Pyrenäen geschieht, ein Däne in Führung, allerdings unter Dopingverdacht, der Deutsche hat keine Chance mehr, fünf spanische Bergspezialisten in der Ausreißergruppe, das grüne Trikot des Punktsiegers. Ein ehemaliger Profi erläutert als Mitmoderator einfühlsam, wie sich die Fahrer fühlen, wenn der Puls über eine so lange Strecke »im Anschlag« ist und »die Reaktionszeit« daher nachläßt, etwa wenn ein Zuschauer plötzlich auf der Strecke steht. Das ist schon interessant, daran hat der Jüngste nie gedacht: die Bilder von Stürzen, wenn man am Fernseher meint, dass der Fahrer leicht hätte ausweichen können, wieso er denn direkt in den Zuschauer fährt, der mit einem Photoapparat oder einer Wasserflasche in der Hand nur einen Schritt über die Abgrenzung getreten ist - das liegt an der Reaktionszeit, die Reaktionszeit ist gegen Ende der Etappe und zumal in der Bergen nicht mehr normal. Obwohl der Jüngste seit Jahren kein Radrennen mehr gesehen hat, steht ihm das Bild des Radfahrers vor Augen, der bergauf in einen Zuschauer fährt. Wenn der Puls über eine so lange Strecke im Anschlag sei, sei eben nichts mehr normal, wiederholt der Experte, sagt dreimal in vier Sätzen normal oder nicht normal. Mit welchem Argument könnte der Jüngste die Krankenschwester oder den Zimmernachbarn bitten, den Fernseher leiser zu stellen, wie ihnen die anderen, möglichen Ebenen der Wahrnehmung begreiflich machen, auf denen der Vater die Übertragung der Tour de France und zumal die Werbeunterbrechungen genauso registriert wie nach der ersten Operation den Koran. Wer aus der Spitzengruppe zurückfällt, nur ein wenig zurückfällt, hat in der Regel keine Chance mehr, dann spielt die Psychologie nicht mit, der Wille, dann wird er durch das Hauptfeld nach hinten gereicht. Der Jüngste beobachtet durchgehend den Schlauch, der aus dem Bett zu einem Apparat führt, der links mit blauer, rechts mit roter Flüssigkeit gefüllt ist: Das Herz des Vaters blutet nicht mehr. Angegeben sind Servicenummer für Asien/Ozeanien, Afrika, Amerika und Europa. Ob er einmal anrufen soll? Europa hat eine Nummer mit 0033; das ist Holland, glaubt der Sohn, Holland oder vielleicht Belgien? Was auch immer, die werden sich schon verständigen können, wenn etwas mit dem Apparat ist. Auf der Rückfahrt schiebt der Jüngste persische Chansons aus den Fünfzigern plus minus einem Jahrzehnt ins Autoradio. Die Lieder meiner Jugend, ruft die Mutter von der Rückbank, wo hast du die her? Die Populärmusik jener Zeit kann der Jüngste beinah wahllos hören. Zwar handeln die Texte ebenfalls von Herz und Schmerz, aber das Fortdauern der persischen Mystik verwandelt selbst die schnödeste Schnulze in ein fiebriges Gottverlangen, zumal die Harmonien - anders als die strenge Kunstmusik sind diese Lieder zum Mitsingen melodisch - noch nicht die der amerikanischen Filmindustrie sind oder gar des späteren Pop. Schon wegen ihrer Ungewohntheit, ihrer Herkunft aus fremd gewordener Zeit ist das Schöne daran noch schön, hätte es sich doch durch die bloße Wiederholung verbraucht. Damals in Iran, als diese Lieder Gassenhauer waren, hätte der jüngste vermutlich Elvis Presley gehört, um sich zu unterscheiden. Erst von heute aus fällt mir ihre Originalität als Klangbild einer eigenständigen iranischen Moderne auf, fällt auf, wie anders sie klingen als westliche Populärmusik der fünfziger Jahre, anders als die deutsche sowieso, aber auch nicht französisch, amerikanisch oder arabisch, zugleich anders als die alte iranische Volksmusik. Die Lieder sind städtisch, bürgerlich, oft lasziv, sehr melancholisch, selbst die Freude traurig, werden von Geigen untermalt, die den westlichen Orchesterklang orientalisch verzerren - das sind wohl die berühmten Zwischentöne -, auch Pauken, Bläser hingegen selten und mehr als Kuriosum, elektrische Gitarren durchaus, von den traditionellen persischen Instrumenten am ehesten noch das Santur, das Entsprechende zum deutschen Hackbrett, große oder kleine Ensembles, bei denen die Männer bestimmt nicht wie heute die iranischen Musiker in der Kölner Philharmonie affige Folkloreverschnitte trugen, sondern Frack und Fliege, und die Sängerinnen hatten lange Kleider an und müssen hinreißend ausgesehen haben, selbst wenn sie in Wirklichkeit kugelrund waren und ein Meter fünfundvierzig. Obzwar die Musiker auf den Konzerten aussehen wie Portiers im ägyptischen Fünf-Sterne Resort, bin ich nicht grundsätzlich gegen die neue iranische Musik, die wegen des Unterhaltungsverbots die klassischen Formen wiederbelebt hat. Iran dürfte heute über mehr Meister auch des alten Sinns verfügen als vor der Revolution und viele junge Talente, die auf den alten Wegen schreiten, um sie sinnvoller zu verändern als nur durch schriftliche Partituren westlichen Stils oder den Einsatz von Beats. Wozu es noch viele Jahre braucht, bevor es in ganz anderer Weise wiederkehren kann, ist die originäre iranische Populärmusik, in der es anzüglich oder romantisch zuging, die zum Tanzen war oder zum Weinen. Die Angehörigen reden nicht, als sie an Dollenberg vorbeifahren, schon die ganze Strecke nicht, die Anfangsbesetzung mit der Mutter, dem Internisten und dem Jüngsten, können immerhin zum ersten Mal Musik hören, seit der Vater operiert worden ist, vielleicht auch nur persische Chansons der Fünfziger plus minus einem Jahrzehnt. Von außen betrachtet, ist die Situation weiterhin fragil, aber wie Leute, die beinah verdorrt wären, haben sie jeden Tropfen Erleichterung aufgeschlürft, den der Tag im Herzzentrum ihnen reichte. Als der Internist vorhin ans Bett trat, erklärte er wie bei einer Lagebesprechung die Zahlenreihen im Patientenbuch, das auf einem Brett am Bettgeländer klemmte die Kurven und Diagramme auf den Bildschirmen, die Funktionen der verschiedenen Schläuche, so dass der Jüngste selbst schon seine Schlüsse zog und auf offene Flanken hinweisen konnte in dem Krieg, der der eigene wurde auf Zuruf eines Arztes.
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Nach dem Frühstück fing er an, das Ritualgebet zu erlernen, die salât oder persisch das namâz. Die wesentlichen Texte und Abläufe sind ihm bekannt, hinter oder neben anderen hat er schon häufig gebetet. Aber allein zu beten, so dass man die Texte und Abläufe ohne nachzudenken selbst abspulen muss, ist anders. Man kommt schnell durcheinander. Er ist daher, als er einsah, beten zu müssen, weil er weder schreiben noch lesen konnte, zu den Vermietern der Scheune gegangen, um aus dem Internet eine Gebetsanleitung auf den Laptop zu laden. Man wird selbst mit der Analogleitung rasch fündig, tippt »Islamisches Gebet« in die Suchmaschine und kann schon den ersten Link gebrauchen. Da er den Laptop schlecht mit ans Waschbecken nehmen konnte, notierte er sich die neun Abschnitte der rituellen Waschung, des wozuh, am Rande des Feuilletons, das er unter der Ablage aus einer Kiste mit Altpapier nahm. Claus Peymann inszeniert Peter Handkes Spuren der Verirrten am Berliner Ensemble, was man auch nicht gesehen haben muss. Die Waschung hatte er schon oft vollzogen, musste nur die Reihenfolge der Körperteile sich merken, was keine Viertelstunde dauerte. Anschließend breitete er die gelbe Vliesdecke, auf der die Frau morgens Gymnastik treibt, neben dem Schreibtisch aus, richtete den Bildschirm so ein, dass er die Gebetsanleitung aus einem Meter Entfernung lesen konnte, stellte sich in Richtung Mekka auf das sozusagen goldene Vlies und betete. Dem Sohn, der immer wieder neben sich auf den Laptop blickte, sich auch mal verhaspelte und deshalb ein Gebet neu aufsagen oder die Verbeugung wiederholen musste, gelang es nur sehr eingeschränkt, »seine Verbindung zur Außenwelt« abzubrechen und »sich nun in Gedanken vor Allah (t)« zu befinden, wie es die Gebetsanleitung vom Gläubigen verlangt. Im Sinne der Rechtsschulen war sein Gebet sicher nicht gültig, obwohl auch sie, andererseits, die gute Absicht honorieren und sein Bemühen daher kaum tadeln würden. Ihm half es am Morgen, er will nicht sagen: es befriedete, aber, nein, abgelenkt kann er es auch nicht nennen, das wäre zu schwach, ihm hat das Gebet ermöglicht, diesen Absatz zu beginnen, statt weiter die Scheune wie eine Tier im Käfig auf und ab zu gehen. Wann er wieder zu beten aufhört, gehört nicht zum Gelübde. Er mag die Worte, ihren Klang, die Melodie der Reime genauso wie die Bedeutung, er mag die Bewegungen. Es könnte eine Befreiung sein, sich am Tag einige Mal zu verbeugen, sich niederzuwerfen auf die Stirn - und dann wieder aufrecht zu stehen. Wenn seit vierzehnhundert Jahren Menschen ebendiese Verse in eben dieser Abfolge von Körperhaltungen täglich fünfmal aufsagen, muss ein Segen darin wohnen. Ob es Gott gibt, steht auf einem anderen Blatt. Nicht um Ihn ist es den Religionen zu tun, von dem sie ohnehin nur Namen aussprechen, vielmehr um die Menschen, deren Handlungen mit oder ohne Gott genauso gut oder schlecht, richtig oder falsch, sinnvoll oder unnütz sind - sofern es ohne Gott gut oder schlecht gibt, richtig oder falsch, sinnvoll oder unnütz. Mit oder ohne Gott fing er heute morgen mit dem Gebet an, aber für den Vater, der keinen der vier Söhne je mit der Religion bedrängte und gerade deshalb mit Achtzig noch einen Freudensprung machen würde. Es war die einzige Möglichkeit, bei ihm zu sein, so empfand es der Jüngste, der gestern Nachmittag mit der Frühgeborenen vor dem Bauch nichtsahnend aus dem Haus gegangen war, um zu spazieren, als der Internist auf dem Handy anrief. Weil die Operation der Herzklappe zu riskant schien und das Blut nicht gerinnt, hatte der Kardiologe im St. Marien allenfalls einen kleinen, oberflächlichen Eingriff in Erwägung gezogen, um die Drähte des Schrittmachers freizulegen, und deshalb einen Termin in einem Herzzentrum besorgt, wo der Chef dem Vater während der ersten Visite mitteilte, dass die Klappe ersetzt werden müsse, Risiko hin oder her, sonst läge die Lebenserwartung bei höchstens einem Jahr, wahrscheinlicher einem halben, gleich morgen also, da jeder Tag zählt, also heute, also jetzt, Donnerstag, 19. Juli 2007, 11:28, jetzt gerade liegt der Vater auf der gebogenen Streckbank aufgespannt wie auf einem großen
Ball, rasiert von Hals bis Fuß, mit aufgeschnittenem Brustkorb, umringt von Ärzten, Schwestern, Apparaten, und Gott entscheidet sich, wenn es Ihn gibt, ob Er den Vater wieder zum Leben erweckt. Dem Sohn wird schlecht bei dem Gedanken, dass die Entscheidung gegen den Vater ausfallen könnte. Auch das Gebet hilft jetzt nicht mehr, schon ist die Wirkung verpufft. Kurz nach acht sollte die Operation beginnen, zweieinhalb Stunden sollte sie dauern, die Ärzte könnten also längst fertig sein, sie könnten sagen, puh, das scheint gutgegangen zu sein, oder das Gegenteil. Sie haben auch gesagt, dass es länger dauern könnte, je nachdem, was sie vorfinden und was mit der Blutgerinnung ist. Sie haben die besten, modernsten Apparate und eine neue Methode, der Chef selbst operiert, für sie ist es Routine, wie der Jüngste sich immer wieder zuredet, sie machen das jeden Tag und unter widrigen Umständen als bei dem Vater, nach Unfällen etwa, wenn die Patienten mit dem Hubschrauber eingeflogen werden und die Voruntersuchungen wegfallen. Der Vater hat so oft Glück gehabt, wirkliche Wunder erlebt (der Sohn wird es bedenken, aber so Gott will nicht bald), hat schon dreimal Aufschub erhalten vom Tod, vor zehn Jahren die erste Herzoperation, und ging auch im Leben aus so vielen Dramen heil hervor, der Heimatverlust nach dem Sturz Mossadeghs und der Beginn in Deutschland mit Frau und drei Söhnen auf achtzehn Quadratmetern, Autounfall, Konkurs, Schulden, und jedesmal die Rettung, das war die Furcht, sein bisheriges Glück, und dass der Sohn nicht die Ungerechtigkeit beklagen dürfte, wenn der Vater nach achtzig prallen Jahren ohne Siechtum stürbe, nein, darüber darf man sich nicht beschweren, und dennoch - einer geht noch, sagte der Sohn zur Frau, einer geht noch, während er gestern Nachmittag zum Herzzentrum raste, um den Vater noch einmal zu sehen - jetzt schreibt er selbst schon: noch einmal, als sei's das letzte Mal gewesen -, um den Vater also zu sehen und der Mutter beizustehen, die immer alles wegwischt - ach, deinem Vater geht's prima, stellt sich nur ein bißchen an, der Arzt sagt, er habe den Körper eines Sechzigjährigen. Jetzt trifft sie die Möglichkeit, dass es heute nicht mehr weitergeht, nie mehr mit dem Vater, um so wehrloser. Das Herzzentrum wird gleich nach der Operation den Sohn anrufen, der gerade im Zimmer war, als die Krankenschwester die Nummer eines Angehörigen auf dem Laufzettel notieren wollte. Gegen 14 Uhr, sagte sie, könne er mit dem Anruf rechnen, natürlich auch etwas früher oder viel später, das sei unmöglich zu prognostizieren, sie rufen an, versprochen, ein Arzt ruft an, sobald er den Operationssaal verläßt. Erst im nachhinein merkte der Sohn, dass er die Zeitrechnung nicht versteht, wieso 14 Uhr, wenn die Operation kurz nacht acht beginnen und zweieinhalb Stunden dauern sollte? Die Tanten meldeten sich gestern abend noch alle aus Iran und Amerika, der Sohn hat keine Ahnung, wie sie die Nummer und überhaupt die Nachricht so schnell erreicht hat, blitzartig ging es um die Welt, was auch etwas Schönes ist, zu wissen, dass so viele Menschen an den Vater denken - jetzt. Um 11:57 Uhr ... klingelte das Handy, aber es war nur ein Festival, das ihn zur Lesung einlädt. Schon an der Vorwahl bemerkte er, dass es nicht das Herzzentrum sein konnte, aber innerhalb der Sekunde oder der zwei Sekunden, die es dauert, bis der Anrufer sich vorstellt, spielt man dennoch alle Möglichkeiten durch, eine Rufumleitung vielleicht oder der Vater mit dem Hubschrauber in eine andere Spezialklinik verlegt? So schwer es fiel, ist der Sohn halbwegs höflich geblieben. Im Herzzentrum vermieden sie gestern abend alle Andeutungen, dass sie sich zum letzten Mal gesehen haben könnten, vermieden es so auffällig, dass dennoch alle sahen, dass auch die anderen an die Möglichkeit dachten. Der Vater schien zum Abschied bereit, ob er auch das Wort vermied, pries in allmählich ansteckender Heiterkeit Gott und seine Familie für alles, was sie ihm geschenkt, und fragte die Söhne, mit welchem Recht er mehr verlangen könne. Um halb neun schickte die Krankenschwester die Angehörigen aus dem Zimmer, weil sie die letzten Vorkehrungen treffen musste, rasiert war der Vater schon, also auch am Körper, vor dem Nachtgebet, das er im Laufzettel eintragen ließ, stand noch der Einlauf aus, nach dem Gebet die Schlaftabletten, um zehn vor sieben würden sie ihn morgen früh abholen, also heute. Es ist 12:06 Uhr: Fährt der Sohn noch hinunter ins Dorf, um Brot, Obst und einen Liter
Milch zu kaufen? Alles andere hat er, um sich bis Samstag zu versorgen. Oder wartet er, bis er angerufen wird? Je nachdem, braucht er ohnehin kein Brot. Der Raum, in dem er sitzt, die Landschaft mit Kühen, auf die er blickt, fühlen sich an, als könne er sie jederzeit ausknipsen. Es ist der gleiche Platz, der gleiche Blick, der gestern um die Zeit noch wirklich war. Davon soll der Roman, den ich schreibe, ja erzählen wie alle Romantik: wie die Wirklichkeit einfach ausgeknipst werden kann und man dadurch erst ihre Helligkeit begreift. In der japanischen Ästhetik von früher, in der es ebenfalls um Relationen gehe, vertrüge sich das strahlende Weiß der Zähne nicht mit der Dunkelheit der Mundhöhle und nähme es dem Gesicht von seinem hellgepuderten Schein. Der Sohn will nicht aus dem Herzzentrum angerufen werden, wenn er gerade in der Bäckerei oder im Supermarkt steht. Andererseits kann er nicht einfach warten, also nichts tun außer sitzen oder auf- und ab gehen. Am ehesten würde noch eine gewöhnliche Arbeit unter Menschen ablenken, länger als das Gebet. Am schnellsten ging die Zeit vorüber, die er für diesen Absatz brauchte, jetzt schon 12:12 Uhr. Freilich verbraucht sich das Schreiben ebenfalls, wie er gerade feststellt, weil der Absatz länger nicht geht. Wenn er bereits vom Vater schriebe, käme es ihm vor, als rechnete er mit dessen Tod. Vielleicht fährt er doch Brot kaufen.
Beinah pünktlich um 14:30 Uhr der Anruf: Der Vater verliert Blut. Wenn sein Herz nicht aufhört zu bluten, muss der Brustkorb ein zweites Mal aufgeschnitten werden. Oder was heißt aufgeschnitten: aufgebrochen werden, aufgesägt doch wohl. Auf der Autobahn ruft die Redakteurin eines multikulturellen Senders an, die bereits am Vormittag alle Vorurteile des Sohnes gegen Negerradios bestätigte. Er bekräftigt, dass er wie alles andere auch das morgige Interview absagen müsse, da sein Vater am Herzen operiert worden sei, es Komplikationen gebe und er gerade zur Klinik führe, es sei ernst. Das tue ihr leid, aber das Interview ... - Entschuldigung, es ist ernst, ich kann kein Interview geben! Sie verstehe seine Situation, aber er müsse auch sie verstehen, die Sendung ... Da schneidet er ihr das Wort erneut ab, allerdings mit einem Hinweis, den er noch innerhalb des Satzes bereut: Entschuldigung, mein Vater liegt im Sterben. Er hat es ausgesprochen. Er hat ausgesprochen und nicht nur gedacht, dass der Vater sterben könnte, schlimmer: sterben wird, und das nur, um ein Telefongespräch zu beenden, er hat es ausgesprochen, die Ankündigung sitzt im Auto nun neben ihm und fährt mit zum Herzzentrum. Der Nachsatz, mit dem er ohne Verabschiedung auflegt, ist in Ordnung: Hiermit beende ich das Gespräch, nur dass er sich weniger gegen die Redakteurin richtet als gegen ihn selbst, der ein solcher Tor war, überhaupt ans Telefon zu gehen - eine Berliner Nummer auf dem Display konnte mit dem Vater nichts zu tun haben - und dann auch noch zu allem Überfluß das Wort sterben freizugeben, nicht dass er mit den Brüdern und der Frau heute nicht über die Möglichkeit des Todes sprechen würde, aber so, gegenüber dieser unmöglichen Person, ist es eine Entweihung. Im nächsten Telefonat bei Tempo 200 im auch nicht mehr jugendlichen BMW erklärt ihm der Internist, der bereits im Herzzentrum eingetroffen ist, wie es steht: Wenn die Blutung nicht in den nächsten ein, zwei Stunden aufhöre, müßten die Kardiologen in der nicht einmal großen Hoffnung, eine blutende Wunde vorzufinden, den Brustkorb ein zweites mal öffnen. Sollte sich die Blutung, was wahrscheinlicher sei, als »diffus« erweisen, könnten sie nichts anderes tun, als den Brustkorb auszutamponieren. Die Gefahr dabei sei, dass ... und so weiter, es sind vier, fünf, sechs mögliche Komplikationen, die der Internist aufzählt. Als der Jüngste einen Parkplatz sucht, liest er die Mutter auf, die die Straße vor dem Herzzentrum auf und ab geht. Das Auf-und-abGehen werden sie an diesem Tag noch häufig praktizieren, in Choreographien zu zweit oder zu dritt, erst auf größerem, den Abend über auf kleinem Raum. Sie treffen den Internisten in der Eingangshalle und klingeln an der Intensivstation. Sie warten. Die Nachrichten, die der Kardiologe dem Internisten überbringt, sind nicht schlecht, wie der Jüngste aus dem Fachgespräch heraushört. Die Blutung hat nachgelassen, minimal zwar, unverständliche Zahlenreihen, gute Zahlen, böse Zahlen, x wäre ein Durchbruch, y ist zuwenig, doch will man die Entwicklung zunächst ein, zwei weitere Stunden beobachten, bevor man den Brustkorb des Vaters tatsächlich ein zweites Mal aufbricht. Ein, zwei Stunden später hat sich die Zahlenreihe ein weiteres minimales Stück Richtung x bewegt, weshalb man die Operation weiter hinauszögert. Selbst der Internist kann nun nicht mehr anders, als nach dem Stöckchen Optimismus zu schnappen, das ihnen aus der elektrischen Schwingtür der Intensivstation gereicht wird. Die Brüder beschließen, dass der Jüngste mit der Mutter in den Kurort geht, um die Utensilien für die Nacht zu besorgen. Anschließend würde er die Bewachung der Schwingtür übernehmen, damit der Internist etwas ißt. Als die Mutter es schon aufgegeben hat, entdeckt der Jüngste einen Supermarkt, der um halb acht noch Zahnbürste, T-Shirt, Schokoriegel und dergleichen verkauft. Niemand hat Hunger, aber es kann eine lange Nacht werden, erklärt er der Mutter, nichts wüßten sie über den Morgen, man müsse sich vorbereiten und mit den Kräften haushalten. Man kann mit der Mutter nicht essen gehen, man landet zwingend im falschen Restaurant, sie erwischt automatisch das falsche Essen, und zu teuer ist ohnehin alles, was nicht All -you-can-eat ist, so dass der Jüngste sich freut, in der leergefegten Fußgängerzone einen asiatischen Imbiß zu entdecken, bei dem die Mutter sich wenigstens nicht über den Preis ärgert. Natürlich ärgert er sich darüber, dass sie das billigste Essen aussucht, 4,90 Euro. Er bestellt für die Mutter dennoch knuspriges Hühnchen mit pikanter Soße für 5,50 Euro, weil er sicher ist, dass es ihr besser schmeckt als süß-sauer. Ungeachtet ihres Einspruchs, nicht durstig zu sein, nimmt er außerdem ein Mineralwasser aus dem Kühlschrank vor der Verkaufstheke. Nein, nicht das Wasser, gibt sie ihren Widerstand auf, wenn schon, bring mir eine Fanta. Gerade als der Chinese ihnen das Essen an den Stehtisch bringt - der Jüngste ist seiner Empfehlung gefolgt, Rindfleisch Sezuan für 6,50 Euro, dazu das Pils aus dem Taunus, weil er grundsätzlich Produkte aus der Region bevorzugt -, ruft der Internist endlich zurück, den der Jüngste vorhin nicht erreicht hat: Die Brust des Vaters muss geöffnet werden. Was gerade noch fehlte: Die beiden Operationsräume sind besetzt. - Wie, die sind besetzt? Ja, die sind besetzt, ganz einfach, mehr als zwei Operationsräume hat nicht einmal das Herzzentrum. Die Öffnung der Brust verschiebt sich also weiter, aber nicht mehr wegen x. Notfalls operieren sie auf der Intensivstation, das wäre ungünstig. Wo seid ihr? fragt der Internist, der vor der elektronischen Schwingtür nichts mehr tun kann. Die Mutter, die zusah, wie der Jüngste telefonierte und auf persisch immer wieder schrie was ist denn?, was ist denn?, bringt den Teller sofort zur Theke, um sich das Essen einpacken zu lassen, auch die Fanta, die allerdings schon offen ist. Das Wort Pfand hört der Jüngste, während er die Gabel in das Rindfleisch hämmert. Eine Warmhaltebox aus Aluminium und einen Plastikbecher mit Fanta in der Hand, verläßt die Mutter den asiatischen Imbiß. In dieser Minute kann er sie auch nicht mehr trösten oder halten oder umarmen. Hätte sie nicht das Theater mit dem Essen gemacht, wäre er kaum auf dem Hocker sitzen geblieben. So entlädt sich seine Wut auf dem Rindfleisch Sezuan, damit zugleich auf der Mutter. Er klammert sich an die Absicht, wenigstens das Fleisch zu essen, und schluckt die Stücke ohne zu kauen. Appetit hat er nicht, doch genausowenig sperrt sich sein Magen. Er könnte auch zwei Teller essen, drei, es ist völlig egal. Nur den Reis läßt er zu dreiviertel stehen, weil er nicht hineinstechen kann wie ins Fleisch. Der Chinese, der das Wort Klinik aufgeschnappt hat, nimmt an - bezeichnend für ihren Zustand seit gestern -, dass die Mutter die Patientin sei und sie die Parkinson-Klinik meinten. Nein, Herzzentrum und mein Vater, klärt der Jüngste ihn auf, Operation. Noch beim Rausgehen lächelt der Chinese ihm aufmunternd zu, dass die Klinik die besten Ärzte und Apparate habe, wirklich keine Sorge: eine säh guute Kaggenhaus. Später kehrt der Jüngste mit dem Internisten zurück in den Imbiß und empfiehlt Rindfleisch Sezuan. Die Mutter sucht derweil in der Fußgängerzone ein Klo, um vermutlich im Kurpark fündig zu werden in ihrer Verwirrung. Sein Essen muss der Internist unterbrechen, weil den Jüngsten ein Heulkrampf schüttelt. Kurz darauf wiederholt sich die Szene in umgekehrter Stellung: Der Jüngste hält den heulenden Internisten im Arm. Gott sei gepriesen schweigt der Chinese. Bis das
Herzzentrum um halb zehn schließt, nutzen Mutter und Söhne den Vorplatz, um ihre Choreographie beim letzten Tageslicht einzustudieren. Die Pförtnerin erklärt, wie sie nachts das Herzzentrum verlassen können, und gibt ihnen kostenlos zwei Flaschen Mineralwasser mit nach oben. Die Mutter bittet die Pförtnerin, für den Vater zu beten, da stammelt die Pförtnerin, die offenbar vollständig areligiös ist, dass sie positive Energien beisteuern würde. Das ist doch Scheiße mit euren Energien, denkt der Jüngste, während er zum Aufzug vorangeht, dann laßt es doch gleich, wenn ihr nicht an Gebete glaubt. Die folgenden zwei Stunden sind nicht sehr verschieden von Folter, von der sie sich mit keinem Geständnis erlösen können, eine Enttäuschung jedes Öffnen der elektronischen Schwingtür, deren Tonfolge sich in ihr Gehirn einbrennt, eine Fehlanzeige jeder Gang über den Flur oder die Schritte im Treppenhaus, ein Schlag ins Wasser jedes Geräusch des Aufzugs. Eine Ärztin, die Feierabend hat, erklärt, die Operation habe um Viertel vor acht begonnen, eine Krankenschwester der benachbarten Station ist hundertprozentig sicher, dass der Vater erst gegen neun an ihr vorbei in den Operationssaal gerollt wurde. Beide sind sie von Kopf bis Fuß blau bekleidet, Hose, Hemd und Mütze wenn auch verwaschen fast im Yves-Klein-Ton und schon deshalb wie vom andern Stern. Die Mutter jammert vor sich hin oder murmelt, wie gut es sei, dass die Söhne bei ihr sind, allein wäre sie längst durchgedreht. Dabei gehen die Söhne auch nur den fensterlosen Raum zwischen dem Aufzug und der elektronischen Schwingtür auf und ab, in der Ecke die Tür zum Treppenhaus, wenn sie nicht zwischendurch in einer der vier orangen Plastikschalen sitzen, die auf eine metallene Stange geschraubt sind. Es fehlt nicht viel, und der Jüngste würde sein Ohr auf den Linoleumboden legen, um irgendeinen Hinweis auf den Zustand des Vaters zu erlauschen, wie ein Indianer die feindlichen Reiter. Sie sprechen nicht darüber, aber was sie alle beunruhigt, auch die Verwandten am Telefon, so meint der Jüngste zu merken, sind die bösen Vorahnungen. Niemand ruft: Ich glaube daran, ich habe so ein Gefühl. In seinem Kopf fügen sich die Dinge zusammen, die dem Zeitpunkt einen Sinn verleihen würden. Klar ist, dass niemand lamentieren dürfte, nichts an dem Vorgang wirbelt Weltanschauungen durcheinander, nichts daran ist außergewöhnlich. Auch dass es der Familie so gut ging zuletzt, spricht dafür, dass sich der Boden wieder auftut. Er sagt sich: In Ordnung, es gibt sie, was wir jetzt brauchen, ist ein Wunder. Um 23:15 Uhr öffnet sich die Schwingtür für einen Blaugewandeten, der die Angehörigen anschaut, statt eilig zum Aufzug zu schreiten. Schon am Gesichtsausdruck erkennt der Jüngste, dass der Vater jedenfalls nicht tot ist. Es ist viel mehr als nur überleben: Die Kardiologen haben auf Anhieb eine Wunde gefunden, aus der das Blut nur so spritzte. Nun scheint die Blutung gestillt. Der Brustkorb bleibt bis zum Morgen offen für den Fall, dass das Herz erneut zu bluten beginnt. Alle Werte sind stabil. Der Jüngste ist es, der Laie, der fragt, ob sie den Vater sehen dürften. Der Blaugewandete zögert zunächst, blickt die Angehörigen prüfend an und schaut ungewöhnlich lang auf den Boden, bevor er schließlich ja sagt, er würde die Söhne rufen lassen, sobald der Vater fertig angeschlossen sei, die Mutter warte besser draußen. Angeschlossen, sagt er, angeschlossen, als sei der Vater selbst schon ein Apparat. Der hinten zu verschließende Kittel, die Desinfektion, der gedämpfte Ton, die Zimmer ohne Tür mit je zwei Patienten, Bildschirmen und zweitausend blinkenden Lichtern, das kennt der Jüngste alles. So ist er auch nicht schockiert, als er vor dem Bett des Vaters steht, zumal dessen Körper von einer Wärmedecke bedeckt ist ähnlich einer Alufolie. Natürlich, die Schläuche und Kanülen, überall, auch im offengehaltenen Mund, aber er wirkt friedlich, der Vater, er schläft, wirkt kräftiger sogar, größer, als ihn der Jüngste in Erinnerung hat. Vielleicht hat es mit dem Wasser zu tun, das im Körper des Vaters mal mehr, mal weniger wird. Der Jüngste betet, betet eben so laut, dass der Vater ihn hören könnte, rezitiert den Koran, spricht zu ihm, etwa, dass der Vater noch die herausgerissene Gardinenstange neu anbringen und die Frühgeborene aufwachsen sehen müsse. Er hat den Eindruck, in Zonen, die er nicht kennt, vom Vater wahrgenommen zu werden. Beim Herausgehen erklärt er dem Internisten, dass es heißt, der göttliche Frieden senke sich herab, wo immer der Koran rezitiert wird. Im Hotelzimmer, das sie weit nach Mitternacht noch finden, weist der Internist den Jüngsten darauf hin, dass der Kreislauf, der kaum meßbar gewesen, im Laufe ihres Besuchs sprunghaft angestiegen sei, sogar auf zu hohe Werte, um sich schließlich fast auf dem Idealwert einzupendeln. Während ich den Koran rezitierte? Ja. Der Jüngste will es als Laie nicht überbewerten, aber es wird schon etwas mit dem zu tun haben, was die Pförtnerin mit Energien meinte. Stört dich die Leselampe? fragt er den Internisten und fängt an zu schreiben, dass beinah pünktlich um 14:30 Uhr der Anruf erfolgte: Der Vater verliert Blut. Der Absatz verläuft ohne weitere Komplikationen, also Anrufen aus dem Herzzentrum. Der Internist schreckt einmal heftig aus dem Schlaf und liegt ab fünf Uhr wach. Woran schreibst du? fragt er. Nur eine weitere Notiz, druckst der Jüngste herum und läßt den Roman, den ich schreibe, eilig vom Bildschirm verschwinden.
Am Morgen danach sprachen sie länger mit dem Chef des Herzzentrums, der die Grenzen der Medizin zu kennen und deshalb ein um so besserer Mediziner zu sein scheint. Keine Frage, der Tod ist übermächtig, aber was wir tun können, tun wir und wird von Jahr zu Jahr mehr, sagte sein melancholischer Blick. Ausdrücklich sagte er: Diese zweite Klappe operiert niemand gern, zumal nicht bei dem Alter Ihres Vaters und dessen Leberinsuffizienz, das ist nicht schön, das Problem der Blutung tritt beinah planmäßig auf, doch gab es praktisch keine Wahl, ein Wunder, dass Ihr Vater mit der Herzklappe so lang überlebt hat, völlig zerfleddert, wieder Zahlen, Zentimetergrößen, höchstens ein paar Monate wäre das noch gegangen, und jetzt scheint das Blut gestillt zu sein, das ist das Wesentliche, nein, ich glaube nicht, dass etwas zurückgeblieben ist, nein, nein, auch nicht im Gehirn, hoffen wir, aber müssen ihn erst einmal langsam in den Wachzustand überführen, nichts überstürzen, heute oder morgen, ganz behutsam, wenn er dann bei Bewußtsein ist, sehen wir weiter. Sicher kann es auch danach Komplikationen geben, aber dann haben wir auch unsere Möglichkeiten. Der Chef ist das ganze Wochenende im Herzzentrum und jederzeit für die Söhne erreichbar. Persönlich führte er die Brüder nochmals zum Vater, der mit weitgeöffnetem Mund und darin drei Schläuchen ruhig und regelmäßig atmete, die Gesichtszüge unendlich entspannt, auf dem Leib die silberne Decke, die schwankt und glitzert wie sonniges Meer. Minuten betrachteten sie den Vater, nur der Chef des Herzzentrums und der Internist flüsterten sich hier und dort etwas zu. Dieser Frieden ist zugleich so wunderschön, dachte der Jüngste, und so grauenvoll: Mein Vater ist jetzt auch ein Engel. »Denn weil die Seligsten nicht fühlen von selbst, / Muss wohl, wenn solches zu sagen / Erlaubt ist, in der Götter Namen / Teilnehmend fühlen ein andrer.« Sie, wenn es Sie im Roman, den ich schreibe, je großgeschrieben gibt, Sie haben den Vorteil, dass Sie einfach umblättern oder, Gott verhüte, daran, dass mit dem nächsten Absatz ein neues Kapitel beginnt, in zwei, drei Zeilen womöglich - dass Sie bereits erkennen können, was bestimmt ist. Der Sohn hingegen weiß nichts. Gestern war er am Ende, heute lebt der Vater doch weiter. Und morgen? Schon die Tatsache, dass gestern gestern war, erscheint ihm absurd. Seit dem vorigen Absatz ist viel mehr Zeit vergangen, ein Monat oder ein Jahr, ein Leben oder nicht. Die Raststätte an der A 45 kurz vor Siegen heißt Katzenfurt. Auf einer der nächsten Rückfahrten ißt er dort eine Currywurst, falls sie dreißig Jahre später noch auf der Speisekarte steht.
Der 22. Juli 2007 beendet die Friedensverhandlungen zwischen Gott und den Blaugewandeten morgens kurz vor sechs mit der Nachricht, dass der Vater wieder blutet, es mit der Atmung nicht klappt, die Herz-Lungen-Maschine wieder eingeschaltet werden musste, das Röntgenbild Anzeichen einer Lungenentzündung aufweist und ... das Schlimmste sind die Blutungen. Die Kardiologen wollen noch ein, zwei Stunden abwarten und dann, so der Blutverlust nicht wider Erwarten nachläßt, erneut den Brustkorb aufsägen, eine ähnliche Situation wie am Mittwoch, nur dass die Komplikationen nach der dritten Operation am offenen Herzen wahrscheinlicher,auch schwerwiegender sein würden und die Hoffnung geringer, eine Wunde vorzufinden statt diffuses Blut. Hinzu kommen die zusätzlichen Tage, die der Vater durchgehend in Narkose sein würde, noch mindestens bis Donnerstag, Freitag, die Gefahr der Lungenentzündung, die durch den fortdauernden Einsatz der Herz-Lungen-Maschine noch stiege. Selbst wenn die Operation gelänge, was unwahrscheinlich genug ist, wäre die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Wunde sich entzünden und eitern würde, so dass den Vater über Monate schlimme Schmerzen in der Brust plagen würden und er sich so gut wie nicht bewegen dürfte. Alle drei Tage würden bei lokaler Narkose die Binden ausgetauscht, die den Eiter aufsaugen. Der Jüngste ist nicht sicher, wie es dann mit dem Lebenswillen des Vaters aussähe, den die Enkel nur noch den »Stürmer« nennen, um sich Mut zu machen (von irgendwem haben sie das Wort aufgeschnappt und fanden es treffend). Der Internist bezweifelt, ob der Lebenswille, so stark auch immer, dann noch ausreichen würde bei einem Achtzigjährigen, dem man über Monate am Herzen rumfuchtelt, unter chronischen Qualen und ebensolcher Todesangst, bei völliger Regungslosigkeit und vollem Bewußtsein. Würde der Vater sie nicht fragen, warum sie ihn nicht haben sterben lassen? Darüber ließe sich wahrscheinlich lange philosophieren, theologisieren und psychologisieren, nur müssen die Brüder es im gegebenen Fall wohl innerhalb von Minuten entscheiden. Wenn irgend nur möglich, erklärt der Internist, den der Jüngste diesmal in Siegen abholt, um gemeinsam zum Herzzentrum zu rasen, vor dem die Mutter wieder auf und ab geht, wenn irgend nur möglich, bleibt die Brust zu. Das »Niemand operiert so etwas gern« des Chefarztes klingt dem Jüngsten noch im Ohr, und das bezog sich auf den ersten Eingriff. Ein, zwei Stunden nach ihrer Ankunft im Herzzentrum die erste Neuigkeit: keine Veränderung, was nahe an der schlimmstmöglichen Veränderung liegt, allerdings ist der Oberarzt gerade mit einem anderen Herzen beschäftigt und soll das Herz des Vaters nicht mit dem Assistenten vorliebnehmen. In höchstens einer Stunde ist der Oberarzt soweit. Eine Stunde ist vergangen, behauptet die Uhr, als in der ungewöhnlich belebten Fußgängerzone des Kurorts das Handy des Internisten klingelt und dessen Blick aufs Display dem Jüngsten verrät, dass es die Intensivstation ist. Ungleich schneller als sein Navigator berechnet der Jüngste die wahrscheinlichste Route. Fest steht erstens: Eine Intensivstation ruft nur in Fällen an, die selbst für die dortigen Verhältnisse dringend sind. Fest steht zweitens, dass der Vater operiert wird. Und schließlich steht fest, dass die Operation unmöglich schon zu Ende sein kann, erfolgreich zu Ende. Ein paar Minuten bevor sein Handy klingelte, hatte der Internist gestanden, dass seine Hoffnung nur noch darin gründe, keine Hoffnung mehr zu haben, schließlich seien bisher alle Hoffnungen enttäuscht worden und könne das der Hoffnungslosigkeit doch genauso widerfahren. Kurz darauf klingelt sein Handy und ist der Jüngste auf der Überholspur in Richtung seines eigenen Bestimmungsorts. Erregt zeigt der Internist mit dem Daumen nach unten. Der Jüngste denkt im ersten Augenblick, der Vater sei tot, dann hört er das Wort »deutlich« und nimmt an, dass der Vater wenigstens noch leben müsse, sonst wäre doch nichts deutlich, man sagt doch nicht »deutlich« tot, sondern einfach, es tut uns leid, niemandem tut es »deutlich leid«, also vermutet der Jüngste, dass die Blutwerte sich deutlich verschlechtert haben und der Vater sofort operiert werden musste, Oberarzt hin oder her, dann eben vom Assistenten, bis der Internist bemerkt, wie der Jüngste den Daumen deutet, wohl deuten muss, ich meine, Daumen runter ist doch nun einmal negativ, das kann man nicht mehr deuten oder zurechtbiegen, das ist negativ, wenn nicht der Tod, dann die Aussichtslosigkeit, da reißt der Bruder den Daumen nach oben, ruft an der Sprechmuschel vorbei, dass es eine gute Nachricht sei, eine GUTE Nachricht, und der Jüngste begreift im weiteren Verlauf des Telefonats, dass die Blutung »deutlich« nachgelassen habe (das meinte der Internist mit dem Daumen nach unten) und der Vater nun Aussicht habe, eine realistische Chance, doch nicht operiert zu werden, man warte vorerst ab. Als sie gegen Abend auf die Autobahn einscheren, mahnt der Internist scherzhaft, der Jüngste solle das Mißverständnis mit dem Daumen bloß nicht in einer Geschichte verwenden. Der Roman, den ich schreibe, ist keine Geschichte.
Im Hintergrund läuft laut die Tour de France, die der Zimmernachbar des Vaters eingeschaltet hat, als er kurz wach war. Man kann nicht anders, als zu registrieren, was zur selben Zeit in den Pyrenäen geschieht, ein Däne in Führung, allerdings unter Dopingverdacht, der Deutsche hat keine Chance mehr, fünf spanische Bergspezialisten in der Ausreißergruppe, das grüne Trikot des Punktsiegers. Ein ehemaliger Profi erläutert als Mitmoderator einfühlsam, wie sich die Fahrer fühlen, wenn der Puls über eine so lange Strecke »im Anschlag« ist und »die Reaktionszeit« daher nachläßt, etwa wenn ein Zuschauer plötzlich auf der Strecke steht. Das ist schon interessant, daran hat der Jüngste nie gedacht: die Bilder von Stürzen, wenn man am Fernseher meint, dass der Fahrer leicht hätte ausweichen können, wieso er denn direkt in den Zuschauer fährt, der mit einem Photoapparat oder einer Wasserflasche in der Hand nur einen Schritt über die Abgrenzung getreten ist - das liegt an der Reaktionszeit, die Reaktionszeit ist gegen Ende der Etappe und zumal in der Bergen nicht mehr normal. Obwohl der Jüngste seit Jahren kein Radrennen mehr gesehen hat, steht ihm das Bild des Radfahrers vor Augen, der bergauf in einen Zuschauer fährt. Wenn der Puls über eine so lange Strecke im Anschlag sei, sei eben nichts mehr normal, wiederholt der Experte, sagt dreimal in vier Sätzen normal oder nicht normal. Mit welchem Argument könnte der Jüngste die Krankenschwester oder den Zimmernachbarn bitten, den Fernseher leiser zu stellen, wie ihnen die anderen, möglichen Ebenen der Wahrnehmung begreiflich machen, auf denen der Vater die Übertragung der Tour de France und zumal die Werbeunterbrechungen genauso registriert wie nach der ersten Operation den Koran. Wer aus der Spitzengruppe zurückfällt, nur ein wenig zurückfällt, hat in der Regel keine Chance mehr, dann spielt die Psychologie nicht mit, der Wille, dann wird er durch das Hauptfeld nach hinten gereicht. Der Jüngste beobachtet durchgehend den Schlauch, der aus dem Bett zu einem Apparat führt, der links mit blauer, rechts mit roter Flüssigkeit gefüllt ist: Das Herz des Vaters blutet nicht mehr. Angegeben sind Servicenummer für Asien/Ozeanien, Afrika, Amerika und Europa. Ob er einmal anrufen soll? Europa hat eine Nummer mit 0033; das ist Holland, glaubt der Sohn, Holland oder vielleicht Belgien? Was auch immer, die werden sich schon verständigen können, wenn etwas mit dem Apparat ist. Auf der Rückfahrt schiebt der Jüngste persische Chansons aus den Fünfzigern plus minus einem Jahrzehnt ins Autoradio. Die Lieder meiner Jugend, ruft die Mutter von der Rückbank, wo hast du die her? Die Populärmusik jener Zeit kann der Jüngste beinah wahllos hören. Zwar handeln die Texte ebenfalls von Herz und Schmerz, aber das Fortdauern der persischen Mystik verwandelt selbst die schnödeste Schnulze in ein fiebriges Gottverlangen, zumal die Harmonien - anders als die strenge Kunstmusik sind diese Lieder zum Mitsingen melodisch - noch nicht die der amerikanischen Filmindustrie sind oder gar des späteren Pop. Schon wegen ihrer Ungewohntheit, ihrer Herkunft aus fremd gewordener Zeit ist das Schöne daran noch schön, hätte es sich doch durch die bloße Wiederholung verbraucht. Damals in Iran, als diese Lieder Gassenhauer waren, hätte der jüngste vermutlich Elvis Presley gehört, um sich zu unterscheiden. Erst von heute aus fällt mir ihre Originalität als Klangbild einer eigenständigen iranischen Moderne auf, fällt auf, wie anders sie klingen als westliche Populärmusik der fünfziger Jahre, anders als die deutsche sowieso, aber auch nicht französisch, amerikanisch oder arabisch, zugleich anders als die alte iranische Volksmusik. Die Lieder sind städtisch, bürgerlich, oft lasziv, sehr melancholisch, selbst die Freude traurig, werden von Geigen untermalt, die den westlichen Orchesterklang orientalisch verzerren - das sind wohl die berühmten Zwischentöne -, auch Pauken, Bläser hingegen selten und mehr als Kuriosum, elektrische Gitarren durchaus, von den traditionellen persischen Instrumenten am ehesten noch das Santur, das Entsprechende zum deutschen Hackbrett, große oder kleine Ensembles, bei denen die Männer bestimmt nicht wie heute die iranischen Musiker in der Kölner Philharmonie affige Folkloreverschnitte trugen, sondern Frack und Fliege, und die Sängerinnen hatten lange Kleider an und müssen hinreißend ausgesehen haben, selbst wenn sie in Wirklichkeit kugelrund waren und ein Meter fünfundvierzig. Obzwar die Musiker auf den Konzerten aussehen wie Portiers im ägyptischen Fünf-Sterne Resort, bin ich nicht grundsätzlich gegen die neue iranische Musik, die wegen des Unterhaltungsverbots die klassischen Formen wiederbelebt hat. Iran dürfte heute über mehr Meister auch des alten Sinns verfügen als vor der Revolution und viele junge Talente, die auf den alten Wegen schreiten, um sie sinnvoller zu verändern als nur durch schriftliche Partituren westlichen Stils oder den Einsatz von Beats. Wozu es noch viele Jahre braucht, bevor es in ganz anderer Weise wiederkehren kann, ist die originäre iranische Populärmusik, in der es anzüglich oder romantisch zuging, die zum Tanzen war oder zum Weinen. Die Angehörigen reden nicht, als sie an Dollenberg vorbeifahren, schon die ganze Strecke nicht, die Anfangsbesetzung mit der Mutter, dem Internisten und dem Jüngsten, können immerhin zum ersten Mal Musik hören, seit der Vater operiert worden ist, vielleicht auch nur persische Chansons der Fünfziger plus minus einem Jahrzehnt. Von außen betrachtet, ist die Situation weiterhin fragil, aber wie Leute, die beinah verdorrt wären, haben sie jeden Tropfen Erleichterung aufgeschlürft, den der Tag im Herzzentrum ihnen reichte. Als der Internist vorhin ans Bett trat, erklärte er wie bei einer Lagebesprechung die Zahlenreihen im Patientenbuch, das auf einem Brett am Bettgeländer klemmte die Kurven und Diagramme auf den Bildschirmen, die Funktionen der verschiedenen Schläuche, so dass der Jüngste selbst schon seine Schlüsse zog und auf offene Flanken hinweisen konnte in dem Krieg, der der eigene wurde auf Zuruf eines Arztes.
© Carl Hanser Verlag, München
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Autoren-Porträt von Navid Kermani
Navid Kermani, geboren 1967 in Siegen, lebt in Köln. Für sein literarisches und essayistisches Werk erhielt er u. a. den Kleist-Preis, den Joseph-Breitbach-Preis, den Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2015, den ECF Princess Margriet Award for Culture 2017, den Staatspreis des Landes NRW 2017, den Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg 2020 und den Ehrenpreis des Österreichischen Buchhandels 2021. Zuletzt erschienen bei Hanser Dein Name (Roman, 2011), Über den Zufall (Edition Akzente, 2012), Große Liebe (Roman, 2014), Album (Das Buch der von Neil Young Getöteten / Vierzig Leben / Du sollst / Kurzmitteilung, 2014) und Sozusagen Paris (Roman, 2016). Ayda, Bär und Hase (2017) ist sein erstes Buch für Kinder. 2022 folgte Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Navid Kermani
- 2014, 4. Aufl., 1228 Seiten, 20 Abbildungen, Maße: 15,4 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446237437
- ISBN-13: 9783446237438
- Erscheinungsdatum: 24.08.2011
Rezension zu „Dein Name “
"Navid Kermanis gigantischer, nicht enden wollender autobiografischer Roman sprengt alle Maßstäbe ... Ein Buch, das einem so ausdauernd und hartnäckig im Kopf herumgeht wie lange keines mehr." Heinrich Wefing, Die Zeit, 01.09.11"Roman, Tagebuch, Bekenntnis und Poetik in einem. ... Dieses Buch hat viele nahrhafte Zutaten. Wer Interesse, Aufmerksamkeit und Geduld einbringt, dem hat es eine Menge zu geben. Sodass die stillschweigende Rechnung - was gibt mir das Buch für meinen Einsatz an Lebenszeit? - hier aufgeht." Martin Ebel, Tages-Anzeiger, 29.08.11
"Es ist ein Totenbuch, ein Buch des Lebens - ein gewaltiges Buch, über das gesprochen werden muss." Alexander Solloch, NDR, 09.09.11
"Navid Kermani verwandelt sich selbst in einen Roman."Joseph Hanimann, Süddeutsche Zeitung, 12.09.11
"Navid Kermanis grossartiges selbstbiografisches Epos. ...Eine Lektüre, die für lange und weit über den Schluss hinaus eine erhebende und bewegende, eine so heitere wie klugeund beglückende Lebensbegleitung darstellt." Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung, 08.10.11
Pressezitat
"Navid Kermanis gigantischer, nicht enden wollender autobiografischer Roman sprengt alle Maßstäbe ... Ein Buch, das einem so ausdauernd und hartnäckig im Kopf herumgeht wie lange keines mehr." Heinrich Wefing, Die Zeit, 01.09.11"Roman, Tagebuch, Bekenntnis und Poetik in einem. ... Dieses Buch hat viele nahrhafte Zutaten. Wer Interesse, Aufmerksamkeit und Geduld einbringt, dem hat es eine Menge zu geben. Sodass die stillschweigende Rechnung - was gibt mir das Buch für meinen Einsatz an Lebenszeit? - hier aufgeht." Martin Ebel, Tages-Anzeiger, 29.08.11
"Es ist ein Totenbuch, ein Buch des Lebens - ein gewaltiges Buch, über das gesprochen werden muss." Alexander Solloch, NDR, 09.09.11
"Navid Kermani verwandelt sich selbst in einen Roman."Joseph Hanimann, Süddeutsche Zeitung, 12.09.11
"Navid Kermanis grossartiges selbstbiografisches Epos. ...Eine Lektüre, die für lange und weit über den Schluss hinaus eine erhebende und bewegende, eine so heitere wie kluge und beglückende Lebensbegleitung darstellt." Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung, 08.10.11
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