Der Klosterwald
Doch eines...
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Doch eines Nachts wird im Klosterwald eine Leiche gefunden, vielmehr das, was nach Monaten unter modrigem Laub noch übrig ist.
DerKlosterwald von Petra Oelker
LESEPROBE
Der Fahrtwind zerrieb die letzten Regentropfen auf der Glasscheibe zueinem diffusen Muster. Irgendwann früher am Tag hatte ein Kind aus diesemFenster auf die vorbeisausende Landschaft gesehen und die Abdrücke klebrigerkleiner Finger hinterlassen. Schokolade, dachte Felicitas Stern. Vollmilch.Oder Nougat. Vielleicht hatte das Kind, wie sie selbst vor vielen Jahren,aufgeregt auf ein Auto oder einen Trecker gezeigt, der vor einem der schmalenBahnübergänge wartete. Oder auf die Rehe, die an dieser Stelle der Strecke oftin der Dämmerung aus dem Wald traten und auf den Feldern ihr Abendessensuchten. Inzwischen war es längst dunkel und die Scheibe nichts als einschwarzer Spiegel, nur hin und wieder von beleuchteten Fenstern eines dergeduckt in den Äckern liegenden Gehöfte unterbrochen.
Siewiderstand dem Impuls, ein Taschentuch hervorzuholen, um die fettigenFingerspuren abzuwischen, und lehnte sich zurück. Ein Blick auf die Uhr warüberflüssig. Gerade hatte der Zug die Brücke über die Mölde passiert, gleichwürde er an den lang gestreckten, in gelbes Licht getauchten Hallen und denbeiden hoch aufragenden Getreidesilos der Großbäckerei vorbeirattern. Also wares Viertel nach zehn, möglicherweise zwei oder drei Minuten später oder früher.
Heute, soüberlegte sie, würde sie an der Bürotür vorbei und gleich in ihre Wohnunggehen. Gab es etwa irgendetwas, das nicht bis morgen Zeit hatte? Die Pläne undAnträge für die Reparatur des alten Backhauses waren geschrieben und abgeschickt,bis zur Entscheidung würde es Wochen dauern. Oder Monate. Vielleicht fand sieinzwischen doch noch einen Sponsor, so wie für die Finanzierung der Rettung derWandmalereien im Refektorium. Die Saison war so gut wie vorüber - nein, wasimmer auf ihrem Schreibtisch wartete, hatte bis morgen Zeit. Der lange, ruhigeWinter konnte beginnen. Für ein halbes Jahr war es vorbei mit Nachrichten ausdem Faxgerät, mit aufgeregten Stimmen auf dem Anrufbeantworter. Oder mitKatastrophenmeldungen wie einer neuen Rostepidemie im Rosengarten, einem neuenRiss in der Wand der Barbara-Kapelle oder der kurzfristigen Ankündigung dreier Touristenbusse,deren plappernde Fracht gleichzeitig eine Führung erwartete.
Der Zugtauchte in den Wald wie in einen Tunnel und fuhr nun wieder durch absoluteDunkelheit.
«Bitte?»
In derScheibe spiegelte sich das Bild ihrer einzigen Mitreisenden. Felicitas Sterndrehte sich um und sah in das blasse Gesicht der jungen Frau, die, die rechteHand gegen das Schaukeln des Zuges fest um die Gepäckablage geklammert, nebenihrem Sitz stand und sie fragend ansah.
«Bitte, istder nächste Bahnhof Möldenburg?»
«Ja,Möldenburg.» Nun sah Felicitas doch auf ihre Uhr. «In zehn Minuten sind wirda.»
Die Frauschaute sie verständnislos an, so hob Felicitas beide Hände mit weitgespreizten Fingern und wiederholte: «In zehn Minuten.»
Die Fremdenickte, kehrte zu ihrem Sitz auf der anderen Seite des Ganges zurück, bliebaber stehen, nun die Hände um die Griffe des Fensters geklammert. Sie starrtein die Dunkelheit hinaus, ihre rechte Hand löste sich und tastete nach der Reisetascheauf der gepolsterten Bank. Die Hand, schmal und gebräunt, erschien wie einkleines ängstliches Tier auf der Suche nach etwas Wertvollem, etwas Warmem,das es zu sichern galt.
Schon alssie auf dem Bahnsteig in Lüneburg auf und ab gehend auf das Einlaufen des Zuggewartet hatte, war Felicitas die schmale Gestalt im zerknitterten Staubmantelaufgefallen. Nicht nur, weil ihr noch sommerlich gebräuntes Gesicht großeErschöpfung verriet. Vielmehr, weil sie so ungewöhnlich kerzengerade auf einerder Bänke unter dem Vordach saß und trotz ihrer billigen Kleidung auf eineunbestimmte Art würdig wirkte. Außer ihr und dieser jungen Frau war nur nochein dicker Mann auf dem Bahnsteig gewesen. Der hatte, eine geöffnete Bierdosein der Hand, auf der zweiten Bank gehockt, eine abgewetzte Aktentaschezwischen den Füßen. Sein glasiger Blick klebte an der jungen Gestalt, schließlichmurmelte er etwas von <dunkler Nacht> und <so allein> und hieltihr mit schwankender Hand seine Zigarettenschachtel entgegen. Sie beachteteihn nicht, drehte nicht einmal den Kopf weg, und er ließ die Hand sinken.
Dann kamder Zug von seiner Warteposition auf einem toten Gleis, nur zwei leere undkalte Wagen, und die beiden Frauen stiegen ein. Sonst niemand. Der Dicke bliebsitzen. Der Zug fuhr ab und tauchte in die Dunkelheit der Heidelandschaft.
Verstohlen betrachtete Felicitas den schmalen, mit der Bewegungdes Zuges schwankenden Rücken. Sie sah das in der Höhe des Kinns geradeabgeschnittene glatte braune Haar, die regenfeuchten Flecken auf den Schulterndes Mantels. Auf dem Sitz neben der Reisetasche lag eine zusammengefaltete Zeitungin einer fremden, mit flüchtigem Blick nicht erkennbaren Sprache. Sie hattemit einem weichen Akzent gesprochen, der schwer zuzuordnen war. Wahrscheinlichgehörte sie zu den Aussiedlerfamilien, die in der neuen Siedlung beim Gewerbegebietlebten. (...)
© 2001 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
- Autor: Petra Oelker
- 2004, Sonderausg., 352 Seiten, Maße: 11,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499237202
- ISBN-13: 9783499237201
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