Denn ich bin krank vor Liebe
Das Leben der Hildegard von Bingen
Hildegard von Bingen war ein Multitalent mit einem einzigartigen und vielseitigen Werk. Sie war Theologin und Prophetin, Botanikerin, Medizinerin und Musikerin. Mit ihren Worten und Taten betrat sie Neuland, ehrgeizig und risikobereit, aber auch klug...
lieferbar
versandkostenfrei
Taschenbuch
16.50 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Denn ich bin krank vor Liebe “
Hildegard von Bingen war ein Multitalent mit einem einzigartigen und vielseitigen Werk. Sie war Theologin und Prophetin, Botanikerin, Medizinerin und Musikerin. Mit ihren Worten und Taten betrat sie Neuland, ehrgeizig und risikobereit, aber auch klug und pragmatisch, wenn es darum ging, eigene Auffassungen und Interessen durchzusetzen. Barbara Beuys deckt in ihrer Erfolgsbiographie neue Seiten an der zur Kultfigur gewordenen Äbtissin auf und zeigt auch, daß gerade Frauen einen wichtigen Anteil am geistigen und sozialen Leben des Mittelalters hatten.
Klappentext zu „Denn ich bin krank vor Liebe “
Hildegard von Bingen war ein Multitalent mit einem einzigartigen und vielseitigen Werk. Sie war Theologin und Prophetin, Botanikerin, Medizinerin und Musikerin. Mit ihren Worten und Taten betrat sie Neuland, ehrgeizig und risikobereit, aber auch klug und pragmatisch, wenn es darum ging, eigene Auffassungen und Interessen durchzusetzen.Barbara Beuys deckt in ihrer Erfolgsbiographie neue Seiten an der zur Kultfigur gewordenen Äbtissin auf und zeigt auch, daß gerade Frauen einen wichtigen Anteil am geistigen und sozialen Leben des Mittelalters hatten.
Lese-Probe zu „Denn ich bin krank vor Liebe “
Denn ich bin krank vor Liebe von Barbara BeuysWarum Hildegard von Bingen?
... mehr
Hildegard von Bingen ist ein Phänomen. Man könnte meinen, der neunzigste Psalm sei für sie geschrieben: »Denn tausend Jahre sind für dich wie der Tag, der gestern vergangen ist . . .« Diese Frau, vor fast einem Jahrtausend, 1098, nahe Alzey in der Pfalz geboren und 1179 in biblischem Alter als Äbtissin in ihrem Kloster auf dem Rupertsberg oberhalb von Bingen gestorben, hat seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine steile Karriere gemacht, und ihre Popularität ist ungebrochen. Hildegard von Bingen ist wie zu ihren Lebzeiten als Prophetin, wenngleich in einem anderen Sinn, wieder zur Kultfigur geworden. Ihr Name ist weithin bekannt, unzählige wollen von der Ausstrahlung ihrer Persönlichkeit profitieren: Der Biobäcker verkauft »Apfelbrot nach einem alten Rezept von Hildegard von Bingen«; die studierte Ärztin wirbt im Fernsehen für die Hildegard-Medizin; die Buchhandlungen sind gut bestückt mit Hildegard-Büchern aller Art; Ernährungsberater geben Kurse in Hildegard-Diätetik; in Eso- terik-Läden erzählen nicht nur Steine von Hildegards Heilkunde; in den USA, England und Australien stieg 1995 die CD »Vision« mit Hildegard-Musik an die Spitze der Charts, und längst sind Hildegard- CDs keine unbekannten mehr in deutschen Läden. Den unaufhaltsamen Aufstieg kann man mit Stirnrunzeln verfolgen, mit Wehklagen bedauern und mit Argumenten kritisieren. Hildegard hat kein Rezept für Apfelbrot aufgeschrieben. Ob ihre Kompositionen zu ihren Lebzeiten je aufgeführt wurden, wissen wir nicht. Ausgerechnet ihre beliebten medizinischen Ratschläge und Diagnosen stehen in Manuskripten, die erst Jahrzehnte nach ihrem Tod datieren, und deren Originaltext bisher nicht rekonstruierbar ist. Wer kennt ihre drei Visionsbücher und ihre umfangreiche Briefsammlung wirklich? Wurden sie jemals in den Kontext ihres Lebens und ihrer Zeit gesetzt? Doch gegen alle Einwände spricht eine unleugbare Realität: Gibt es einen Menschen, der nach fast tausend Jahren auch nur annähernd so präsent ist wie Hildegard von Bingen? Die historisch Gebildeten können zum 12. Jahrhundert vielleicht ein halbes Dutzend Namen nennen: Kaiser Friedrich Barbarossa, der als Mythos im Kyffhäuser überlebte, den Zisterzienserabt Bernhard von Clairvaux, Peter Abälard, den Vater des wissenschaftlichen Denkens in Europa. Bischof Otto von Freising, der einflussreiche Denker und Historiker, kommt schon in keinem Geschichtsunterricht mehr vor.
Es ist Hildegard von Bingen, eine Frau, die ihre wenigen berühmten männlichen Zeitgenossen im Gedächtnis der Menschen weit überflügelt, mag die Prophetin samt ihrem Werk als Konsequenz ihrer Popularisierung auch von Legenden und Klischees verzerrt sein. Aber die Experten - ob Historiker, Theologen, Literaturwissenschaftler oder Philosophen - haben kein Monopol auf Hildegards Texte. Ihre Bücher gehören allen. Jeder ist frei, die spirituellen Wirkungen ihrer Visionen und Bilder auf seine Weise zu empfinden. Hildegard von Bingen bietet sich als ideale Projektionsfläche an, um Sehnsüchte und Hoffnungen der Moderne sichtbar zu machen, ihnen Sinn und Richtung zu geben. Was ist daran zu verurteilen? Wer nach knapp tausend Jahren noch eine so vielfältige Attraktivität besitzt, muss einen glaubwürdigen Kern gehabt haben, ein Charisma und eine Botschaft, die sich nicht verbiegen lassen und Talente, die weit über dem Durchschnitt liegen.
Es ist eine Sache, Hildegard als heiligmäßige Prophetin zu verehren und aus ihren Schriften Trost und Kraft zu schöpfen. Warum sollen lebenspraktische Hinweise - auch wenn ihre Urheberschaft ungewiss ist - nicht weiter entwickelt und in die Praxis umgesetzt werden, zumal wenn die Nachfrage ein steigendes Angebot geradezu herausfordert? Hildegard von Bingen war großzügig und nachsichtig, wenn es um die Menschen und ihre Bedürfnisse und Nöte ging.
Etwas anderes ist es, alles, was unter dem Namen Hildegard geführt wird, mit dem Etikett historischer Wahrheit versehen und daraus konkrete Einsichten über ihre Person abzuleiten zu wollen. Da liegt die Versuchung nahe, sie mit der heutigen Zeit und ihren Problemen in einer Weise zu identifizieren, dass die Sicht auf ihre facettenreiche Person wie ihre historische Einmaligkeit und ihr bedeutendes Werk verstellt wird. Allerdings haben die wissenschaftlichen Experten ihren Teil dazu beigetragen, dass diese außergewöhnliche Frau als historische Person vernachlässigt wurde. Hildegard von Bingen als »erratischen Block« zu rühmen, ist ein zweifelhaftes Lob, denn es macht weitere Bemühungen überflüssig. Auch seit Historiker die Person und ihr zeitgenössisches Umfeld erforschen, ist eine seltsame Berührungsangst geblieben, Hildegards visionäre Bücher in die Forschungen einzubeziehen.
Eine Prophetin fällt nicht vom Himmel. Nur wer Hildegard von Bingen mit ihrem Leben und ihren Büchern im Zusammenhang ihrer Zeit sieht, kann die unterschiedlichen Dimensionen deutlich machen, die eine historische Persönlichkeit auszeichnen. Hildegard übertrifft mit ihrem schriftstellerischen Werk nicht nur alles, was Frauen bis dahin und für viele Jahrhunderte in der europäischen Geschichte geschaffen und hinterlassen haben - selbst von männlichen Berühmtheiten des Mittelalters ist kaum je ein so umfangreiches Textwerk überliefert. Als Prophetin hatte Hildegard einen Ruf, der weit über die Grenzen des Deutschen Reiches hinausging. Sie korrespondierte mit Königen und Päpsten, Äbtissinnen und Erzbischöfen. Als von Gott auserwählte Prophetin formulierte sie in ihrem ersten Buch »Scivias« die göttliche Zusage, ihre Visionen überträfen alles, was die alten Seher in mir an Geheimnissen schauen durften. Zugleich beschwor Hildegard ihr Leben lang vehement, dass sie ihre Visionen nicht in Ekstase, nicht im Traum und nicht im Rausch, sondern hellwach erlebte.
Aber die Prophetin belässt es nicht dabei, himmlische Visionen aufzuschreiben. Im Vorwort zum »Scivias« heißt es: Plötzlich erhielt ich Einsicht in die Schriftauslegung, in den Psalter, die Evangelien und die übrigen katholischen Bücher des Alten und Neuen Testaments. Noch provokativer klingt eine Vision, die Hildegard von Bingen in ihren autobiografischen Notizen schildert. Die Engel vergleichen sie mit einem Adler, dem Symbol des Evangelisten Johannes, und rufen der Prophetin zu: He, he Adler, warum schläfst du in deinem Wissen . . . erhebe dich in deinem Wissen, steh auf Mädchen! Wie ungeheuerlich und skandalös dieser Anspruch ist, lässt sich nur vor dem Hintergrund der Kirchengeschichte verstehen. Nach einem Wort des Apostels Paulus hatte die Frau in der Gemeinde - und damit in der Öffentlichkeit - zu schweigen. Darüber hinaus lag bis in Hildegards Jahrhundert - und für viele folgende - das Monopol auf die Auslegung der Bibel bei den zu Priestern geweihten Männern. Hildegard ging noch weiter: Die Äbtissin legte die Bibel nicht nur in ihren Büchern aus, sondern brach im hohen Alter sogar zu Predigtreisen auf. Ein radikalerer Verstoß gegen Traditionen und kirchliche Vorschriften ist für eine Frau kaum denkbar. Auch ihr musikalisches Talent verstand Hildegard von Bingen als göttliche Eingebung und typisches Merkmal der Propheten. Es bedeutet einen weiteren Superlativ. Denn die rund siebzig Gesänge und ein Musik-Drama, die von Hildegard überliefert sind, machen ihr musikalisches Werk zu einem der umfassendsten, das je von einer Frau geschaffen wurde. Im Mittelalter selbst gibt es kaum einen Musiker, von dem wir so viele Kenntnisse haben.
Ein Multitalent zu sein, ist nicht unbedingt von Vorteil, noch dazu, wenn man eine Frau ist. Es verleitet Experten, schulterklopfend Anerkennung zu zollen, aber damit nur die Quantitäten der Talente und die exotische Ausnahme im Auge zu haben. Inhalt und Qualität eines vielfältigen Werkes werden dagegen nicht weiter beachtet, eher kleingeredet. Bis in unsere aufgeklärte Zeit gilt auch für Hildegard, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Zwei international angesehene Kenner und Forscher haben diese Zurückhaltung, die man auch ein Tabu nennen könnte, gegenüber der Äbtissin vom Rupertsberg aufgegeben. Für den amerikanischen Historiker Bernard McGinn ist Hildegard von Bingen die »erste große Theologin des Christentums «, und der englische Literaturwissenschaftler Peter Dronke zählt sie »zur wissenschaftlichen Avantgarde des 12. Jahrhunderts«.
Wie bahnbrechend das 12. Jahrhundert ist und welcher Wendepunkt in der Geschichte Europas, hat sich bis in unsere Zeit nicht wirklich herumgesprochen. Für den niederländischen Historiker Johan Huizinga - sein »Herbst des Mittelalters« ist immer noch ein anregender Klassiker - ist das 12. Jahrhundert »eine schöpferische, eine gestaltende Epoche gewesen, wie keine andere. Eigentlich viel mehr als in der Zeit, mit der wir den Begriff Renaissance zu verbinden pflegen, stehen wir hier zwischen 1100 und 1200 vor einem Erwachen, einem Aufblühen«. Keinen Bereich gab es, in dem nicht tiefgehende Veränderungen stattfanden, die sich alle wechselseitig beeinflussten. Das Klima erwärmte sich; die Bevölkerung wuchs dramatisch; die Bauern nutzten in der Landwirtschaft neue, produktivere Techniken; Wälder wurden gerodet, neue Weinberge angelegt, zahlreiche Dörfer gegründet; die ersten mittelalterlichen Städte entstanden und dort begann eine Bürgerkultur, wuchsen bürgerliche Freiheiten und ein neues Wirtschaftsmodell, das vom Wettbewerb und vom Geld geprägt wurde; das traditionelle gesellschaftliche Gefüge löste sich auf, als mit den Ministerialen ehemals Unfreie zu einem neuen Stand wurden und dem Adel Konkurrenz machten. Wo die Religion nicht am Rande, sondern im Zentrum steht und alle Bereiche des Menschen durchdringt, ist sie in alle Veränderungen und Umbrüche involviert. Traditionelle Riten des Glaubens und der Frömmigkeit, kirchliche Institutionen, Autoritäten und Amtsträger wurden nicht mehr fraglos akzeptiert. Sie mussten sich den persönlichen Empfindungen, Sehnsüchten und Erwartungen der Gläubigen stellen. In der Kirche wurde der Ruf nach Reformen unüberhörbar und vereinte am Anfang in frommer Zielsetzung Kaiser und Papst. Eine neue Frömmigkeit brach sich Bahn, die sich vom Herrscher-Gott abwandte, in Christus, dem menschgewordenen Gott, ihr Heil suchte und in seinem irdischen Leiden mitfühlenden Trost für die eigenen Bedrängnisse fand.
Als Konsequenz aller Veränderungen in Welt und Kirche erhielt der einzelne mehr Freiheiten, mehr Verantwortung und mehr Möglichkeiten, sein Leben in eigener Regie zu gestalten. Frauen bot sich die Chance, ihre religiösen Bedürfnisse in vielfältigen Formen leben zu können. Sie schlossen sich Wanderpredigern an, gingen als Eremitinnen in die Einsamkeit und leiteten eigene geistliche Gemeinschaften. Sie drängten wie nie zuvor in die Klöster, die bisher in ihrer übergroßen Mehrheit den Männern vorbehalten waren. Dabei trafen sie auf Bischöfe und Äbte, die die religiöse Selbstverwirklichung der Frauen ernst nahmen und förderten. Aus zahlreichen traditionellen Klöstern der Benediktinermönche wurden Doppelklöster, in denen Frauen als Nonnen Aufnahme fanden und mit den Mönchen zusammen Tag und Nacht in der Klosterkirche zum Lob Gottes zusammenkamen.
Als die vierzehnjährige Hildegard 1112 im Kloster auf dem Disibodenberg westlich von Sobernheim, wo der Glan in die Nahe fließt, eintraf, um ihr Leben Gott zu weihen, war sie nicht allein. Sie kam im Gefolge der zwanzigjährigen Jutta von Sponheim. Die Magistra Jutta war eine gebildete Frau, deren Rat sehr bald im Kloster wie bei den Menschen ringsum im Land gefragt war. Auch als Nonne empfing sie Trostsuchende persönlich, beantwortete Briefe, hatte großen Einfluss bei der Abtwahl des Klosters und ließ sich von niemandem in Askese und strengen religiösen Übungen übertreffen. Hildegard war Juttas Vertraute und Lieblingsschülerin, und sie ist von dieser starken Frau, einer typischen Vertreterin der Aufbruchszeit, entscheidend geprägt worden.
1151 beendete Hildegard ihr erstes Visionsbuch »Scivias«, und gut ein Jahr zuvor hatte sie - gegen viele Widerstände - ihr eigenes Kloster auf dem Rupertsberg oberhalb von Bingen bezogen. Beide Schritte bezeugen, dass sie bewusst als Prophetin in der Öffentlichkeit wirken wollte und an den entscheidenden Wendepunkten ihres Lebens selber die Initiative ergriff, risikobereit und realistisch zugleich. Hildegard von Bingen, die sich als treue Tochter ihrer Kirche sah, wollte weder im Abseits bleiben noch auf dem Scheiterhaufen enden. Doch die Nachgeborenen, die stets klüger sind, sollten nicht vergessen: Wohin die Grenzübertritte und Wagnisse die Prophetin führen würden, war für sie niemals mit letzter Gewissheit vorauszusehen.
Aktiv wurde Hildegard von Bingen auch, um ihr Bild für die Nachwelt festzuhalten. So wie die Prophetin ihre spontanen Visionen im Nachhinein bei der Reinschrift redigierte, hatte sie keine Hemmungen, ihre umfangreiche Korrespondenz zu manipulieren, um ihren außerordentlichen Ruf als »wahres Orakel Gottes« und Gesprächspartnerin der Mächtigen in Kirche und Welt zu festigen. Vielleicht stand hinter diesem Bemühen auch die bittere Erkenntnis, dass Hildegard von Bingen mit noch so vielen qualifizierten Büchern eine Grenze nicht aufheben konnte: Ihre Schriften wurden von den gelehrten Magistern der Domschulen, an denen der wissenschaftliche, ausschließlich männliche Nachwuchs ausgebildet wurde, negiert, denn eine Frau passte nicht ins akademische Karrieremuster.
Dass die Äbtissin vom Rupertsberg sich für die Öffentlichkeit auf ihre Prophetenrolle konzentrierte, war klug. In dieser Funktion überlebte sie die Jahrhunderte, während ihre Visionsbücher in Vergessenheit gerieten. Der Preis: Bis heute wird die Prophetin aus dieser einseitigen Perspektive wahrgenommen und kaum zur spannenden Gegenwart des 12. Jahrhunderts in Beziehung gestellt. Dabei steckt in Hildegards Werk sehr viel mehr als die Aufzeichnung himmlischer Visionen und die poetische Beschreibung schöner Bilder. Sie entwickelt ein ehrgeiziges Programm als eigenständige Theologin, die mit den neuesten Strömungen ihrer Zeit vertraut ist. An Hildegards Theologie lässt sich demonstrieren, wie eng ihre Ausnahmestellung als Frau mit den revolutionären Entwicklungen ihrer Epoche verflochten ist. Hildegard von Bingen, die mit ihrem Werk und ihrem Leben viele Grenzen überschreitet, ist tatsächlich wissenschaftliche Avantgarde, kann sich mit den Berühmtheiten ihrer Epoche messen und verkörpert den Aufbruch des 12. Jahrhunderts in eine neue, moderne Zeit.
Wie ein roter Faden ziehen sich durch die drei Visionsbücher Hildegards die Grundlagen für das Projekt einer menschenfreundlichen Theologie. Gott ist nicht mehr der strenge Richter, sondern ein Gott voller Mitgefühl: Denn die Barmherzigkeit Gottes beugt sich in liebevollem Mitleiden zu den Menschen ... Der Mensch hat als Abbild Gottes eine ganz besondere Würde: Du hast nämlich vor allen andern deiner Geschöpfe dem Menschen hohe und bewundernswerte Würde verliehen . . . Dabei versteht Hildegard unter dem »Menschen« immer Mann und Frau und macht an vielen Beispielen klar, dass die Frau in ihrer Beziehung zu Gott dem Mann in allem gleichrangig ist. Die Äbtissin vom Rupertsberg leugnet nicht die Erbsünde, und vertritt dennoch ein optimistisches Bild von Gott, der Welt und dem Menschen.
Mit dieser modernen Theologie steht Hildegard nicht allein. Doch nur den Männern wird der historische Ruhm zugeschrieben. Peter Abälard gilt als Begründer einer neuen Deutung der zentralen christlichen Heilsbotschaft, der Erlösung durch den Opfertod Christi am Kreuz. Der Magister aus Paris weigerte sich, in diesem Tod ein Tauschgeschäft zu sehen, bei dem das Blut Christi der von Gottvater geforderte Kaufpreis ist, um die Menschen der Macht des Teufels zu entreißen und die göttliche Ehre wiederherzustellen. Für Abälard beweist dieser schmachvolle Tod ausschließlich Gottes unendliche Liebe zu den Menschen. Nichts anderes sagt Hildegard von Bingen, wenn sie im »Scivias« schreibt: Durch das herzliche väterliche Erbarmen geschieht Erlösung. Erst im Zusammenhang der geistigen Strömungen ihrer Zeit wird erkennbar, dass Hildegard damit kühn theologisches Neuland betritt.
Die gleiche Modernität gilt für ihr naturwissenschaftliches Werk über die »Feinheiten der verschiedenen Naturen der Geschöpfe«, das nach ihrem Tod als zwei getrennte Schriften - »Naturkunde« und »Heilkunde« - auftauchte und im Original verschollen ist. Unabhängig von biblischen oder theologischen Vorgaben erkundet Hildegard von Bingen neugierig Erscheinungen der Natur - ob es den Lauf der Sonne, die Sexualität der Fische oder der Menschen betrifft. Damit liegt sie im intellektuellen Trend des 12. Jahrhunderts, der in Europa zur Geburtsstunde der Wissenschaften wurde. Bis dahin mussten sich alle Fächer der Wahrheit der Theologie unterordnen. Aber an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert stellten Magister an französischen Kathedralschulen - allen voran in Chartres - erstmals die Forderung auf, die Natur gemäß ihren eigenen Gesetzen zu erforschen, und sie haben diesen Anspruch in ihren Schriften umgesetzt. Das war der entscheidende Schritt, damit sich die Naturwissenschaften - und in ihrem Gefolge viele andere Studien - von der Theologie emanzipieren konnten.
Auf dem Rupertsberg versuchte die sechzigjährige Prophetin, eine Mondfinsternis nicht durch Gottes wunderbares Eingreifen, sondern mit sachbezogenen Gründen zu erklären: Wenn gelegentlich einmal eine Mondfinsternis sichtbar wird, so kommt das daher, dass die Elemente mit den Stürmen zusammenprallen und eine Auseinandersetzung haben. Der Mond wird bei diesem Ereignis weder ausgelöscht noch ist er im Abnehmen; vielmehr verdunkeln ihn nur die Unwetter für eine kurze Zeit. Genau beobachtet hat Hildegard von Bingen auch Pflanzen und Tiere, und sie hat ihren Nutzen für den Menschen im Krankheitsfall beschrieben. Ihre medizinischen Ratschläge sind eine Mischung aus alt und neu. Sie enthalten teilweise magische Formeln oder schöpfen aus dem Wissen der traditionellen Klostermedizin. Sie gehen aber auch darüber hinaus und vermitteln medizinische Kenntnisse arabischer Gelehrter, die Europa erstmals im 12. Jahrhundert durch Übersetzungen erreicht haben. Weil Hildegard in ihren Büchern nicht die reine Lehre vertritt, um es den Historikern leicht zu machen und die traditionellen Wurzeln ihrer geistig-geistlichen Herkunft keineswegs verleugnet, ist es wichtig, die Verteilung der Gewichte zu beachten. Betrachtet man ihr Gesamtwerk, neigt sich die Waagschale eindeutig zu Gunsten neuer Ideen und Wissensangebote.
Die Übereinstimmung geht so weit, dass auch in Hildegards Werk jenes Schlagwort nicht fehlt, das für die »moderni« ihrer Epoche wie in einem Brennpunkt den Wechsel der Zeiten zusammenfasst. Als sein Propagandist wird Otto von Freising gepriesen, Student in Chartres und Paris, Bischof, Historiker und Onkel des Kaisers Friedrich Barbarossa, der in der Chronik seiner Zeit die »mutabilitas« zum Gesetz des Lebens und der Geschichte erklärt. Eine befreiende Tat, denn die Generationen zuvor hatten »Beweglichkeit « als Verrat am Überkommenen gebrandmarkt, das es unverändert und in einheitlicher Form zu erhalten galt.
Copyright © 2001 Carl Hanser Verlag München Wien
Hildegard von Bingen ist ein Phänomen. Man könnte meinen, der neunzigste Psalm sei für sie geschrieben: »Denn tausend Jahre sind für dich wie der Tag, der gestern vergangen ist . . .« Diese Frau, vor fast einem Jahrtausend, 1098, nahe Alzey in der Pfalz geboren und 1179 in biblischem Alter als Äbtissin in ihrem Kloster auf dem Rupertsberg oberhalb von Bingen gestorben, hat seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine steile Karriere gemacht, und ihre Popularität ist ungebrochen. Hildegard von Bingen ist wie zu ihren Lebzeiten als Prophetin, wenngleich in einem anderen Sinn, wieder zur Kultfigur geworden. Ihr Name ist weithin bekannt, unzählige wollen von der Ausstrahlung ihrer Persönlichkeit profitieren: Der Biobäcker verkauft »Apfelbrot nach einem alten Rezept von Hildegard von Bingen«; die studierte Ärztin wirbt im Fernsehen für die Hildegard-Medizin; die Buchhandlungen sind gut bestückt mit Hildegard-Büchern aller Art; Ernährungsberater geben Kurse in Hildegard-Diätetik; in Eso- terik-Läden erzählen nicht nur Steine von Hildegards Heilkunde; in den USA, England und Australien stieg 1995 die CD »Vision« mit Hildegard-Musik an die Spitze der Charts, und längst sind Hildegard- CDs keine unbekannten mehr in deutschen Läden. Den unaufhaltsamen Aufstieg kann man mit Stirnrunzeln verfolgen, mit Wehklagen bedauern und mit Argumenten kritisieren. Hildegard hat kein Rezept für Apfelbrot aufgeschrieben. Ob ihre Kompositionen zu ihren Lebzeiten je aufgeführt wurden, wissen wir nicht. Ausgerechnet ihre beliebten medizinischen Ratschläge und Diagnosen stehen in Manuskripten, die erst Jahrzehnte nach ihrem Tod datieren, und deren Originaltext bisher nicht rekonstruierbar ist. Wer kennt ihre drei Visionsbücher und ihre umfangreiche Briefsammlung wirklich? Wurden sie jemals in den Kontext ihres Lebens und ihrer Zeit gesetzt? Doch gegen alle Einwände spricht eine unleugbare Realität: Gibt es einen Menschen, der nach fast tausend Jahren auch nur annähernd so präsent ist wie Hildegard von Bingen? Die historisch Gebildeten können zum 12. Jahrhundert vielleicht ein halbes Dutzend Namen nennen: Kaiser Friedrich Barbarossa, der als Mythos im Kyffhäuser überlebte, den Zisterzienserabt Bernhard von Clairvaux, Peter Abälard, den Vater des wissenschaftlichen Denkens in Europa. Bischof Otto von Freising, der einflussreiche Denker und Historiker, kommt schon in keinem Geschichtsunterricht mehr vor.
Es ist Hildegard von Bingen, eine Frau, die ihre wenigen berühmten männlichen Zeitgenossen im Gedächtnis der Menschen weit überflügelt, mag die Prophetin samt ihrem Werk als Konsequenz ihrer Popularisierung auch von Legenden und Klischees verzerrt sein. Aber die Experten - ob Historiker, Theologen, Literaturwissenschaftler oder Philosophen - haben kein Monopol auf Hildegards Texte. Ihre Bücher gehören allen. Jeder ist frei, die spirituellen Wirkungen ihrer Visionen und Bilder auf seine Weise zu empfinden. Hildegard von Bingen bietet sich als ideale Projektionsfläche an, um Sehnsüchte und Hoffnungen der Moderne sichtbar zu machen, ihnen Sinn und Richtung zu geben. Was ist daran zu verurteilen? Wer nach knapp tausend Jahren noch eine so vielfältige Attraktivität besitzt, muss einen glaubwürdigen Kern gehabt haben, ein Charisma und eine Botschaft, die sich nicht verbiegen lassen und Talente, die weit über dem Durchschnitt liegen.
Es ist eine Sache, Hildegard als heiligmäßige Prophetin zu verehren und aus ihren Schriften Trost und Kraft zu schöpfen. Warum sollen lebenspraktische Hinweise - auch wenn ihre Urheberschaft ungewiss ist - nicht weiter entwickelt und in die Praxis umgesetzt werden, zumal wenn die Nachfrage ein steigendes Angebot geradezu herausfordert? Hildegard von Bingen war großzügig und nachsichtig, wenn es um die Menschen und ihre Bedürfnisse und Nöte ging.
Etwas anderes ist es, alles, was unter dem Namen Hildegard geführt wird, mit dem Etikett historischer Wahrheit versehen und daraus konkrete Einsichten über ihre Person abzuleiten zu wollen. Da liegt die Versuchung nahe, sie mit der heutigen Zeit und ihren Problemen in einer Weise zu identifizieren, dass die Sicht auf ihre facettenreiche Person wie ihre historische Einmaligkeit und ihr bedeutendes Werk verstellt wird. Allerdings haben die wissenschaftlichen Experten ihren Teil dazu beigetragen, dass diese außergewöhnliche Frau als historische Person vernachlässigt wurde. Hildegard von Bingen als »erratischen Block« zu rühmen, ist ein zweifelhaftes Lob, denn es macht weitere Bemühungen überflüssig. Auch seit Historiker die Person und ihr zeitgenössisches Umfeld erforschen, ist eine seltsame Berührungsangst geblieben, Hildegards visionäre Bücher in die Forschungen einzubeziehen.
Eine Prophetin fällt nicht vom Himmel. Nur wer Hildegard von Bingen mit ihrem Leben und ihren Büchern im Zusammenhang ihrer Zeit sieht, kann die unterschiedlichen Dimensionen deutlich machen, die eine historische Persönlichkeit auszeichnen. Hildegard übertrifft mit ihrem schriftstellerischen Werk nicht nur alles, was Frauen bis dahin und für viele Jahrhunderte in der europäischen Geschichte geschaffen und hinterlassen haben - selbst von männlichen Berühmtheiten des Mittelalters ist kaum je ein so umfangreiches Textwerk überliefert. Als Prophetin hatte Hildegard einen Ruf, der weit über die Grenzen des Deutschen Reiches hinausging. Sie korrespondierte mit Königen und Päpsten, Äbtissinnen und Erzbischöfen. Als von Gott auserwählte Prophetin formulierte sie in ihrem ersten Buch »Scivias« die göttliche Zusage, ihre Visionen überträfen alles, was die alten Seher in mir an Geheimnissen schauen durften. Zugleich beschwor Hildegard ihr Leben lang vehement, dass sie ihre Visionen nicht in Ekstase, nicht im Traum und nicht im Rausch, sondern hellwach erlebte.
Aber die Prophetin belässt es nicht dabei, himmlische Visionen aufzuschreiben. Im Vorwort zum »Scivias« heißt es: Plötzlich erhielt ich Einsicht in die Schriftauslegung, in den Psalter, die Evangelien und die übrigen katholischen Bücher des Alten und Neuen Testaments. Noch provokativer klingt eine Vision, die Hildegard von Bingen in ihren autobiografischen Notizen schildert. Die Engel vergleichen sie mit einem Adler, dem Symbol des Evangelisten Johannes, und rufen der Prophetin zu: He, he Adler, warum schläfst du in deinem Wissen . . . erhebe dich in deinem Wissen, steh auf Mädchen! Wie ungeheuerlich und skandalös dieser Anspruch ist, lässt sich nur vor dem Hintergrund der Kirchengeschichte verstehen. Nach einem Wort des Apostels Paulus hatte die Frau in der Gemeinde - und damit in der Öffentlichkeit - zu schweigen. Darüber hinaus lag bis in Hildegards Jahrhundert - und für viele folgende - das Monopol auf die Auslegung der Bibel bei den zu Priestern geweihten Männern. Hildegard ging noch weiter: Die Äbtissin legte die Bibel nicht nur in ihren Büchern aus, sondern brach im hohen Alter sogar zu Predigtreisen auf. Ein radikalerer Verstoß gegen Traditionen und kirchliche Vorschriften ist für eine Frau kaum denkbar. Auch ihr musikalisches Talent verstand Hildegard von Bingen als göttliche Eingebung und typisches Merkmal der Propheten. Es bedeutet einen weiteren Superlativ. Denn die rund siebzig Gesänge und ein Musik-Drama, die von Hildegard überliefert sind, machen ihr musikalisches Werk zu einem der umfassendsten, das je von einer Frau geschaffen wurde. Im Mittelalter selbst gibt es kaum einen Musiker, von dem wir so viele Kenntnisse haben.
Ein Multitalent zu sein, ist nicht unbedingt von Vorteil, noch dazu, wenn man eine Frau ist. Es verleitet Experten, schulterklopfend Anerkennung zu zollen, aber damit nur die Quantitäten der Talente und die exotische Ausnahme im Auge zu haben. Inhalt und Qualität eines vielfältigen Werkes werden dagegen nicht weiter beachtet, eher kleingeredet. Bis in unsere aufgeklärte Zeit gilt auch für Hildegard, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Zwei international angesehene Kenner und Forscher haben diese Zurückhaltung, die man auch ein Tabu nennen könnte, gegenüber der Äbtissin vom Rupertsberg aufgegeben. Für den amerikanischen Historiker Bernard McGinn ist Hildegard von Bingen die »erste große Theologin des Christentums «, und der englische Literaturwissenschaftler Peter Dronke zählt sie »zur wissenschaftlichen Avantgarde des 12. Jahrhunderts«.
Wie bahnbrechend das 12. Jahrhundert ist und welcher Wendepunkt in der Geschichte Europas, hat sich bis in unsere Zeit nicht wirklich herumgesprochen. Für den niederländischen Historiker Johan Huizinga - sein »Herbst des Mittelalters« ist immer noch ein anregender Klassiker - ist das 12. Jahrhundert »eine schöpferische, eine gestaltende Epoche gewesen, wie keine andere. Eigentlich viel mehr als in der Zeit, mit der wir den Begriff Renaissance zu verbinden pflegen, stehen wir hier zwischen 1100 und 1200 vor einem Erwachen, einem Aufblühen«. Keinen Bereich gab es, in dem nicht tiefgehende Veränderungen stattfanden, die sich alle wechselseitig beeinflussten. Das Klima erwärmte sich; die Bevölkerung wuchs dramatisch; die Bauern nutzten in der Landwirtschaft neue, produktivere Techniken; Wälder wurden gerodet, neue Weinberge angelegt, zahlreiche Dörfer gegründet; die ersten mittelalterlichen Städte entstanden und dort begann eine Bürgerkultur, wuchsen bürgerliche Freiheiten und ein neues Wirtschaftsmodell, das vom Wettbewerb und vom Geld geprägt wurde; das traditionelle gesellschaftliche Gefüge löste sich auf, als mit den Ministerialen ehemals Unfreie zu einem neuen Stand wurden und dem Adel Konkurrenz machten. Wo die Religion nicht am Rande, sondern im Zentrum steht und alle Bereiche des Menschen durchdringt, ist sie in alle Veränderungen und Umbrüche involviert. Traditionelle Riten des Glaubens und der Frömmigkeit, kirchliche Institutionen, Autoritäten und Amtsträger wurden nicht mehr fraglos akzeptiert. Sie mussten sich den persönlichen Empfindungen, Sehnsüchten und Erwartungen der Gläubigen stellen. In der Kirche wurde der Ruf nach Reformen unüberhörbar und vereinte am Anfang in frommer Zielsetzung Kaiser und Papst. Eine neue Frömmigkeit brach sich Bahn, die sich vom Herrscher-Gott abwandte, in Christus, dem menschgewordenen Gott, ihr Heil suchte und in seinem irdischen Leiden mitfühlenden Trost für die eigenen Bedrängnisse fand.
Als Konsequenz aller Veränderungen in Welt und Kirche erhielt der einzelne mehr Freiheiten, mehr Verantwortung und mehr Möglichkeiten, sein Leben in eigener Regie zu gestalten. Frauen bot sich die Chance, ihre religiösen Bedürfnisse in vielfältigen Formen leben zu können. Sie schlossen sich Wanderpredigern an, gingen als Eremitinnen in die Einsamkeit und leiteten eigene geistliche Gemeinschaften. Sie drängten wie nie zuvor in die Klöster, die bisher in ihrer übergroßen Mehrheit den Männern vorbehalten waren. Dabei trafen sie auf Bischöfe und Äbte, die die religiöse Selbstverwirklichung der Frauen ernst nahmen und förderten. Aus zahlreichen traditionellen Klöstern der Benediktinermönche wurden Doppelklöster, in denen Frauen als Nonnen Aufnahme fanden und mit den Mönchen zusammen Tag und Nacht in der Klosterkirche zum Lob Gottes zusammenkamen.
Als die vierzehnjährige Hildegard 1112 im Kloster auf dem Disibodenberg westlich von Sobernheim, wo der Glan in die Nahe fließt, eintraf, um ihr Leben Gott zu weihen, war sie nicht allein. Sie kam im Gefolge der zwanzigjährigen Jutta von Sponheim. Die Magistra Jutta war eine gebildete Frau, deren Rat sehr bald im Kloster wie bei den Menschen ringsum im Land gefragt war. Auch als Nonne empfing sie Trostsuchende persönlich, beantwortete Briefe, hatte großen Einfluss bei der Abtwahl des Klosters und ließ sich von niemandem in Askese und strengen religiösen Übungen übertreffen. Hildegard war Juttas Vertraute und Lieblingsschülerin, und sie ist von dieser starken Frau, einer typischen Vertreterin der Aufbruchszeit, entscheidend geprägt worden.
1151 beendete Hildegard ihr erstes Visionsbuch »Scivias«, und gut ein Jahr zuvor hatte sie - gegen viele Widerstände - ihr eigenes Kloster auf dem Rupertsberg oberhalb von Bingen bezogen. Beide Schritte bezeugen, dass sie bewusst als Prophetin in der Öffentlichkeit wirken wollte und an den entscheidenden Wendepunkten ihres Lebens selber die Initiative ergriff, risikobereit und realistisch zugleich. Hildegard von Bingen, die sich als treue Tochter ihrer Kirche sah, wollte weder im Abseits bleiben noch auf dem Scheiterhaufen enden. Doch die Nachgeborenen, die stets klüger sind, sollten nicht vergessen: Wohin die Grenzübertritte und Wagnisse die Prophetin führen würden, war für sie niemals mit letzter Gewissheit vorauszusehen.
Aktiv wurde Hildegard von Bingen auch, um ihr Bild für die Nachwelt festzuhalten. So wie die Prophetin ihre spontanen Visionen im Nachhinein bei der Reinschrift redigierte, hatte sie keine Hemmungen, ihre umfangreiche Korrespondenz zu manipulieren, um ihren außerordentlichen Ruf als »wahres Orakel Gottes« und Gesprächspartnerin der Mächtigen in Kirche und Welt zu festigen. Vielleicht stand hinter diesem Bemühen auch die bittere Erkenntnis, dass Hildegard von Bingen mit noch so vielen qualifizierten Büchern eine Grenze nicht aufheben konnte: Ihre Schriften wurden von den gelehrten Magistern der Domschulen, an denen der wissenschaftliche, ausschließlich männliche Nachwuchs ausgebildet wurde, negiert, denn eine Frau passte nicht ins akademische Karrieremuster.
Dass die Äbtissin vom Rupertsberg sich für die Öffentlichkeit auf ihre Prophetenrolle konzentrierte, war klug. In dieser Funktion überlebte sie die Jahrhunderte, während ihre Visionsbücher in Vergessenheit gerieten. Der Preis: Bis heute wird die Prophetin aus dieser einseitigen Perspektive wahrgenommen und kaum zur spannenden Gegenwart des 12. Jahrhunderts in Beziehung gestellt. Dabei steckt in Hildegards Werk sehr viel mehr als die Aufzeichnung himmlischer Visionen und die poetische Beschreibung schöner Bilder. Sie entwickelt ein ehrgeiziges Programm als eigenständige Theologin, die mit den neuesten Strömungen ihrer Zeit vertraut ist. An Hildegards Theologie lässt sich demonstrieren, wie eng ihre Ausnahmestellung als Frau mit den revolutionären Entwicklungen ihrer Epoche verflochten ist. Hildegard von Bingen, die mit ihrem Werk und ihrem Leben viele Grenzen überschreitet, ist tatsächlich wissenschaftliche Avantgarde, kann sich mit den Berühmtheiten ihrer Epoche messen und verkörpert den Aufbruch des 12. Jahrhunderts in eine neue, moderne Zeit.
Wie ein roter Faden ziehen sich durch die drei Visionsbücher Hildegards die Grundlagen für das Projekt einer menschenfreundlichen Theologie. Gott ist nicht mehr der strenge Richter, sondern ein Gott voller Mitgefühl: Denn die Barmherzigkeit Gottes beugt sich in liebevollem Mitleiden zu den Menschen ... Der Mensch hat als Abbild Gottes eine ganz besondere Würde: Du hast nämlich vor allen andern deiner Geschöpfe dem Menschen hohe und bewundernswerte Würde verliehen . . . Dabei versteht Hildegard unter dem »Menschen« immer Mann und Frau und macht an vielen Beispielen klar, dass die Frau in ihrer Beziehung zu Gott dem Mann in allem gleichrangig ist. Die Äbtissin vom Rupertsberg leugnet nicht die Erbsünde, und vertritt dennoch ein optimistisches Bild von Gott, der Welt und dem Menschen.
Mit dieser modernen Theologie steht Hildegard nicht allein. Doch nur den Männern wird der historische Ruhm zugeschrieben. Peter Abälard gilt als Begründer einer neuen Deutung der zentralen christlichen Heilsbotschaft, der Erlösung durch den Opfertod Christi am Kreuz. Der Magister aus Paris weigerte sich, in diesem Tod ein Tauschgeschäft zu sehen, bei dem das Blut Christi der von Gottvater geforderte Kaufpreis ist, um die Menschen der Macht des Teufels zu entreißen und die göttliche Ehre wiederherzustellen. Für Abälard beweist dieser schmachvolle Tod ausschließlich Gottes unendliche Liebe zu den Menschen. Nichts anderes sagt Hildegard von Bingen, wenn sie im »Scivias« schreibt: Durch das herzliche väterliche Erbarmen geschieht Erlösung. Erst im Zusammenhang der geistigen Strömungen ihrer Zeit wird erkennbar, dass Hildegard damit kühn theologisches Neuland betritt.
Die gleiche Modernität gilt für ihr naturwissenschaftliches Werk über die »Feinheiten der verschiedenen Naturen der Geschöpfe«, das nach ihrem Tod als zwei getrennte Schriften - »Naturkunde« und »Heilkunde« - auftauchte und im Original verschollen ist. Unabhängig von biblischen oder theologischen Vorgaben erkundet Hildegard von Bingen neugierig Erscheinungen der Natur - ob es den Lauf der Sonne, die Sexualität der Fische oder der Menschen betrifft. Damit liegt sie im intellektuellen Trend des 12. Jahrhunderts, der in Europa zur Geburtsstunde der Wissenschaften wurde. Bis dahin mussten sich alle Fächer der Wahrheit der Theologie unterordnen. Aber an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert stellten Magister an französischen Kathedralschulen - allen voran in Chartres - erstmals die Forderung auf, die Natur gemäß ihren eigenen Gesetzen zu erforschen, und sie haben diesen Anspruch in ihren Schriften umgesetzt. Das war der entscheidende Schritt, damit sich die Naturwissenschaften - und in ihrem Gefolge viele andere Studien - von der Theologie emanzipieren konnten.
Auf dem Rupertsberg versuchte die sechzigjährige Prophetin, eine Mondfinsternis nicht durch Gottes wunderbares Eingreifen, sondern mit sachbezogenen Gründen zu erklären: Wenn gelegentlich einmal eine Mondfinsternis sichtbar wird, so kommt das daher, dass die Elemente mit den Stürmen zusammenprallen und eine Auseinandersetzung haben. Der Mond wird bei diesem Ereignis weder ausgelöscht noch ist er im Abnehmen; vielmehr verdunkeln ihn nur die Unwetter für eine kurze Zeit. Genau beobachtet hat Hildegard von Bingen auch Pflanzen und Tiere, und sie hat ihren Nutzen für den Menschen im Krankheitsfall beschrieben. Ihre medizinischen Ratschläge sind eine Mischung aus alt und neu. Sie enthalten teilweise magische Formeln oder schöpfen aus dem Wissen der traditionellen Klostermedizin. Sie gehen aber auch darüber hinaus und vermitteln medizinische Kenntnisse arabischer Gelehrter, die Europa erstmals im 12. Jahrhundert durch Übersetzungen erreicht haben. Weil Hildegard in ihren Büchern nicht die reine Lehre vertritt, um es den Historikern leicht zu machen und die traditionellen Wurzeln ihrer geistig-geistlichen Herkunft keineswegs verleugnet, ist es wichtig, die Verteilung der Gewichte zu beachten. Betrachtet man ihr Gesamtwerk, neigt sich die Waagschale eindeutig zu Gunsten neuer Ideen und Wissensangebote.
Die Übereinstimmung geht so weit, dass auch in Hildegards Werk jenes Schlagwort nicht fehlt, das für die »moderni« ihrer Epoche wie in einem Brennpunkt den Wechsel der Zeiten zusammenfasst. Als sein Propagandist wird Otto von Freising gepriesen, Student in Chartres und Paris, Bischof, Historiker und Onkel des Kaisers Friedrich Barbarossa, der in der Chronik seiner Zeit die »mutabilitas« zum Gesetz des Lebens und der Geschichte erklärt. Eine befreiende Tat, denn die Generationen zuvor hatten »Beweglichkeit « als Verrat am Überkommenen gebrandmarkt, das es unverändert und in einheitlicher Form zu erhalten galt.
Copyright © 2001 Carl Hanser Verlag München Wien
... weniger
Autoren-Porträt von Barbara Beuys
Barbara Beuys, geboren 1943, arbeitete nach ihrer Promotion in Geschichte als Redakteurin u. a. bei Stern, Merian und Die Zeit. In ihren über 20 Büchern hat sie mehrfach Biografien und Perspektiven aus der Zeit des Nationalsozialismus neu und spannend erzählt. 2017 erhielt sie den Luise-Büchner-Preis für Publizistik. Barbara Beuys lebt als freie Autorin in Köln.
Autoren-Interview mit Barbara Beuys
Der Papst hat Hildegard von Bingen zur Heiligen der Universalkirche erhoben - Frau Beuys, Sie haben sich intensiv mit der deutschen Mystikerin auseinandergesetzt. Hildegard von Bingen war Klostergründerin und Theologin, sie ist berühmt für ihre Errungenschaften im Bereich der Musik und der Medizin, sie predigte sogar und unterhielt Briefwechsel mit den besten Köpfen ihrer Zeit - das scheint ja über die sonstigen Tätigkeiten von mittelalterlichen Ordensfrauen ziemlich hinausgegangen zu sein?Barbara Beuys: Das kann man wohl sagen, und zwar nicht nur über die von Frauen, sondern auch über die Tätigkeiten, die Männer damals ausgefüllt haben bzw. über die Kenntnisse, die überhaupt überliefert worden sind. Wenn wir uns einmal erinnern: welche Namen sind uns aus dem elften und zwölften Jahrhundert bekannt, ich glaube, die kann man an einer Hand aufzählen. Während Hildegard alles überstrahlt.
Gern wird ja der esoterische Aspekt bei Hildegard von Bingen hervorgehoben: die Kräutermedizin und Naturheilkunde, ihre Visionen - mich interessiert von Ihnen zu hören: Was ist denn Hildegards theologisches Verdienst?
Barbara Beuys: Ich glaube, durch die Aufnahme zur Heiligen der Universalkirche wird sie endlich auch einmal in der Kirche nach vorne geschoben als Theologin, denn sie ist eine ganz große Theologin, was man eigentlich bisher immer übersehen hat. Und ihre Bücher sind nicht nur prophetische Bücher, sondern theologische Bücher.
... mehr
Und an der Theologie, die sie in diesen Büchern niedergelegt hat, was zu ihrer Zeit absolut ungewöhnlich war, kann man sehen, dass sie zur Avantgarde der Theologie gehörte. Und das lässt sich aufzeigen an der so genannten Erlösungstheologie bzw. der Interpretation der Theologen vom Kreuzestod Christi.
Diese Interpretation war bis ins 11. Jahrhundert, ohne dass man dagegen vorgegangen ist, folgende: Christus war Sühneopfer, weil Gott beleidigt war, dass Adam und Eva im Paradies gesündigt haben. Die neue Theologie, die auch vor allem durch den berühmten Abelard in Paris entwickelt worden ist, sagt: Nein, Gott hat seinen Sohn auf die Erde geschickt, damit er aus Liebe für die Menschen stirbt, um sie aus Liebe zu erlösen, und genau diese Theologie hat Hildegard von Bingen aufgenommen in ihren Büchern. Insofern ist sie eine ganz moderne Theologin.
In ihren Schriften tauchen auch heute aktuelle Fragen wie Umweltverschmutzung, Kriege und Integrationsfragen auf... In welchen Punkten war sie ihrer Zeit voraus?
Barbara Beuys: Man muss natürlich sehr vorsichtig sein mit der Gleichsetzung heutiger Probleme wie Umweltverschmutzung mit denen im Mittelalter, man muss schon auch die Unterschiede sehen, so wie Hildegard von Bingen auch keine Ärztin war.
Sie hat Rezepte aufgeschrieben, die zum Teil sehr modern klingen, die zum Teil auch sehr gut sind, wie man Kopfschmerzen bekämpfen kann und andere Dinge. Sie war aber auch jemand, der geschrieben hat: man muss Angst haben vor den Pharmen, weil in denen der Teufel sitzt, das heißt, sie war auch ein Kind ihrer Zeit.
Aber sie hat eben auch da als Vorreiterin die Entwicklung aufgegriffen in den Naturwissenschaften, die damals erst entstanden, indem sie sagte: Wir reden nicht nur von Wundern Gottes, Gott hat viele Wunder geschaffen, aber wir sind neugierig und wollen auch wissen, wie manches funktioniert, zum Beispiel Blitz und Donner.
Oder sie hat sich sehr ausführlich mit den Fischen in der Nahe beschäftigt, und insofern kann man auf diesem Umweg auch sagen, sie war modern, weil sie gesagt hat: Wir brauchen diese Fische, wir brauchen die Natur, aber sie hat nicht von Verschmutzung gesprochen. Sie sagte: man muss die Natur hochhalten, nicht nur weil sie von Gott geschaffen ist, sondern weil sie für den Menschen nützlich ist usw. Das gilt eben auch für den medizinischen Bereich. Aber Hildegard nur auf ihre Rezepte für Dinkelplätzchen o.ä. festzulegen, wäre natürlich ein viel zu enger Ansatz.
Glaube und Vernunft - gingen die in Hildegard von Bingen eine perfekte Liaison ein?
Barbara Beuys: Ja! Oder zumindest annähernd. Und das sagt sie auch in ihren Büchern, was ihre Prophezeiungen betrifft und ihre Visionen. Sie hat großen Wert darauf gelegt und immer wieder geschrieben: Ich habe sie bei klarem Verstand gehabt und mit offenen Augen erlebt, insofern ist die Hildegard von Bingen auch keine Mystikerin. Mystikerinnen sind zwei Generationen später, Meister Eckhart und die Nonnen in seinem Kreis, die in Trance fielen und hinterher darüber erzählt haben. Hildegard von Bingen sagte: Ich war bei klarem Verstand. Und sie hat immer wieder auf die Vernunft zurückgegriffen - das macht eben auch ihre Modernität aus.
Hildegard von Bingen war hochgebildet, war aber auch vor allem eine Frau, die schrieb, die ihren Visionen, Gedanken und Botschaften Ausdruck zu geben verstand. Klöster waren damals Bildungszentren, ungewöhnlich war aber dennoch das Selbstbewusstsein, die Selbstverständlichkeit, mit der sich Hildegard in den Strukturen der kirchlichen Hierarchie zu Wort meldete und bewegte. Inwiefern war Hildegard von Bingen auch eine Politikerin?
Barbara Beuys: Ja, das ist sehr richtig gesehen. Sie war zwar einerseits provokant, indem sie zum Beispiel in ihrem ersten Buch schreibt: Ich erhielt die Einsicht in die Schriftauslegung von Gott und in die Evangelien. Gott habe ihr gesagt, sie solle predigen. Das hat sie dann vor dem Domkapitel in Köln dann auch getan, ein ungeheurer Tabubruch - und im übrigen auch im 21. Jahrhundert noch nicht üblich in der katholischen Kirche.
Gleichzeitig aber war sie klug und auch diplomatisch, sie wollte nicht als Hexe verbrannt werden, so revolutionär manches war. Sie hat sich politisch angepasst. So hat sie zum Beispiel nicht Stellung genommen zu den päpstlichen Kriegen in ihrer Zeit. Und sie war immer eine Gesprächspartnerin für Kardinäle und den Kaiser, eben weil die wussten, dass sie es mit einer nüchternen und realistischen Person zu tun haben, die am Ende der Kirche auch nicht schaden will, sondern etwas durchsetzen will. Das kann man klug nennen.
Viele nannten Hildegard von Bingen schon zu Lebzeiten Heilige. Joseph Ratzinger hat sich in seiner Zeit als Professor in Bonn intensiv mit dem Leben und den Schriften der Mystikerin beschäftigt. Sas sind die tiefer liegenden Gründe, warum es so lange gebraucht hat, bis sie in der Weltkirche als Heilige anerkannt wurde?
Barbara Beuys: Interessant ist ja, dass auch zum heutigen Zeitpunkt immer wieder Theologen und Kirchenmänner, die es besser wussten, von der heiligen Hildegard gesprochen haben, was sie aber nicht war. Ich glaube, das hat etwas mit der Funktion der Heiligkeit zu tun.
Nach ihrem Tod, sie ist 1179 mit 81 Jahren gestorben, hat es 50 Jahre gedauert, und dann ist ein Heiligsprechungsprozess in Rom in Gang gekommen. Das Mainzer Erzbistum war dafür zuständig, man hat in Bingen, in ihrem Kloster, die Nonnen befragt, man hat Wunder aufgezeichnet, die ja nötig sind. Dann ist das ganze Paket nach Rom geschickt worden, und im Jahr 1233 kam wieder alles von Rom zurück mit dem Zusatz: Es gibt nicht genug Wunder der Hildegard, bitte noch einmal die Nonnen befragen.
Die Nonnen haben dann etwas getan, was glaube ich sehr im Sinne der von Bingen war; sie haben den Boten in Rom gesagt: wir haben nicht mehr Wunder, und damit ist es im Sande verlaufen. Das ist die äußere Entwicklung.
Ich glaube, dass um diese Zeit, 1233, sozusagen das Ideal der Hildegard von Bingen, das sie verkörperte - eine selbstbewusste Frau mit vielen Qualitäten, sie war ja auch Komponistin, Managerin ihres Klosters - dass das alles völlig in den Hintergrund rückte, denn in diesen Jahren waren andere Ideale in der Kirche und in der Gesellschaft lebendig, zum Beispiel Franziskus von Assisi etc., die um diese Zeit ganz schnell heilig gesprochen wurden.
Das waren Menschen, die in Armut lebten, die bescheiden waren, die im Hintergrund sein wollten. Und genau das war Hildegard von Bingen nicht, und so ist sie sozusagen aus der Zeit gerutscht, während ich glaube, wenn die Kirche sie jetzt aufnimmt - allerhöchste Zeit - dann nimmt sie damit auch ein modernes Bild von Frau auf, das in der Galerie der Heiligen auch sehr gefehlt hat.
Das Interview führte Anne Preckel, Radio Vatikan
Und an der Theologie, die sie in diesen Büchern niedergelegt hat, was zu ihrer Zeit absolut ungewöhnlich war, kann man sehen, dass sie zur Avantgarde der Theologie gehörte. Und das lässt sich aufzeigen an der so genannten Erlösungstheologie bzw. der Interpretation der Theologen vom Kreuzestod Christi.
Diese Interpretation war bis ins 11. Jahrhundert, ohne dass man dagegen vorgegangen ist, folgende: Christus war Sühneopfer, weil Gott beleidigt war, dass Adam und Eva im Paradies gesündigt haben. Die neue Theologie, die auch vor allem durch den berühmten Abelard in Paris entwickelt worden ist, sagt: Nein, Gott hat seinen Sohn auf die Erde geschickt, damit er aus Liebe für die Menschen stirbt, um sie aus Liebe zu erlösen, und genau diese Theologie hat Hildegard von Bingen aufgenommen in ihren Büchern. Insofern ist sie eine ganz moderne Theologin.
In ihren Schriften tauchen auch heute aktuelle Fragen wie Umweltverschmutzung, Kriege und Integrationsfragen auf... In welchen Punkten war sie ihrer Zeit voraus?
Barbara Beuys: Man muss natürlich sehr vorsichtig sein mit der Gleichsetzung heutiger Probleme wie Umweltverschmutzung mit denen im Mittelalter, man muss schon auch die Unterschiede sehen, so wie Hildegard von Bingen auch keine Ärztin war.
Sie hat Rezepte aufgeschrieben, die zum Teil sehr modern klingen, die zum Teil auch sehr gut sind, wie man Kopfschmerzen bekämpfen kann und andere Dinge. Sie war aber auch jemand, der geschrieben hat: man muss Angst haben vor den Pharmen, weil in denen der Teufel sitzt, das heißt, sie war auch ein Kind ihrer Zeit.
Aber sie hat eben auch da als Vorreiterin die Entwicklung aufgegriffen in den Naturwissenschaften, die damals erst entstanden, indem sie sagte: Wir reden nicht nur von Wundern Gottes, Gott hat viele Wunder geschaffen, aber wir sind neugierig und wollen auch wissen, wie manches funktioniert, zum Beispiel Blitz und Donner.
Oder sie hat sich sehr ausführlich mit den Fischen in der Nahe beschäftigt, und insofern kann man auf diesem Umweg auch sagen, sie war modern, weil sie gesagt hat: Wir brauchen diese Fische, wir brauchen die Natur, aber sie hat nicht von Verschmutzung gesprochen. Sie sagte: man muss die Natur hochhalten, nicht nur weil sie von Gott geschaffen ist, sondern weil sie für den Menschen nützlich ist usw. Das gilt eben auch für den medizinischen Bereich. Aber Hildegard nur auf ihre Rezepte für Dinkelplätzchen o.ä. festzulegen, wäre natürlich ein viel zu enger Ansatz.
Glaube und Vernunft - gingen die in Hildegard von Bingen eine perfekte Liaison ein?
Barbara Beuys: Ja! Oder zumindest annähernd. Und das sagt sie auch in ihren Büchern, was ihre Prophezeiungen betrifft und ihre Visionen. Sie hat großen Wert darauf gelegt und immer wieder geschrieben: Ich habe sie bei klarem Verstand gehabt und mit offenen Augen erlebt, insofern ist die Hildegard von Bingen auch keine Mystikerin. Mystikerinnen sind zwei Generationen später, Meister Eckhart und die Nonnen in seinem Kreis, die in Trance fielen und hinterher darüber erzählt haben. Hildegard von Bingen sagte: Ich war bei klarem Verstand. Und sie hat immer wieder auf die Vernunft zurückgegriffen - das macht eben auch ihre Modernität aus.
Hildegard von Bingen war hochgebildet, war aber auch vor allem eine Frau, die schrieb, die ihren Visionen, Gedanken und Botschaften Ausdruck zu geben verstand. Klöster waren damals Bildungszentren, ungewöhnlich war aber dennoch das Selbstbewusstsein, die Selbstverständlichkeit, mit der sich Hildegard in den Strukturen der kirchlichen Hierarchie zu Wort meldete und bewegte. Inwiefern war Hildegard von Bingen auch eine Politikerin?
Barbara Beuys: Ja, das ist sehr richtig gesehen. Sie war zwar einerseits provokant, indem sie zum Beispiel in ihrem ersten Buch schreibt: Ich erhielt die Einsicht in die Schriftauslegung von Gott und in die Evangelien. Gott habe ihr gesagt, sie solle predigen. Das hat sie dann vor dem Domkapitel in Köln dann auch getan, ein ungeheurer Tabubruch - und im übrigen auch im 21. Jahrhundert noch nicht üblich in der katholischen Kirche.
Gleichzeitig aber war sie klug und auch diplomatisch, sie wollte nicht als Hexe verbrannt werden, so revolutionär manches war. Sie hat sich politisch angepasst. So hat sie zum Beispiel nicht Stellung genommen zu den päpstlichen Kriegen in ihrer Zeit. Und sie war immer eine Gesprächspartnerin für Kardinäle und den Kaiser, eben weil die wussten, dass sie es mit einer nüchternen und realistischen Person zu tun haben, die am Ende der Kirche auch nicht schaden will, sondern etwas durchsetzen will. Das kann man klug nennen.
Viele nannten Hildegard von Bingen schon zu Lebzeiten Heilige. Joseph Ratzinger hat sich in seiner Zeit als Professor in Bonn intensiv mit dem Leben und den Schriften der Mystikerin beschäftigt. Sas sind die tiefer liegenden Gründe, warum es so lange gebraucht hat, bis sie in der Weltkirche als Heilige anerkannt wurde?
Barbara Beuys: Interessant ist ja, dass auch zum heutigen Zeitpunkt immer wieder Theologen und Kirchenmänner, die es besser wussten, von der heiligen Hildegard gesprochen haben, was sie aber nicht war. Ich glaube, das hat etwas mit der Funktion der Heiligkeit zu tun.
Nach ihrem Tod, sie ist 1179 mit 81 Jahren gestorben, hat es 50 Jahre gedauert, und dann ist ein Heiligsprechungsprozess in Rom in Gang gekommen. Das Mainzer Erzbistum war dafür zuständig, man hat in Bingen, in ihrem Kloster, die Nonnen befragt, man hat Wunder aufgezeichnet, die ja nötig sind. Dann ist das ganze Paket nach Rom geschickt worden, und im Jahr 1233 kam wieder alles von Rom zurück mit dem Zusatz: Es gibt nicht genug Wunder der Hildegard, bitte noch einmal die Nonnen befragen.
Die Nonnen haben dann etwas getan, was glaube ich sehr im Sinne der von Bingen war; sie haben den Boten in Rom gesagt: wir haben nicht mehr Wunder, und damit ist es im Sande verlaufen. Das ist die äußere Entwicklung.
Ich glaube, dass um diese Zeit, 1233, sozusagen das Ideal der Hildegard von Bingen, das sie verkörperte - eine selbstbewusste Frau mit vielen Qualitäten, sie war ja auch Komponistin, Managerin ihres Klosters - dass das alles völlig in den Hintergrund rückte, denn in diesen Jahren waren andere Ideale in der Kirche und in der Gesellschaft lebendig, zum Beispiel Franziskus von Assisi etc., die um diese Zeit ganz schnell heilig gesprochen wurden.
Das waren Menschen, die in Armut lebten, die bescheiden waren, die im Hintergrund sein wollten. Und genau das war Hildegard von Bingen nicht, und so ist sie sozusagen aus der Zeit gerutscht, während ich glaube, wenn die Kirche sie jetzt aufnimmt - allerhöchste Zeit - dann nimmt sie damit auch ein modernes Bild von Frau auf, das in der Galerie der Heiligen auch sehr gefehlt hat.
Das Interview führte Anne Preckel, Radio Vatikan
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Barbara Beuys
- 2010, Neuauflage, 375 Seiten, Maße: 11,8 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: INSEL VERLAG
- ISBN-10: 3458351671
- ISBN-13: 9783458351672
- Erscheinungsdatum: 19.09.2009
Pressezitat
»Die einen vereinnahmen Hildegard von Bingen (1098 - 1179) als 'heilige Kräuterhexe', andere mißinterpretieren sie als 'Mystikerin'. Dies ist die erste umfassende Biographie, die ihr wirklich gerecht wird.« Emma 20240202
Kommentar zu "Denn ich bin krank vor Liebe"
5 von 5 Sternen
5 Sterne 1Schreiben Sie einen Kommentar zu "Denn ich bin krank vor Liebe".
Kommentar verfassen