Der Eid der Kreuzritterin
Historischer Roman. Originalausgabe
Mainz und Köln, 1212. Zwei junge Frauen lehnen sich auf gegen ihre arrangierte Zukunft: Konstanze will nicht ins Kloster und Gisela nicht mit einem Ritter verheiratet werden, dem ein schrecklicher Ruf vorauseilt. Zur gleichen Zeit brechen im Orient zwei...
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Produktinformationen zu „Der Eid der Kreuzritterin “
Klappentext zu „Der Eid der Kreuzritterin “
Mainz und Köln, 1212. Zwei junge Frauen lehnen sich auf gegen ihre arrangierte Zukunft: Konstanze will nicht ins Kloster und Gisela nicht mit einem Ritter verheiratet werden, dem ein schrecklicher Ruf vorauseilt. Zur gleichen Zeit brechen im Orient zwei junge Männer auf: Armand wird vom Großkomtur der Tempelritter mit einem geheimen Auftrag nach Europa entsandt, und der Sultan von Alexandria schickt seinen Sohn Malik auf eine nur scheinbar harmlose Reise...Die Wege der zwei Frauen und der beiden Männer kreuzen sich. Ihr Schicksal ist untrennbar miteinander verknüpft. Ihre Welt gerät aus den Fugen. Und sie geraten in das Räderwerk einer unglaublichen Verschwörung, die im Vatikan ihren Ursprung zu haben scheint ...
Bestsellerautorin Sarah Lark schreibt als Ricarda Jordan.
Lese-Probe zu „Der Eid der Kreuzritterin “
Der Eid der Kreuzritterin von Ricarda Jordan... mehr
Rupertsberg bei Bingen
Sommer 1206
Konstanze besaß einen Kupferpfennig. Es war das erste Geld,
das sie je in Händen gehabt hatte, und es sollte wohl auch das
letzte sein. Aber die kleine Münze bot ihr doch fast so etwas
wie Trost und Hoffnung. Gut, am Abend dieses Tages würde
sie der Welt entsagen, aber jetzt hatte sie ihren Kupferpfennig,
und in Bingen war Jahrmarkt. Schon von Weitem hörte
man Musik und Gelächter, das Feilschen der Händler und
das Wiehern der Pferde. Konstanze warf ihrem Vater einen
bittenden Blick zu.
»Können wir nicht hingehen? Nur eine Stunde ... wir
haben doch noch so viel Zeit!«
Philipp von Katzberg zögerte. »Zur Stunde der Non erwarten
sie dich«, sagte er. »Spätestens ...«
Konstanze nickte resigniert. »Aber es ist doch noch nicht
einmal Mittag«, wandte sie dennoch ein. »Und ich ...«
Über das Gesicht ihres Vaters flog ein Lächeln. »Du möchtest
deinen Kupferpfennig ausgeben, ja? So gedacht war das
eigentlich nicht. Du solltest ihn der Kirche spenden. Die
Mutter Oberin würde es zu würdigen wissen.«
Philipp sah seine jüngste Tochter ernst an, aber es fiel ihm
sichtlich schwer, an diesem Tag streng mit ihr zu sein.
»Die Mutter Oberin kriegt schon meine ganze Mitgift!«,
begehrte Konstanze auf. »Den Pfennig hat der Herr Gottfried
mir gegeben. Er hat nicht gesagt, dass ich ihn spenden
muss. Bitte, Vater!«
Philipp nickte widerstrebend. Gottfried von Aubach,
der Graf, auf dessen Burg seine Familie lebte und in dessen
Diensten er stand, hatte keine Bedingungen daran geknüpft,
als er Konstanze huldvoll zum Abschied beschenkte. Aber
natürlich wusste er von ihrer besonderen Gabe, und er hatte
sich für ihre Aufnahme auf dem Rupertsberg eingesetzt,
obwohl die Katzbergs nur Lehnsleute des Grafen waren.
»Du weißt doch, dass du nichts behalten darfst«, erinnerte
er seine Tochter. »Also kauf keinen Tand, du hättest nur ein
paar Stunden, um dich daran zu erfreuen.«
Ein paar Stunden wären besser als nichts, dachte Konstanze,
aber sie hatte ohnehin nicht geplant, ihr Geld für Kleider
oder Schmuck auszugeben. Eher dachte sie an kandierte
Früchte, gebrannte Mandeln oder andere Süßigkeiten, die
sie bislang nie gekostet hatte. Dies war schließlich ihre letzte
Gelegenheit dazu, und sie war ein Schleckermaul. Sie hatten
den Jahrmarkt fast erreicht, und das Wasser lief dem Mädchen
schon im Munde zusammen.
Von Wasser und Brot zu leben würde Konstanze nicht
leicht fallen - aber vielleicht musste sie das ja gar nicht. Womöglich
hatte die Äbtissin nur Spaß gemacht, als sie auf das
asketische Leben der jungen Hildegard von Bingen verwies,
der Konstanze in Zukunft nacheifern sollte.
Philipp von Katzberg sah seiner Tochter bedauernd nach,
als sie kurze Zeit später von einem Marktstand zum anderen
tänzelte, ganz erfüllt von dem Wunsch, aus ihrem kleinen
Schatz das Beste zu machen. Konstanze war erst zehn
Jahre alt, aber sie würde einmal schön werden, mit ihrem fast
ebenholzfarbenen glatten Haar, ihrem herzförmigen Gesicht
mit den klaren tiefblauen Augen, über die sich wohlgeformte,
kräftige dunkle Brauen wölbten. Man hätte sie ebenso gut
verheiraten können. Wenn sie bloß nicht so anders wäre ...
oder wenn seine Frau zumindest darauf verzichtet hätte, das
stolz in alle Welt hinauszuposaunen!
Philipp erstand in einer Garküche ein paar Bratwürste
und rief Konstanze dann zu sich, die sich eifrig darüber hermachte.
Dabei schwärmte sie von den hübschen Stoffen aus
Flandern, die sie an einem der Stände hatte betasten können,
und den seltsamen Öllampen, die ein orientalisch wirkender
Händler feilbot.
»Ob ich nicht doch so eine mitnehmen kann?«, fragte
sie ohne große Hoffnung. »Es ist doch sicher dunkel in so
einer ... Klause ...«
»Der Herr wird dich erleuchten«, antwortete Philipp
mechanisch. »Du wirst nichts brauchen.«
Konstanze seufzte, schlang rasch ihr letztes Stück Würstchen
herunter und wandte sich wieder dem bunten Treiben
des Marktes zu. Eine Zeit lang lauschte sie einem Bader, der
mit vielen schönen Worten eine Wundermedizin anpries, und
schlenderte dann zu einer Art Bühne weiter, die Gaukler auf
ihrem Wagen errichtet hatten. Fasziniert sah sie zu, wie die
farbenfroh gewandeten Akrobaten jonglierten und auf Stelzen
liefen.
Konstanze war so vertieft in das Spiel, dass sie erschrak, als
sie plötzlich eine Stimme neben sich hörte.
»Na, kleines Fräulein ...möchtest du nicht einen Blick in
deine Zukunft tun?«
Das Mädchen sah sich verwirrt um. Blassblaue, ungemein
wache Augen in einem von Runzeln gezeichneten, uralten
Gesicht musterten es interessiert. Direkt hinter Konstanze
befand sich ein winziger Verschlag, in dem eine Wahrsagerin
hockte. Ihre Kleidung hatte sicher schon bessere Tage gesehen.
Das Gewand dürfte einmal bunt gewesen sein, war jetzt
aber abgetragen, fleckig und zerrissen. Die Alte hielt den verschlissenen
Vorhang zur Seite, der zwei Stühle und einen
Tisch notdürftig den Blicken der Umstehenden entzog.
»Gib mir einfach die Hand«, lockte die Frau, »und ich lese
daraus dein Geschick ...«
Konstanze schüttelte den Kopf. »Das kenn ich schon
längst ...«, murmelte sie, ausnahmsweise froh darüber, dass
ihre Zukunft nun wirklich festgeschrieben war. So musste sie
nicht zugeben, dass sie der Gabe der Alten misstraute. Konstanze
hatte selbst Visionen - und sie wusste, dass längst nicht
alles eintraf, was ihr Gott oder seine Engel, oder auch der
Teufel und seine Dämonen, am Himmel zeigten.
»Du kennst deine Zukunft?« Die Frau lachte meckernd.
»Oder glaubst du nur nicht an Wahrsagerei?«
Während sie die letzten Worte sprach, griff sie rasch nach
Konstanzes Hand. Das Mädchen war zu verblüfft, um sie
rechtzeitig wegzuziehen. Die Alte hatte sie bereits umgedreht
und studierte mit ernstem Gesicht die Furchen und
Linien.
»Oh, tatsächlich, dir fehlt es am Glauben an die alten Künste«,
kicherte die Vettel. »Aber die Menschen sagen, du seiest
gesegnet. Obwohl man deine Gabe auch als Fluch bezeichnen
könnte ... Wie auch immer ... du bist ein kluges Mädchen.
Du wirst viel lernen ... und Weisheit gewinnen ... du
bist viel stärker, als du glaubst ... und du wirst ...«
»Lass ab von dem Mädchen, Weib! Nimm deine dreckigen
Finger von ihm!« Philipp von Katzberg hatte jetzt erst
bemerkt, wo seine Tochter hineingeraten war. Er schob sich
entschlossen durch die Menge auf sie zu. »Und du ergibst
dich hier finsterstem Aberglauben, Konstanze!«, rügte er
auch das Mädchen, noch bevor er den Stand ganz erreichte.
»Wahrsagerei! Das ist deiner nicht würdig!«
Konstanze hätte sich befreien können, aber die Worte der
alten Frau hatten sie in ihren Bann gezogen. Woher wusste
sie von ihrer Gabe - oder ihrem Fluch? Sie war begierig,
Weiteres zu hören, auch wenn sie damit vielleicht eine Sünde
beging.
»Habe ich nicht gesagt, du sollst sie loslassen?« Konstanzes
Vater riss den Vorhang beiseite und zog die Hand seiner
Tochter energisch aus den Fingern der Alten. »Meine Tochter
braucht deine Schwarze Kunst nicht. Ihr Schicksal ist vorgezeichnet,
sie geht heute noch ins Kloster.«
»Ins Kloster?« Die Gauklerin lachte schallend. Dann wandte
sie sich wieder Konstanze zu. »Das ist nicht, was dir bestimmt
ist, Kind. Ich sah dich in den Armen eines Königs ...«
Das Mädchen riss die Augen weit auf. Dann lächelte es beschämt,
da Philipp die Alte erneut beschimpfte. Konstanze
raffte die Röcke ihres schlichten, kostbaren Samtkleides, das
man extra für diesen Tag gefertigt hatte. Zu weit allerdings
für das zarte Kind - aber das war nicht weiter schlimm, denn
vom kommenden Tag an würde ihre Schwester Waltraut es
tragen. Während sie...Konstanze meinte, die kratzige Klosterkleidung
bereits am Körper zu spüren.
Philipp machte Anstalten, seine Tochter fortzuziehen.
Konstanze jedoch sah sich noch einmal um. Als ihr Vater
nicht hinsah, glitt ihr Kupferpfennig in die Hand der Alten.
Konstanze konnte nicht anders, aber als sie schließlich die
Klosterpforte passierten und die Nonnen in ihren schwarzen
Habiten zur Kirche streben sahen, fühlte sie sich an Krähen
erinnert. Angst beschlich sie, denn Krähen hatten auch ihre
letzten Visionen bevölkert. Sollte irgendetwas in ihren Träumen
sie vor dem Rupertsberg gewarnt haben? Oder lag es
nur an den Märchen, die ihre Großmutter erzählte, Märchen,
in denen Krähen die Vorboten des Todes waren?
Eines Nachts hatte Konstanze vor ihrem inneren Auge die
Vögel aufs Feld der Schefflers niederschweben sehen - obwohl
es dort nachweislich keine Krähen gab. Kurz darauf
war die alte Schefflerin gestorben. Für Konstanzes Mutter
ein weiterer Beweis der unheimlichen Begabung ihrer Tochter.
Andererseits hatten die Dörfler schon tagelang mit dem
Ableben der Schefflerin gerechnet. Konstanzes Großmutter,
die sich ein bisschen auf Heilpflanzen verstand, war mehrfach
bei ihr gewesen. Sie hatte versucht, ihr Leiden zu lindern,
indem sie ihr Kräutertränke verabreichte und warme
Packungen auf den Leib legte. Aber geholfen hatte das alles
nichts - und man brauchte eigentlich keine hellseherischen
Fähigkeiten, um den Tod der Frau vorauszusehen.
Konstanze versuchte, nicht an diese letzte Vision zu denken
und sie vor allem nicht zu deuten. Das missglückte nach
ihren Erfahrungen immer. Besser war es, das Ganze genau so
zu erzählen, wie sie es gesehen hatte. Die Erwachsenen fanden
dann schon ein Ereignis, zu dem es passte.
Und das Beste war überhaupt zu schweigen. Wenn sie das
von Anfang an getan hätte, wäre sie jetzt nicht an diesem Ort.
Aber zu Anfang war Konstanze noch sehr klein gewesen und
hatte Vision und Wirklichkeit verwechselt. Mitunter verfiel
sie auch in Trance, wenn andere Leute dabei waren. Die fragten
dann natürlich, was sie gesehen hatte.
Während Konstanze noch grübelte, erschien eine junge
Nonne an der Pforte, um das Mädchen und seinen Vater
abzuholen. Sie knickste höflich, sah Philipp von Katzberg
aber nicht an. Konstanze betrachtete sie dafür umso neugieriger.
Ob ihr zweifelhafter Ruhm wohl schon bis ins Kloster
gedrungen war?
»Die Ehrwürdige Mutter erwartet Euch«, bemerkte die
Nonne. Sie trug einen reinweißen Schleier, der sie als Novizin
auszeichnete. »Es wird gleich zur Non läuten. Ihr möchtet
Euch beeilen, da Ihr spät seid.«
Nach besonders herzlichem Willkommen klang das nicht.
Philipp von Katzberg fühlte sich denn auch gleich bemüßigt,
Entschuldigungen auszusprechen. Er ärgerte sich jetzt, seiner
lebenshungrigen Tochter den Jahrmarktsbesuch erlaubt
zu haben. Konstanze selbst bereute nichts. Sie hatte den Geschmack
der Rostbratwürstchen noch auf der Zunge - und
auch das innerliche Beben war noch nicht völlig verebbt, das
die Worte der Wahrsagerin in ihr ausgelöst hatten.
Ich sah dich in den Armen eines Königs.
Wider alle Vernunft wollte Konstanze an einen schönen,
starken Mann in seidenen Kleidern und mit einer goldenen
Krone auf dem Haupt glauben - und nicht an den König des
Himmels, dem man sie an diesem Tag noch anverloben wollte.
Die Novizin begleitete Konstanze und ihren Vater durch
den Klostergarten auf eines der Backsteingebäude zu. Eine
weitläufige Anlage - Konstanze atmete auf. Man würde sie
also nicht einmauern, wie damals die kleine Hildegard im
Kloster Disibodenberg.
Wahrscheinlich war es ganz unsinnig, dass sie immer größere
Angst empfand, je näher sie den Räumen der Mutter
Oberin kamen. Dies war ein großes, bekanntes Kloster, und
Mädchen aus den besten Häusern bewarben sich um die Aufnahme.
Schon Hildegard von Bingen hatte nur hochadelige
Novizinnen angenommen, und mitunter hatten Kirchenfürsten
sie dafür gescholten, dass sie den Frauen ein Dasein in
gewissem Wohlstand gestattete. Konstanze erwartete an diesem
Ort wahrscheinlich ein besseres Leben denn als Gattin
eines Mannes aus dem Ministerialen stand. Sie würde weniger
arbeiten müssen als ihre Mutter und Großmutter, sie würde
lesen und schreiben lernen, musizieren und handarbeiten.
Wobei die Nonnen auf dem Rupertsberg sicher nicht mit
kratziger Wolle webten, sondern feinstes Linnen herstellten,
das sie dann bestickten.
Konstanze rief sich alles vor Augen, was ihr die Mutter und
auch Irmtraud von Aubach, die Gattin des Grafen, vom Leben
der Benediktinerinnen erzählt hatten. Und trotzdem ...
ihr Herz schlug heftig, als die junge Nonne sie nun durch lange
Korridore führte und schließlich an eine schwere Eichentür
klopfte.
»Ehrwürdige Mutter ... der Herr von Katzbach wäre jetzt hier ...«
Konstanze verfolgte, wie die Novizin sich zuerst ins Zimmer
schob und dort in einen tiefen Knicks versank.
Eine tiefe Stimme antwortete ihr. »Gut, Renate, du kannst
dann zur Kirche gehen. Beginnt das Gebet ruhig ohne mich,
ich stoße dann zu euch, sobald ich hier fertig bin ... Tretet
ein, Herr von Katzberg. Ich habe Euch bereits erwartet.«
Philipp von Katzberg schob Konstanze vor sich her in das
Zimmer der Oberin, das zu ihrer Verwunderung kaum weniger
vornehm ausgestattet war als die Kemenate der Frau
von Aubach. Es gab Teppiche, kunstvoll geschnitzte Truhen,
ein prasselndes Kaminfeuer, bequeme Stühle mit gedrechselten
Beinen - und sogar weiche Kissen. Konstanze bemerkte
ein Stehpult, auf dem ein schweres, aufgeschlagenes Buch
lag. Sie hätte sich zu gern die Bilder, die ihr in verlockenden
Farben und teilweise vergoldet entgegenleuchteten, darin angesehen.
Aber vorerst bannte die Äbtissin des Rupertsberger
Klosters den Blick des Mädchens. Die Ehrwürdige Mutter
thronte aufrecht auf einem hohen Stuhl am Feuer. Sie machte
sich nicht die Mühe, aufzustehen, um ihre Besucher zu begrüßen,
aber sie ließ immerhin ihre Stickerei, ein kostbares
Altartuch, sinken.
Im Licht des Kaminfeuers erkannte Konstanze ein hageres,
längliches Gesicht mit hellen, forschenden Augen. Die Haut
der Äbtissin wirkte sehr blass, aber vielleicht war das nur der
Kontrast zu ihrer tiefschwarzen Ordenstracht, die lediglich
durch einen weißen Rand am Schleier aufgelockert wurde.
Die Ehrwürdige Mutter musterte Konstanze aufmerksam.
Das Mädchen schien unter ihrem forschenden Blick noch
kleiner zu werden, als es ohnehin war. Konstanze merkte nur
zu gut, wie abschätzend die Oberin sie betrachtete, wie sie
ihr zu großes, und nun auch noch von Reisestaub und Bratwurstfett
beschmutztes, zerknittertes Kleid fixierte. Konstanze
versuchte ungeschickt, es glattzustreichen.
»Du willst also unseren Herrn Jesus und seine Engel
sehen«, bemerkte die Äbtissin mit fragendem Unterton.
Konstanze schüttelte den Kopf. »Nein, Frau ... Edle ...«
»Mutter!«, half ihr Philipp.
Die Oberin warf ihm einen strafenden Blick zu.
»Ehrwürdige Mutter«, korrigierte sie.
Konstanze holte tief Luft. »Nein, Ehrwürdige Mutter«,
erklärte sie. »Ich will sie gar nicht sehen. Aber ich sehe sie.
Manchmal ...«
»Du willst unseren Herrn nicht sehen?« Die Äbtissin runzelte
die Stirn. »Nun, wie auch immer. Bist du sicher, Kind,
dass es nicht der Teufel ist, der dich da narrt?«
Konstanze zuckte die Schultern. »Den Teufel sehe ich auch
manchmal«, gab sie zu. »Aber unser Herr zermalmt ihn unter
seinen Füßen. So wie auf einigen Bildern in der Kirche.«
»Du siehst also nur das, was du aus Bildern in der Kirche kennst!«
Das klang triumphierend, und Konstanze war fast versucht,
es einfach zu bejahen. Aber ihr Vater hatte ihr zuvor
extra noch gesagt, sie dürfte die Mutter Oberin auf keinen
Fall belügen, sondern sollte sie genauso achten wie den Pfarrer
in der Kirche. Also schüttelte sie den Kopf.
»Nein, Ehrwürdige Mutter. Ich ... ich sehe verschiedene
Bilder. Und sie bewegen sich. Also die Engel...und die Heiligen
... und die Teufel.«
»Du sagst, der Herr spricht zu dir?«, fragte die Äbtissin.
Konstanze verneinte wieder. »Das nicht. Aber manchmal
zeigt er mir Dinge. Oder die Engel ...«
»Sie hat von einem Pferd geträumt«, kam Philipp von
Katzbach seiner Tochter jetzt zu Hilfe. »Einem sehr schönen
Pferd. Und gleich darauf sandte der Bischof von Mainz unserem
Herrn von Aubach einen wertvollen Hengst! Und sie
träumte von einem gescheckten Kalb - wie weiland die Mutter
Hildegard, Gott habe sie selig ...«
Hildegard von Bingen hatte ebenfalls schon als Kind Visionen
gehabt, und eine der im Volk bekanntesten bezog sich
auf ihre genaue Schilderung eines noch ungeborenen Kalbes.
Konstanze hätte dazu einiges sagen können, verriet dann
aber lieber nicht, dass sie damals ein weißes Pferd gesehen
hatte, während der Bischof von Mainz einen Braunen sandte.
Und das Kalb, das sie gesehen hatte, glich dem Bullen aufs
Haar, der es gezeugt hatte. Außerdem träumte sie nicht - zumindest
nicht mehr als andere Kinder. Die Visionen überkamen
sie eher im Wachzustand - oft beim Spinnen oder
Weben, oder wenn sie müde war und in die Flammen des
Kaminfeuers starrte.
»Es geht hier nicht um Viehzucht, Herr von Katzbach!«,
bemerkte die Mutter Oberin. »Es geht um Gott und seine
Engel. Das Kind behauptet, berufen zu sein. Wir werden das
prüfen!«
Philipp von Katzbach senkte den Kopf. »Das steht Euch
frei, Ehrwürdige Mutter. Aber wir alle sind uns sicher, dass
Konstanze wahrhaft reinen Herzens ist. Sie lügt nicht, und
die Bilder, die sie sieht, sind sicher nicht des Teufels!«
»Man wird sehen«, beschied ihn die Äbtissin. »Ihr könnt
Euch jetzt von Eurer Tochter verabschieden. Aber macht
nicht zu lange. Sie wird dann mit mir die Messe besuchen.«
Konstanze sah Tränen in den Augen ihres Vaters, als er sie
zum Abschied küsste. Und sie hoffte, dass sie wirklich ihr
galten, und nicht dem teuren Stoff für das Kleid, das Waltraut
nun wohl nicht haben würde. Schließlich machte die Mutter
Oberin keine Anstalten, ihre neue Novizin einkleiden zu lassen,
bevor sie das Mädchen mit in die Kirche nahm, und sie
würde Philipp kaum erlauben, im Kloster zu warten.
Konstanze seufzte. Hätte sie das nur vorausgesehen, dann
wäre ihre Gabe wenigstens ein wenig nützlich gewesen!
Herler Burg bei Köln
Sommer 1206
»Bleibst du denn mein Freund?«, fragte Gisela leise.
Rupert hatte ihr eben ihren Zelter gesattelt, und sie wusste,
es war Zeit für den Abschied. Es war besser, Rupert jetzt
auf Wiedersehen zu sagen, bevor ihr Vater auftauchte und
seinen schweren Rappen bestieg, oder bis gar die Eskorte
von zwei Rittern zu ihnen stieß, die sie nach Meißen begleiten
würde.
Rupert gab einen unverständlichen Schnaufton von sich.
»Sicher ...«, nuschelte der Pferdebursche. Es klang nicht, als
ob er Gisela jetzt schon vermisste.
»Du wirst doch hier sein, wenn ich zurückkomme?«, fragte
sie ängstlich.
Rupert schnaubte erneut. »Wo soll ich schon hingehen?«,
murmelte er.
Es klang verärgert oder eher mutlos. Gisela überlegte, ob
ihr Freund sie vielleicht beneidete. Rupert war elf Jahre alt,
aber er wusste jetzt schon, dass er den Hof ihres Vaters vermutlich
nie verlassen würde. Gisela dagegen trat an diesem
Tag ihre erste Reise an - ihr Vater brachte sie zur Erziehung
an den Hof der Jutta von Meißen. Ein berühmter Hof, der
den Zöglingen alle Tore öffnete. Es konnte gut sein, dass Gisela
einmal nach Sizilien oder Frankreich verheiratet wurde.
Das Mädchen war von hohem Adel, man würde sehen,
welche Verbindung seinem Vater in einigen Jahren am besten
erschien.
Das hatte jedoch noch Zeit. Gisela war erst acht Jahre
alt - sehr jung, um in Pflege gegeben zu werden. Aber
in Friedrich von Bärbachs Haushalt gab es keine Frau. Gi-
selas Mutter war bei der Geburt ihrer Zwillingsbrüder gestorben.
Die einzigen weiblichen Wesen auf der Burg waren
Dienstboten und eine bärbeißige Amme, Ruperts Mutter.
Gisela hatte von jeher das Gefühl, dass die alte Margreth
sie hasste - was gut möglich war. Rupert, ihr Ältester, war
stark und hochgewachsen, aber Giselas Milchbruder Hans
war dumm und auch körperlich etwas mickrig geraten. Die
Amme mochte das darauf zurückführen, dass ihm Gisela die
Kraft geraubt hatte - auf jeden Fall hatte sie den Kindern ihres
Dienstherrn nie mütterliche Gefühle entgegengebracht.
Und höfische Erziehung war von ihr erst recht nicht zu erwarten.
Friedrich von Bärbach hatte folglich seine Entscheidung
getroffen: Gisela musste fort.
Das Mädchen selbst schwankte zwischen Abenteuerlust
und Angst vor dem Neuen. Vor allem würde es Rupert vermissen.
Der Junge war ihm wie ein Bruder. Gisela war ihm
schon als kleines Kind wie ein Hündchen nachgelaufen, wenn
er aus den Ställen in die Küche kam, um heimlich von dem
Honigbrei zu kosten, den seine Mutter für die Kinder des
Grafen zubereitete. Gisela liebte seinen Geruch nach Pferden
und Heu, und sie fand es aufregend, wenn er sie mit in die
Wälder rund um die Burg nahm, mit ihr Kaulquappen fing
und Steine nach Eichhörnchen warf. Rupert selbst duldete sie
sicher mehr, als er sie liebte, aber auch ihm fehlte es an Spielkameraden,
und er sonnte sich in der Bewunderung des kleinen
Burgfräuleins.
»Wenn du wiederkommst, wirst du mich gar nicht mehr
kennen«, brummte er jetzt, während er letzte Hand an den
Sattelgurt ihrer Stute legte. »Wer weiß, ob du überhaupt wiederkommst,
vielleicht verheiraten sie dich gleich.«
Gisela seufzte. Das war möglich, wenn auch nicht wahrscheinlich.
»Aber du vergisst mich nicht?«, vergewisserte sie
sich.
Rupert schüttelte den Kopf.
Dieses halbe Versprechen war das Einzige, woran Gisela sich
klammern konnte, als sie schließlich in Begleitung ihres Vaters
und seiner Ritter durch das innere Tor der Burg und dann
über die Zugbrücke ritt. Heute ging es noch am Rhein entlang
bis Köln. Dort wollte von Bärbach sich einer Karawane
von Kaufleuten anschließen. Man reiste sicherer in Begleitung,
gerade durch die dichten Wälder in Sachsen. Insgesamt
würden sie etwa zwanzig Tage unterwegs sein.
Gisela war zunächst etwas bedrückt und ritt wortlos neben
ihrem Vater her, aber je weiter sie sich von der Burg entfernten,
desto mehr gewann ihre Abenteuerlust die Überhand. In
Köln selbst konnte sie sich schließlich vor Staunen kaum halten
ob der riesigen Kirchen, des Marktes auf dem Domplatz
und der vielen Kaufleute und Pilger aus aller Herren Länder.
Arno Dompfaff, der Handelsherr, dessen Gruppe man sich
anschloss, erwies sich obendrein als gesprächig und umgänglich.
Er war selbst Vater von zehn quirligen Kindern und
fand das kleine Fräulein, das seine Reise mit tausend Fragen
begleitete, entzückend. Hannes ritt lieber neben der vergnügten
Gisela her als neben den ernsten, anderen Kaufleuten -
Letztere meist Juden, die ohnehin den Eindruck erweckten,
bevorzugt unter sich zu sein.
Gisela sonnte sich in seiner Aufmerksamkeit und genoss
die Reise. Das lange Reiten machte ihr nichts aus. Ihr Pferd
ging weich und lebhaft voran, und sie saß fest im Sattel. Das
Mädchen wäre auch ohne Sitzkissen zurechtgekommen,
denn mit Rupert hatte Gisela oft auf dem blanken Pferderücken
des Schlachtrosses ihres Vaters gesessen und den riesigen
Rappen zur Schwemme geritten. Friedrich von Bärbach
wusste natürlich nichts davon. Manchmal lenkte seine Tochter
sogar eines der Streitrosse über die Bahn, auf der die Ritter
fürs Turnier übten. Die Pferde gingen dabei stets brav wie
die Lämmchen. Gisela hatte Geschick im Umgang mit Tieren.
Sie freute sich schon auf die Falkenjagd.
So vergingen die Wochen der Reise schnell, zumal sich die
Befürchtungen ihres Vaters nicht bewahrheiteten. Raubritter
und Gauner, die Reisenden gern auflauerten, schreckten vor
der Größe der Karawane zurück, mit der immer drei Fernhandelskaufleute
mit ihren Planwagen zogen, dazu einige
kleinere Krämer und ein paar Pilger auf der Heimreise von
ihrer Wallfahrt ins heilige Köln. Selbstverständlich reisten
die Händler nicht ohne Eskorte. Der Trupp wurde von insgesamt
dreißig schwer bewaffneten Reitern begleitet.
Gisela trennte sich ungern von ihren Reisegefährten, als
sie Meißen schließlich erreichten und Friedrich von Bärbach
die gewaltigen Burgen auf dem Albrechtsberg ansteuerte.
Arno Dompfaff und die anderen Händler ritten derweil weiter
in die Stadt. Das Mädchen tröstete sich ein bisschen mit
dem Haarreif aus Emaille, den Dompfaff ihm zum Abschied
schenkte.
»Das Grün passt zu Euren Augen, Fräulein. Passt auf, Ihr
werdet allen Rittern auf der Burg den Kopf verdrehen!«, lachte
der Kaufmann und winkte Gisela nach. Auch ihm schien
der Abschied schwerzufallen.
Friedrich von Bärbach schien dagegen froh, die Gesellschaft
der städtischen Krämer und Pilger verlassen zu können.
»Jüdisches Pack«, murmelte er, als sie den Burgberg hinaufsprengten.
»Und christliche Gauner, die den Kopf zu hoch
tragen, weil sie sich in ihren Städten ›Bürger‹ nennen dürfen.
Letztlich alle ihren Grundherren entlaufen ...«
Gisela sagte nichts dazu. Ihr Vater hielt nicht viel von den
Magistraten in Köln und Mainz, aber sie verstand nicht warum,
und es war ihr auch egal. Sie fieberte der ersten Begegnung
mit ihrer neuen Ziehmutter entgegen. Ob sie streng und
böse mit ihr sein würde wie die Amme? Sollte sie den neuen
Haarreif tragen, oder würde ihr das als Hoffart ausgelegt?
Dann erwiesen sich jedoch all ihre Befürchtungen als
grundlos. Während der Truchsess des Burgherrn ihren Vater
und seine Ritter im Burghof willkommen hieß und ihnen
einen Schluck edelsten Weines kredenzte, erschienen zwei
fröhliche, für Giselas Augen fast festlich gekleidete Mädchen,
um die Kleine in Empfang zu nehmen.
»Oh, sie ist hübsch!«, gurrte die eine. »Das wird die Herrin
freuen!«
»Aber wir sollten sie noch umkleiden. Vielleicht auch ein
Bad nach der langen Reise«, plapperte die andere.
Ehe Gisela noch ganz begriff, wie ihr geschah, hatten die
Mädchen sie in eine gut geheizte Kemenate geführt, in der
schon ein Waschzuber auf sie wartete. Sie seiften sie lachend
ein und ergingen sich in Schmeicheleien über ihr seidiges
blondes Haar und ihre großen grünen Augen.
»Wir müssen das Haar in Eigelb spülen, dann glänzt es
noch mehr!«, riet Hiltrud, die Jüngere, und Luitgard, die Ältere,
suchte ein leichtes leinenes Unterkleid und eine Surkotte
aus grasgrüner Seide aus einer der Truhen. Keines der
Mädchen machte Anstalten, Giselas eigene Kleidung auszupacken.
Das würden die Mägde später tun. Vorerst bedienten
sie sich aus der offenbar unerschöpflichen Kleidersammlung
des Hofes.
»Jetzt bist du schön!«, erklärte Hiltrud, als Gisela schließlich
mit offenem glänzendem Haar, geschmückt mit dem
Emaillereif, und in dem neuen Kleid vor ihr stand. »Nur den
Saum sollten wir noch umlegen, damit du nicht darüber stolperst.«
Die Mädchen steckten den Rock mit Fibeln provisorisch
fest und führten Gisela dann stolz wie eine frisch angekleidete
Puppe die Stufen des Söllers hinunter. Der Weg führte
zunächst durch einen Küchengarten und dann in den weitläufigen
Burggarten. Es gab bunte Blumenrabatten, riesige
Bäume, die Schatten spendeten, und überall hörte man fröhliche
Stimmen und das Lachen von Mädchen und jungen Rittern,
die sich vergnügten.
Jutta von Meißen erwartete ihr neues Ziehkind im Rosengarten.
Sie saß in einer Laube, umgeben von einem Meer von
Blüten und in einem Kreis jüngerer und älterer Mädchen und
Frauen. Ein Spielmann unterhielt sie mit Lautenspiel und
Gesang.
»Frau Jutta? Hier ist Gisela von Bärbach«, stellte Luitgard
eifrig vor und schob Gisela vor ihre Pflegemutter.
Jutta von Meißen war in feines Tuch gewandet. Sie trug
eine weinrote Surkotte, unter der ein dunkelgrünes Unterkleid
hervorschimmerte, dazu einen goldenen Gürtel. Die
Farbe ihres Haares konnte man nicht erkennen, sie versteckte
es züchtig unter einem Gebende aus feinstem Leinen, aber
ihre nussbraunen Augen musterten Gisela mit Wärme.
»Lass dich willkommen heißen, meine Kleine!«, sagte sie
huldvoll. »Ach was, komm her und gib mir einen Kuss. Es
wird mir eine Freude sein, ein so kleines Ding bei mir zu haben,
fast wie eine Tochter ... Du magst meinem Kind eine
Gespielin sein!«
Gisela erkannte jetzt, dass Jutta von Meißen gesegneten
Leibes war, und lächelte ihr zu. Sie nahm ihren leichten Rosenduft
wahr, als sie weisungsgemäß ihre Wange küsste. Aber
Jutta von Meißen umfing sie mit ihren Armen und küsste sie
auf den Mund.
»Und wie hübsch du bist! Herr Walther, ist sie nicht eine
kleine Schönheit?« Frau Jutta wandte sich an den Spielmann,
einen vierschrötigen, rotgesichtigen Mann, dessen kräftigen
Fingern man kaum zutraute, so geschickt die Laute zu schlagen.
»Dies ist Herr Walther von der Vogelweide, Gisela. Er
erweist uns die Ehre, uns zu zerstreuen.«
»Die Ehre ist ganz auf meiner Seite, Herrin!«, bemerkte
der Spielmann. »Und es wird mich freuen, dieser neuen Zierde
Eures Hofes ein paar Verse zu widmen.« Er verneigte sich
in Richtung Giselas.
Jutta lachte und drohte ihm mit dem Finger. »Aber nicht
zu schlüpfrige, Herr Walther! Man kennt Eure Neigung zur
Derbheit. Erschreckt mir nicht diese kleine Blüte, die erst
noch zur Rose heranwachsen muss.«
Gisela hörte aufmerksam zu, obwohl ihr all das Getän-
del und die Schmeicheleien schnell zu viel wurden. Dies war
zweifellos höfisches Benehmen, aber Gisela lag anderes am
Herzen.
Und warum sollte sie sich nicht trauen? Die Markgräfin
schien schließlich überaus freundlich. Gisela holte tief Luft.
»Und wo sind die Falken?«, fragte sie aufgeregt.
Copyright © 2010 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Lektorat: Melanie Blank-Schröder
Titelillustration: akg-images/camera photo/Erich Lessing
Umschlaggestaltung: Atelier Versen, Bad Aibling
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
Druck und Verarbeitung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-404-16480-6
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Rupertsberg bei Bingen
Sommer 1206
Konstanze besaß einen Kupferpfennig. Es war das erste Geld,
das sie je in Händen gehabt hatte, und es sollte wohl auch das
letzte sein. Aber die kleine Münze bot ihr doch fast so etwas
wie Trost und Hoffnung. Gut, am Abend dieses Tages würde
sie der Welt entsagen, aber jetzt hatte sie ihren Kupferpfennig,
und in Bingen war Jahrmarkt. Schon von Weitem hörte
man Musik und Gelächter, das Feilschen der Händler und
das Wiehern der Pferde. Konstanze warf ihrem Vater einen
bittenden Blick zu.
»Können wir nicht hingehen? Nur eine Stunde ... wir
haben doch noch so viel Zeit!«
Philipp von Katzberg zögerte. »Zur Stunde der Non erwarten
sie dich«, sagte er. »Spätestens ...«
Konstanze nickte resigniert. »Aber es ist doch noch nicht
einmal Mittag«, wandte sie dennoch ein. »Und ich ...«
Über das Gesicht ihres Vaters flog ein Lächeln. »Du möchtest
deinen Kupferpfennig ausgeben, ja? So gedacht war das
eigentlich nicht. Du solltest ihn der Kirche spenden. Die
Mutter Oberin würde es zu würdigen wissen.«
Philipp sah seine jüngste Tochter ernst an, aber es fiel ihm
sichtlich schwer, an diesem Tag streng mit ihr zu sein.
»Die Mutter Oberin kriegt schon meine ganze Mitgift!«,
begehrte Konstanze auf. »Den Pfennig hat der Herr Gottfried
mir gegeben. Er hat nicht gesagt, dass ich ihn spenden
muss. Bitte, Vater!«
Philipp nickte widerstrebend. Gottfried von Aubach,
der Graf, auf dessen Burg seine Familie lebte und in dessen
Diensten er stand, hatte keine Bedingungen daran geknüpft,
als er Konstanze huldvoll zum Abschied beschenkte. Aber
natürlich wusste er von ihrer besonderen Gabe, und er hatte
sich für ihre Aufnahme auf dem Rupertsberg eingesetzt,
obwohl die Katzbergs nur Lehnsleute des Grafen waren.
»Du weißt doch, dass du nichts behalten darfst«, erinnerte
er seine Tochter. »Also kauf keinen Tand, du hättest nur ein
paar Stunden, um dich daran zu erfreuen.«
Ein paar Stunden wären besser als nichts, dachte Konstanze,
aber sie hatte ohnehin nicht geplant, ihr Geld für Kleider
oder Schmuck auszugeben. Eher dachte sie an kandierte
Früchte, gebrannte Mandeln oder andere Süßigkeiten, die
sie bislang nie gekostet hatte. Dies war schließlich ihre letzte
Gelegenheit dazu, und sie war ein Schleckermaul. Sie hatten
den Jahrmarkt fast erreicht, und das Wasser lief dem Mädchen
schon im Munde zusammen.
Von Wasser und Brot zu leben würde Konstanze nicht
leicht fallen - aber vielleicht musste sie das ja gar nicht. Womöglich
hatte die Äbtissin nur Spaß gemacht, als sie auf das
asketische Leben der jungen Hildegard von Bingen verwies,
der Konstanze in Zukunft nacheifern sollte.
Philipp von Katzberg sah seiner Tochter bedauernd nach,
als sie kurze Zeit später von einem Marktstand zum anderen
tänzelte, ganz erfüllt von dem Wunsch, aus ihrem kleinen
Schatz das Beste zu machen. Konstanze war erst zehn
Jahre alt, aber sie würde einmal schön werden, mit ihrem fast
ebenholzfarbenen glatten Haar, ihrem herzförmigen Gesicht
mit den klaren tiefblauen Augen, über die sich wohlgeformte,
kräftige dunkle Brauen wölbten. Man hätte sie ebenso gut
verheiraten können. Wenn sie bloß nicht so anders wäre ...
oder wenn seine Frau zumindest darauf verzichtet hätte, das
stolz in alle Welt hinauszuposaunen!
Philipp erstand in einer Garküche ein paar Bratwürste
und rief Konstanze dann zu sich, die sich eifrig darüber hermachte.
Dabei schwärmte sie von den hübschen Stoffen aus
Flandern, die sie an einem der Stände hatte betasten können,
und den seltsamen Öllampen, die ein orientalisch wirkender
Händler feilbot.
»Ob ich nicht doch so eine mitnehmen kann?«, fragte
sie ohne große Hoffnung. »Es ist doch sicher dunkel in so
einer ... Klause ...«
»Der Herr wird dich erleuchten«, antwortete Philipp
mechanisch. »Du wirst nichts brauchen.«
Konstanze seufzte, schlang rasch ihr letztes Stück Würstchen
herunter und wandte sich wieder dem bunten Treiben
des Marktes zu. Eine Zeit lang lauschte sie einem Bader, der
mit vielen schönen Worten eine Wundermedizin anpries, und
schlenderte dann zu einer Art Bühne weiter, die Gaukler auf
ihrem Wagen errichtet hatten. Fasziniert sah sie zu, wie die
farbenfroh gewandeten Akrobaten jonglierten und auf Stelzen
liefen.
Konstanze war so vertieft in das Spiel, dass sie erschrak, als
sie plötzlich eine Stimme neben sich hörte.
»Na, kleines Fräulein ...möchtest du nicht einen Blick in
deine Zukunft tun?«
Das Mädchen sah sich verwirrt um. Blassblaue, ungemein
wache Augen in einem von Runzeln gezeichneten, uralten
Gesicht musterten es interessiert. Direkt hinter Konstanze
befand sich ein winziger Verschlag, in dem eine Wahrsagerin
hockte. Ihre Kleidung hatte sicher schon bessere Tage gesehen.
Das Gewand dürfte einmal bunt gewesen sein, war jetzt
aber abgetragen, fleckig und zerrissen. Die Alte hielt den verschlissenen
Vorhang zur Seite, der zwei Stühle und einen
Tisch notdürftig den Blicken der Umstehenden entzog.
»Gib mir einfach die Hand«, lockte die Frau, »und ich lese
daraus dein Geschick ...«
Konstanze schüttelte den Kopf. »Das kenn ich schon
längst ...«, murmelte sie, ausnahmsweise froh darüber, dass
ihre Zukunft nun wirklich festgeschrieben war. So musste sie
nicht zugeben, dass sie der Gabe der Alten misstraute. Konstanze
hatte selbst Visionen - und sie wusste, dass längst nicht
alles eintraf, was ihr Gott oder seine Engel, oder auch der
Teufel und seine Dämonen, am Himmel zeigten.
»Du kennst deine Zukunft?« Die Frau lachte meckernd.
»Oder glaubst du nur nicht an Wahrsagerei?«
Während sie die letzten Worte sprach, griff sie rasch nach
Konstanzes Hand. Das Mädchen war zu verblüfft, um sie
rechtzeitig wegzuziehen. Die Alte hatte sie bereits umgedreht
und studierte mit ernstem Gesicht die Furchen und
Linien.
»Oh, tatsächlich, dir fehlt es am Glauben an die alten Künste«,
kicherte die Vettel. »Aber die Menschen sagen, du seiest
gesegnet. Obwohl man deine Gabe auch als Fluch bezeichnen
könnte ... Wie auch immer ... du bist ein kluges Mädchen.
Du wirst viel lernen ... und Weisheit gewinnen ... du
bist viel stärker, als du glaubst ... und du wirst ...«
»Lass ab von dem Mädchen, Weib! Nimm deine dreckigen
Finger von ihm!« Philipp von Katzberg hatte jetzt erst
bemerkt, wo seine Tochter hineingeraten war. Er schob sich
entschlossen durch die Menge auf sie zu. »Und du ergibst
dich hier finsterstem Aberglauben, Konstanze!«, rügte er
auch das Mädchen, noch bevor er den Stand ganz erreichte.
»Wahrsagerei! Das ist deiner nicht würdig!«
Konstanze hätte sich befreien können, aber die Worte der
alten Frau hatten sie in ihren Bann gezogen. Woher wusste
sie von ihrer Gabe - oder ihrem Fluch? Sie war begierig,
Weiteres zu hören, auch wenn sie damit vielleicht eine Sünde
beging.
»Habe ich nicht gesagt, du sollst sie loslassen?« Konstanzes
Vater riss den Vorhang beiseite und zog die Hand seiner
Tochter energisch aus den Fingern der Alten. »Meine Tochter
braucht deine Schwarze Kunst nicht. Ihr Schicksal ist vorgezeichnet,
sie geht heute noch ins Kloster.«
»Ins Kloster?« Die Gauklerin lachte schallend. Dann wandte
sie sich wieder Konstanze zu. »Das ist nicht, was dir bestimmt
ist, Kind. Ich sah dich in den Armen eines Königs ...«
Das Mädchen riss die Augen weit auf. Dann lächelte es beschämt,
da Philipp die Alte erneut beschimpfte. Konstanze
raffte die Röcke ihres schlichten, kostbaren Samtkleides, das
man extra für diesen Tag gefertigt hatte. Zu weit allerdings
für das zarte Kind - aber das war nicht weiter schlimm, denn
vom kommenden Tag an würde ihre Schwester Waltraut es
tragen. Während sie...Konstanze meinte, die kratzige Klosterkleidung
bereits am Körper zu spüren.
Philipp machte Anstalten, seine Tochter fortzuziehen.
Konstanze jedoch sah sich noch einmal um. Als ihr Vater
nicht hinsah, glitt ihr Kupferpfennig in die Hand der Alten.
Konstanze konnte nicht anders, aber als sie schließlich die
Klosterpforte passierten und die Nonnen in ihren schwarzen
Habiten zur Kirche streben sahen, fühlte sie sich an Krähen
erinnert. Angst beschlich sie, denn Krähen hatten auch ihre
letzten Visionen bevölkert. Sollte irgendetwas in ihren Träumen
sie vor dem Rupertsberg gewarnt haben? Oder lag es
nur an den Märchen, die ihre Großmutter erzählte, Märchen,
in denen Krähen die Vorboten des Todes waren?
Eines Nachts hatte Konstanze vor ihrem inneren Auge die
Vögel aufs Feld der Schefflers niederschweben sehen - obwohl
es dort nachweislich keine Krähen gab. Kurz darauf
war die alte Schefflerin gestorben. Für Konstanzes Mutter
ein weiterer Beweis der unheimlichen Begabung ihrer Tochter.
Andererseits hatten die Dörfler schon tagelang mit dem
Ableben der Schefflerin gerechnet. Konstanzes Großmutter,
die sich ein bisschen auf Heilpflanzen verstand, war mehrfach
bei ihr gewesen. Sie hatte versucht, ihr Leiden zu lindern,
indem sie ihr Kräutertränke verabreichte und warme
Packungen auf den Leib legte. Aber geholfen hatte das alles
nichts - und man brauchte eigentlich keine hellseherischen
Fähigkeiten, um den Tod der Frau vorauszusehen.
Konstanze versuchte, nicht an diese letzte Vision zu denken
und sie vor allem nicht zu deuten. Das missglückte nach
ihren Erfahrungen immer. Besser war es, das Ganze genau so
zu erzählen, wie sie es gesehen hatte. Die Erwachsenen fanden
dann schon ein Ereignis, zu dem es passte.
Und das Beste war überhaupt zu schweigen. Wenn sie das
von Anfang an getan hätte, wäre sie jetzt nicht an diesem Ort.
Aber zu Anfang war Konstanze noch sehr klein gewesen und
hatte Vision und Wirklichkeit verwechselt. Mitunter verfiel
sie auch in Trance, wenn andere Leute dabei waren. Die fragten
dann natürlich, was sie gesehen hatte.
Während Konstanze noch grübelte, erschien eine junge
Nonne an der Pforte, um das Mädchen und seinen Vater
abzuholen. Sie knickste höflich, sah Philipp von Katzberg
aber nicht an. Konstanze betrachtete sie dafür umso neugieriger.
Ob ihr zweifelhafter Ruhm wohl schon bis ins Kloster
gedrungen war?
»Die Ehrwürdige Mutter erwartet Euch«, bemerkte die
Nonne. Sie trug einen reinweißen Schleier, der sie als Novizin
auszeichnete. »Es wird gleich zur Non läuten. Ihr möchtet
Euch beeilen, da Ihr spät seid.«
Nach besonders herzlichem Willkommen klang das nicht.
Philipp von Katzberg fühlte sich denn auch gleich bemüßigt,
Entschuldigungen auszusprechen. Er ärgerte sich jetzt, seiner
lebenshungrigen Tochter den Jahrmarktsbesuch erlaubt
zu haben. Konstanze selbst bereute nichts. Sie hatte den Geschmack
der Rostbratwürstchen noch auf der Zunge - und
auch das innerliche Beben war noch nicht völlig verebbt, das
die Worte der Wahrsagerin in ihr ausgelöst hatten.
Ich sah dich in den Armen eines Königs.
Wider alle Vernunft wollte Konstanze an einen schönen,
starken Mann in seidenen Kleidern und mit einer goldenen
Krone auf dem Haupt glauben - und nicht an den König des
Himmels, dem man sie an diesem Tag noch anverloben wollte.
Die Novizin begleitete Konstanze und ihren Vater durch
den Klostergarten auf eines der Backsteingebäude zu. Eine
weitläufige Anlage - Konstanze atmete auf. Man würde sie
also nicht einmauern, wie damals die kleine Hildegard im
Kloster Disibodenberg.
Wahrscheinlich war es ganz unsinnig, dass sie immer größere
Angst empfand, je näher sie den Räumen der Mutter
Oberin kamen. Dies war ein großes, bekanntes Kloster, und
Mädchen aus den besten Häusern bewarben sich um die Aufnahme.
Schon Hildegard von Bingen hatte nur hochadelige
Novizinnen angenommen, und mitunter hatten Kirchenfürsten
sie dafür gescholten, dass sie den Frauen ein Dasein in
gewissem Wohlstand gestattete. Konstanze erwartete an diesem
Ort wahrscheinlich ein besseres Leben denn als Gattin
eines Mannes aus dem Ministerialen stand. Sie würde weniger
arbeiten müssen als ihre Mutter und Großmutter, sie würde
lesen und schreiben lernen, musizieren und handarbeiten.
Wobei die Nonnen auf dem Rupertsberg sicher nicht mit
kratziger Wolle webten, sondern feinstes Linnen herstellten,
das sie dann bestickten.
Konstanze rief sich alles vor Augen, was ihr die Mutter und
auch Irmtraud von Aubach, die Gattin des Grafen, vom Leben
der Benediktinerinnen erzählt hatten. Und trotzdem ...
ihr Herz schlug heftig, als die junge Nonne sie nun durch lange
Korridore führte und schließlich an eine schwere Eichentür
klopfte.
»Ehrwürdige Mutter ... der Herr von Katzbach wäre jetzt hier ...«
Konstanze verfolgte, wie die Novizin sich zuerst ins Zimmer
schob und dort in einen tiefen Knicks versank.
Eine tiefe Stimme antwortete ihr. »Gut, Renate, du kannst
dann zur Kirche gehen. Beginnt das Gebet ruhig ohne mich,
ich stoße dann zu euch, sobald ich hier fertig bin ... Tretet
ein, Herr von Katzberg. Ich habe Euch bereits erwartet.«
Philipp von Katzberg schob Konstanze vor sich her in das
Zimmer der Oberin, das zu ihrer Verwunderung kaum weniger
vornehm ausgestattet war als die Kemenate der Frau
von Aubach. Es gab Teppiche, kunstvoll geschnitzte Truhen,
ein prasselndes Kaminfeuer, bequeme Stühle mit gedrechselten
Beinen - und sogar weiche Kissen. Konstanze bemerkte
ein Stehpult, auf dem ein schweres, aufgeschlagenes Buch
lag. Sie hätte sich zu gern die Bilder, die ihr in verlockenden
Farben und teilweise vergoldet entgegenleuchteten, darin angesehen.
Aber vorerst bannte die Äbtissin des Rupertsberger
Klosters den Blick des Mädchens. Die Ehrwürdige Mutter
thronte aufrecht auf einem hohen Stuhl am Feuer. Sie machte
sich nicht die Mühe, aufzustehen, um ihre Besucher zu begrüßen,
aber sie ließ immerhin ihre Stickerei, ein kostbares
Altartuch, sinken.
Im Licht des Kaminfeuers erkannte Konstanze ein hageres,
längliches Gesicht mit hellen, forschenden Augen. Die Haut
der Äbtissin wirkte sehr blass, aber vielleicht war das nur der
Kontrast zu ihrer tiefschwarzen Ordenstracht, die lediglich
durch einen weißen Rand am Schleier aufgelockert wurde.
Die Ehrwürdige Mutter musterte Konstanze aufmerksam.
Das Mädchen schien unter ihrem forschenden Blick noch
kleiner zu werden, als es ohnehin war. Konstanze merkte nur
zu gut, wie abschätzend die Oberin sie betrachtete, wie sie
ihr zu großes, und nun auch noch von Reisestaub und Bratwurstfett
beschmutztes, zerknittertes Kleid fixierte. Konstanze
versuchte ungeschickt, es glattzustreichen.
»Du willst also unseren Herrn Jesus und seine Engel
sehen«, bemerkte die Äbtissin mit fragendem Unterton.
Konstanze schüttelte den Kopf. »Nein, Frau ... Edle ...«
»Mutter!«, half ihr Philipp.
Die Oberin warf ihm einen strafenden Blick zu.
»Ehrwürdige Mutter«, korrigierte sie.
Konstanze holte tief Luft. »Nein, Ehrwürdige Mutter«,
erklärte sie. »Ich will sie gar nicht sehen. Aber ich sehe sie.
Manchmal ...«
»Du willst unseren Herrn nicht sehen?« Die Äbtissin runzelte
die Stirn. »Nun, wie auch immer. Bist du sicher, Kind,
dass es nicht der Teufel ist, der dich da narrt?«
Konstanze zuckte die Schultern. »Den Teufel sehe ich auch
manchmal«, gab sie zu. »Aber unser Herr zermalmt ihn unter
seinen Füßen. So wie auf einigen Bildern in der Kirche.«
»Du siehst also nur das, was du aus Bildern in der Kirche kennst!«
Das klang triumphierend, und Konstanze war fast versucht,
es einfach zu bejahen. Aber ihr Vater hatte ihr zuvor
extra noch gesagt, sie dürfte die Mutter Oberin auf keinen
Fall belügen, sondern sollte sie genauso achten wie den Pfarrer
in der Kirche. Also schüttelte sie den Kopf.
»Nein, Ehrwürdige Mutter. Ich ... ich sehe verschiedene
Bilder. Und sie bewegen sich. Also die Engel...und die Heiligen
... und die Teufel.«
»Du sagst, der Herr spricht zu dir?«, fragte die Äbtissin.
Konstanze verneinte wieder. »Das nicht. Aber manchmal
zeigt er mir Dinge. Oder die Engel ...«
»Sie hat von einem Pferd geträumt«, kam Philipp von
Katzbach seiner Tochter jetzt zu Hilfe. »Einem sehr schönen
Pferd. Und gleich darauf sandte der Bischof von Mainz unserem
Herrn von Aubach einen wertvollen Hengst! Und sie
träumte von einem gescheckten Kalb - wie weiland die Mutter
Hildegard, Gott habe sie selig ...«
Hildegard von Bingen hatte ebenfalls schon als Kind Visionen
gehabt, und eine der im Volk bekanntesten bezog sich
auf ihre genaue Schilderung eines noch ungeborenen Kalbes.
Konstanze hätte dazu einiges sagen können, verriet dann
aber lieber nicht, dass sie damals ein weißes Pferd gesehen
hatte, während der Bischof von Mainz einen Braunen sandte.
Und das Kalb, das sie gesehen hatte, glich dem Bullen aufs
Haar, der es gezeugt hatte. Außerdem träumte sie nicht - zumindest
nicht mehr als andere Kinder. Die Visionen überkamen
sie eher im Wachzustand - oft beim Spinnen oder
Weben, oder wenn sie müde war und in die Flammen des
Kaminfeuers starrte.
»Es geht hier nicht um Viehzucht, Herr von Katzbach!«,
bemerkte die Mutter Oberin. »Es geht um Gott und seine
Engel. Das Kind behauptet, berufen zu sein. Wir werden das
prüfen!«
Philipp von Katzbach senkte den Kopf. »Das steht Euch
frei, Ehrwürdige Mutter. Aber wir alle sind uns sicher, dass
Konstanze wahrhaft reinen Herzens ist. Sie lügt nicht, und
die Bilder, die sie sieht, sind sicher nicht des Teufels!«
»Man wird sehen«, beschied ihn die Äbtissin. »Ihr könnt
Euch jetzt von Eurer Tochter verabschieden. Aber macht
nicht zu lange. Sie wird dann mit mir die Messe besuchen.«
Konstanze sah Tränen in den Augen ihres Vaters, als er sie
zum Abschied küsste. Und sie hoffte, dass sie wirklich ihr
galten, und nicht dem teuren Stoff für das Kleid, das Waltraut
nun wohl nicht haben würde. Schließlich machte die Mutter
Oberin keine Anstalten, ihre neue Novizin einkleiden zu lassen,
bevor sie das Mädchen mit in die Kirche nahm, und sie
würde Philipp kaum erlauben, im Kloster zu warten.
Konstanze seufzte. Hätte sie das nur vorausgesehen, dann
wäre ihre Gabe wenigstens ein wenig nützlich gewesen!
Herler Burg bei Köln
Sommer 1206
»Bleibst du denn mein Freund?«, fragte Gisela leise.
Rupert hatte ihr eben ihren Zelter gesattelt, und sie wusste,
es war Zeit für den Abschied. Es war besser, Rupert jetzt
auf Wiedersehen zu sagen, bevor ihr Vater auftauchte und
seinen schweren Rappen bestieg, oder bis gar die Eskorte
von zwei Rittern zu ihnen stieß, die sie nach Meißen begleiten
würde.
Rupert gab einen unverständlichen Schnaufton von sich.
»Sicher ...«, nuschelte der Pferdebursche. Es klang nicht, als
ob er Gisela jetzt schon vermisste.
»Du wirst doch hier sein, wenn ich zurückkomme?«, fragte
sie ängstlich.
Rupert schnaubte erneut. »Wo soll ich schon hingehen?«,
murmelte er.
Es klang verärgert oder eher mutlos. Gisela überlegte, ob
ihr Freund sie vielleicht beneidete. Rupert war elf Jahre alt,
aber er wusste jetzt schon, dass er den Hof ihres Vaters vermutlich
nie verlassen würde. Gisela dagegen trat an diesem
Tag ihre erste Reise an - ihr Vater brachte sie zur Erziehung
an den Hof der Jutta von Meißen. Ein berühmter Hof, der
den Zöglingen alle Tore öffnete. Es konnte gut sein, dass Gisela
einmal nach Sizilien oder Frankreich verheiratet wurde.
Das Mädchen war von hohem Adel, man würde sehen,
welche Verbindung seinem Vater in einigen Jahren am besten
erschien.
Das hatte jedoch noch Zeit. Gisela war erst acht Jahre
alt - sehr jung, um in Pflege gegeben zu werden. Aber
in Friedrich von Bärbachs Haushalt gab es keine Frau. Gi-
selas Mutter war bei der Geburt ihrer Zwillingsbrüder gestorben.
Die einzigen weiblichen Wesen auf der Burg waren
Dienstboten und eine bärbeißige Amme, Ruperts Mutter.
Gisela hatte von jeher das Gefühl, dass die alte Margreth
sie hasste - was gut möglich war. Rupert, ihr Ältester, war
stark und hochgewachsen, aber Giselas Milchbruder Hans
war dumm und auch körperlich etwas mickrig geraten. Die
Amme mochte das darauf zurückführen, dass ihm Gisela die
Kraft geraubt hatte - auf jeden Fall hatte sie den Kindern ihres
Dienstherrn nie mütterliche Gefühle entgegengebracht.
Und höfische Erziehung war von ihr erst recht nicht zu erwarten.
Friedrich von Bärbach hatte folglich seine Entscheidung
getroffen: Gisela musste fort.
Das Mädchen selbst schwankte zwischen Abenteuerlust
und Angst vor dem Neuen. Vor allem würde es Rupert vermissen.
Der Junge war ihm wie ein Bruder. Gisela war ihm
schon als kleines Kind wie ein Hündchen nachgelaufen, wenn
er aus den Ställen in die Küche kam, um heimlich von dem
Honigbrei zu kosten, den seine Mutter für die Kinder des
Grafen zubereitete. Gisela liebte seinen Geruch nach Pferden
und Heu, und sie fand es aufregend, wenn er sie mit in die
Wälder rund um die Burg nahm, mit ihr Kaulquappen fing
und Steine nach Eichhörnchen warf. Rupert selbst duldete sie
sicher mehr, als er sie liebte, aber auch ihm fehlte es an Spielkameraden,
und er sonnte sich in der Bewunderung des kleinen
Burgfräuleins.
»Wenn du wiederkommst, wirst du mich gar nicht mehr
kennen«, brummte er jetzt, während er letzte Hand an den
Sattelgurt ihrer Stute legte. »Wer weiß, ob du überhaupt wiederkommst,
vielleicht verheiraten sie dich gleich.«
Gisela seufzte. Das war möglich, wenn auch nicht wahrscheinlich.
»Aber du vergisst mich nicht?«, vergewisserte sie
sich.
Rupert schüttelte den Kopf.
Dieses halbe Versprechen war das Einzige, woran Gisela sich
klammern konnte, als sie schließlich in Begleitung ihres Vaters
und seiner Ritter durch das innere Tor der Burg und dann
über die Zugbrücke ritt. Heute ging es noch am Rhein entlang
bis Köln. Dort wollte von Bärbach sich einer Karawane
von Kaufleuten anschließen. Man reiste sicherer in Begleitung,
gerade durch die dichten Wälder in Sachsen. Insgesamt
würden sie etwa zwanzig Tage unterwegs sein.
Gisela war zunächst etwas bedrückt und ritt wortlos neben
ihrem Vater her, aber je weiter sie sich von der Burg entfernten,
desto mehr gewann ihre Abenteuerlust die Überhand. In
Köln selbst konnte sie sich schließlich vor Staunen kaum halten
ob der riesigen Kirchen, des Marktes auf dem Domplatz
und der vielen Kaufleute und Pilger aus aller Herren Länder.
Arno Dompfaff, der Handelsherr, dessen Gruppe man sich
anschloss, erwies sich obendrein als gesprächig und umgänglich.
Er war selbst Vater von zehn quirligen Kindern und
fand das kleine Fräulein, das seine Reise mit tausend Fragen
begleitete, entzückend. Hannes ritt lieber neben der vergnügten
Gisela her als neben den ernsten, anderen Kaufleuten -
Letztere meist Juden, die ohnehin den Eindruck erweckten,
bevorzugt unter sich zu sein.
Gisela sonnte sich in seiner Aufmerksamkeit und genoss
die Reise. Das lange Reiten machte ihr nichts aus. Ihr Pferd
ging weich und lebhaft voran, und sie saß fest im Sattel. Das
Mädchen wäre auch ohne Sitzkissen zurechtgekommen,
denn mit Rupert hatte Gisela oft auf dem blanken Pferderücken
des Schlachtrosses ihres Vaters gesessen und den riesigen
Rappen zur Schwemme geritten. Friedrich von Bärbach
wusste natürlich nichts davon. Manchmal lenkte seine Tochter
sogar eines der Streitrosse über die Bahn, auf der die Ritter
fürs Turnier übten. Die Pferde gingen dabei stets brav wie
die Lämmchen. Gisela hatte Geschick im Umgang mit Tieren.
Sie freute sich schon auf die Falkenjagd.
So vergingen die Wochen der Reise schnell, zumal sich die
Befürchtungen ihres Vaters nicht bewahrheiteten. Raubritter
und Gauner, die Reisenden gern auflauerten, schreckten vor
der Größe der Karawane zurück, mit der immer drei Fernhandelskaufleute
mit ihren Planwagen zogen, dazu einige
kleinere Krämer und ein paar Pilger auf der Heimreise von
ihrer Wallfahrt ins heilige Köln. Selbstverständlich reisten
die Händler nicht ohne Eskorte. Der Trupp wurde von insgesamt
dreißig schwer bewaffneten Reitern begleitet.
Gisela trennte sich ungern von ihren Reisegefährten, als
sie Meißen schließlich erreichten und Friedrich von Bärbach
die gewaltigen Burgen auf dem Albrechtsberg ansteuerte.
Arno Dompfaff und die anderen Händler ritten derweil weiter
in die Stadt. Das Mädchen tröstete sich ein bisschen mit
dem Haarreif aus Emaille, den Dompfaff ihm zum Abschied
schenkte.
»Das Grün passt zu Euren Augen, Fräulein. Passt auf, Ihr
werdet allen Rittern auf der Burg den Kopf verdrehen!«, lachte
der Kaufmann und winkte Gisela nach. Auch ihm schien
der Abschied schwerzufallen.
Friedrich von Bärbach schien dagegen froh, die Gesellschaft
der städtischen Krämer und Pilger verlassen zu können.
»Jüdisches Pack«, murmelte er, als sie den Burgberg hinaufsprengten.
»Und christliche Gauner, die den Kopf zu hoch
tragen, weil sie sich in ihren Städten ›Bürger‹ nennen dürfen.
Letztlich alle ihren Grundherren entlaufen ...«
Gisela sagte nichts dazu. Ihr Vater hielt nicht viel von den
Magistraten in Köln und Mainz, aber sie verstand nicht warum,
und es war ihr auch egal. Sie fieberte der ersten Begegnung
mit ihrer neuen Ziehmutter entgegen. Ob sie streng und
böse mit ihr sein würde wie die Amme? Sollte sie den neuen
Haarreif tragen, oder würde ihr das als Hoffart ausgelegt?
Dann erwiesen sich jedoch all ihre Befürchtungen als
grundlos. Während der Truchsess des Burgherrn ihren Vater
und seine Ritter im Burghof willkommen hieß und ihnen
einen Schluck edelsten Weines kredenzte, erschienen zwei
fröhliche, für Giselas Augen fast festlich gekleidete Mädchen,
um die Kleine in Empfang zu nehmen.
»Oh, sie ist hübsch!«, gurrte die eine. »Das wird die Herrin
freuen!«
»Aber wir sollten sie noch umkleiden. Vielleicht auch ein
Bad nach der langen Reise«, plapperte die andere.
Ehe Gisela noch ganz begriff, wie ihr geschah, hatten die
Mädchen sie in eine gut geheizte Kemenate geführt, in der
schon ein Waschzuber auf sie wartete. Sie seiften sie lachend
ein und ergingen sich in Schmeicheleien über ihr seidiges
blondes Haar und ihre großen grünen Augen.
»Wir müssen das Haar in Eigelb spülen, dann glänzt es
noch mehr!«, riet Hiltrud, die Jüngere, und Luitgard, die Ältere,
suchte ein leichtes leinenes Unterkleid und eine Surkotte
aus grasgrüner Seide aus einer der Truhen. Keines der
Mädchen machte Anstalten, Giselas eigene Kleidung auszupacken.
Das würden die Mägde später tun. Vorerst bedienten
sie sich aus der offenbar unerschöpflichen Kleidersammlung
des Hofes.
»Jetzt bist du schön!«, erklärte Hiltrud, als Gisela schließlich
mit offenem glänzendem Haar, geschmückt mit dem
Emaillereif, und in dem neuen Kleid vor ihr stand. »Nur den
Saum sollten wir noch umlegen, damit du nicht darüber stolperst.«
Die Mädchen steckten den Rock mit Fibeln provisorisch
fest und führten Gisela dann stolz wie eine frisch angekleidete
Puppe die Stufen des Söllers hinunter. Der Weg führte
zunächst durch einen Küchengarten und dann in den weitläufigen
Burggarten. Es gab bunte Blumenrabatten, riesige
Bäume, die Schatten spendeten, und überall hörte man fröhliche
Stimmen und das Lachen von Mädchen und jungen Rittern,
die sich vergnügten.
Jutta von Meißen erwartete ihr neues Ziehkind im Rosengarten.
Sie saß in einer Laube, umgeben von einem Meer von
Blüten und in einem Kreis jüngerer und älterer Mädchen und
Frauen. Ein Spielmann unterhielt sie mit Lautenspiel und
Gesang.
»Frau Jutta? Hier ist Gisela von Bärbach«, stellte Luitgard
eifrig vor und schob Gisela vor ihre Pflegemutter.
Jutta von Meißen war in feines Tuch gewandet. Sie trug
eine weinrote Surkotte, unter der ein dunkelgrünes Unterkleid
hervorschimmerte, dazu einen goldenen Gürtel. Die
Farbe ihres Haares konnte man nicht erkennen, sie versteckte
es züchtig unter einem Gebende aus feinstem Leinen, aber
ihre nussbraunen Augen musterten Gisela mit Wärme.
»Lass dich willkommen heißen, meine Kleine!«, sagte sie
huldvoll. »Ach was, komm her und gib mir einen Kuss. Es
wird mir eine Freude sein, ein so kleines Ding bei mir zu haben,
fast wie eine Tochter ... Du magst meinem Kind eine
Gespielin sein!«
Gisela erkannte jetzt, dass Jutta von Meißen gesegneten
Leibes war, und lächelte ihr zu. Sie nahm ihren leichten Rosenduft
wahr, als sie weisungsgemäß ihre Wange küsste. Aber
Jutta von Meißen umfing sie mit ihren Armen und küsste sie
auf den Mund.
»Und wie hübsch du bist! Herr Walther, ist sie nicht eine
kleine Schönheit?« Frau Jutta wandte sich an den Spielmann,
einen vierschrötigen, rotgesichtigen Mann, dessen kräftigen
Fingern man kaum zutraute, so geschickt die Laute zu schlagen.
»Dies ist Herr Walther von der Vogelweide, Gisela. Er
erweist uns die Ehre, uns zu zerstreuen.«
»Die Ehre ist ganz auf meiner Seite, Herrin!«, bemerkte
der Spielmann. »Und es wird mich freuen, dieser neuen Zierde
Eures Hofes ein paar Verse zu widmen.« Er verneigte sich
in Richtung Giselas.
Jutta lachte und drohte ihm mit dem Finger. »Aber nicht
zu schlüpfrige, Herr Walther! Man kennt Eure Neigung zur
Derbheit. Erschreckt mir nicht diese kleine Blüte, die erst
noch zur Rose heranwachsen muss.«
Gisela hörte aufmerksam zu, obwohl ihr all das Getän-
del und die Schmeicheleien schnell zu viel wurden. Dies war
zweifellos höfisches Benehmen, aber Gisela lag anderes am
Herzen.
Und warum sollte sie sich nicht trauen? Die Markgräfin
schien schließlich überaus freundlich. Gisela holte tief Luft.
»Und wo sind die Falken?«, fragte sie aufgeregt.
Copyright © 2010 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Lektorat: Melanie Blank-Schröder
Titelillustration: akg-images/camera photo/Erich Lessing
Umschlaggestaltung: Atelier Versen, Bad Aibling
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
Druck und Verarbeitung: GGP Media GmbH, Pößneck
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ISBN 978-3-404-16480-6
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Bibliographische Angaben
- Autor: Ricarda Jordan
- 2010, 5. Aufl., 544 Seiten, Maße: 12,5 x 18,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404164806
- ISBN-13: 9783404164806
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