Der Fürst des Nebels
Roman. Ausgezeichnet mit dem Premio Edebé de Literatura Juvenil
Max und seine Familie fliehen vor dem tobenden Krieg ans Meer. Doch schon bald scheint eine geheimnisvolle Macht den Zufluchtsort heimzusuchen. Hat es etwas mit dem finsteren "Fürst des Nebels" zu tun? Und dann merkt Max, dass eine grauenvolle Gefahr droht.
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Produktinformationen zu „Der Fürst des Nebels “
Max und seine Familie fliehen vor dem tobenden Krieg ans Meer. Doch schon bald scheint eine geheimnisvolle Macht den Zufluchtsort heimzusuchen. Hat es etwas mit dem finsteren "Fürst des Nebels" zu tun? Und dann merkt Max, dass eine grauenvolle Gefahr droht.
Klappentext zu „Der Fürst des Nebels “
Carlos Ruiz Zafóns legendärer erster Roman - neu übersetzt und fesselnd von der ersten bis zur letzten Seite. Ein frühes Meisterstück dieses begnadeten Erzählers.In »Der Fürst des Nebels« fliehen Max und seine Familie vor dem tobenden Krieg. Ein altes Haus am Meer verheißt Frieden und Sicherheit. Doch schon bald legt sich ein dunkler Schatten über den Zufluchtsort, als Max erfährt, dass der Sohn der ehemaligen Bewohner unter mysteriösen Umständen ertrunken ist. Eine geheimnisvolle Macht bedroht nun auch das Leben seiner Familie. Als er mit seinem neuen Freund Roland zum Wrack der Orpheus taucht, kann Max förmlich fühlen, wie etwas Schreckliches in der Tiefe lauert. Gibt es eine Verbindung zum finsteren »Fürst des Nebels«, von dem der Leuchtturmwärter erzählt? Und hat der ihnen wirklich alles gesagt?
Als Max erkennt, welch grauenvolle Gefahr wirklich droht, hat sich bereits ein Sturm zusammengebraut: etwas lange Totgeglaubtes erhebt sein Haupt und macht sich auf die Jagd.
Lese-Probe zu „Der Fürst des Nebels “
Der Fürst des Nebels von Carlos Ruiz Zafón1. Kapitel
Viele Jahre sollten vergehen, bis Max den Sommer hinter sich lassen konnte, in dem er beinahe zufällig die Magie entdeckte. Es war das Jahr 1943, und der Sturm des Krieges riss die Welt unaufhaltsam in den Abgrund. Mitte Juni, an dem Tag, als Max dreizehn wurde, versammelte sein Vater, Uhrmacher und in seiner Freizeit Erfinder, die Familie im Wohnzimmer und teilte ihnen mit, dass dies der letzte Tag sei, den sie in dem Haus verbringen würden, das in den vergangenen zehn Jahren ihr Zuhause gewesen war. Die Familie zog an die Küste, weit weg von der Stadt und dem Krieg, in ein Strandhaus in einem kleinen Dorf am Atlantik.
Die Entscheidung stand fest: am Morgen des folgenden Tages würden sie abreisen. Bis dahin mussten sie ihre gesamte Habe packen und sich auf die lange Reise zu ihrem neuen Heim vorbereiten. Die Familie nahm die Nachricht ohne große Überraschung auf.
Fast alle hatten damit gerechnet, denn die Idee, die Stadt zu verlassen und sich einen besseren Ort zum Leben zu suchen, ging dem guten Maximilian Carver schon länger durch den Kopf. Alle außer Max. Auf ihn hatte die Nachricht den gleichen Effekt wie eine wild gewordene Lokomotive, die durch einen Porzellanladen raste. Er wurde kreideblass und starrte mit offenem Mund vor sich hin.
In diesem kurzen Augenblick schoss ihm die schreckliche Gewissheit durch den Kopf, dass seine ganze Welt, seine Freunde aus der Schule, die Jungs aus der Straße und der Eckladen mit den Comics, für immer verschwinden würde. Mit einem Federstrich.
Während die übrigen Familienmitglieder die Versammlung auflösten, um sich mit resigniertem Gesichtsausdruck ans Packen zu machen, blieb Max reglos sitzen und sah seinen Vater an. Der Uhrmacher beugte sich zu seinem Sohn hinunter und legte ihm die Hände auf die Schultern. In Max' Blick konnte man
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lesen wie in einem offenen Buch.
"Jetzt kommt es dir wie das Ende der Welt vor, Max. Aber ich verspreche dir, dort, wo wir hingehen, wird es dir gefallen. Du wirst neue Freunde finden, du wirst sehen."
"Ist es wegen dem Krieg?", fragte Max. "Ist das der Grund, warum wir weggehen?"
Maximilian Carver umarmte seinen Sohn, und mit einem Lächeln zog er einen glänzenden Gegenstand aus seiner Jackentasche, der an einer Kette baumelte, und legte ihn Max in die Hände. Eine Taschenuhr.
"Die habe ich für dich gemacht. Herzlichen Glückwunsch, Max." Max ließ die silberne Uhr aufklappen. Die vollen Stunden waren als zu- und abnehmende Monde dargestellt, und die Strahlen einer Sonne, die ihn von der Mitte des Zifferblatts anlächelte, bildeten die Zeiger. In den Deckel war in fein geschwungener Schrift ein Satz eingraviert: Max` Zeitmaschine.
Max hielt die Uhr fest, die sein Vater ihm geschenkt hatte, während seine Familie mit den Koffern treppauf und treppab lief. Er wusste es nicht, aber an diesem Tag hörte er für immer auf, ein Kind zu sein.
***
In der Nacht nach seinem Geburtstag tat Max kein Auge zu. Während die Übrigen schliefen, wartete er darauf, dass dieser unglückselige Morgen anbrach, der den endgültigen Abschied von dem kleinen Universum bedeuten würde, das er sich im Laufe der Jahre geschaffen hatte.
Er lag still auf dem Bett, den Blick auf die blauen Schatten gerichtet, die an seiner Zimmerdecke tanzten, als hoffte er, in ihnen ein Orakel zu sehen, das in der Lage wäre, ihm sein weiteres Schicksal vorzuzeichnen. Die lächelnden Monde auf dem Zifferblatt leuchteten in der nächtlichen Dunkelheit. Vielleicht kannten sie die Antwort auf all die Fragen, die Max an diesem Nachmittag zu sammeln begonnen hatte. Schließlich zeichnete sich das erste Tageslicht am blauen Horizont ab.
Max sprang aus dem Bett und ging ins Wohnzimmer. Maximilian Carver saß angezogen in einem Lehnsessel und hielt im Schein einer Petroleumlampe ein Buch in den Händen. Max sah, dass er nicht der Einzige war, der die Nacht schlaflos verbracht hatte. Der Uhrmacher lächelte ihn an und klappte das Buch zu.
"Was liest du da?", fragte Max und deutete auf den dicken Band.
"Es ist ein Buch über Kopernikus. Weißt du, wer Kopernikus war?", antwortete der Uhrmacher.
"Ich gehe schließlich zur Schule", entgegnete Max. Sein Vater hatte die Angewohnheit, einem Fragen zu stellen, als wäre man auf den Kopf gefallen.
"Und was weißt du über ihn?"
"Er hat entdeckt, dass sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt."
"So ungefähr. Und weißt du, was das bedeutete?"
"Probleme", gab Max zur Antwort. Der Uhrmacher grinste und hielt ihm das dicke Buch hin.
"Nimm. Es gehört dir. Lies es."
Max betrachtete aufmerksam den geheimnisvollen, in Leder gebundenen Band. Er schien unendlich alt zu sein und den Geist einer uralten Seele zu beherbergen, die durch einen jahrhundertealten Fluch an seine Seiten gefesselt war.
"Also dann", sagte sein Vater abschließend, "wer weckt deine Schwestern?"
Ohne von dem Buch aufzublicken, bedeutete Max ihm mit einer Kopfbewegung, dass er ihm die Ehre überließ, Alicia und Irina, seine fünfzehn und acht Jahre alten Schwestern, aus ihrem Tiefschlaf zu reißen. Während sein Vater hinausging, um die ganze Familie zu wecken, setzte sich Max in den Lehnsessel, schlug das Buch auf und begann zu lesen.
Eine halbe Stunde später schritt die gesamte Familie zum letzten Mal über die Türschwelle, einem neuen Leben entgegen. Der Sommer hatte begonnen.
***
Max hatte einmal in einem der Bücher seines Vaters gelesen, dass sich manche Bilder aus der Kindheit wie Fotografien ins Album der Erinnerung eingruben, Szenen, zu denen man immer wieder zurückkehrte, ganz gleich, wie viel Zeit verging. Max verstand den Sinn dieser Worte, als er zum ersten Mal das Meer sah. Sie saßen seit über fünf Stunden im Zug, als sich plötzlich bei der Ausfahrt aus einem dunklen Tunnel eine endlose Fläche aus Licht und Helligkeit vor seinen Augen erstreckte. Das elektrische Blau des Meeres, das unter dem Mittagshimmel glitzerte, brannte sich wie eine übernatürliche Erscheinung in seine Netzhaut.
Während der Zug am Meer entlangfuhr, streckte Max den Kopf aus dem Fenster und spürte zum ersten Mal den salzgeschwängerten Wind auf seiner Haut. Er drehte sich zu seinem Vater um, der ihn mit einem geheimnisvollen Lächeln aus seiner Ecke des Zugabteils betrachtete, während er zu einer Frage nickte, die Max gar nicht gestellt hatte.
In diesem Moment wusste er, dass es egal war, wohin sie diese Reise führte und in welchem Bahnhof der Zug hielt; von diesem Tag an würde er nie wieder an einem Ort leben, von dem aus er nicht jeden Morgen beim Aufwachen dieses blendende blaue Licht sehen würde, das wie ein magischer, durchsichtiger Dunst in den Himmel aufstieg.
Es war ein Versprechen, das er sich selbst gegeben hatte.
***
Während Max dem Zug hinterhersah, der sich vom Dorfbahnhof entfernte, ließ Maximilian Carver seine Familie ein paar Minuten mit dem Gepäck vor dem Büro des Stationsvorstehers stehen, um mit einem der örtlichen Fuhrunternehmer einen vernünftigen Preis auszuhandeln, zu dem dieser Gepäckstücke, Personen und sonstigen Krimskrams zum endgültigen Ziel bringen sollte.
Max' erster Eindruck von dem Dorf, nachdem er den Bahnhof und die ersten Häuser gesehen hatte, deren Dächer vorsichtig über die umliegenden Bäume lugten, war der eines winzigen Spielzeugdorfs, eine Miniaturlandschaft, wie von einem Modelleisenbahnsammler gebaut.
Es war, als könnte man von der Tischplatte fallen, wenn man sich zu weit vorwagte. Dieser Gedanke erschien ihm eine interessante Variation von Kopernikus' Theorie über die Erde, als ihn die Stimme seiner Mutter aus seinen kosmischen Träumereien riss.
"Und? Bestanden oder durchgefallen?"
"Das wird sich zeigen", antwortete Max. "Es sieht aus wie ein Spielzeugdorf. Wie aus dem Schaufenster einer Spielwarenhandlung."
"Vielleicht ist es so", sagte seine Mutter lächelnd, und Max konnte in ihrem Gesicht einen schwachen Abglanz seiner Schwester Irina erkennen.
"Aber sag das nicht deinem Vater", setzte sie hinzu.
"Da kommt er." Maximilian Carver kehrte in Begleitung zweier stämmiger Fuhrunternehmer zurück, die mit Fettflecken, Ruß und allerlei anderen unidentifizierbaren Substanzen beschmiert waren. Beide trugen buschige Schnurrbärte und Matrosenmützen, als sei das ihre Berufsuniform.
"Das sind Robin und Philip", erklärte der Uhrmacher.
"Robin nimmt die Koffer mit und Philip die Familie. Einverstanden?"
Ohne die Zustimmung der Familie abzuwarten, steuerten die beiden Muskelprotze auf den Gepäckhaufen zu und luden sich ohne das geringste Anzeichen von Anstrengung gezielt die größten Stücke auf. Max zog seine Uhr hervor und betrachtete das Zifferblatt mit den lächelnden Monden.
Die Zeiger zeigten zwei Uhr mittags. Die alte Bahnhofsuhr zeigte halb eins.
"Die Bahnhofsuhr geht falsch", murmelte Max.
"Siehst du?", antwortete sein Vater begeistert. "Kaum angekommen, und schon haben wir Arbeit."
Seine Mutter lächelte schwach, wie sie es angesichts von Maximilian Carvers ungetrübtem Optimismus immer tat, aber Max konnte eine Spur von Traurigkeit in ihren Augen sehen und dieses eigenartige Schimmern, das ihm von klein auf das Gefühl gegeben hatte, dass seine Mutter Dinge in der Zukunft sah, von denen die anderen keine Ahnung hatten.
"Alles wird gut, Mama", sagte Max, und gleich nachdem er diese Worte ausgesprochen hatte, fühlte er sich wie ein Idiot. Seine Mutter streichelte ihm über die Wange und lächelte.
"Natürlich, Max. Alles wird gut." In diesem Moment hatte Max das sichere Gefühl, beobachtet zu werden.
Er schaute sich rasch um und konnte sehen, wie ihn eine dicke, getigerte Katze durch die Eisenstäbe eines Bahnhofsfensters unverwandt ansah, als könne sie seine Gedanken lesen.
Dann blinzelte sie und sprang mit einem Satz, den man Katze hin und her von einem Tier ihrer Größe nicht erwartet hätte, zu der kleinen Irina und rieb ihren Rücken an den weißen Knöcheln von Max' Schwester. Das Mädchen kniete sich hin, um das Tier zu streicheln, das leise miaute.
Irina nahm es auf den Arm, und die Katze ließ sich sanft wiegen, während sie zärtlich die Finger des Mädchens leckte, das wie verzaubert lächelte.
Die Katze auf dem Arm, ging Irina zu ihrer wartenden Familie.
"Wir sind gerade erst angekommen, und schon hast du ein Viech aufgelesen. Wer weiß, was die alles hat", meinte Alicia mit offenkundiger Abscheu.
"Es ist kein Viech. Es ist eine Katze, und sie hat niemanden", entgegnete Irina.
"Mama?"
"Irina, wir sind noch nicht einmal angekommen", setzte ihre Mutter an.
Das Mädchen machte ein klägliches Gesicht, zu dem die Katze ein sanftes, verführerisches Mauzen beitrug.
"Sie könnte im Garten bleiben. Bitte ..."
"Es ist ein fette, schmutzige Katze", fügte Alicia hinzu. "Willst du zulassen, dass Irina wieder mal ihren Kopf durchsetzt?"
Irina warf ihrer älteren Schwester einen durchdringenden, biestigen Blick zu, der eine Kriegserklärung verhieß, falls diese nicht endlich den Mund hielt. Alicia hielt dem Blick einige Sekunden stand, dann wandte sie sich mit einem wütenden Schnauben ab und ging dorthin, wo die Fuhrunternehmer das Gepäck verluden.
Unterwegs traf sie mit ihrem Vater zusammen, dem Alicias zorngerötetes Gesicht nicht entging. "Schon am Streiten?", fragte Maximilian Carver.
"Und was ist das?"
"Sie ist allein und hat niemanden. Können wir sie nicht mitnehmen? Sie bleibt im Garten, und ich kümmere mich um sie. Versprochen", erklärte Irina rasch.
Sprachlos sah der Uhrmacher erst zu der Katze und dann zu seiner Frau.
"Ich weiß nicht, was deine Mutter dazu sagt ..."
"Und was sagst du dazu, Maximilian Carver?", gab seine Frau mit einem Lächeln zurück, das verriet, dass sie sich über den Zwiespalt amüsierte, in dem ihr Mann steckte.
"Na ja. Man müsste sie zum Tierarzt bringen, und außerdem ..."
"Bitte!", schluchzte Irina. Der Uhrmacher und seine Frau warfen sich einen verschwörerischen Blick zu.
"Warum nicht?", beschloss Maximilian Carver, unfähig, den Sommer mit einem Familienstreit anzufangen.
"Aber du kümmerst dich um sie. Versprochen?"
Irinas Gesicht begann zu strahlen, und die Pupillen der Katze verengten sich, bis sie nur noch schwarze Schlitze in ihren golden funkelnden Augen waren.
"Los, geht´s! Das Gepäck ist schon verladen", sagte der Uhrmacher. Irina nahm die Katze auf die Arme und lief zu den Lastwagen. Den Kopf an die Schulter des Mädchens geschmiegt, hatte die Katze ihre Augen auf Max gerichtet. Sie hat auf uns gewartet, dachte er.
"Steh nicht da herum, Max. Komm jetzt", sagte sein Vater, während er die Mutter bei der Hand nahm und sich auf den Weg zu den Lieferwagen machte. Max trottete hinter ihnen her, doch dann drehte er sich noch einmal um und sah auf das schwarz gewordene Zifferblatt der Bahnhofsuhr.
Er betrachtete es eingehend und stellte fest, dass etwas daran nicht stimmte. Max erinnerte sich genau, dass die Uhr bei ihrer Ankunft auf dem Bahnhof halb eins gezeigt hatte. Jetzt standen die Zeiger auf zehn vor zwölf.
"Max!", erklang die Stimme seines Vaters, der vom Lieferwagen aus nach ihm rief.
"Wir fahren!"
"Ich komme ja schon", murmelte Max vor sich hin, ohne den Blick von dem Zifferblatt abzuwenden. Die Uhr war nicht kaputt. Sie funktionierte einwandfrei, mit einer einzigen Besonderheit: sie ging rückwärts.
Übersetzung: Lisa Grüneisen
© 2010 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am
"Jetzt kommt es dir wie das Ende der Welt vor, Max. Aber ich verspreche dir, dort, wo wir hingehen, wird es dir gefallen. Du wirst neue Freunde finden, du wirst sehen."
"Ist es wegen dem Krieg?", fragte Max. "Ist das der Grund, warum wir weggehen?"
Maximilian Carver umarmte seinen Sohn, und mit einem Lächeln zog er einen glänzenden Gegenstand aus seiner Jackentasche, der an einer Kette baumelte, und legte ihn Max in die Hände. Eine Taschenuhr.
"Die habe ich für dich gemacht. Herzlichen Glückwunsch, Max." Max ließ die silberne Uhr aufklappen. Die vollen Stunden waren als zu- und abnehmende Monde dargestellt, und die Strahlen einer Sonne, die ihn von der Mitte des Zifferblatts anlächelte, bildeten die Zeiger. In den Deckel war in fein geschwungener Schrift ein Satz eingraviert: Max` Zeitmaschine.
Max hielt die Uhr fest, die sein Vater ihm geschenkt hatte, während seine Familie mit den Koffern treppauf und treppab lief. Er wusste es nicht, aber an diesem Tag hörte er für immer auf, ein Kind zu sein.
***
In der Nacht nach seinem Geburtstag tat Max kein Auge zu. Während die Übrigen schliefen, wartete er darauf, dass dieser unglückselige Morgen anbrach, der den endgültigen Abschied von dem kleinen Universum bedeuten würde, das er sich im Laufe der Jahre geschaffen hatte.
Er lag still auf dem Bett, den Blick auf die blauen Schatten gerichtet, die an seiner Zimmerdecke tanzten, als hoffte er, in ihnen ein Orakel zu sehen, das in der Lage wäre, ihm sein weiteres Schicksal vorzuzeichnen. Die lächelnden Monde auf dem Zifferblatt leuchteten in der nächtlichen Dunkelheit. Vielleicht kannten sie die Antwort auf all die Fragen, die Max an diesem Nachmittag zu sammeln begonnen hatte. Schließlich zeichnete sich das erste Tageslicht am blauen Horizont ab.
Max sprang aus dem Bett und ging ins Wohnzimmer. Maximilian Carver saß angezogen in einem Lehnsessel und hielt im Schein einer Petroleumlampe ein Buch in den Händen. Max sah, dass er nicht der Einzige war, der die Nacht schlaflos verbracht hatte. Der Uhrmacher lächelte ihn an und klappte das Buch zu.
"Was liest du da?", fragte Max und deutete auf den dicken Band.
"Es ist ein Buch über Kopernikus. Weißt du, wer Kopernikus war?", antwortete der Uhrmacher.
"Ich gehe schließlich zur Schule", entgegnete Max. Sein Vater hatte die Angewohnheit, einem Fragen zu stellen, als wäre man auf den Kopf gefallen.
"Und was weißt du über ihn?"
"Er hat entdeckt, dass sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt."
"So ungefähr. Und weißt du, was das bedeutete?"
"Probleme", gab Max zur Antwort. Der Uhrmacher grinste und hielt ihm das dicke Buch hin.
"Nimm. Es gehört dir. Lies es."
Max betrachtete aufmerksam den geheimnisvollen, in Leder gebundenen Band. Er schien unendlich alt zu sein und den Geist einer uralten Seele zu beherbergen, die durch einen jahrhundertealten Fluch an seine Seiten gefesselt war.
"Also dann", sagte sein Vater abschließend, "wer weckt deine Schwestern?"
Ohne von dem Buch aufzublicken, bedeutete Max ihm mit einer Kopfbewegung, dass er ihm die Ehre überließ, Alicia und Irina, seine fünfzehn und acht Jahre alten Schwestern, aus ihrem Tiefschlaf zu reißen. Während sein Vater hinausging, um die ganze Familie zu wecken, setzte sich Max in den Lehnsessel, schlug das Buch auf und begann zu lesen.
Eine halbe Stunde später schritt die gesamte Familie zum letzten Mal über die Türschwelle, einem neuen Leben entgegen. Der Sommer hatte begonnen.
***
Max hatte einmal in einem der Bücher seines Vaters gelesen, dass sich manche Bilder aus der Kindheit wie Fotografien ins Album der Erinnerung eingruben, Szenen, zu denen man immer wieder zurückkehrte, ganz gleich, wie viel Zeit verging. Max verstand den Sinn dieser Worte, als er zum ersten Mal das Meer sah. Sie saßen seit über fünf Stunden im Zug, als sich plötzlich bei der Ausfahrt aus einem dunklen Tunnel eine endlose Fläche aus Licht und Helligkeit vor seinen Augen erstreckte. Das elektrische Blau des Meeres, das unter dem Mittagshimmel glitzerte, brannte sich wie eine übernatürliche Erscheinung in seine Netzhaut.
Während der Zug am Meer entlangfuhr, streckte Max den Kopf aus dem Fenster und spürte zum ersten Mal den salzgeschwängerten Wind auf seiner Haut. Er drehte sich zu seinem Vater um, der ihn mit einem geheimnisvollen Lächeln aus seiner Ecke des Zugabteils betrachtete, während er zu einer Frage nickte, die Max gar nicht gestellt hatte.
In diesem Moment wusste er, dass es egal war, wohin sie diese Reise führte und in welchem Bahnhof der Zug hielt; von diesem Tag an würde er nie wieder an einem Ort leben, von dem aus er nicht jeden Morgen beim Aufwachen dieses blendende blaue Licht sehen würde, das wie ein magischer, durchsichtiger Dunst in den Himmel aufstieg.
Es war ein Versprechen, das er sich selbst gegeben hatte.
***
Während Max dem Zug hinterhersah, der sich vom Dorfbahnhof entfernte, ließ Maximilian Carver seine Familie ein paar Minuten mit dem Gepäck vor dem Büro des Stationsvorstehers stehen, um mit einem der örtlichen Fuhrunternehmer einen vernünftigen Preis auszuhandeln, zu dem dieser Gepäckstücke, Personen und sonstigen Krimskrams zum endgültigen Ziel bringen sollte.
Max' erster Eindruck von dem Dorf, nachdem er den Bahnhof und die ersten Häuser gesehen hatte, deren Dächer vorsichtig über die umliegenden Bäume lugten, war der eines winzigen Spielzeugdorfs, eine Miniaturlandschaft, wie von einem Modelleisenbahnsammler gebaut.
Es war, als könnte man von der Tischplatte fallen, wenn man sich zu weit vorwagte. Dieser Gedanke erschien ihm eine interessante Variation von Kopernikus' Theorie über die Erde, als ihn die Stimme seiner Mutter aus seinen kosmischen Träumereien riss.
"Und? Bestanden oder durchgefallen?"
"Das wird sich zeigen", antwortete Max. "Es sieht aus wie ein Spielzeugdorf. Wie aus dem Schaufenster einer Spielwarenhandlung."
"Vielleicht ist es so", sagte seine Mutter lächelnd, und Max konnte in ihrem Gesicht einen schwachen Abglanz seiner Schwester Irina erkennen.
"Aber sag das nicht deinem Vater", setzte sie hinzu.
"Da kommt er." Maximilian Carver kehrte in Begleitung zweier stämmiger Fuhrunternehmer zurück, die mit Fettflecken, Ruß und allerlei anderen unidentifizierbaren Substanzen beschmiert waren. Beide trugen buschige Schnurrbärte und Matrosenmützen, als sei das ihre Berufsuniform.
"Das sind Robin und Philip", erklärte der Uhrmacher.
"Robin nimmt die Koffer mit und Philip die Familie. Einverstanden?"
Ohne die Zustimmung der Familie abzuwarten, steuerten die beiden Muskelprotze auf den Gepäckhaufen zu und luden sich ohne das geringste Anzeichen von Anstrengung gezielt die größten Stücke auf. Max zog seine Uhr hervor und betrachtete das Zifferblatt mit den lächelnden Monden.
Die Zeiger zeigten zwei Uhr mittags. Die alte Bahnhofsuhr zeigte halb eins.
"Die Bahnhofsuhr geht falsch", murmelte Max.
"Siehst du?", antwortete sein Vater begeistert. "Kaum angekommen, und schon haben wir Arbeit."
Seine Mutter lächelte schwach, wie sie es angesichts von Maximilian Carvers ungetrübtem Optimismus immer tat, aber Max konnte eine Spur von Traurigkeit in ihren Augen sehen und dieses eigenartige Schimmern, das ihm von klein auf das Gefühl gegeben hatte, dass seine Mutter Dinge in der Zukunft sah, von denen die anderen keine Ahnung hatten.
"Alles wird gut, Mama", sagte Max, und gleich nachdem er diese Worte ausgesprochen hatte, fühlte er sich wie ein Idiot. Seine Mutter streichelte ihm über die Wange und lächelte.
"Natürlich, Max. Alles wird gut." In diesem Moment hatte Max das sichere Gefühl, beobachtet zu werden.
Er schaute sich rasch um und konnte sehen, wie ihn eine dicke, getigerte Katze durch die Eisenstäbe eines Bahnhofsfensters unverwandt ansah, als könne sie seine Gedanken lesen.
Dann blinzelte sie und sprang mit einem Satz, den man Katze hin und her von einem Tier ihrer Größe nicht erwartet hätte, zu der kleinen Irina und rieb ihren Rücken an den weißen Knöcheln von Max' Schwester. Das Mädchen kniete sich hin, um das Tier zu streicheln, das leise miaute.
Irina nahm es auf den Arm, und die Katze ließ sich sanft wiegen, während sie zärtlich die Finger des Mädchens leckte, das wie verzaubert lächelte.
Die Katze auf dem Arm, ging Irina zu ihrer wartenden Familie.
"Wir sind gerade erst angekommen, und schon hast du ein Viech aufgelesen. Wer weiß, was die alles hat", meinte Alicia mit offenkundiger Abscheu.
"Es ist kein Viech. Es ist eine Katze, und sie hat niemanden", entgegnete Irina.
"Mama?"
"Irina, wir sind noch nicht einmal angekommen", setzte ihre Mutter an.
Das Mädchen machte ein klägliches Gesicht, zu dem die Katze ein sanftes, verführerisches Mauzen beitrug.
"Sie könnte im Garten bleiben. Bitte ..."
"Es ist ein fette, schmutzige Katze", fügte Alicia hinzu. "Willst du zulassen, dass Irina wieder mal ihren Kopf durchsetzt?"
Irina warf ihrer älteren Schwester einen durchdringenden, biestigen Blick zu, der eine Kriegserklärung verhieß, falls diese nicht endlich den Mund hielt. Alicia hielt dem Blick einige Sekunden stand, dann wandte sie sich mit einem wütenden Schnauben ab und ging dorthin, wo die Fuhrunternehmer das Gepäck verluden.
Unterwegs traf sie mit ihrem Vater zusammen, dem Alicias zorngerötetes Gesicht nicht entging. "Schon am Streiten?", fragte Maximilian Carver.
"Und was ist das?"
"Sie ist allein und hat niemanden. Können wir sie nicht mitnehmen? Sie bleibt im Garten, und ich kümmere mich um sie. Versprochen", erklärte Irina rasch.
Sprachlos sah der Uhrmacher erst zu der Katze und dann zu seiner Frau.
"Ich weiß nicht, was deine Mutter dazu sagt ..."
"Und was sagst du dazu, Maximilian Carver?", gab seine Frau mit einem Lächeln zurück, das verriet, dass sie sich über den Zwiespalt amüsierte, in dem ihr Mann steckte.
"Na ja. Man müsste sie zum Tierarzt bringen, und außerdem ..."
"Bitte!", schluchzte Irina. Der Uhrmacher und seine Frau warfen sich einen verschwörerischen Blick zu.
"Warum nicht?", beschloss Maximilian Carver, unfähig, den Sommer mit einem Familienstreit anzufangen.
"Aber du kümmerst dich um sie. Versprochen?"
Irinas Gesicht begann zu strahlen, und die Pupillen der Katze verengten sich, bis sie nur noch schwarze Schlitze in ihren golden funkelnden Augen waren.
"Los, geht´s! Das Gepäck ist schon verladen", sagte der Uhrmacher. Irina nahm die Katze auf die Arme und lief zu den Lastwagen. Den Kopf an die Schulter des Mädchens geschmiegt, hatte die Katze ihre Augen auf Max gerichtet. Sie hat auf uns gewartet, dachte er.
"Steh nicht da herum, Max. Komm jetzt", sagte sein Vater, während er die Mutter bei der Hand nahm und sich auf den Weg zu den Lieferwagen machte. Max trottete hinter ihnen her, doch dann drehte er sich noch einmal um und sah auf das schwarz gewordene Zifferblatt der Bahnhofsuhr.
Er betrachtete es eingehend und stellte fest, dass etwas daran nicht stimmte. Max erinnerte sich genau, dass die Uhr bei ihrer Ankunft auf dem Bahnhof halb eins gezeigt hatte. Jetzt standen die Zeiger auf zehn vor zwölf.
"Max!", erklang die Stimme seines Vaters, der vom Lieferwagen aus nach ihm rief.
"Wir fahren!"
"Ich komme ja schon", murmelte Max vor sich hin, ohne den Blick von dem Zifferblatt abzuwenden. Die Uhr war nicht kaputt. Sie funktionierte einwandfrei, mit einer einzigen Besonderheit: sie ging rückwärts.
Übersetzung: Lisa Grüneisen
© 2010 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am
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Autoren-Porträt von Carlos Ruiz Zafón
Carlos Ruiz Zafón, geb. 1964 in Barcelona, lebt heute in Los Angeles. Mit den großen Barcelona-Romanen 'Der Schatten des Windes' und 'Das Spiel des Engels' begeisterte er ein Millionenpublikum auf der ganzen Welt; seine Bücher wurden in über 40 Sprachen übersetzt. Das Spiel des Engels stand wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.Lisa Grüneisen, 1967 geboren, arbeitet seit ihrem Studium der Romanistik, Germanistik und Geschichte als Übersetzerin. Sie übersetzte u.a. Carlos Fuentes, Miguel Delibes, Alberto Manguel und Frida Kahlo.
Bibliographische Angaben
- Autor: Carlos Ruiz Zafón
- Altersempfehlung: 12 - 15 Jahre
- 2010, 270 Seiten, Maße: 13,6 x 20,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Grüneisen, Lisa
- Übersetzer: Lisa Grüneisen
- Verlag: Fischer FJB
- ISBN-10: 3841440010
- ISBN-13: 9783841440013
Kommentare zu "Der Fürst des Nebels"
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