Der Koloß von New York
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Der Koloß von New York von Colson Whitehead
LESEPROBE
Es gibt in dieser nackten Stadt acht Millionen nackte Städte – siewiderstreiten und widersprechen einander. Das New York, in dem Sie leben, istnicht mein New York; wie könnte es auch anders sein? Die Stadt vermehrt sich,wenn man gerade nicht hinsieht. Wir ziehen hierhin, wir ziehen dahin. Im Laufeeines Lebens kommen so eine ganze Menge Viertel zusammen, das kunterbunteBaumaterial Ihrer zusammengestoppelten Metropole. Ihre bevorzugtenZeitungskioske, Restaurants, Kinos, U-Bahn-Stationen und Friseursalons werdenvon denen Ihres nächsten Viertels abgelöst. Das läppert sich. Im Handumdrehenhaben Sie Ihre eigene, persönliche Skyline.
Kehren Sie an Ihre alten Lieblingsplätze in Ihren alten Vierteln zurück, undSie stellen fest: Sie sind geblieben und verschwunden. Die Imbißbude, dasFeinkostgeschäft, die Reinigung, die Sie ausgekundschaftet haben, als Sie hierankamen und versuchten, in diesen Straßen heimisch zu werden: sie sind fort.Aber schauen Sie hinter die Fenster des Reisebüros, das Ihre Pizzeria ersetzthat. Jenseits der Schreibtische, Computer und Werbeplakate für tropischeAbenteuer können Sie immer noch abkühlende Pizzen sehen, den neben einem halbenStück liegenden Pizzaschneider, die Landkarte von Sizilien an der Wand. Es istimmer noch alles da, das versichere ich Ihnen. Der Mann, der gerade einen Flugnach Jamaika bezahlt hat, sieht nichts davon, sieht nur seine romantischeFlucht, seinen Familienurlaub, das, was dieser kleine Laden in dieser kleinenStraße ihm gewährt hat. Die verschwundene Pizzeria ist noch da, weil Sie dasind, und wenn der Schönheitssalon das Reisebüro ersetzt, wird der Gentlemanimmer noch seine Ferienreise bekommen. Und die Lady ihre Maniküre. Sie müssenschlucken, wenn Sie feststellen, daß das alte Café jetzt die Filiale einerApothekenkette ist, daß der Ort, wo Sie Soundso zum ersten Mal geküßt haben,jetzt einen Elektronik-Discounter beherbergt, daß dort, wo Sie ebendiesesJackett gekauft haben, Schutt hinter einem blaugestrichenen Sperrholzzaun undein künftiges Bürogebäude liegen. Ihrer Stadt ist Schaden zugefügt worden. Siesagen, es sei über Nacht passiert. Aber das stimmt natürlich nicht. IhrePizzeria, sein Schuhputzerstand, ihr Hutgeschäft: als es sie noch gab, habenwir sie geringgeschätzt. Gut möglich, daß der Laden dichtgemacht hat, kurznachdem Sie das letzte Mal zur Tür hinausspaziert sind. (Vor zehn Monaten?Sechs Jahren? Fünfzehn? Sie wissen es nicht mehr, stimmt’s?) Und vor dem Reisebürogab es an dieser Stelle fünf Geschäfte. Fünf verschiedene Viertel, die zwischendamals und heute entstanden und verschwunden sind, andere Städte anderer Leute.Oder fünfzehn, fünfundzwanzig, hundert Viertel. Tausende von Menschen kommenjeden Tag an dieser Ladenfront vorbei, jeder verkehrt in den Straßen seineseigenen New York, und keiner von ihnen sieht das gleiche. Nie können wir unsrichtig verabschieden. Es war Ihre letzte Fahrt in einem Checker-Taxi, und Siewurden nicht vorgewarnt. Es war das letzte Mal, daß Sie in diesem irgendwiezwielichtigen China-Restaurant Lake Tung Ting Shrimps aßen, und Sie hattenkeine Ahnung. Wenn Sie es gewußt hätten, wären Sie vielleicht hinter den Tresengegangen und hätten jedem die Hand gegeben, hätten die Kamera hervorgeholt undden Leuten gesagt, wie sie sich hinstellen sollen. Aber Sie hatten keineAhnung. Es gibt unangekündigte Wendepunkte: Wir schließen die Eingangstür einerWohnung nur soundso viele Male auf. Irgendwann waren Sie dem letzten Mal näherals dem ersten Mal, ohne es zu wissen. Sie wußten nicht, daß Sie sich jedesmal,wenn Sie die Schwelle überschritten, verabschiedeten. Ich hatte nieGelegenheit, mich von einigen meiner alten Gebäude zu verabschieden. In manchenhabe ich gewohnt, andere gehörten zu einer Skyline, von der ich glaubte, eswerde sie immer geben. Und sie hatten nie Gelegenheit, sich von mir zuverabschieden. Ich glaube, das hätten sie gern getan – ich weigere mich, siefür gleichgültig zu halten. Sie behaupten, Sie kennen diese Straßen ziemlichgut? Die Stadt kennt Sie besser als jeder lebende Mensch, weil sie Sie gesehenhat, als Sie allein waren. Sie hat Sie gesehen, wie Sie sich für dasVorstellungsgespräch wappneten, nach der späten Verabredung langsam nach Hausegingen, über nichtexistierende Hindernisse auf dem Bürgersteig stolperten. Siehat Sie zusammenzucken sehen, als der eine eiskalte Tropfen aus der Klimaanlageim zwölften Stock herunterfiel und Sie erwischte. Sie hat die Verwirrung inIhrem Gesicht gesehen, als Sie aus der spontan besuchten Vormittagsvorstellungkamen, ungläubig, daß nach einem so langen Film noch heller Tag herrschte. Siehat Sie fast im Laufschritt die Straße heraufkommen sehen, nachdem Sie dieSchlüssel zu Ihrer ersten Wohnung bekommen haben. Die Stadt hat das alles gesehen.Und im Gedächtnis behalten. Überlegen Sie, was alle Ihre früheren Wohnungensagen würden, wenn sie zusammenkämen, um Geschichten auszutauschen. Sie könntenBeginn und Ende jeder Ihrer Beziehungen rekonstruieren, sich über Ihre Garderobeund Ihren Musikgeschmack beklagen, darüber klatschen, wer Sie nach Mitternachtsind. 7J sagt: Das ist also aus Lucy geworden – ich habe gleich gewußt, daß dasnie funktionieren würde. Sie haben mit Yoga angefangen, Sie haben mit Yogaaufgehört, Sie haben diverse Heilverfahren ausprobiert. Sie habenPersönlichkeiten ausprobiert und sie verworfen, und das macht Ihre früherenZimmer wehmütig: Warum muß sich alles ändern? Saxophon sagst du, meint 3R, ichhabe ihn gekannt, als er Gitarre gespielt hat. Halten Sie Ihre früherenWohnungen in Ehren und verweilen Sie einen Augenblick, wenn Sie daranvorbeikommen. Zollen Sie Ihnen Tribut, denn sie sind die Bewahrer IhrerPersönlichkeitswechsel. Unsere Straßen sind Kalender, in denen steht, wer wirwaren und wer wir als nächstes sein werden. Wir sehen uns jeden Tag in dieserStadt, wenn wir den Bürgersteig entlanggehen und flüchtig unser Spiegelbild inSchaufenstern erblicken; wir suchen uns jedesmal in dieser Stadt, wenn wir unsin Erinnerungen darüber ergehen, was vor fünfzehn, zehn, vierzig Jahren da war,denn alle unsere früheren Orte sind der Beweis dafür, daß wir hier waren. EinesTages wird die Stadt, die wir gebaut haben, verschwunden sein, und wenn sieverschwindet, verschwinden auch wir. Wenn die Gebäude fallen, stürzen auch wir.Vielleicht werden wir an dem Tag New Yorker, an dem wir uns klarmachen, daß NewYork auch ohne uns weiterbestehen wird. Um das Unvermeidliche hinauszuschieben,versuchen wir, die Stadt an Ort und Stelle zu fixieren, sie in Erinnerung zubehalten, wie sie war, und tun ihr damit etwas an, was wir uns selbst niegefallen ließen. Der Jugendliche im Zug Nr. 1 in Uptown, der Neuankömmling, deraus Grand Central tritt, der Trottel an der Kreuzung, der Osten und Westennicht unterscheiden kann: diese Leute gibt es nicht mehr, sie haben ein paarWohnungen zuvor zu existieren aufgehört, und anders wollen wir es auch garnicht haben. New York City hält uns unsere früheren Persönlichkeiten nicht vor.Vielleicht können wir ja ebenso entgegenkommend sein. Unsere alten Gebäudestehen noch, weil wir sie gesehen haben, in ihre langen Schatten ein- und ausihnen herausgetreten sind, das Glück hatten, sie eine Zeitlang zu kennen. Siesind Teil der Stadt, die wir mit uns herumtragen. Schwer vorstellbar, daßirgend etwas anderes an ihre Stelle treten wird, doch in ebendiesem Momentüberlegen die Leute mit den richtigen Referenzen, wie sie die Krater füllenkönnten. Die Betonlaster werden anrollen und ihre Bäuche rotieren lassen, diePreßlufthämmer werden knattern, und nach einer Weile wird man dann dieAnsichtskarten von der neuen Skyline kaufen können. Natürlich werden wir dieseNeulinge argwöhnisch beäugen, aber wir wollen geduldig sein und nicht allzurasch urteilen. Schließlich waren wir auch einmal neu hier. Was folgt, istmeine Stadt. Also eine Art Reiseführer, mit praktischen, farbkodierten Kartenund winzigem Kleindruck, den Sie sehr genau lesen sollten, damit Sie keineÜberraschungen erleben. Er enthält Ihre Viertel. Oder auch nicht. Wirüberschneiden uns. Oder auch nicht. Vielleicht sind Sie durch diese Straßengegangen, vielleicht ist das alles Jersey für Sie. Ich weiß nicht recht, wasich sagen soll. Außer vielleicht, daß wir wahrscheinlich Nachbarn sind. Daß wirjeden Tag aneinander vorbeigehen und es erst jetzt erfahren.
© 2005 by Carl Hanser VerlagGmbH & Co. KG, München
Übersetzung: Nikolaus Stingl
Colson Whitehead, 1969 in New York geboren, studierte an der Harvard University und arbeitete für die New York Times, Harper's und Granta. Whitehead erhielt den Whiting Writers Award (2000) und den Young Lion's Fiction Award (2002) und war Stipendiat der MacArthur "Genius" Fellowship. Für seinen Roman Underground Railroad wurde er mit dem National Book Award 2016 und dem Pulitzer-Preis 2017 ausgezeichnet. Für seinen Roman Die Nickel Boys erhielt er 2020 erneut den Pulitzer-Preis. Bei Hanser erschienen bisher John Henry Days (Roman, 2004), Der Koloß von New York (2005), Apex (Roman, 2007), Der letzte Sommer auf Long Island (Roman, 2011), Zone One (Roman, 2014), Underground Railroad (Roman, 2017) und Die Nickel Boys (Roman, 2019). Der Autor lebt in Brooklyn.
- Autor: Colson Whitehead
- 2005, 152 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 12,9 x 20,7 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Nikolaus Stingl
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446205926
- ISBN-13: 9783446205925
- Erscheinungsdatum: 31.01.2005
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