Der Fluch der Totenleserin
Roman
Totenleserin Adelia soll die Tochter Heinrichs II. nach Sizilien begleiten. Adelia ist beunruhigt. Denn im Tross der Prinzessin passieren grausame Morde. Weiß jemand von dem magischen Schwert, das die Prinzessin mit sich führt? Und wer hat es auf Adelia abgesehen?
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Produktinformationen zu „Der Fluch der Totenleserin “
Totenleserin Adelia soll die Tochter Heinrichs II. nach Sizilien begleiten. Adelia ist beunruhigt. Denn im Tross der Prinzessin passieren grausame Morde. Weiß jemand von dem magischen Schwert, das die Prinzessin mit sich führt? Und wer hat es auf Adelia abgesehen?
Klappentext zu „Der Fluch der Totenleserin “
Außer sich vor Wut nimmt Adelia den Befehl Heinrichs II. entgegen, seine Tochter nach Sizilien zu begleiten. Die Reise ist lang und gefährlich. Doch mehr als Kriege und Pest beunruhigen Adelia die heimtückischen Morde, die in dem riesigen Tross passieren. Trachtet man der Prinzessin nach dem Leben? Weiß einer von dem geheimnisvollen, magischen Schwert, das die Prinzessin mit sich führt? Und warum versucht jemand, Adelia als die Mordverdächtige aussehen zu lassen? Die gewitzte Pathologin spürt, wie eine unsichtbare Gefahr ihr immer näher kommt, doch sie kann den wahren Mörder nicht enttarnen. Als Adelia aufgrund ihrer Arbeit in Frankreich von einem Bischof als Ketzerin bezeichnet und zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt wird, sieht sich ihr größter Feind in der Gefolgschaft der Prinzessin endlich am Ziel. Er wird sie leiden und sterben sehen ...
Lese-Probe zu „Der Fluch der Totenleserin “
Der Fluch der Totenleserin von Ariana FranklinKAPITEL EINS
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Zwischen den Gemeinden Shepfold und Martlake in Somerset gab es ein Niemandsland und viel böses Blut.
Genau wie die nahen Städte Glastonbury und Wells ständig miteinander im Streit lagen, kehrte auch zwischen diesen beiden Flecken kein Frieden ein. Ohne Unterlass stritten Martlaker und Shepfolder darüber, wessen Schweine sich nun an den Bucheckern des zwischen ihnen liegenden Waldes gütlich tun durften, wer das Recht hatte, seine Gärten mit dem Wasser welches Baches zu bewässern, wessen Ziegen unerlaubt die Grenze überquert und die Wäsche des Nachbardorfes angefressen hatten ...
Heute, am Lammas-Samstag, nach einem guten Sommer, der dafür gesorgt hatte, dass sie die Ernte außergewöhnlich früh einbringen konnten, sahen sich die Bewohner der beiden Dörfer über ein Stück Feld hinweg an. Alle waren da, ob sie nun laufen konnten oder nicht. Ein Podium war errichtet worden, um Lady Emma von Wolvercote (ihr Gutssitz befand sich in Shepfold) und ihrem Mann Platz zu bieten. Bei ihnen waren Sir Richard de Mayne (der seinen Sitz in Martlake hatte), die beiden Gemeindepriester und ein arabischer Doktor nebst seiner Helferin und einer älteren Frau. Vor ihnen lag ein Ball von der Größe eines schönen Kürbisses. Er war aus mit Lederstücken überzogenen Weideruten gefertigt und mit Sägemehl gefüllt.
Vater Ignatius (Shepfold) unternahm den letzten verzweifelten Versuch zu verhindern, was hier gleich geschehen sollte.
»Mylady, Sir Richard, es ist noch nicht zu spät, diesem üblen Tun Einhalt zu gebieten und die Leute nach Hause zu schicken. Der Sheriff hat ausdrücklich untersagt ... «
Sein Protest traf auf taube Ohren. Unverwandt vor sich hinblickend, sagte Sir Richard: »Wenn es Shepfold unbedingt danach verlangt, aufs Neue gedemütigt zu werden, wie kann ich die Leute dann enttäuschen?«
Lady Emma weigerte sich ebenfalls, Vater Ignatius auch nur anzusehen, und schnaubte heftig durch die hübsche Nase. »In diesem Jahr wird Martlake gedemütigt.« Master Rötger, ihr hochgewachsener deutscher Mann, der auf eine Krücke gestützt neben ihr stand, warf ihr einen zustimmenden Blick zu und klopfte ihr ermutigend auf den Rücken.
Vater Ignatius seufzte. Er war ein gebildeter, zivilisierter Mann. Am morgigen Sonntag, dachte er, werden sich diese Menschen in ihren besten Sonntagsstaat kleiden und Garben und Früchte in die Kirche tragen, um Gott für seine unendliche Güte zu danken, ganz wie es sich gehört. Aber am Tag vor Erntedank folgen sie dieser so einzigartigen wie abscheulichen Tradition, fallen zurück ins Heidentum und verwandeln den Vorabend unseres christlichen Festes in eine altrömischen Ausschweifungen gleichende Gewaltorgie. Es ist ein Irrsinn.
Adelia Aguilar stimmte in sein Seufzen mit ein und ging in Gedanken die medizinischen Utensilien durch, die sie dabeihatten: Verbandsstoff, Salben, Nadeln, Fäden und Schienen. Wie schön es doch wäre, wenn sie darauf hoffen könnten, nichts von alldem brauchen zu müssen, aber die Erfahrung wies in eine andere Richtung.
Sie sah zu dem großen arabischen Eunuchen neben sich auf, der hilflos mit den Schultern zuckte. Dieses England vermochte ihn immer wieder neu zu verblüffen.
Sie hatten gemeinsam einen langen Weg hinter sich gebracht.
Beide stammten aus Sizilien, dem Schmelztiegel verschiedenster Rassen. Sie, als Baby ausgesetzt und wahrscheinlich griechischer Abstammung, war von einem jüdischen Arzt und seiner Frau gerettet und aufgezogen worden. Er, Mansur, war als ihr Diener in denselben Haushalt gekommen, ein Waisenjunge mit einer wunderschönen Stimme, den die römische Kirche, damit er sie nicht verlor, hatte kastrieren lassen.
Die Umstände ... nun, tatsächlich war es der verwünschte Henry II. von England gewesen, der sie aus Sizilien gerissen und in sein Reich verschifft hatte. Und jetzt, einige außerordentliche Jahre später, standen sie hier auf diesem kahlen Stück Land in Somerset, auf dem sich die Bewohner zweier Dörfer gegenseitig in einem sogenannten Spiel zu verkrüppeln gedachten.
»Ich verstehe die Engländer nicht«, sagte Adelia.
Gyltha, die auf der anderen Seite neben ihr stand, sagte: »Die hier in Somerset sind keine richtigen Engländer, Bor.« Gyltha kam aus Cambridgeshire.
»Hmm.«
Zum Teufel noch mal, Adelia war eine ausgebildete Ärztin, eine Spezialistin für das Öffnen und Untersuchen von Toten, eine Medica der Medizinerschule im zu Sizilien gehörenden Salerno, wahrscheinlich der einzigen Einrichtung in der gesamten christlichen Welt, die Frauen als Schüler aufnahm - und das hier, dachte sie, ist aus mir geworden.
Das Schlimmste war, dass sie ihre Kunst hier offiziell gar nicht ausüben durfte. In England? Wo die Kirche eine Frau mit medizinischem Wissen als Hexe betrachtete?
Nach außen hin musste Mansur derjenige sein, der die Verletzten verarztete, während sie nur seinen Anordnungen folgte. Es war ein erbärmlicher Vorwand, aber einer, der sie vor kirchlicher Verfolgung schützte - und einer, über den sich die zwei Dörfer, die beiden vertrauten, herzlich das Maul zerrissen.
Die Menge wurde langsam unruhig. »Heilige Mutter Maria, fangt endlich an! «, rief jemand. »Sonst verrecken wir in der verdammten Hitze!«
Es wurde tatsächlich ziemlich heiß, so jung der Tag noch war. Die Sonne, die Weizen und Gerste so vortrefflich hatte reifen lassen, schien schräg auf die gelbweißen Stoppeln, zwischen denen Krähen nach den von den Ährensammlern zurückgelassenen Körnern suchten, und jenseits des Feldes hellten die Sonnenstrahlen das sich hier und da schon herbstlich färbende Laub der Buchen auf. An den Feldrainen tummelten sich Bienen und Schmetterlinge auf Klee und Kornblumen.
Vater Ignatius gab auf und wandte sich an seinen Priesterkollegen Vater John. »Euch gebührt die Ehre in diesem Jahr, Sir. Wenn man es denn eine Ehre nennen kann.«
Vater John, durch und durch ein Martlaker und deshalb ein Rüpel, nahm den Ball, hob ihn hoch über den Kopf, schrie: »Gott helfe den Richtigen«, und warf das Ding aufs Spielfeld. »Das war nicht die Mitte!«, protestierte Vater Ignatius. »Ihr bevorzugt Martlake! «
»Das tu ich verdammt noch mal nicht!«
»Tut Ihr doch!«
Niemand schenkte den streitenden Priestern irgendwelche Beachtung. Das Spiel hatte begonnen. Wie riesige aufeinander zutosende Wellen rannten die gegnerischen Mannschaften laut brüllend gegeneinander an. Frauen und Kinder hielten sich außen und feuerten ihre Männer, Väter und Brüder in der Mitte an.
Da plötzlich tauchte ein junger Martlaker mit dem Ball vor den flinken Füßen aus dem Gewühl auf und rannte damit in Richtung der Shepfolder Gemeindegrenze, eine Meute grölender Shepfolder hinter sich. Lady Emma, Sir Richard und Master Rötger verfolgten die Vorgänge etwas gesetzter, während sich Adelia, Gyltha und Mansur mit ihrer medizinischen Ausrüstung in Bewegung setzten, begleitet von Adelias sechsjähriger Tochter und Emmas vierjährigem Sohn Lord Wolvercote.
Sie beobachteten das Gerangel, als der Bursche aus Martlake zu Boden gerissen wurde.
»Und weg ist die Nase«, bemerkte Mansur. »Ist es nicht gegen die Regeln, dem Gegner ins Gesicht zu treten?«
»Holt schon mal die Tupfer heraus!«, sagte Gyltha.
Adelia sah in ihre Arzttasche. »Welche Regeln?« Offiziell gab es tatsächlich ein paar: kein Fluchen, kein Aufheben und Tragen des Balles, keine Fausthiebe, kein Beißen und Kratzen, keine Frauen, Kinder oder Hunde auf dem Spielfeld. Aber Adelia hatte bisher noch nicht erlebt, dass auch nur eine davon befolgt wurde.
Gyltha redete auf Adelias Tochter ein: »Hör zu, meine Süße! Wenn du dich auch diesmal wieder einmischst, versohle ich dir dein kleines, zartes Hinterteil.«
»Sie hat recht, Allie«, sagte Adelia. »Keine Raufereien! Du und Pippy, ihr haltet euch da raus, verstanden?«
»Ja, Mama. Ja, Gyltha.«
Als sie sich um die gebrochene Nase des Martlakers gekümmert hatten, waren Kinder, Ball und Spieler verschwunden. Fernes Brüllen und Heulen deutete darauf hin, dass sich das Spiel in den Wald verlagert hatte. An dessen Rand standen Adelias alte Freunde Will und Alf.
»Geht nach Hause!«, sagte sie. Die beiden stammten aus Glastonbury. »Mischt euch da nicht ein! Ich hab nicht genug Verbandszeug.«
»Wir wollen nur zuseh'n«, erklärte ihr Will.
»Ja, genau. Zuschauer sind wir«, sagte Alf.
Sie musterte die zwei voller Zuneigung und Argwohn. In ihren groben Kitteln sahen sie wie einfache, ehrbare Landleute aus, obwohl sie sehr wohl wusste, dass sie das Gesetz immer mal wieder Gesetz sein ließen. Will war der Ältere der beiden und ein mürrischer Kerl, den sie zusammen mit seinem einfacheren, sanfteren Bruder Alf zwei Jahre zuvor unter gefahrvollen Umständen in Glastonbury kennengelernt hatte. Seitdem hatten die beiden sich zu ihren Beschützern erklärt und versorgten sie regelmäßig mit gewilderten Prachtbraten. Seit einiger Zeit allerdings tauchten sie öfter als gewöhnlich auf, aber Adelia hatte im Moment nicht die Muße, sich Gedanken darüber zu machen. Die Schreie aus dem Wald legten nahe, dass es Verletzte gab, um die es sich zu kümmern galt. Will und Alf folgten ihr zwischen die Bäume.
Ein gebrochenes Bein, zwei verdrehte Füße, eine ausgekugelte Schulter und drei blutende Köpfe später ebbten die Verletzungen vorübergehend ab, und Mansur schwang sich einen protestierenden Burschen mit kaputtem Bein über die Schulter, um ihn nach Hause zu seiner Mutter zu tragen. Gyltha wischte Allie den Schmutz aus dem Gesicht. Der Lärm hatte sich in vereinzelte Schreie zerstreut. Die Leute stürmten im Unterholz hin und her.
»Wo in Gottes Namen wollen sie denn jetzt hin?«, fragte Adelia.
»Die haben den Ball verloren«, sagte Will trocken.
»Gut.«
Aber da fiel ihr Blick auf eine Frau aus Martlake, die sich mit geschwollenem Leib und doch äußerst wendig über einen Dachspfad bewegte. »Wohin des Wegs, Mistress Tyler?« »Zurück nach Hause, wie? Is' zu viel für mich, mit dem Baby und so.«
Tatsache aber war, dass die gute Mistress Tyler am letzten Sonntag in der Kirche noch keinerlei Anzeichen einer Schwangerschaft gezeigt hatte. Zudem führte der Dachspfad in Richtung Shepfold, und Lady Emma war eine gute Freundin Adelias, weshalb diese, trotz aller vorgeblichen Neutralität, Shepfold als Gewinner sehen wollte. »Gebt den Ball raus!«, rief Adelia. »Das ist gegen die Regeln.«
Worauf Mistress Tyler, sich den prallen, wabbelnden Bauch haltend, zu rennen begann.
Adelia rannte hinter ihr her und hörte so das Aufprallen des Pfeiles nicht, der sich in den Baum bohrte, vor dem sie bis vor einer Sekunde noch gestanden hatte.
Will und Alf sahen ihn an und eilten in die Richtung, aus der er gekommen war, aber ohne Erfolg.
Der Schütze hatte nur diesen einen Schuss abgegeben und sich gleich in den Wald zurückgezogen, in dem sich hundert Meuchler verstecken konnten.
Sie gingen zum Baum zurück, und es kostete Will einiges an Kraft, den Pfeil aus dem Stamm zu ziehen. »Sieh dir das an, Alf! «
»Wir müssen's ihr sagen, Will.«
»Wir müssen's irgendwem sagen.« Sie hegten den größten Respekt für Adelia, die sie bereits zweimal aus bösen Situationen gerettet hatte, aber sosehr sie sich auch um ihre Sicherheit sorgten, hatten sie ihr doch noch nichts von der drohenden Gefahr gesagt, in der sie sich befand. Sie wollten ihr keine Angst machen.
Sie liefen zu der Stelle, wo Adelia mit Mistress Tyler rangelte. Da kam der Ball unter dem Rock der Frau aus Martlake zum Vorschein und wurde gleich von ein paar Spielern entdeckt. Bevor die beiden Männer aus Glastonbury ihre Heldin erreichen konnten, wurden Adelia und ihre Gegnerin bereits unter einem Haufen Spieler beider Seiten begraben. In dem Versuch, sie zu befreien, verloren Will und Alf die Ruhe und ergriffen mit Fäusten und Stiefeln für Shepfold Partei.
Genau wie Adelia ...
Etwa fünf Minuten später fragte sie eine vertraute Stimme hoch von einem herrlichen Pferd: »Seid Ihr das?«
Voller Erde und keuchend befreite sich Adelia aus dem Gerangel und sah zu ihrem Liebhaber auf, dem Vater ihres Kindes. »Ich glaube schon.«
»'n guten Tag, Bischof«, sagte Mistress Tyler und mühte sich, ihre Kleider in Ordnung zu bringen.
»Auch Euch einen guten Tag, Madam. Wer gewinnt?« »Martlake«, sagte Adelia mit Bitternis in der Stimme. »Aber gegen die Regeln.«
Der Bischof von St. Albans war ein großer, kräftiger Mann in seinem vierten Lebensjahrzehnt und für Adelia das anziehendste Wesen der Welt. Ihr war es egal, dass seine durchaus zahlreichen Kritiker meinten, seine gewohnte humorvolle Ausdrucksweise zieme sich nicht für einen Mann seines kirchlichen Standes. Heute trug er seine Reisekleider, und seine edlen Stiefel und sein ebenso edler Umhang waren staubbedeckt. Er nahm den Hut vom Kopf, so dass man sein lockiges dunkles Haar sah, und deutete auf das runde zerfetzte Ding, das über einer Gruppe kämpfender Spieler tanzte. »Ist das der Ball?« »Ja. «
»Gott sei's gedankt! Ich dachte schon, es wäre der Kopf von einem der armen Kerle. Haltet mein Pferd!« Damit stieg Rowley ab, warf Hut und Umhang zur Seite und schritt zur Tat.
An diesem Abend herrschte in Martlake Heulen und Zähneknirschen, während drei Meilen entfernt in Shepfold ein schlaffes Stück Leder hoch auf einer Stange in die große Scheune des Gutes Wolvercote getragen wurde, als wäre es die goldene Kriegsbeute, die Julius Caesar in einem Triumphzug nach Rom brachte.
Draußen drehten sich Schweine und Schafe am Spieß, aus Fässern rann Ale für alle, die Lust hatten, ihren Durst damit zu stillen, und die leicht humpelnde Lady Wolvercote warf höchstpersönlich Pfannkuchen um Pfannkuchen in die Hände ihrer Shepfolder, während ihr Mann, der seine Eichenkrücke höchst wirkungsvoll in die Auseinandersetzung eingebracht hatte, Sahne darauf goss.
Ein ebenfalls zu Lady Emmas Haushalt gehörender walisischer Barde hatte seine Harfe beiseitegelegt und die Fidel hervorgeholt, die er mit solcher Energie bearbeitete, dass ihm der Schweiß herunterlief. In langen Reihen tanzten Eltern und Kinder zu seinen Weisen um die Siegesfeuer. Etwas entfernt, im Schatten der Bäume, rollten sich junge Körper in festlicher Kopulation.
Im Innern der Scheune warf Adelia einen strengen Blick auf den Bischof von St. Albans, der neben ihrer - und seiner - Tochter auf einem Strohballen saß. Die Ähnlichkeit zwischen Vater und Tochter wurde noch durch das blaue Auge unterstrichen, das er wie sie sich bei ihrem siegreichen Feldzug geholt hatten. »Seht euch nur an! Ich hoffe, ihr schämt euch alle beide.«
»Das tun wir«, sagte Rowley. »Aber wenigstens haben wir Mistress Tyler nicht mit den Füßen traktiert.«
»Hat sie das?« Allie war begeistert. »Hat Mama der blöden Tyler einen Tritt versetzt?«
»Und was für einen.«
»Ich hole mir einen Pfannkuchen«, sagte Adelia, um im Weggehen über die Schulter noch hinzuzufügen: »Aber sie hat zuerst getreten.«
Als sie weg war, kam Will mit einem Krug Ale in der Hand heran, wuschelte Allie durchs Haar und zog die Mütze vor ihrem Vater. »Ich würde gern 'n paar Worte mit Euch wechseln, Bischof, wenn's erlaubt ist. Draußen, wenn's ... «
Adelia kam zurück und holte Allie, um sie ins Bett zu bringen. Die beiden schoben sich zwischen den Tänzern durch, wünschten nach links und rechts eine gute Nacht und warfen Mansur einen Kuss zu, der für Allies Kindermädchen Gyltha, die Liebe seines Lebens, einen Schwerttanz vollführte.
Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Adelia das Gefühl, so dachte sie, zufrieden zu sein.
Als der König von England es vor sieben Jahren mit einigen unerklärten Morden im County Cambridge zu tun bekommen hatte, schrieb er seinem Freund, dem König von Sizilien, einen Brief und bat ihn um einen Experten in der Wissenschaft des Todes von der berühmten Medizinerschule in Salerno. Worauf der König von Sizilien ihm Vesuvia Adelia Rachel Ortese Aguilar geschickt hatte.
Weder dem sizilianischen König noch der Schule war der Gedanke gekommen, womöglich eine unpassende Wahl getroffen zu haben: An der Schule gab es Frauen wie Männer, und Adelia war nun mal die Beste ihres Faches.
Ihre Ankunft in England dann, einem Land, in dem weibliche Ärzte eine Unmöglichkeit waren, hatte Fassungslosigkeit hervorgerufen.
Nur durch die List, Mansur als den Doktor auszugeben, dem sie half und für den sie übersetzte, hatte Adelia ihre Aufgabe erfüllen können. Sie hatte die Morde aufgeklärt, und zwar so kundig und gut, dass Henry II. sie nicht nach Sizilien zurückkehren lassen wollte, sondern als seine eigene, spezielle Ermittlerin in England behielt.
Verwünscht sei der Kerl! Natürlich stimmte es, England hatte ihr Glück gebracht, hatte ihr Freunde, einen Liebhaber und ein Kind geschenkt. Aber durch Henrys Aufgaben war sie mehr als einmal in solche Gefahr geraten, dass ihr die Ruhe, das alles zu genießen, geraubt worden war.
Die Engstirnigkeit der Kirche hatte sie, Allie, Mansur und Gyltha aus Cambridge vertrieben, aber Emma hatte auf ihrem Besitz Adelia ein Haus gebaut und ihr so ihr erstes wirkliches Heim geschenkt. Die beiden waren Freundinnen, seit Adelia dem König die Gunst abgerungen hatte, sein Mündel Emma heiraten zu lassen, wen sie heiraten wollte.
Aus Gyltha und Mansur war bald schon ein Paar geworden, was alle bis auf Adelia überraschte. In Sizilien war es nicht ungewöhnlich für einen Eunuchen, eine glückliche sexuelle Beziehung mit einer Frau zu unterhalten, oder mit einem anderen Mann. Eine Kastration bedeutete nicht unbedingt Impotenz, was in England, wo Eunuchen eine Seltenheit waren, unbekannt war. So dachten hier in Shepfold die meisten, dass dieser Mansur eine wirklich außergewöhnlich hohe Stimme habe und er und Gyltha, nun, etwas Besonderes seien ...
Und während der letzten zwei Jahre hatte Henry II. Adelias
Idylle mit keinem neuen Auftrag gestört. Tatsächlich fragte sie sich, ob er sie vielleicht - welche Freude wäre das! - vergessen hatte.
Selbst ihre nervenaufreibende Beziehung mit Rowley, die während einer ihrer Ermittlungen ihren Anfang genommen hatte, noch bevor der König ihn unbedingt zum Bischof machen musste, hatte zu einer etwas exzentrischen Art von Häuslichkeit gefunden, obwohl der Bischof immer wieder lange unterwegs war und seine Diözese bereiste. Sicher, es war eine skandalöse Beziehung, aber in diesem entlegenen Teil Englands schien das niemandem etwas auszumachen. Ganz sicher fühlten sich Vater Ignatius und Vater John, die beide mit den Müttern ihrer Kinder zusammenlebten, nicht in der Position, Adelia bei deren großer Feindin, der Kirche, anzuschwärzen. Zudem gab es im Umkreis von etlichen Meilen keinen Arzt, der neidisch hätte sein können, und so lebten sie hier nicht nur unbehelligt, sondern Adelia konnte auch ihren Arztberuf ausüben und den leidenden Patienten in diesem Teil Somersets helfen, die sie dafür liebten.
Ich habe Frieden gefunden, dachte sie.
Zusammen mit Allie schloss sie die Hühner für die Nacht ein und befreite Allies Hund, einen Lurcher, aus dem Raum, in dem er eingesperrt gewesen war, um sich nicht am Fußballspiel zu beteiligen. »Wir haben Martlake geschlagen, wir haben Martlake geschlagen«, sang Allie ihm vor.
»Und morgen sind wir wieder Freunde«, sagte Adelia.
»Der verdammte junge Tuke bestimmt nicht. Der hat mir mein blaues Auge verpasst.«
»Allie!«
»Nun ...«
Die Tür zu ihrem Haus war offen, wie sie es eigentlich immer war, aber das Knarren einer Diele drinnen ließ unliebsame Erinnerungen in Adelia aufflammen, und sie fasste ihre Tochter bei der Schulter, um sie vom Hineingehen abzuhalten.
»Ist schon gut, Mama«, sagte Allie. »Es ist Alf, ich kann ihn riechen.«
Und so war es. Sich gegen Eustaces wilde Begrüßung wehrend, sagte der Mann: »Ihr solltet diese verflixte Tür verschlossen halten, Missus. Ich hab 'n Fuchs hier reinschleichen sehen.« Da es dunkel war und Alf ein paar hundert Meter entfernt bei der Scheune getanzt hatte, fragte sich Adelia, wie gut er wohl sehen konnte. »Ist er noch drin?«
»Hab ihn rausgejagt.« Und damit verschwand Alf in der Nacht. Adelia zündete eine Kerze an, um ihre Tochter nach oben ins Bett zu bringen. »Kannst du einen Fuchs riechen, Allie?«, fragte sie ihre Tochter.
Sie hörte ein Schnüffeln. »Nein.«
»Hmm.« Allies Nase war unfehlbar. Ihr Vater meinte sogar, dass sie seinen Hunden noch das eine oder andere beibringen könne. So saß Adelia auf dem Bett ihrer Tochter, streichelte sie in den Schlaf und fragte sich, warum Alf, der ehrlichste aller Männer, ihr wohl diese Lüge aufgetischt hatte.
Übersetzung: Werner Löcher-Lawrence
© 2012 Droemer Verlag
Zwischen den Gemeinden Shepfold und Martlake in Somerset gab es ein Niemandsland und viel böses Blut.
Genau wie die nahen Städte Glastonbury und Wells ständig miteinander im Streit lagen, kehrte auch zwischen diesen beiden Flecken kein Frieden ein. Ohne Unterlass stritten Martlaker und Shepfolder darüber, wessen Schweine sich nun an den Bucheckern des zwischen ihnen liegenden Waldes gütlich tun durften, wer das Recht hatte, seine Gärten mit dem Wasser welches Baches zu bewässern, wessen Ziegen unerlaubt die Grenze überquert und die Wäsche des Nachbardorfes angefressen hatten ...
Heute, am Lammas-Samstag, nach einem guten Sommer, der dafür gesorgt hatte, dass sie die Ernte außergewöhnlich früh einbringen konnten, sahen sich die Bewohner der beiden Dörfer über ein Stück Feld hinweg an. Alle waren da, ob sie nun laufen konnten oder nicht. Ein Podium war errichtet worden, um Lady Emma von Wolvercote (ihr Gutssitz befand sich in Shepfold) und ihrem Mann Platz zu bieten. Bei ihnen waren Sir Richard de Mayne (der seinen Sitz in Martlake hatte), die beiden Gemeindepriester und ein arabischer Doktor nebst seiner Helferin und einer älteren Frau. Vor ihnen lag ein Ball von der Größe eines schönen Kürbisses. Er war aus mit Lederstücken überzogenen Weideruten gefertigt und mit Sägemehl gefüllt.
Vater Ignatius (Shepfold) unternahm den letzten verzweifelten Versuch zu verhindern, was hier gleich geschehen sollte.
»Mylady, Sir Richard, es ist noch nicht zu spät, diesem üblen Tun Einhalt zu gebieten und die Leute nach Hause zu schicken. Der Sheriff hat ausdrücklich untersagt ... «
Sein Protest traf auf taube Ohren. Unverwandt vor sich hinblickend, sagte Sir Richard: »Wenn es Shepfold unbedingt danach verlangt, aufs Neue gedemütigt zu werden, wie kann ich die Leute dann enttäuschen?«
Lady Emma weigerte sich ebenfalls, Vater Ignatius auch nur anzusehen, und schnaubte heftig durch die hübsche Nase. »In diesem Jahr wird Martlake gedemütigt.« Master Rötger, ihr hochgewachsener deutscher Mann, der auf eine Krücke gestützt neben ihr stand, warf ihr einen zustimmenden Blick zu und klopfte ihr ermutigend auf den Rücken.
Vater Ignatius seufzte. Er war ein gebildeter, zivilisierter Mann. Am morgigen Sonntag, dachte er, werden sich diese Menschen in ihren besten Sonntagsstaat kleiden und Garben und Früchte in die Kirche tragen, um Gott für seine unendliche Güte zu danken, ganz wie es sich gehört. Aber am Tag vor Erntedank folgen sie dieser so einzigartigen wie abscheulichen Tradition, fallen zurück ins Heidentum und verwandeln den Vorabend unseres christlichen Festes in eine altrömischen Ausschweifungen gleichende Gewaltorgie. Es ist ein Irrsinn.
Adelia Aguilar stimmte in sein Seufzen mit ein und ging in Gedanken die medizinischen Utensilien durch, die sie dabeihatten: Verbandsstoff, Salben, Nadeln, Fäden und Schienen. Wie schön es doch wäre, wenn sie darauf hoffen könnten, nichts von alldem brauchen zu müssen, aber die Erfahrung wies in eine andere Richtung.
Sie sah zu dem großen arabischen Eunuchen neben sich auf, der hilflos mit den Schultern zuckte. Dieses England vermochte ihn immer wieder neu zu verblüffen.
Sie hatten gemeinsam einen langen Weg hinter sich gebracht.
Beide stammten aus Sizilien, dem Schmelztiegel verschiedenster Rassen. Sie, als Baby ausgesetzt und wahrscheinlich griechischer Abstammung, war von einem jüdischen Arzt und seiner Frau gerettet und aufgezogen worden. Er, Mansur, war als ihr Diener in denselben Haushalt gekommen, ein Waisenjunge mit einer wunderschönen Stimme, den die römische Kirche, damit er sie nicht verlor, hatte kastrieren lassen.
Die Umstände ... nun, tatsächlich war es der verwünschte Henry II. von England gewesen, der sie aus Sizilien gerissen und in sein Reich verschifft hatte. Und jetzt, einige außerordentliche Jahre später, standen sie hier auf diesem kahlen Stück Land in Somerset, auf dem sich die Bewohner zweier Dörfer gegenseitig in einem sogenannten Spiel zu verkrüppeln gedachten.
»Ich verstehe die Engländer nicht«, sagte Adelia.
Gyltha, die auf der anderen Seite neben ihr stand, sagte: »Die hier in Somerset sind keine richtigen Engländer, Bor.« Gyltha kam aus Cambridgeshire.
»Hmm.«
Zum Teufel noch mal, Adelia war eine ausgebildete Ärztin, eine Spezialistin für das Öffnen und Untersuchen von Toten, eine Medica der Medizinerschule im zu Sizilien gehörenden Salerno, wahrscheinlich der einzigen Einrichtung in der gesamten christlichen Welt, die Frauen als Schüler aufnahm - und das hier, dachte sie, ist aus mir geworden.
Das Schlimmste war, dass sie ihre Kunst hier offiziell gar nicht ausüben durfte. In England? Wo die Kirche eine Frau mit medizinischem Wissen als Hexe betrachtete?
Nach außen hin musste Mansur derjenige sein, der die Verletzten verarztete, während sie nur seinen Anordnungen folgte. Es war ein erbärmlicher Vorwand, aber einer, der sie vor kirchlicher Verfolgung schützte - und einer, über den sich die zwei Dörfer, die beiden vertrauten, herzlich das Maul zerrissen.
Die Menge wurde langsam unruhig. »Heilige Mutter Maria, fangt endlich an! «, rief jemand. »Sonst verrecken wir in der verdammten Hitze!«
Es wurde tatsächlich ziemlich heiß, so jung der Tag noch war. Die Sonne, die Weizen und Gerste so vortrefflich hatte reifen lassen, schien schräg auf die gelbweißen Stoppeln, zwischen denen Krähen nach den von den Ährensammlern zurückgelassenen Körnern suchten, und jenseits des Feldes hellten die Sonnenstrahlen das sich hier und da schon herbstlich färbende Laub der Buchen auf. An den Feldrainen tummelten sich Bienen und Schmetterlinge auf Klee und Kornblumen.
Vater Ignatius gab auf und wandte sich an seinen Priesterkollegen Vater John. »Euch gebührt die Ehre in diesem Jahr, Sir. Wenn man es denn eine Ehre nennen kann.«
Vater John, durch und durch ein Martlaker und deshalb ein Rüpel, nahm den Ball, hob ihn hoch über den Kopf, schrie: »Gott helfe den Richtigen«, und warf das Ding aufs Spielfeld. »Das war nicht die Mitte!«, protestierte Vater Ignatius. »Ihr bevorzugt Martlake! «
»Das tu ich verdammt noch mal nicht!«
»Tut Ihr doch!«
Niemand schenkte den streitenden Priestern irgendwelche Beachtung. Das Spiel hatte begonnen. Wie riesige aufeinander zutosende Wellen rannten die gegnerischen Mannschaften laut brüllend gegeneinander an. Frauen und Kinder hielten sich außen und feuerten ihre Männer, Väter und Brüder in der Mitte an.
Da plötzlich tauchte ein junger Martlaker mit dem Ball vor den flinken Füßen aus dem Gewühl auf und rannte damit in Richtung der Shepfolder Gemeindegrenze, eine Meute grölender Shepfolder hinter sich. Lady Emma, Sir Richard und Master Rötger verfolgten die Vorgänge etwas gesetzter, während sich Adelia, Gyltha und Mansur mit ihrer medizinischen Ausrüstung in Bewegung setzten, begleitet von Adelias sechsjähriger Tochter und Emmas vierjährigem Sohn Lord Wolvercote.
Sie beobachteten das Gerangel, als der Bursche aus Martlake zu Boden gerissen wurde.
»Und weg ist die Nase«, bemerkte Mansur. »Ist es nicht gegen die Regeln, dem Gegner ins Gesicht zu treten?«
»Holt schon mal die Tupfer heraus!«, sagte Gyltha.
Adelia sah in ihre Arzttasche. »Welche Regeln?« Offiziell gab es tatsächlich ein paar: kein Fluchen, kein Aufheben und Tragen des Balles, keine Fausthiebe, kein Beißen und Kratzen, keine Frauen, Kinder oder Hunde auf dem Spielfeld. Aber Adelia hatte bisher noch nicht erlebt, dass auch nur eine davon befolgt wurde.
Gyltha redete auf Adelias Tochter ein: »Hör zu, meine Süße! Wenn du dich auch diesmal wieder einmischst, versohle ich dir dein kleines, zartes Hinterteil.«
»Sie hat recht, Allie«, sagte Adelia. »Keine Raufereien! Du und Pippy, ihr haltet euch da raus, verstanden?«
»Ja, Mama. Ja, Gyltha.«
Als sie sich um die gebrochene Nase des Martlakers gekümmert hatten, waren Kinder, Ball und Spieler verschwunden. Fernes Brüllen und Heulen deutete darauf hin, dass sich das Spiel in den Wald verlagert hatte. An dessen Rand standen Adelias alte Freunde Will und Alf.
»Geht nach Hause!«, sagte sie. Die beiden stammten aus Glastonbury. »Mischt euch da nicht ein! Ich hab nicht genug Verbandszeug.«
»Wir wollen nur zuseh'n«, erklärte ihr Will.
»Ja, genau. Zuschauer sind wir«, sagte Alf.
Sie musterte die zwei voller Zuneigung und Argwohn. In ihren groben Kitteln sahen sie wie einfache, ehrbare Landleute aus, obwohl sie sehr wohl wusste, dass sie das Gesetz immer mal wieder Gesetz sein ließen. Will war der Ältere der beiden und ein mürrischer Kerl, den sie zusammen mit seinem einfacheren, sanfteren Bruder Alf zwei Jahre zuvor unter gefahrvollen Umständen in Glastonbury kennengelernt hatte. Seitdem hatten die beiden sich zu ihren Beschützern erklärt und versorgten sie regelmäßig mit gewilderten Prachtbraten. Seit einiger Zeit allerdings tauchten sie öfter als gewöhnlich auf, aber Adelia hatte im Moment nicht die Muße, sich Gedanken darüber zu machen. Die Schreie aus dem Wald legten nahe, dass es Verletzte gab, um die es sich zu kümmern galt. Will und Alf folgten ihr zwischen die Bäume.
Ein gebrochenes Bein, zwei verdrehte Füße, eine ausgekugelte Schulter und drei blutende Köpfe später ebbten die Verletzungen vorübergehend ab, und Mansur schwang sich einen protestierenden Burschen mit kaputtem Bein über die Schulter, um ihn nach Hause zu seiner Mutter zu tragen. Gyltha wischte Allie den Schmutz aus dem Gesicht. Der Lärm hatte sich in vereinzelte Schreie zerstreut. Die Leute stürmten im Unterholz hin und her.
»Wo in Gottes Namen wollen sie denn jetzt hin?«, fragte Adelia.
»Die haben den Ball verloren«, sagte Will trocken.
»Gut.«
Aber da fiel ihr Blick auf eine Frau aus Martlake, die sich mit geschwollenem Leib und doch äußerst wendig über einen Dachspfad bewegte. »Wohin des Wegs, Mistress Tyler?« »Zurück nach Hause, wie? Is' zu viel für mich, mit dem Baby und so.«
Tatsache aber war, dass die gute Mistress Tyler am letzten Sonntag in der Kirche noch keinerlei Anzeichen einer Schwangerschaft gezeigt hatte. Zudem führte der Dachspfad in Richtung Shepfold, und Lady Emma war eine gute Freundin Adelias, weshalb diese, trotz aller vorgeblichen Neutralität, Shepfold als Gewinner sehen wollte. »Gebt den Ball raus!«, rief Adelia. »Das ist gegen die Regeln.«
Worauf Mistress Tyler, sich den prallen, wabbelnden Bauch haltend, zu rennen begann.
Adelia rannte hinter ihr her und hörte so das Aufprallen des Pfeiles nicht, der sich in den Baum bohrte, vor dem sie bis vor einer Sekunde noch gestanden hatte.
Will und Alf sahen ihn an und eilten in die Richtung, aus der er gekommen war, aber ohne Erfolg.
Der Schütze hatte nur diesen einen Schuss abgegeben und sich gleich in den Wald zurückgezogen, in dem sich hundert Meuchler verstecken konnten.
Sie gingen zum Baum zurück, und es kostete Will einiges an Kraft, den Pfeil aus dem Stamm zu ziehen. »Sieh dir das an, Alf! «
»Wir müssen's ihr sagen, Will.«
»Wir müssen's irgendwem sagen.« Sie hegten den größten Respekt für Adelia, die sie bereits zweimal aus bösen Situationen gerettet hatte, aber sosehr sie sich auch um ihre Sicherheit sorgten, hatten sie ihr doch noch nichts von der drohenden Gefahr gesagt, in der sie sich befand. Sie wollten ihr keine Angst machen.
Sie liefen zu der Stelle, wo Adelia mit Mistress Tyler rangelte. Da kam der Ball unter dem Rock der Frau aus Martlake zum Vorschein und wurde gleich von ein paar Spielern entdeckt. Bevor die beiden Männer aus Glastonbury ihre Heldin erreichen konnten, wurden Adelia und ihre Gegnerin bereits unter einem Haufen Spieler beider Seiten begraben. In dem Versuch, sie zu befreien, verloren Will und Alf die Ruhe und ergriffen mit Fäusten und Stiefeln für Shepfold Partei.
Genau wie Adelia ...
Etwa fünf Minuten später fragte sie eine vertraute Stimme hoch von einem herrlichen Pferd: »Seid Ihr das?«
Voller Erde und keuchend befreite sich Adelia aus dem Gerangel und sah zu ihrem Liebhaber auf, dem Vater ihres Kindes. »Ich glaube schon.«
»'n guten Tag, Bischof«, sagte Mistress Tyler und mühte sich, ihre Kleider in Ordnung zu bringen.
»Auch Euch einen guten Tag, Madam. Wer gewinnt?« »Martlake«, sagte Adelia mit Bitternis in der Stimme. »Aber gegen die Regeln.«
Der Bischof von St. Albans war ein großer, kräftiger Mann in seinem vierten Lebensjahrzehnt und für Adelia das anziehendste Wesen der Welt. Ihr war es egal, dass seine durchaus zahlreichen Kritiker meinten, seine gewohnte humorvolle Ausdrucksweise zieme sich nicht für einen Mann seines kirchlichen Standes. Heute trug er seine Reisekleider, und seine edlen Stiefel und sein ebenso edler Umhang waren staubbedeckt. Er nahm den Hut vom Kopf, so dass man sein lockiges dunkles Haar sah, und deutete auf das runde zerfetzte Ding, das über einer Gruppe kämpfender Spieler tanzte. »Ist das der Ball?« »Ja. «
»Gott sei's gedankt! Ich dachte schon, es wäre der Kopf von einem der armen Kerle. Haltet mein Pferd!« Damit stieg Rowley ab, warf Hut und Umhang zur Seite und schritt zur Tat.
An diesem Abend herrschte in Martlake Heulen und Zähneknirschen, während drei Meilen entfernt in Shepfold ein schlaffes Stück Leder hoch auf einer Stange in die große Scheune des Gutes Wolvercote getragen wurde, als wäre es die goldene Kriegsbeute, die Julius Caesar in einem Triumphzug nach Rom brachte.
Draußen drehten sich Schweine und Schafe am Spieß, aus Fässern rann Ale für alle, die Lust hatten, ihren Durst damit zu stillen, und die leicht humpelnde Lady Wolvercote warf höchstpersönlich Pfannkuchen um Pfannkuchen in die Hände ihrer Shepfolder, während ihr Mann, der seine Eichenkrücke höchst wirkungsvoll in die Auseinandersetzung eingebracht hatte, Sahne darauf goss.
Ein ebenfalls zu Lady Emmas Haushalt gehörender walisischer Barde hatte seine Harfe beiseitegelegt und die Fidel hervorgeholt, die er mit solcher Energie bearbeitete, dass ihm der Schweiß herunterlief. In langen Reihen tanzten Eltern und Kinder zu seinen Weisen um die Siegesfeuer. Etwas entfernt, im Schatten der Bäume, rollten sich junge Körper in festlicher Kopulation.
Im Innern der Scheune warf Adelia einen strengen Blick auf den Bischof von St. Albans, der neben ihrer - und seiner - Tochter auf einem Strohballen saß. Die Ähnlichkeit zwischen Vater und Tochter wurde noch durch das blaue Auge unterstrichen, das er wie sie sich bei ihrem siegreichen Feldzug geholt hatten. »Seht euch nur an! Ich hoffe, ihr schämt euch alle beide.«
»Das tun wir«, sagte Rowley. »Aber wenigstens haben wir Mistress Tyler nicht mit den Füßen traktiert.«
»Hat sie das?« Allie war begeistert. »Hat Mama der blöden Tyler einen Tritt versetzt?«
»Und was für einen.«
»Ich hole mir einen Pfannkuchen«, sagte Adelia, um im Weggehen über die Schulter noch hinzuzufügen: »Aber sie hat zuerst getreten.«
Als sie weg war, kam Will mit einem Krug Ale in der Hand heran, wuschelte Allie durchs Haar und zog die Mütze vor ihrem Vater. »Ich würde gern 'n paar Worte mit Euch wechseln, Bischof, wenn's erlaubt ist. Draußen, wenn's ... «
Adelia kam zurück und holte Allie, um sie ins Bett zu bringen. Die beiden schoben sich zwischen den Tänzern durch, wünschten nach links und rechts eine gute Nacht und warfen Mansur einen Kuss zu, der für Allies Kindermädchen Gyltha, die Liebe seines Lebens, einen Schwerttanz vollführte.
Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Adelia das Gefühl, so dachte sie, zufrieden zu sein.
Als der König von England es vor sieben Jahren mit einigen unerklärten Morden im County Cambridge zu tun bekommen hatte, schrieb er seinem Freund, dem König von Sizilien, einen Brief und bat ihn um einen Experten in der Wissenschaft des Todes von der berühmten Medizinerschule in Salerno. Worauf der König von Sizilien ihm Vesuvia Adelia Rachel Ortese Aguilar geschickt hatte.
Weder dem sizilianischen König noch der Schule war der Gedanke gekommen, womöglich eine unpassende Wahl getroffen zu haben: An der Schule gab es Frauen wie Männer, und Adelia war nun mal die Beste ihres Faches.
Ihre Ankunft in England dann, einem Land, in dem weibliche Ärzte eine Unmöglichkeit waren, hatte Fassungslosigkeit hervorgerufen.
Nur durch die List, Mansur als den Doktor auszugeben, dem sie half und für den sie übersetzte, hatte Adelia ihre Aufgabe erfüllen können. Sie hatte die Morde aufgeklärt, und zwar so kundig und gut, dass Henry II. sie nicht nach Sizilien zurückkehren lassen wollte, sondern als seine eigene, spezielle Ermittlerin in England behielt.
Verwünscht sei der Kerl! Natürlich stimmte es, England hatte ihr Glück gebracht, hatte ihr Freunde, einen Liebhaber und ein Kind geschenkt. Aber durch Henrys Aufgaben war sie mehr als einmal in solche Gefahr geraten, dass ihr die Ruhe, das alles zu genießen, geraubt worden war.
Die Engstirnigkeit der Kirche hatte sie, Allie, Mansur und Gyltha aus Cambridge vertrieben, aber Emma hatte auf ihrem Besitz Adelia ein Haus gebaut und ihr so ihr erstes wirkliches Heim geschenkt. Die beiden waren Freundinnen, seit Adelia dem König die Gunst abgerungen hatte, sein Mündel Emma heiraten zu lassen, wen sie heiraten wollte.
Aus Gyltha und Mansur war bald schon ein Paar geworden, was alle bis auf Adelia überraschte. In Sizilien war es nicht ungewöhnlich für einen Eunuchen, eine glückliche sexuelle Beziehung mit einer Frau zu unterhalten, oder mit einem anderen Mann. Eine Kastration bedeutete nicht unbedingt Impotenz, was in England, wo Eunuchen eine Seltenheit waren, unbekannt war. So dachten hier in Shepfold die meisten, dass dieser Mansur eine wirklich außergewöhnlich hohe Stimme habe und er und Gyltha, nun, etwas Besonderes seien ...
Und während der letzten zwei Jahre hatte Henry II. Adelias
Idylle mit keinem neuen Auftrag gestört. Tatsächlich fragte sie sich, ob er sie vielleicht - welche Freude wäre das! - vergessen hatte.
Selbst ihre nervenaufreibende Beziehung mit Rowley, die während einer ihrer Ermittlungen ihren Anfang genommen hatte, noch bevor der König ihn unbedingt zum Bischof machen musste, hatte zu einer etwas exzentrischen Art von Häuslichkeit gefunden, obwohl der Bischof immer wieder lange unterwegs war und seine Diözese bereiste. Sicher, es war eine skandalöse Beziehung, aber in diesem entlegenen Teil Englands schien das niemandem etwas auszumachen. Ganz sicher fühlten sich Vater Ignatius und Vater John, die beide mit den Müttern ihrer Kinder zusammenlebten, nicht in der Position, Adelia bei deren großer Feindin, der Kirche, anzuschwärzen. Zudem gab es im Umkreis von etlichen Meilen keinen Arzt, der neidisch hätte sein können, und so lebten sie hier nicht nur unbehelligt, sondern Adelia konnte auch ihren Arztberuf ausüben und den leidenden Patienten in diesem Teil Somersets helfen, die sie dafür liebten.
Ich habe Frieden gefunden, dachte sie.
Zusammen mit Allie schloss sie die Hühner für die Nacht ein und befreite Allies Hund, einen Lurcher, aus dem Raum, in dem er eingesperrt gewesen war, um sich nicht am Fußballspiel zu beteiligen. »Wir haben Martlake geschlagen, wir haben Martlake geschlagen«, sang Allie ihm vor.
»Und morgen sind wir wieder Freunde«, sagte Adelia.
»Der verdammte junge Tuke bestimmt nicht. Der hat mir mein blaues Auge verpasst.«
»Allie!«
»Nun ...«
Die Tür zu ihrem Haus war offen, wie sie es eigentlich immer war, aber das Knarren einer Diele drinnen ließ unliebsame Erinnerungen in Adelia aufflammen, und sie fasste ihre Tochter bei der Schulter, um sie vom Hineingehen abzuhalten.
»Ist schon gut, Mama«, sagte Allie. »Es ist Alf, ich kann ihn riechen.«
Und so war es. Sich gegen Eustaces wilde Begrüßung wehrend, sagte der Mann: »Ihr solltet diese verflixte Tür verschlossen halten, Missus. Ich hab 'n Fuchs hier reinschleichen sehen.« Da es dunkel war und Alf ein paar hundert Meter entfernt bei der Scheune getanzt hatte, fragte sich Adelia, wie gut er wohl sehen konnte. »Ist er noch drin?«
»Hab ihn rausgejagt.« Und damit verschwand Alf in der Nacht. Adelia zündete eine Kerze an, um ihre Tochter nach oben ins Bett zu bringen. »Kannst du einen Fuchs riechen, Allie?«, fragte sie ihre Tochter.
Sie hörte ein Schnüffeln. »Nein.«
»Hmm.« Allies Nase war unfehlbar. Ihr Vater meinte sogar, dass sie seinen Hunden noch das eine oder andere beibringen könne. So saß Adelia auf dem Bett ihrer Tochter, streichelte sie in den Schlaf und fragte sich, warum Alf, der ehrlichste aller Männer, ihr wohl diese Lüge aufgetischt hatte.
Übersetzung: Werner Löcher-Lawrence
© 2012 Droemer Verlag
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Autoren-Porträt von Ariana Franklin
Ariana Franklin, geboren 1948 in Devon, arbeitete dort als Journalistin, später im Londoner East End und wurde knapp zwanzigjährig die jüngste Reporterin der Fleet Street. Später wendete sie sich ganz der Erziehung ihrer beiden Töchter, dem Studium der mittelalterlichen Geschichte und der Schriftstellerei zu. Sie war mit dem Filmkritiker Barry Norman verheiratet und lebte mit ihrem Mann in Hertfordshire. Sie veröffentlichte eine Reihe kritischer Biografien und historischer Romane. Ariana Franklin verstarb im Jahr 2011.Werner Löcher-Lawrence, geb. 1956, studierte Journalismus, Literatur und Philosophie, arbeitete als wissenschaftlicher Assistent an der Universität München und als Lektor in verschiedenen Verlagen. Er ist Übersetzer.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ariana Franklin
- 2012, 383 Seiten, Maße: 15 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Löcher-Lawrence, Werner
- Übersetzer: Werner Löcher-Lawrence
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426199416
- ISBN-13: 9783426199411
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