Der fremde Sohn
Roman. Deutsche Erstausgabe
'Die erfolgreiche TV-Moderatorin Carrie Kent erhält einen Anruf: Ihr Sohn Max ist auf dem Schulhof erstochen worden. Es gibt nur eine Zeugin. Eine Freundin von Max. Doch sie schweigt eisern. Carries Leben wird zum Alptraum. Die Presse jagt sie, ihre Familie...
Leider schon ausverkauft
Buch
9.99 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Der fremde Sohn “
'Die erfolgreiche TV-Moderatorin Carrie Kent erhält einen Anruf: Ihr Sohn Max ist auf dem Schulhof erstochen worden. Es gibt nur eine Zeugin. Eine Freundin von Max. Doch sie schweigt eisern. Carries Leben wird zum Alptraum. Die Presse jagt sie, ihre Familie meidet sie, Trauer und Schuldgefühle fressen sie auf. Verzweifelt versucht sie, herauszufinden, was mit ihrem Sohn geschah. Doch wird sie mit der Wahrheit leben können?
Klappentext zu „Der fremde Sohn “
Die erfolgreiche TV-Moderatorin Carrie Kent erhält einen Anruf: Ihr Sohn Max ist auf dem Schulhof erstochen worden. Es gibt nur eine Zeugin. Eine Freundin von Max. Doch sie schweigt eisern. Carries Leben wird zum Alptraum. Die Presse jagt sie, ihre Familie meidet sie, Trauer und Schuldgefühle fressen sie auf. Verzweifelt versucht sie, herauszufinden, was mit ihrem Sohn geschah. Doch wird sie mit der Wahrheit leben können?
Lese-Probe zu „Der fremde Sohn “
Der fremde Sohn von Sam HayesFreitag, 24. April 2009
... mehr
Ehe sie recht begriff, was geschah, drang das Messer tief in seinen Körper. Wieder und wieder. Wie erstarrt sah sie zu, wie es durch die Luft fuhr und ihrer beider Leben auf die wenigen wunderbaren Momente verdichtete, bevor es geschehen war, bevor das Messer ihn traf und sich ihre Welt für immer veränderte.
Was konnte sie tun? Nichts. Gar nichts.
Zum letzten Mal blickten sie einander in die Augen. Für eine Sekunde, in der all ihre Liebe lag. Sie sah sein Blut strömen. Was wollte er ihr sagen?
»Scheiße!«
»Blöd gelaufen!«, brüllte einer der Jungen im Davonrennen. Schon war die ganze Bande auf der Flucht. Ihre Turnschuhe blitzten auf, die Säume ihrer glänzenden Jogginghosen schleiften durch die Pfützen, ihre Augen glänzten unnatürlich, befeuert vom Adrenalin, von Drogen und Alkohol.
Sie schmeckte noch den Essig von den Pommes auf ihren Lippen. Wie in Zeitlupe ging er in die Knie, sein Oberkörper krümmte sich zusammen. Kaum zu glauben, dass er sich überhaupt so lange auf den Beinen gehalten hatte. Sie versuchte noch, ihn aufzufangen, doch sein Kopf schlug schon auf dem Asphalt auf. Sie wollte schreien, aber es kam kein Laut. Seine Augen traten hervor.
Sie presste die Hände auf seine Rippen, seinen Bauch, doch es waren zu viele Stichwunden. Heiß quoll das Blut zwischen ihren Fingern hervor, wo es rasch erkaltete.
»Du darfst nicht sterben!«, schluchzte sie und ließ den Kopf auf seinen Körper sinken. War denn niemand da? »Hilfe!«, kreischte sie. Sie waren alle im Unterricht. Heute schwänzte niemand außer ihnen. »Ich hole Hilfe!«, stieß sie verzweifelt hervor, wagte jedoch nicht, die Hände von seinen Wunden zu nehmen. Wie hatte das nur geschehen können?
Plötzlich hob sich seine Brust mit einem gurgelnden Röcheln und fiel dann wieder zusammen, als hätte er seinen letzten Atemzug getan. Sonst gab er keinen Laut von sich.
»Hilfe!«, schrie sie noch einmal und rappelte sich auf. Sie musste etwas unternehmen. Verzweifelt blickte sie sich um, sah jedoch nichts als die tristen Fassaden der hässlichen Schulgebäude, den leeren Schulhof - eine gottverlassene Einöde. Sie zog das Handy aus der Tasche und wählte den Notruf. Gab die Einzelheiten durch. Brüllte, sie sollten sich beeilen. Er läge im Sterben. Bitte, kommen Sie schnell!
»Lass mich nicht allein!«, flehte sie, als sie wieder neben ihm auf den Knien lag und die Hände auf seine Wunden presste, wie der Mann am Telefon ihr geraten hatte. Sein Gesicht war ausdruckslos, sein Blick leer - nicht einmal Schmerz spiegelte sich darin. Unvorstellbar, dass sie sich noch vor zehn Minuten einen Joint und eine Schale Pommes geteilt hatten.
»Ich kann ohne dich nicht leben!«, rief sie, als ihr alles wieder einfiel. Allein schaffte sie es nicht. Tränen fielen und vermischten sich mit seinem Blut. »Ohne dich will ich nicht leben! «, stieß sie zwischen krampfhaften Schluchzern hervor, die Stimme erstickt von Speichel und Schleim, Tränen und Blut. »Scheißkerle!«, brüllte sie.
»Bleib bei mir! Bleib bei mir!«, keuchte sie immer wieder, die Hände auf seinen Leib gepresst, während sie den Oberkörper vor und zurück wiegte. Wo blieb nur der Rettungswagen? Sie riss sich zusammen und versuchte, sich an das zu erinnern, was sie letztes Jahr im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatten. Ein Kurs im Schnelldurchgang für Situationen, die keiner erleben wollte. »Ganz ruhig«, redete sie sich selbst zu. Mit Panik war ihm nicht geholfen. Sie zwang sich, langsamer zu atmen, nicht zu hyperventilieren.
Was hatte sie nur getan?
Darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Sie nahm die Hände von seiner Stichwunde, schälte sich eilig aus ihrer Jacke und legte sie zitternd über seine Brust und seinen Bauch. Dann presste sie die Arme erneut auf seine Wunden. Alle paar Sekunden lief ein Beben durch seinen Körper - wie eine Schockwelle, die sich durch ihre Arme bis in ihr Herz fortsetzte.
Sie hatte ihm nie gesagt, dass sie ihn liebte.
Sie sah, wie sich ein Blutfleck auf dem Stoff ihrer Jacke ausbreitete, schwarz wie der Tod, und im gleichen Augenblick hörte sie die Sirene.
»Gott sei Dank!«, rief sie. »Der Rettungswagen ist da. Bitte halt durch!« Sie stützte sich auf den linken Unterarm, mit dem sie mehrere tiefe Wunden abdeckte, während sie den rechten auf weitere Einstiche unterhalb seiner Rippen drückte. Vor Anstrengung zitterte sie.
Plötzlich war sie von Stimmen umgeben.
»Männlicher Jugendlicher, ungefähr sechzehn oder siebzehn ... mehrere Stichwunden in Brust und Abdomen. Beträchtlicher Blutverlust, Schädelprellung ... Blutdruck fallend, Puls schwach ...«
All das vernahm sie, während sie beiseitegedrängt wurde. »Fünfzehn«, flüsterte sie vom Rand des Geschehens, doch niemand hörte sie. »Er ist fünfzehn.«
»Was ist hier los?«, blaffte plötzlich eine Männerstimme. Sie konnte sich nicht rühren. Stand sie unter Schock? Eine Hand packte sie am Arm. »Um Himmels willen, Mädchen, sag mir doch, was passiert ist!« Er riss sie unsanft herum und sah ihr aus nächster Nähe ins Gesicht. Dann brüllte er plötzlich in sein Handy, rief jemanden zu Hilfe: »Komm sofort runter, Jack! Es ist was Ernstes.« Dabei hielt er noch immer ihren Arm umklammert, als wolle er ihr die Leviten lesen, weil sie die Stunde geschwänzt hatte.
Sie blickte zu ihm auf. Mr Denton, ihr Mathelehrer.
»Also?« Er schüttelte sie. Sein Gesicht war rot angelaufen.
»Ich ... ich weiß nicht«, wisperte sie. »Ich kam gerade vom Sportzentrum zurück, und ... und da sah ich ihn so da liegen.« Sie schluckte. Ihr Mund war ganz trocken. Was sollte sie ihm bloß erzählen?
Wie konnte sie es überhaupt jemandem erzählen?
Am ganzen Körper zitternd starrte sie auf den blutüberströmten Boden. Er bekam jetzt Hilfe, und allein darauf kam es schließlich an. Sie würde behaupten, sie wisse von nichts und habe nichts mit der Sache zu tun. Dann würde sie einfach nach Hause gehen und später im Krankenhaus anrufen und sich nach ihm erkundigen. Bestimmt war es nicht so schlimm, wie es aussah, und alles würde wieder gut.
»Hast du was beobachtet? Einen Kampf? War sonst noch jemand hier? Nun rede doch, Mädchen!«
Sie schüttelte den Kopf und schaute den Sanitätern nach, die die Trage davontrugen und in den Rettungswagen schoben.
»Ach du Scheiße«, sagte eine Stimme. Jemand schrie auf, als er die Blutflecken auf dem Boden sah. Mit aufgerissenen Augen, die Hände vor den Mund geschlagen, standen die Leute he rum und gafften.
Als sie aufblickte, sah sie, wie der Schulleiter mit langen Schritten über den Hof eilte. Hinter jedem Fenster des Gebäudekomplexes - unseres Schiffes, wie er es in seinen Ansprachen immer nannte - drängten sich Gesichter, und vom anderen Rand des öden Asphaltrechtecks, auf dem sich in den kleinen und großen Pausen zwölfhundert Teenager aufhielten, kamen Schüler und Lehrer herbeigelaufen.
Polizisten strömten durchs Schultor herein. Sie rannten zu der Stelle, wo er gelegen hatte, und warfen einen prüfenden Blick auf das Blut, die Jeansjacke und die verstreuten Pommes, als könnten sie daraus schließen, was geschehen war. Dann übernahmen sie das Kommando und drängten die Gaffer zurück. Als Mr Denton ihren Arm losließ, gelang es ihr, im Getümmel der Schüler, Lehrer und schaulustigen Passanten unterzutauchen und unbemerkt das Schulgelände zu verlassen.
Sie rannte und rannte, und die ganze Zeit dachte sie: Es wird alles wieder gut.
Herbst 2008
Carrie Kent lächelte ihr einstudiertes Lächeln und fasste an ihren Ohrhörer, über den gerade eine Anweisung des Regisseurs kam: »Bohr nach, lass nicht locker! Du musst ihn hart rannehmen, Carrie.« Als wenn man ihr das noch sagen müsste! Sie hatte nicht vor, den Typen mit Samthandschuhen anzufassen, ganz gleich, wie jung er war und wie schwer er es hatte. Denn sie wusste genau, worum es hier ging: spannendes Entertainment, eine mitreißende Sendung.
Das wird Ärger geben, dachte sie beinahe hoffnungsvoll. Während sie sich umdrehte und effektvoll über die Bühne schritt, vergewisserte sie sich mit einem raschen Blick, dass im Hintergrund auf jeder Seite der Bühne jemand vom Sicherheitsdienst stand: zwei stämmige Männer in Schwarz mit geschorenem Kopf, die Arme verschränkt. Alles in Ordnung. Sie drehte sich schwungvoll um und schaute in Kamera zwei, wobei sie den Blick zugleich auf die Fernsehzuschauer, das Publikum im Saal, das seit zehn Minuten kaum zu atmen wagte, und die Studiogäste richtete - die beste Auswahl aus den Versagern des Landes, die ihr Team für diese Woche hatte auftreiben können. Carries Markenzeichen hatte der Sendeleiter diese Geste einmal genannt. Das gefiel ihr.
»Sie wollen damit also sagen, Jason ...« Sie unterbrach sich, setzte eine betroffene Miene auf und fuhr dann fort: »... dass Ihr kleiner Neffe in Wirklichkeit Ihr Sohn ist. Und jetzt fordern Sie Ihr Recht an dem kleinen Goldstück ein, um sich an Ihrem Bruder zu rächen?«
Den Rücken zur Kamera, ging sie langsam auf den jungen Mann zu. Sie war sich bewusst, dass ihr Rock schick aussah. »Wofür wollen Sie sich an ihm rächen, Jason?«, flüsterte sie, indem sie sich weit hinunterbeugte. Für das Mikro war ihre Stimme immer noch laut genug. »Ich muss sagen, das verstehe ich noch nicht recht. Wir haben den Bericht gesehen und uns bei Ihnen zu Hause davon überzeugen können, wie es in Ihrer Familie ... äh ... zugeht.« Eine rasche Drehung zur Kamera, ein entrüsteter Blick. »Da funktioniert überhaupt nichts, nicht wahr, Jason? Ihre Familie ist total kaputt, und Sie stehen mit Ihren sechzehn Jahren schon auf der Verliererseite.« Sie dachte an ihren eigenen Sohn, der nur ein Jahr jünger war, verscheuchte den Gedanken jedoch sofort wieder. Die Zuschauer sollten ihr keine persönliche Regung anmerken. Plötzlich brüllte sie den Jungen beinahe an: »Ist es nicht so, dass Sie im Alter von vierzehn Jahren mit der siebenundzwanzigjährigen Frau Ihres Bruders geschlafen haben?«
Sie trat einen Schritt zurück und überließ dem Jungen die Bühne. Jetzt gab es zwei Möglichkeiten: Entweder er fing an zu heulen wie ein Baby, oder er musste sich gleich gegen seinen Bruder zur Wehr setzen, der keine zwei Meter von ihm entfernt sprungbereit auf der Kante seines Stuhls hockte.
Seltsamerweise tat der Junge gar nichts.
»Was wir gern wissen möchten, Jason, ist, wen der kleine Tyler denn nun Daddy nennen soll - Sie oder Ihren Bruder?«
Wie erwartet lief ein unwilliges Raunen durchs Publikum im Studio.
»Gut gemacht«, kam es durch ihren Ohrhörer.
Das genügte. Der Bruder, der bisher nicht viel gesagt hatte, stürzte sich brüllend und fluchend auf Jason und stieß ihn vom Stuhl, der bewusst ein wenig kippelig konstruiert war. Carrie wartete einen Augenblick ab, ebenso wie die Sicherheitsleute, die entsprechende Anweisungen hatten. Doch so erwünscht ein Handgemenge war, zu einem Blutvergießen durfte es nicht kommen - vielleicht saßen manche der Fernsehzuschauer ja noch beim Frühstück.
Also trat Carrie zurück, als die Sicherheitsleute auf die Bühne marschiert kamen und die beiden Brüder wieder auf ihre Plätze beförderten. »Jetzt beruhigen Sie beide sich mal«, befahl Carrie, und im Studio wurde es still. Zuerst an Jason, dann zur Kamera gewandt fügte sie hinzu: »Ich glaube, jetzt sollten wir erst einmal hören, was Bobbi-Jo dazu zu sagen hat, nicht wahr? Und dann schauen wir uns das Ergebnis des DNA-Tests an.«
Carrie strich sich die blonde Strähne, die ihr über die Wange fiel, bewusst nicht zurück. »Hübsch«, hörte sie die Stimme des Regisseurs in ihrem Ohr und fuhr fort: »Nach einer kurzen Pause geht es weiter mit Reality Check, und dann erfahren Sie, wer nun wirklich der Vater des kleinen Tyler ist. Bleiben Sie dran.« In einer für sie typischen Geste deutete sie mit dem Finger auf ihr Auge und dann ins Publikum, als wolle sie den Leuten zu verstehen geben, dass sie beobachtet wurden und dass die Kamera jederzeit auch in ihr Leben eindringen konnte.
»Sendepause!«, rief der Regisseur. »Zwei Minuten fünfundvierzig.«
In Wirklichkeit waren es drei Minuten, aber sie hielten sich immer fünfzehn Sekunden früher bereit. Auch wenn man nie wusste, wie die Show verlaufen würde - Carrie war in Livesendungen wie dieser in ihrem Element. Alles war unter Kontrolle und folgte einem präzisen Plan, so, wie sie es gern hatte.
Ehe sie recht begriff, was geschah, drang das Messer tief in seinen Körper. Wieder und wieder. Wie erstarrt sah sie zu, wie es durch die Luft fuhr und ihrer beider Leben auf die wenigen wunderbaren Momente verdichtete, bevor es geschehen war, bevor das Messer ihn traf und sich ihre Welt für immer veränderte.
Was konnte sie tun? Nichts. Gar nichts.
Zum letzten Mal blickten sie einander in die Augen. Für eine Sekunde, in der all ihre Liebe lag. Sie sah sein Blut strömen. Was wollte er ihr sagen?
»Scheiße!«
»Blöd gelaufen!«, brüllte einer der Jungen im Davonrennen. Schon war die ganze Bande auf der Flucht. Ihre Turnschuhe blitzten auf, die Säume ihrer glänzenden Jogginghosen schleiften durch die Pfützen, ihre Augen glänzten unnatürlich, befeuert vom Adrenalin, von Drogen und Alkohol.
Sie schmeckte noch den Essig von den Pommes auf ihren Lippen. Wie in Zeitlupe ging er in die Knie, sein Oberkörper krümmte sich zusammen. Kaum zu glauben, dass er sich überhaupt so lange auf den Beinen gehalten hatte. Sie versuchte noch, ihn aufzufangen, doch sein Kopf schlug schon auf dem Asphalt auf. Sie wollte schreien, aber es kam kein Laut. Seine Augen traten hervor.
Sie presste die Hände auf seine Rippen, seinen Bauch, doch es waren zu viele Stichwunden. Heiß quoll das Blut zwischen ihren Fingern hervor, wo es rasch erkaltete.
»Du darfst nicht sterben!«, schluchzte sie und ließ den Kopf auf seinen Körper sinken. War denn niemand da? »Hilfe!«, kreischte sie. Sie waren alle im Unterricht. Heute schwänzte niemand außer ihnen. »Ich hole Hilfe!«, stieß sie verzweifelt hervor, wagte jedoch nicht, die Hände von seinen Wunden zu nehmen. Wie hatte das nur geschehen können?
Plötzlich hob sich seine Brust mit einem gurgelnden Röcheln und fiel dann wieder zusammen, als hätte er seinen letzten Atemzug getan. Sonst gab er keinen Laut von sich.
»Hilfe!«, schrie sie noch einmal und rappelte sich auf. Sie musste etwas unternehmen. Verzweifelt blickte sie sich um, sah jedoch nichts als die tristen Fassaden der hässlichen Schulgebäude, den leeren Schulhof - eine gottverlassene Einöde. Sie zog das Handy aus der Tasche und wählte den Notruf. Gab die Einzelheiten durch. Brüllte, sie sollten sich beeilen. Er läge im Sterben. Bitte, kommen Sie schnell!
»Lass mich nicht allein!«, flehte sie, als sie wieder neben ihm auf den Knien lag und die Hände auf seine Wunden presste, wie der Mann am Telefon ihr geraten hatte. Sein Gesicht war ausdruckslos, sein Blick leer - nicht einmal Schmerz spiegelte sich darin. Unvorstellbar, dass sie sich noch vor zehn Minuten einen Joint und eine Schale Pommes geteilt hatten.
»Ich kann ohne dich nicht leben!«, rief sie, als ihr alles wieder einfiel. Allein schaffte sie es nicht. Tränen fielen und vermischten sich mit seinem Blut. »Ohne dich will ich nicht leben! «, stieß sie zwischen krampfhaften Schluchzern hervor, die Stimme erstickt von Speichel und Schleim, Tränen und Blut. »Scheißkerle!«, brüllte sie.
»Bleib bei mir! Bleib bei mir!«, keuchte sie immer wieder, die Hände auf seinen Leib gepresst, während sie den Oberkörper vor und zurück wiegte. Wo blieb nur der Rettungswagen? Sie riss sich zusammen und versuchte, sich an das zu erinnern, was sie letztes Jahr im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatten. Ein Kurs im Schnelldurchgang für Situationen, die keiner erleben wollte. »Ganz ruhig«, redete sie sich selbst zu. Mit Panik war ihm nicht geholfen. Sie zwang sich, langsamer zu atmen, nicht zu hyperventilieren.
Was hatte sie nur getan?
Darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Sie nahm die Hände von seiner Stichwunde, schälte sich eilig aus ihrer Jacke und legte sie zitternd über seine Brust und seinen Bauch. Dann presste sie die Arme erneut auf seine Wunden. Alle paar Sekunden lief ein Beben durch seinen Körper - wie eine Schockwelle, die sich durch ihre Arme bis in ihr Herz fortsetzte.
Sie hatte ihm nie gesagt, dass sie ihn liebte.
Sie sah, wie sich ein Blutfleck auf dem Stoff ihrer Jacke ausbreitete, schwarz wie der Tod, und im gleichen Augenblick hörte sie die Sirene.
»Gott sei Dank!«, rief sie. »Der Rettungswagen ist da. Bitte halt durch!« Sie stützte sich auf den linken Unterarm, mit dem sie mehrere tiefe Wunden abdeckte, während sie den rechten auf weitere Einstiche unterhalb seiner Rippen drückte. Vor Anstrengung zitterte sie.
Plötzlich war sie von Stimmen umgeben.
»Männlicher Jugendlicher, ungefähr sechzehn oder siebzehn ... mehrere Stichwunden in Brust und Abdomen. Beträchtlicher Blutverlust, Schädelprellung ... Blutdruck fallend, Puls schwach ...«
All das vernahm sie, während sie beiseitegedrängt wurde. »Fünfzehn«, flüsterte sie vom Rand des Geschehens, doch niemand hörte sie. »Er ist fünfzehn.«
»Was ist hier los?«, blaffte plötzlich eine Männerstimme. Sie konnte sich nicht rühren. Stand sie unter Schock? Eine Hand packte sie am Arm. »Um Himmels willen, Mädchen, sag mir doch, was passiert ist!« Er riss sie unsanft herum und sah ihr aus nächster Nähe ins Gesicht. Dann brüllte er plötzlich in sein Handy, rief jemanden zu Hilfe: »Komm sofort runter, Jack! Es ist was Ernstes.« Dabei hielt er noch immer ihren Arm umklammert, als wolle er ihr die Leviten lesen, weil sie die Stunde geschwänzt hatte.
Sie blickte zu ihm auf. Mr Denton, ihr Mathelehrer.
»Also?« Er schüttelte sie. Sein Gesicht war rot angelaufen.
»Ich ... ich weiß nicht«, wisperte sie. »Ich kam gerade vom Sportzentrum zurück, und ... und da sah ich ihn so da liegen.« Sie schluckte. Ihr Mund war ganz trocken. Was sollte sie ihm bloß erzählen?
Wie konnte sie es überhaupt jemandem erzählen?
Am ganzen Körper zitternd starrte sie auf den blutüberströmten Boden. Er bekam jetzt Hilfe, und allein darauf kam es schließlich an. Sie würde behaupten, sie wisse von nichts und habe nichts mit der Sache zu tun. Dann würde sie einfach nach Hause gehen und später im Krankenhaus anrufen und sich nach ihm erkundigen. Bestimmt war es nicht so schlimm, wie es aussah, und alles würde wieder gut.
»Hast du was beobachtet? Einen Kampf? War sonst noch jemand hier? Nun rede doch, Mädchen!«
Sie schüttelte den Kopf und schaute den Sanitätern nach, die die Trage davontrugen und in den Rettungswagen schoben.
»Ach du Scheiße«, sagte eine Stimme. Jemand schrie auf, als er die Blutflecken auf dem Boden sah. Mit aufgerissenen Augen, die Hände vor den Mund geschlagen, standen die Leute he rum und gafften.
Als sie aufblickte, sah sie, wie der Schulleiter mit langen Schritten über den Hof eilte. Hinter jedem Fenster des Gebäudekomplexes - unseres Schiffes, wie er es in seinen Ansprachen immer nannte - drängten sich Gesichter, und vom anderen Rand des öden Asphaltrechtecks, auf dem sich in den kleinen und großen Pausen zwölfhundert Teenager aufhielten, kamen Schüler und Lehrer herbeigelaufen.
Polizisten strömten durchs Schultor herein. Sie rannten zu der Stelle, wo er gelegen hatte, und warfen einen prüfenden Blick auf das Blut, die Jeansjacke und die verstreuten Pommes, als könnten sie daraus schließen, was geschehen war. Dann übernahmen sie das Kommando und drängten die Gaffer zurück. Als Mr Denton ihren Arm losließ, gelang es ihr, im Getümmel der Schüler, Lehrer und schaulustigen Passanten unterzutauchen und unbemerkt das Schulgelände zu verlassen.
Sie rannte und rannte, und die ganze Zeit dachte sie: Es wird alles wieder gut.
Herbst 2008
Carrie Kent lächelte ihr einstudiertes Lächeln und fasste an ihren Ohrhörer, über den gerade eine Anweisung des Regisseurs kam: »Bohr nach, lass nicht locker! Du musst ihn hart rannehmen, Carrie.« Als wenn man ihr das noch sagen müsste! Sie hatte nicht vor, den Typen mit Samthandschuhen anzufassen, ganz gleich, wie jung er war und wie schwer er es hatte. Denn sie wusste genau, worum es hier ging: spannendes Entertainment, eine mitreißende Sendung.
Das wird Ärger geben, dachte sie beinahe hoffnungsvoll. Während sie sich umdrehte und effektvoll über die Bühne schritt, vergewisserte sie sich mit einem raschen Blick, dass im Hintergrund auf jeder Seite der Bühne jemand vom Sicherheitsdienst stand: zwei stämmige Männer in Schwarz mit geschorenem Kopf, die Arme verschränkt. Alles in Ordnung. Sie drehte sich schwungvoll um und schaute in Kamera zwei, wobei sie den Blick zugleich auf die Fernsehzuschauer, das Publikum im Saal, das seit zehn Minuten kaum zu atmen wagte, und die Studiogäste richtete - die beste Auswahl aus den Versagern des Landes, die ihr Team für diese Woche hatte auftreiben können. Carries Markenzeichen hatte der Sendeleiter diese Geste einmal genannt. Das gefiel ihr.
»Sie wollen damit also sagen, Jason ...« Sie unterbrach sich, setzte eine betroffene Miene auf und fuhr dann fort: »... dass Ihr kleiner Neffe in Wirklichkeit Ihr Sohn ist. Und jetzt fordern Sie Ihr Recht an dem kleinen Goldstück ein, um sich an Ihrem Bruder zu rächen?«
Den Rücken zur Kamera, ging sie langsam auf den jungen Mann zu. Sie war sich bewusst, dass ihr Rock schick aussah. »Wofür wollen Sie sich an ihm rächen, Jason?«, flüsterte sie, indem sie sich weit hinunterbeugte. Für das Mikro war ihre Stimme immer noch laut genug. »Ich muss sagen, das verstehe ich noch nicht recht. Wir haben den Bericht gesehen und uns bei Ihnen zu Hause davon überzeugen können, wie es in Ihrer Familie ... äh ... zugeht.« Eine rasche Drehung zur Kamera, ein entrüsteter Blick. »Da funktioniert überhaupt nichts, nicht wahr, Jason? Ihre Familie ist total kaputt, und Sie stehen mit Ihren sechzehn Jahren schon auf der Verliererseite.« Sie dachte an ihren eigenen Sohn, der nur ein Jahr jünger war, verscheuchte den Gedanken jedoch sofort wieder. Die Zuschauer sollten ihr keine persönliche Regung anmerken. Plötzlich brüllte sie den Jungen beinahe an: »Ist es nicht so, dass Sie im Alter von vierzehn Jahren mit der siebenundzwanzigjährigen Frau Ihres Bruders geschlafen haben?«
Sie trat einen Schritt zurück und überließ dem Jungen die Bühne. Jetzt gab es zwei Möglichkeiten: Entweder er fing an zu heulen wie ein Baby, oder er musste sich gleich gegen seinen Bruder zur Wehr setzen, der keine zwei Meter von ihm entfernt sprungbereit auf der Kante seines Stuhls hockte.
Seltsamerweise tat der Junge gar nichts.
»Was wir gern wissen möchten, Jason, ist, wen der kleine Tyler denn nun Daddy nennen soll - Sie oder Ihren Bruder?«
Wie erwartet lief ein unwilliges Raunen durchs Publikum im Studio.
»Gut gemacht«, kam es durch ihren Ohrhörer.
Das genügte. Der Bruder, der bisher nicht viel gesagt hatte, stürzte sich brüllend und fluchend auf Jason und stieß ihn vom Stuhl, der bewusst ein wenig kippelig konstruiert war. Carrie wartete einen Augenblick ab, ebenso wie die Sicherheitsleute, die entsprechende Anweisungen hatten. Doch so erwünscht ein Handgemenge war, zu einem Blutvergießen durfte es nicht kommen - vielleicht saßen manche der Fernsehzuschauer ja noch beim Frühstück.
Also trat Carrie zurück, als die Sicherheitsleute auf die Bühne marschiert kamen und die beiden Brüder wieder auf ihre Plätze beförderten. »Jetzt beruhigen Sie beide sich mal«, befahl Carrie, und im Studio wurde es still. Zuerst an Jason, dann zur Kamera gewandt fügte sie hinzu: »Ich glaube, jetzt sollten wir erst einmal hören, was Bobbi-Jo dazu zu sagen hat, nicht wahr? Und dann schauen wir uns das Ergebnis des DNA-Tests an.«
Carrie strich sich die blonde Strähne, die ihr über die Wange fiel, bewusst nicht zurück. »Hübsch«, hörte sie die Stimme des Regisseurs in ihrem Ohr und fuhr fort: »Nach einer kurzen Pause geht es weiter mit Reality Check, und dann erfahren Sie, wer nun wirklich der Vater des kleinen Tyler ist. Bleiben Sie dran.« In einer für sie typischen Geste deutete sie mit dem Finger auf ihr Auge und dann ins Publikum, als wolle sie den Leuten zu verstehen geben, dass sie beobachtet wurden und dass die Kamera jederzeit auch in ihr Leben eindringen konnte.
»Sendepause!«, rief der Regisseur. »Zwei Minuten fünfundvierzig.«
In Wirklichkeit waren es drei Minuten, aber sie hielten sich immer fünfzehn Sekunden früher bereit. Auch wenn man nie wusste, wie die Show verlaufen würde - Carrie war in Livesendungen wie dieser in ihrem Element. Alles war unter Kontrolle und folgte einem präzisen Plan, so, wie sie es gern hatte.
... weniger
Autoren-Porträt von Sam Hayes
Sam Hayes ist im englischen Coventry geboren. Nach dem Schulabschluss wollte sie Pilotin werden und lernte fliegen, war dann aber in anderen Berufen, u.a. als Privatdetektivin, Buchhalterin und Kellnerin tätig. Sie lebte in Australien und den USA und kehrte schließlich mit ihrem australischen Ehemann und den drei Kindern in ihre westenglische Heimat zurück. Für ihre Kurzgeschichten hat sie mehrere Preise erhalten.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sam Hayes
- 2012, 528 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Kasperek, Carola
- Übersetzer: Carola Kasperek
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548610501
- ISBN-13: 9783548610504
Kommentare zu "Der fremde Sohn"
3.5 von 5 Sternen
5 Sterne 2Schreiben Sie einen Kommentar zu "Der fremde Sohn".
Kommentar verfassen