Der Koch
Verführerisch gutes Essen und ein Hauch Exotik, abgeschmeckt mit ein wenig politischer Gegenwart - zum Verschlingen gut!
Maravan, tamilischer Asylbewerber, arbeitet in einem Züricher Restaurant als Küchenhilfe. Weit...
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Verführerisch gutes Essen und ein Hauch Exotik, abgeschmeckt mit ein wenig politischer Gegenwart - zum Verschlingen gut!
Maravan, tamilischer Asylbewerber, arbeitet in einem Züricher Restaurant als Küchenhilfe. Weit unter seinem Niveau. Denn er ist ein begnadeter Koch. Als er gefeuert wird, eröffnet er zusammen mit seiner Kollegin einen Love-Food-Cateringservice. Und schon bald bekochen sie die ganze High-Society.
Der Koch von Martin Suter
Für Toni
20. Juli 2006 bis 25. August 2009
Er bestand aus zwei ineinander verschlungenen braunen Bändern, das eine hart und knusprig, das andere geschmeidig und fest. Beide waren aus dem gleichen, seltsam süßlicherdigen Rohsto gemacht, aber durch ihre grundverschiedene Beschaenheit schmeckten sie wie Tag und Nacht. Andrea konnte sich nicht erinnern, jemals etwas so Eigenartiges mit so viel Genuss gegessen zu haben. »Wie heißt das?«, wollte sie wissen. »Mann und Frau«, antwortete Maravan. »Und welches ist die Frau?« »Beides.« Er schenkte ihr Champagner nach Bollinger Spécial Cuvée, im Huwyler für hundertdreißig Franken auf der Karte , räumte die Teller ab und ging wieder in die Küche. Sie trank einen Schluck und betrachtete sein volles Glas, von dessen Grund nur noch selten ein von Kerzenlicht erfülltes Bläschen hochstieg. »Und wie heißt das?«, fragte sie, als er den nächsten Teller vor sie hinstellte. »Nord-Süd.« Auf dem Teller lagen drei unregelmäßig geformte hellgelbe Gebilde, wie Steine aus Schwefel. Als sie sie anfasste, fühlten sie sich hart und kalt an, aber als sie es Maravan nachtat und reinbiss, war ihr Inhalt lauwarm und luig und schmolz zu etwas Geschmeidigem, Freundlichem, das süß nach exotischem Konfekt schmeckte. Um diese kleinen Eis-Sphären standen Gel-Zylinder in einem anderen Gelb, durch die im Kerzenlicht gelborangefarbene Safranfäden durchschimmerten.
Im Mund entfalteten sie sich zu einer weiteren Belohnung für den Mut, in die eisigen Schwefelbrocken gebissen zu haben. »Das hast du erfunden?« »Die Zutaten stammen aus einem uralten Rezept, nur die Zubereitung ist von mir.« »Und der Name bestimmt auch.« »Ich hätte es ebenfalls Mann und Frau nennen können.« Kam es ihr nur so vor, oder war da etwas Anzügliches in seiner Stimme? Es war ihr egal. Bis jetzt war ihr das Essen mit der Hand leichtgefallen, die Gerichte waren alle handlich wie Fingerfood. Aber nun servierte Maravan die Currys. Drei Teller, auf jedem eine kleine Portion Curry, jedes auf dem Podest einer anderen Sorte Reis präsentiert und mit einem Schlenker Schaum und einem glasierten Zweiglein geschmückt. »Ladies'-Fingers-Curry auf Sali-Reis mit Knoblauchschaum. Curry vom jungen Huhn auf Sashtika-Reis mit Korianderschaum. Churaa Varai auf Nivara-Reis mit Mintschaum«, verkündete Maravan. »Was ist Churaa Varai?« »Hai/sch.« »Ach.« Er wartete, bis sie zu essen an/ng. »Du zuerst«, forderte sie ihn auf und sah ihm zu, wie er mit Daumen, Zeige- und Mittel/nger den Reis mit etwas Curry zu einem Bällchen formte und in den Mund steckte. Beim ersten Versuch stellte sich Andrea noch etwas ungeschickt an, aber sobald sie den ersten Bissen im Mund hatte, achtete sie nicht mehr auf die Technik, nur noch auf den Geschmack. Es war, als könnte sie jedes Gewürz herausschmecken. Als würde jedes einzeln explodieren und das Ganze sich zu einem sich immer wieder neu formierenden Feuerwerk entfalten. Auch die Schärfe war genau richtig. Sie brannte nicht auf der Zunge, machte sich kaum bemerkbar und hielt sich für den Abgang bereit. Und auch dann verhielt sie sich wie ein zusätzliches Gewürz, eine letzte Intensivierung des Geschmackserlebnisses, und hinterließ eine wohlige Wärme, die in der Zeit, die Andrea brauchte, um einen neuen Bissen zu formen, san verebbte. »Hast du Heimweh?«, fragte sie. »Ja. Aber nicht nach dem Sri Lanka, das ich verließ. Nur nach dem, in das ich zurückkehren möchte. Ein friedliches. Ein gerechtes.« »Und vereintes?« Maravans Rechte bewegte sich, als hätte sie sich losgelöst von seinen Hirnbefehlen und erfüllte nun selbständig die Aufgabe, ihren Besitzer zu füttern. Dieser hatte seinen Blick fest auf seinen Gast gerichtet, und wenn der Mund sprach, wartete die Hand mit ihrem Bissen respektvoll und in diskreter Distanz. »Alle drei? Friedlich, gerecht und vereint? Das wäre schön.« »Aber du glaubst nicht daran.« Maravan zuckte mit den Schultern. Als wäre dies das Zeichen, auf das sie gewartet hatte, setzte sich die Hand in Bewegung, schob ein Reisbällchen in den Mund und machte sich daran, ein neues zu formen.
»Lange habe ich daran geglaubt. Sogar meine Stelle als Koch in Kerala habe ich aufgegeben und bin nach Sri Lanka zurückgekehrt.« Maravan erzählte von seiner Ausbildungszeit in Kerala und seiner Karriere in verschiedenen Ayurveda Wellness Resorts. »Noch ein Jahr, und ich wäre Chef gewesen«, seufzte er. »Und warum bist du zurückgegangen?« Andrea hatte ein Stück Chapati mit Korianderschaum in der Hand und konnte es kaum erwarten, es in den Mund zu schieben. Sie hatte nicht gewusst, wie viel sinnlicher es war, mit der Hand zu essen. »2001 gewann die United National Party die Neuwahlen. Alle glaubten an den Frieden, die ltte rief eine Waffenruhe aus, in Oslo begannen Friedensverhandlungen. Es sah aus, als wäre endlich das Sri Lanka im Entstehen, in das ich zurückwollte. Und ich musste von Anfang an dabei sein.« Er tauchte seine Finger in die Fingerschale, trocknete sie mit der Serviette, stellte die Teller zusammen und stand auf, alles in einem einzigen, ¬ießenden Bewegungsablauf, wie es Andrea vorkam. Sie sah ihn in der Küche verschwinden. Als er kurz darauf wieder herauskam, trug er vorsichtig eine lange, sehr schmale Platte, in deren Mitte nichts als eine Reihe exakt ausgerichteter glänzender Bälle lag. Sie sahen aus wie kleine alte Billardkugeln aus nachgedunkeltem Elfenbein, waren warm, besaßen eine Konsistenz wie kandierte Früchte und schmeckten süß und scharf nach Butter, Kardamom und Zimt.
»Und dann?«, fragte Andrea, wie ein Kind bei der Gutenachtgeschichte. »Ich fand eine Stelle als Commis in einem Hotel an der Westküste.« »Als Commis?«, unterbrach sie ihn. »Ich dachte, du warst beinahe Chef?« »Aber auch Tamile. In Kerala spielte das keine große Rolle. Im singhalesischen Teil Sri Lankas schon. Ich arbeitete fast drei Jahre als Commis.« Andrea biss bereits in die zweite der polierten Kugeln. »Dabei bist du ein Künstler.« »2004 bekam ich meine Chance. Die Hotelkette, bei der ich angestellt war, hatte im Hochland aus einer Teefabrik ein Boutique-Hotel gemacht und mich dort zum Chef de Partie ernannt.« »Und weshalb bist du nicht geblieben?« »Der Tsunami.« »Im Hochland?« »Er hatte das Hotel an der Küste zerstört, und einer der überlebenden singhalesischen Köche hat meine Stelle bekommen. Ich musste zurück in den Norden. Und dort erlebte ich, wie die LTTE und die Regierung die Hilfslieferungen der ganzen Welt dazu benutzten, ihre Politik zu betreiben. Da wusste ich, dass dies nicht das Sri Lanka war, in das ich hatte zurückkehren wollen.« Er naschte jetzt auch von einer Kugel und legte sie in seinen Teller zurück. »Und noch lange nicht sein würde.« »Der Tsunami ist doch gar nicht so lange her.« »Etwas über drei Jahre.« »Und weshalb sprichst du schon so gut Deutsch?«
Maravan zuckte mit den Schultern. »Wir haben gelernt, uns anzupassen. Dazu gehört Sprachen lernen.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Chuchichäschtli.« Andrea lachte. »Und warum die Schweiz?« »In den Ayurveda Resorts in Kerala und in den Hotels in Sri Lanka gab es viele Schweizer. Die waren immer freundlich.« »Hier auch?« Maravan überlegte. »Hier werden die Tamilen besser behandelt als in ihrer Heimat. Es gibt hier fast fünfundvierzigtausend von uns. Tee?« »Wenn du meinst.« Er räumte das benutzte Geschirr ab. »Ist es eigentlich okay, dass ich einfach hier sitze und mich bedienen lasse?« »Heute hast du frei«, antwortete er und verschwand in der Küche. Nach einer Weile brachte er ein Tablett mit einem Teeservice und schenkte ein. »Weißer Tee. Aus den silbernen Blattspitzen des Tees vom Hochland bei Dimbula«, kommentierte er, ging zurück in die Küche und brachte für jeden einen Teller mit Konfekt. Ein grüngesprenkelter Eislutscher, umgeben von kleinen Spargeln mit gigrünen Spitzen und herzförmigen dunkelroten Plätzchen. »Ich glaube, ich kann nichts mehr essen.« »Konfekt kann man immer essen.« Er hatte recht. Der Lutscher schmeckte nach Lakritze, Pistazien und Honig, wie eine Jahrmarktsleckerei. Die Spargel aßen sich wie Gummibärchen und schmeckten intensiv nach Spargel. Die Herzchen waren süß und scharf, dufteten nach einem indischen Markt und schmeckten es fiel ihr kein besseres Wort ein frivol. Plötzlich wurde sie sich der Stille bewusst, die zwischen ihnen entstanden war. Auch der Wind hatte aufgehört, seine Regenböen auf das Fenster zu treiben. Irgendetwas ließ sie sagen: »Zeigst du mir Fotos von deiner Familie?« Ohne ein Wort stand Maravan auf, zog sie auf die Beine und führte sie ins Schlafzimmer zur Wand mit den Fotos. »Meine Geschwister und einige ihrer Kinder. Meine Eltern, sie kamen 1983 um, ihr Auto wurde angezündet.« »Weshalb?« »Weil sie Tamilen waren.« Andrea legte die Hand auf seine Schulter und schwieg. »Und die alte Frau ist Na ...« »Nangay.« »Sie sieht weise aus.« »Sie ist weise.« Wieder entstand eine Stille. Andreas Blick wanderte zum Fenster. In dem schwachen Licht, das aus dem Schlafzimmer in die Dunkelheit drang, sah sie Schneeflocken tanzen. »Es schneit.« Maravan sah kurz zum Fenster und zog die Vorhänge zu. Jetzt stand er da und sah sie unentschlossen an. Andrea fühlte sich satt und zufrieden. Und dennoch nagte da noch immer ein kleiner Hunger. Erst jetzt wurde ihr klar, wonach. Sie ging auf ihn zu, nahm seinen Kopf zwischen beide Hände und küsste ihn auf den Mund.
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Anhang mit ausführlichen Rezepten und Quellennachweis am Ende des Buchs Umschlagfoto (Ausschnitt): Copyright © Rainer Holz/ zefa/Corbis/Specter
Alle Rechte vorbehalten Copyright © 2010 Diogenes Verlag AG Zürich www.diogenes.ch 1200 /10/8/1
ISBN 978 3 257 06739 2
Martin Suter ist am 29. März 2004 in Zürich mit der Goldenen Diogenes Eule ausgezeichnet worden.
- Autor: Martin Suter
- 2010, 311 Seiten, Maße: 12,5 x 18,8 cm, Leinen, Deutsch
- Verlag: Diogenes
- ISBN-10: 3257067399
- ISBN-13: 9783257067392
4.5 von 5 Sternen
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