Der letzte Mentsch
Roman. Originalausgabe. Nach dem gleichnamigen Drehbuch zum Film "Der letzte Mensch" von Pierre-Henry Salfati und Almut Getto
Um zu vergessen, hat Marcus Schwartz, der als Jugendlicher Auschwitz überlebte, seine jüdischen Wurzeln lange Jahre verleugnet:
Er hat seinen Namen Menachem Teitelbaum abgelegt, jeglichen Kontakt zu Juden vermieden und nie eine Synagoge besucht....
Er hat seinen Namen Menachem Teitelbaum abgelegt, jeglichen Kontakt zu Juden vermieden und nie eine Synagoge besucht....
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der letzte Mentsch “
Um zu vergessen, hat Marcus Schwartz, der als Jugendlicher Auschwitz überlebte, seine jüdischen Wurzeln lange Jahre verleugnet:
Er hat seinen Namen Menachem Teitelbaum abgelegt, jeglichen Kontakt zu Juden vermieden und nie eine Synagoge besucht. Doch eines Tages holt ihn die Vergangenheit unerwartet ein. Auf einem jüdischen Friedhof überkommt Marcus der Wunsch, dort begraben zu werden dafür muss er allerdings beweisen, dass er Jude ist. Ein fast unmögliches Unterfangen, denn alle Verwandten und Freunde sind tot. Und so begibt sich der Achtzigjährige kurzerhand mit der jungen Deutschtürkin Gül, mit der er sich angefreundet hat, auf einen abenteuerlichen und wahrlich Grenzen überschreitenden Roadtrip in seine alte Heimat.
Eine tragikomische Geschichte über eine ungewöhnliche, generationenübergreifende Freundschaft und die Suche nach Identität und Heimat.
Er hat seinen Namen Menachem Teitelbaum abgelegt, jeglichen Kontakt zu Juden vermieden und nie eine Synagoge besucht. Doch eines Tages holt ihn die Vergangenheit unerwartet ein. Auf einem jüdischen Friedhof überkommt Marcus der Wunsch, dort begraben zu werden dafür muss er allerdings beweisen, dass er Jude ist. Ein fast unmögliches Unterfangen, denn alle Verwandten und Freunde sind tot. Und so begibt sich der Achtzigjährige kurzerhand mit der jungen Deutschtürkin Gül, mit der er sich angefreundet hat, auf einen abenteuerlichen und wahrlich Grenzen überschreitenden Roadtrip in seine alte Heimat.
Eine tragikomische Geschichte über eine ungewöhnliche, generationenübergreifende Freundschaft und die Suche nach Identität und Heimat.
Klappentext zu „Der letzte Mentsch “
Um zu vergessen, hat Marcus Schwartz, der als Jugendlicher Auschwitz überlebte, seine jüdischen Wurzeln lange Jahre verleugnet: Er hat seinen Namen Menachem Teitelbaum abgelegt, jeglichen Kontakt zu Juden vermieden und nie eine Synagoge besucht. Doch eines Tages holt ihn die Vergangenheit unerwartet ein. Auf einem jüdischen Friedhof überkommt Marcus der Wunsch, dort begraben zu werden - dafür muss er allerdings beweisen, dass er Jude ist. Ein fast unmögliches Unterfangen, denn alle Verwandten und Freunde sind tot. Und so begibt sich der Achtzigjährige kurzerhand mit der jungen Deutschtürkin Gül, mit der er sich angefreundet hat, auf einen abenteuerlichen und wahrlich Grenzen überschreitenden Roadtrip in seine alte Heimat ...Eine tragikomische Geschichte über eine ungewöhnliche, generationenübergreifende Freundschaft und die Suche nach Identität und Heimat.
Lese-Probe zu „Der letzte Mentsch “
Der letzte Mentsch von Pierre-Henry Salfati & Alexander SchullerKapitel 1
Achtzehn. Neunzehn. Zwanzig. Noch dreißig. Seine Kniegelenke knackten, wenn er in die Hocke ging und sich gleich darauf wieder hochstemmte. Sechsundzwanzig. Siebenundzwanzig. Achtundzwanzig. Drüben auf der anderen Mainseite spiegelte sich die Morgensonne in den verglasten Hochhausfassaden des Bankenviertels. Die Reflexionen glitzerten auf dem schmutzig braunen Wasser des Flusses. Der alte Mann hatte dieses Farbenspiel aus tanzenden kleinen Lichtpunkten jedoch schon häufig gesehen. Überhaupt war er gerade viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sich mit Nebensächlichkeiten zu befassen. Einunddreißig. Zweiunddreißig. Er hielt beide Arme nach vorn gestreckt, schön gerade und parallel, genauso, wie es dem Turnvater gefallen hätte. Noch sechzehn Kniebeugen. Fünfzehn. Vierzehn. Dreizehn. Das Luft- holen fiel ihm jetzt schon schwer. Seine Oberschenkel fingen an zu brennen, Schweiß rann über sein Gesicht und zwickte ihn in den Augen. Nur noch zehn. Neun, acht, sieben. Das Ende naht, dachte er, und beinahe hätte er gekichert. Das Ende, sein Ende!
Drei. Zwei. Eins.
Erleichtert ließ er sich ins feuchte Gras der Uferwiese plumpsen und blickte keuchend zur Friedensbrücke hinüber, wo der dichte morgendliche Berufsverkehr wie üblich mit Hupkonzerten eröffnet wurde. Sollen die Menschen mehr Rad fahren, dachte er, gerade an einem so schönen Septembertag. Er legte sich auf den Rücken, streckte alle viere von sich und horchte aufmerksam in sich hinein. Sein Herz schlug schneller als gewöhnlich, aber es schlug regelmäßig, und auch der Puls ging langsam herunter. Das war schon mal beruhigend. Sehr beruhigend.
... mehr
Der alte Mann hieß Marcus Schwartz. Dieser Name stand auf seinem Personalausweis, in seinem Reisepass und auf allen anderen Dokumenten und Plastikkarten, die der Mensch benötigt. Einen Führerschein besaß er nicht. Doch Marcus Schwartz war nicht sein richtiger Name. Seine Eltern, Zissel und Samson Teitelbaum, hatten ihrem Erstgeborenen den Namen Menachem gegeben, als er am 21. April 1929 im ungarischen Satu Mare geboren wurde; eine Stadt, die heute längst wieder zu Rumänien gehört.
Menachem war nach einem gut einjährigen Martyrium kurz nach seinem sechzehnten Geburtstag gestorben, und zwar genau am 29. April 1945, im Konzentrationslager Dachau bei München. Allerdings war er noch am selben Tage wieder auferstanden, indem er den amerikanischen Befreiern einfach diesen Namen genannt hatte, den erstbesten, der ihm eingefallen war - und der jemand anderem gehört hatte. Einem, den Menachem noch wenige Wochen zuvor neben sich hatte sterben sehen, auf einer gefrorenen Schneewehe am Straßenrand, in der Nähe von Weimar.
Die Amerikaner hatten keinen Moment an Menachems Angaben gezweifelt, die sie sowieso kaum überprüfen konnten. Zu jener Zeit nahm man an, dass die Deutschen die meisten Unterlagen in Auschwitz verbrannt hatten oder dass diese im heillosen Durcheinander ihrer überstürzten Flucht vor den Russen verloren gegangen waren, was sich später - zum Teil jedenfalls - als richtige Vermutung erweisen sollte.
Außerdem gab es praktisch niemanden, den man hätte fragen können, ob dieser Marcus Schwartz tatsächlich derjenige war, der er vorgab zu sein.
So war der sechzehn Jahre alte Menachem Teitelbaum fortan als Marcus Schwartz durch die Welt gewandelt. Als jungen Mann mit neuer Identität hatten ihn die Amerikaner in das Kloster von Indersdorf gebracht, wo man eine Sammelstelle für jüdische Waisenkinder aus Konzentrationslagern eingerichtet hatte. Die meisten von ihnen waren in Flossenbürg befreit worden. Marcus war der einzige ehemalige Auschwitz-Häftling und darüber hinaus auch der Älteste gewesen, eigentlich schon viel zu erwachsen fürs Waisenhaus. Doch dank seiner umfangreichen Sprachkenntnisse hatte er sich rasch als Dolmetscher nützlich machen können. Denn in seiner Geburtsstadt Satu Mare, wo schon immer viele Volksdeutsche - vor allem Banater Schwaben und ein paar Siebenbürger - gelebt hatten, wurde in der Schule ungarisch und deutsch und auf der Straße rumänisch gesprochen.
Satu Mare war ein bedeutendes Zentrum der jüdischen Religion in Osteuropa gewesen. Hier war die Satmar gegründet worden, die Organisation der Chassiden, die ihren Hauptsitz mittlerweile nach New York verlegt hat. Mit seinen Großeltern und seinen Eltern hatte Marcus meist Jiddisch geredet.
Die Barmherzigen Schwestern des Klosters Indersdorf hatten ihn erst einmal aufgepäppelt, denn bei seiner Ankunft hatte Marcus nur noch 50 Kilogramm gewogen, und das bei einer Größe von ein Meter achtzig. Danach hatten die Nonnen nicht nur sein Sprachtalent nach Kräften gefördert, sondern ihn auch aufs Gymnasium geschickt. Sie hatten dafür gesorgt, dass er diesen Ort der inneren Einkehr drei Jahre später mit einer Hochschulberechtigung verlassen konnte.
Damals, mit neunzehn Jahren, hatte ihm die ganze Welt offen gestanden. Er hätte nach Israel gehen können, doch im neu gegründeten Staat herrschte Krieg, und davon wollte er nichts mehr wissen. Dies war auch der Grund, warum er nicht nach Amerika ausgewandert war: Marcus hatte befürchtet, dass man ihn dort irgendwann zum Militärdienst verpflichten könnte.
Nur in Deutschland gab es keine Armee mehr, sah man einmal von den alliierten Besatzungstruppen ab. Vielleicht deshalb hatte er sich entschieden, in Deutschland zu bleiben; ausgerechnet in dem Land, das ihm seine Familie genommen hatte, seine Jugend. Er wollte seine Sprachkenntnisse vervollkommnen, weitere Sprachen dazulernen und Deutscher werden, um unauffällig, ordentlich und diszipliniert zu leben - und natürlich auch friedlich. So hatte er gehofft, vergessen und verdrängen zu können.
Doch bis zum heutigen Tag fragte er sich immer wieder, warum er noch lebte. Warum Gott ausgerechnet ihn auserwählt hatte, im Gegensatz zu den vielen Millionen anderer Juden. Und weil er dies nicht für gerecht hielt, hatte er sich von Gott abgewandt.
Das Einzige, was Marcus heilig war, war seine tägliche Morgengymnastik. Mit dieser Schinderei hatte er angefangen, als er sich Mitte der sechziger Jahre endgültig in Frankfurt niederließ. Nur wenn er an Schnupfen litt, was äußerst selten vorkam, rannte er nicht auf seine Übungswiese an den Main hinunter. Wenn es wie aus Kübeln schüttete oder heftig schneite, trainierte er daheim, machte am offenen Fenster Dehnübungen, Rumpfbeugen, Liegestütze, Kopf-und Schulterkreisen, Schattenboxen und Kniebeugen: Marcus absolvierte stets das gleiche Programm in derselben Abfolge, präzise wie ein Uhrwerk, in exakt dreißig Minuten. Dies war der Grund, warum für gewöhnlich alle Menschen staunten, wenn sie, zumeist zufällig, erfuhren, dass Marcus bereits vierundachtzig Jahre alt war. Denn mit seinem Alter ging er nicht hausieren, schließlich hätte er ja niemals so alt werden dürfen.
Auch Doktor Weinheim, sein neuer Hausarzt, war über seine physische und psychische Konstitution verblüfft, ja geradezu entzückt gewesen. Marcus hatte ihn erst eine Woche zuvor konsultiert, als ihm ausgerechnet nach den elenden fünfzig Kniebeugen zum ersten Mal übel geworden war. Außerdem war da so ein merkwürdiges Sausen in seinem Kopf gewesen.
Der junge Arzt hatte sich viel Zeit genommen, viel mehr Zeit als sein verstorbener Vorgänger, dieser stets lustige Quacksalber Kramer, und Marcus hatte ebenso geduldig wie interessiert und klaglos alle Untersuchungen und Tests über sich ergehen lassen. Am Ende dieses anstrengenden Vormittags, an dem er mehrere der modernsten Diagnoseverfahren kennengelernt hatte, wurde ihm mitgeteilt, dass »kein Befund« vorliege. »Ihre Werte sind alle normal. Alles im grünen Bereich. Also für Ihr Alter, Herr Schwartz, sieht das alles sehr, sehr gut aus!«
»Was soll denn das heißen: für mein Alter?«, hatte Marcus in harschem Ton erwidert, worauf der junge Arzt erschrocken zusammenzuckte. Die rätselhafte Übelkeit hatte sich wirklich nicht gut angefühlt. So besorgt war Marcus noch nie gewesen.
Sein Hausarzt hatte sich rasch wieder gefangen und ihm zum Abschied geraten, einfach mal einen Gang herunterzuschalten. »Beobachten Sie bitte in der nächsten Zeit, wie es Ihnen während Ihrer Übungen geht. Sie sind nun mal nicht mehr der Jüngste!«
Nicht mehr der Jüngste zu sein: Das war für Marcus die Umschreibung dafür, dass er mit Sicherheit der Nächste sein würde.
Der Nächste.
Er schlug die Augen auf. Am Himmel verflüchtigten sich die letzten Dunstfetzen. Es versprach ein schöner Tag zu werden. Die Regenwahrscheinlichkeit tendierte gegen null, so wie im Radio vorhergesagt. Und das war gut so, da er heute einen wichtigen aushäusigen Termin hatte, der sich nicht verschieben ließ, höchstens vermeiden, was Marcus auch am liebsten getan hätte. Doch das hätte sich weder geschickt, noch hätte er es sich jemals verziehen. Für Menachem wäre in diesem Fall sogar eine Mizwa in Frage gekommen, aber Marcus würde sich heute von Jakob Grüneisen persönlich verabschieden. Das war er ihm nach den langen Jahren ihrer Freundschaft schuldig, nur als Schomer hätte er nicht zur Verfügung gestanden. Doch niemand hatte ihn um die Totenwache gebeten, auch der ihm unbekannte Mann nicht, der ihn vor zwei Tagen angerufen hatte. »Sind Sie der Herr Schwartz, Marcus Schwartz?« Im ersten Moment hatte Marcus einen dieser aufdringlichen Telefonverkäufer vermutet und wollte schon wieder auflegen, doch dann hatte sich der unbekannte Anrufer rasch als Mitglied der Chewra Kadischa vorgestellt, der ihn vom Ableben seines Freundes im Universitätsklinikum unterrichten wollte. Hätte er nach einem »Menachem Teitelbaum« gefragt, wäre Marcus gezwungen gewesen, sich eine gute Ausrede einfallen zu lassen.
Jakob Grüneisen und Janosz Tomaszcewsky waren die einzigen Menschen, die sein Geheimnis kannten, und sie hatten es bewahrt. Jetzt war Marcus schon wieder derjenige, der übrig geblieben war.
Als er sich aufrappelte, entdeckte er neben sich einen handtellergroßen, braunen Stein, der mit seiner flachen Unterseite auf der Wiese lag. Sein Puls war zwar noch immer etwas beschleunigt, aber er fühlte sich gut. So wie es ihm der Arzt geraten hatte, horchte er noch einmal in sich hinein. Nein, da war weder der leiseste Anflug von Übelkeit zu spüren, noch ein Sausen im Kopf. Erleichtert bückte er sich nach dem Stein, steckte ihn in die Tasche seiner Trainingshose und trabte die zweieinhalb Kilometer zurück nach Hause.
Eine gute Viertelstunde später legte Marcus den Stein in seinem Esszimmer auf eine schmale Anrichte, auf der ein schlichter Kerzenleuchter mit einem Fotorahmen aus Silber ein harmonisches Ensemble bildete. Die rechte und die linke obere Ecke des Fotorahmens wurden seit dem Anruf in der vorvergangenen Nacht von zwei schwarzen Trauerbändern geziert, die er für diesen Fall der Fälle in seiner Abstellkammer verwahrte. Die Aufnahme war vor etwa fünfzehn Jahren entstanden, in einem Schachcafe, drüben in Sachsenhausen. Es war das einzige Foto, das Marcus besaß. Es zeigte drei Männer in reifem Alter, die in die Kamera lächelten. Bei dem Mann in der Mitte handelte es sich um Marcus selbst, zu seiner Linken saß Janosz Tomaszcewsky - den sie bereits vor fünf Jahren begraben hatten - und zu seiner Rechten Jakob Grüneisen oder, von links nach rechts, Buchenwald, Auschwitz, Mauthausen.
Marcus lebte in Niederrad in der Bruchfeldsiedlung, die diesem kleineren Frankfurter Stadtviertel den Spitznamen »Zick-Zack-Hausen« beschert hatte. Auf Besucher hätte seine Wohnung seltsam unpersönlich gewirkt. Sie lag in der zweiten Etage eines rau verputzten Mietshauses aus den späten zwanziger Jahren mit insgesamt sechs Parteien und bestand aus drei Zimmern, Küche und Bad sowie einem Dielenboden, der hie und da ein bisschen knarrte, jedoch perfekt versiegelt war. Die Möblierung war sparsam und aufs Wesentliche beschränkt, die Möbelstücke waren antik und sehr gepflegt, und überhaupt war nirgendwo ein Stäubchen zu entdecken. Der einzige Raum, in dem so etwas wie tägliches Leben zu herrschen schien, war sein kleines Arbeitszimmer, dessen Wände vollgestopfte Bücherregale zierten. Auch auf dem Boden und auf dem Schreibtisch lagen mehrere Dutzend Bücherstapel, die nach Themengebieten und Sprachen geordnet waren. Marcus bezeichnete dieses Durcheinander als »wohlgeordnetes Chaos«, da er sich darin hervorragend zurechtfand. Anfangs hatte er Olga Gorski, die seit gut acht Jahren einmal wöchentlich bei ihm putzte, mehrfach ermahnen müssen, seine Unordnung ja nicht durcheinanderzubringen. Inzwischen gelang es ihr, sein Arbeitszimmer sauber zu halten, ohne die Lage der Bücher und Papiere zu verändern.
Marcus, der neben seinen Muttersprachen fließend Russisch, Ukrainisch, Polnisch sowie ein recht passables Griechisch sprach und außerdem Aramäisch sowie mehrere Zigeunerdialekte verstand, arbeitete noch immer als Übersetzer. Früher war er als Dolmetscher tätig gewesen, auch simultan, zumeist für Banken und die Justiz. Besonders gern hatte er für die Frankfurter Polizei gearbeitet. Es war sehr spannend gewesen, Telefongespräche heimlich abzuhören, doch das lag mittlerweile schon viele Jahre zurück, und er vermisste das Gefühl, gebraucht zu werden. Spätestens seit der Öffnung nach Westen, seit immer mehr jüngere Migranten aus Osteuropa nach Deutschland strömten, nahmen seine ehemaligen Auftraggeber offenbar Rücksicht auf sein Alter und beschäftigten die Jugend. Marcus hielt viele dieser zumeist selbsternannten Übersetzer für »Scharlatane«, die häufig eine miserable Arbeit ablieferten. Außerdem war es für ihn immer gutes Geld gewesen. Er litt zwar keine materielle Not, aber finanziell war er auch nicht gerade auf Rosen gebettet, und bei den Übersetzungsaufträgen, die er jetzt noch sporadisch erhielt, handelte es sich fast ausschließlich um private Angelegenheiten von Einwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion, die ihre Verwandten nachholen wollten, vorzugsweise aus Kasachstan, der Ukraine und Weißrussland. Es handelte sich um behördliche Anträge, Zeugnisse, Arbeitsnachweise oder Urkunden, die Marcus zum Teil auch beglaubigen musste. Das waren in der Regel zeitraubende, langweilige und mitunter recht komplizierte Übersetzungen, deren Honorierung in keinem Verhältnis zum Aufwand stand. Aber Marcus setzte sich trotzdem täglich an seinen Schreibtisch, weil er die Hoffnung nicht aufgab, dass sein Gehirn durch die Arbeit langsamer einrosten würde.
Er zog seinen verschwitzten Trainingsanzug aus und hängte ihn in der Abstellkammer zum Trocknen auf. Danach begab er sich ins Bad, stutzte sorgfältig seinen Bart, putzte sich die Zähne und stieg unter die Dusche, was er stets als den Höhepunkt des Tages empfand. Häufig duschte Marcus sogar mehrmals täglich, immer lange und ausgiebig, abwechselnd heiß und kalt. Nur ließen sich leider nicht alle Dinge mit Wasser und Seife abwaschen, aber wider besseres Wissen versuchte er es trotzdem immer wieder. Dazu gehörte vor allem die sechsstellige Zahl auf der Innenseite seines linken Unterarms, die er nun schon seit siebzig Jahren ertrug. 115770. Die dunkelblaue Farbe war verblasst, die Konturen der Ziffern waren verschwommen, und schon ein paar Mal hatte er daran gedacht, sich seine Häftlingsnummer herausoperieren zu lassen. Doch aus irgendeinem Grund hatte er dieses Vorhaben immer wieder verschoben.
Sein alter Hausarzt hatte ihm eine Laserbehandlung vorgeschlagen. »Die Operation verläuft praktisch narbenfrei, Herr Schwartz, und die neuen Techniken machen das Procedere nicht einmal besonders schmerzhaft. Das trauen sich sogar die jungen Dinger, die ihre Tattoos loswerden möchten!« Insgesamt dreimal hatte Marcus sich einen Termin in einer dermatologischen Klinik geben lassen, doch im letzten Moment immer wieder abgesagt, aber nicht aus Feigheit. Er wusste nicht genau, warum.
Als Marcus seine, wie er es selbstironisch nannte, »rituelle Waschung« beendet hatte, zog er ein ordentlich gebügeltes, weißes Hemd an, band sich eine schmale, dunkle Seidenkrawatte um den Hals und schlüpfte in einen schwarzen Anzug, der zwar schon etwas älter war, aber noch gut erhalten. »Ach nein, Marcus, ich bitte Ihnen: Schnitt wieder modern!«, hatte Olga Gorski entsetzt gerufen, und das gute Stück aus dem Altkleidersack herausgefischt. Sie konnte geschickt mit Nadel, Faden und Bügeleisen umgehen, da sie bis vor zehn Jahren, als sie noch in Kiew gelebt hatte, angeblich als Direktrice gearbeitet hatte. Marcus glaubte ihr das inzwischen sogar.
Er trat vor den Garderobenspiegel, kämmte sein weißes, volles Haar und heftete sich schließlich mit einer kleinen Sicherheitsnadel ein Stückchen Trauer- band ans Revers. Dabei dachte er an den Stein von heute Morgen, der jetzt auf der Anrichte lag. Er war sich unschlüssig, ob er ihn mitnehmen wollte.
Sein Freund Jakob hatte im Gegensatz zu Janosz, der von einer Sekunde auf die andere in einem Lotto- laden tot umgefallen war, in den vergangenen zwei Jahren häufig gekränkelt, und so hatten sie sich nur noch selten und stets nur kurz gesehen. Die vergangenen sechs Wochen hatten sie nicht einmal mehr miteinander telefoniert. Da hatte Marcus bereits geahnt, dass Jakob, so wie es Sitte war, sich auf sein Ende vorbereitete. Denn für den Freund, der trotz allem seinen Glauben hartnäckig praktizierte, hatte der Tod stets zu seinem Leben gehört, so wie die Nacht zum Tag, und wenn einer, der wie Jakob regelmäßig in die Synagoge ging, sein Ende nahen sah, begann er im Angesicht des Todes öfter als gewöhnlich am Tag zu beten, bekannte sich zu den eigenen Sünden und segnete seine Kinder. Allerdings hatte keiner der drei Freunde eine Familie.
Eine gute Stunde später traf Marcus mit dem Fahrrad pünktlich auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in Eckenheim ein. Er war nicht sonderlich überrascht, in der Leichenhalle auf Mitglieder der Chewra Kadischa zu treffen. Es waren nicht viele Trauergäste zu Jakobs Beisetzung erschienen, aber immerhin ein paar mehr, als Marcus erwartet hatte. Ungefähr 30 Menschen, von denen er jedoch niemanden persönlich kannte, lauschten der Ansprache des Rabbiners. Dann trat einer aus der Heiligen Bruderschaft vor und sprach das Kaddisch. Marcus wohnte der Zeremonie in der letzten Sitzreihe bei. Die geliehene Kippa lastete wie ein Zementsack auf seinem Scheitel.
Danach rollte man Jakobs schmucklosen Sarg zur offenen Grabstätte. Der Sarg war aus weichem Kiefernholz. So würde er in der Erde schneller verrotten, der Bestatter hatte sogar Löcher ins Holz gebohrt, um den Verwesungsprozess zu beschleunigen. In Israel hätte man Jakob nur mit einem Leichentuch begraben, aber das erlaubte die deutsche Friedhofsverordnung nicht.
Schließlich ließ man den Sarg hinunter. Die Trauergäste traten einer nach dem anderen vor, warfen Erde in die Grube oder legten einen Stein an den Rand des Grabes. Marcus war als Letzter an der Reihe. Zum Zeichen seiner Trauer riss er das schwarze Bändchen vom Revers - seine Seidenkrawatte wäre ihm dafür zu schade gewesen - und verharrte ein paar Momente am offenen Grab. Jakobs Tod ging ihm näher, als es äußerlich den Anschein hatte.
Den Stein hatte Marcus auf der Anrichte liegen gelassen.
Nach dem Begräbnis zerstreute sich die kleine Trauergemeinde rasch, und während Marcus am Ausgang des Friedhofs sein Fahrradschloss öffnete, sprach ihn eine alte Frau an. Sie war Marcus bereits in der Leichenhalle aufgefallen, weil sie einige Male neugierig zu ihm herübergeschaut hatte. »Hast du Jakob gut gekannt?«, fragte sie.
»Wir haben früher ab und zu Karten gespielt«, antwortete Marcus schmallippig und wickelte das Schloss um die Sattelstange.
»Das muss aber lange her sein«, entgegnete sie misstrauisch. Marcus zuckte die Schultern. »Wie alt bist du?«, wollte sie wissen. Er wuchtete sein Rad aus dem Ständer heraus. »70?«, insistierte sie.
»Ich laufe jeden Tag fünf Kilometer ... Und ich fahre sehr viel mit dem Rad ...«, antwortete er ausweichend.
»75?«
Marcus schob sein Fahrrad zum Ausgang. Die alte Frau lief neben ihm her. Doch weil er wusste, dass sie wahrscheinlich nicht lockerlassen würde, gab er zu, dass er 84 sei.
»Das ist ja unglaublich«, sagte sie lachend. »Das Leben ist wirklich ungerecht. Sieh nur: Ich bin zehn Jahre jünger als du und sehe zwanzig Jahre älter aus!«
»Das ändert trotzdem nichts daran, dass ich der Nächste bin«, erwiderte er sachlich und schwang sich in den Sattel.
»Das weiß man nie!« Sie zupfte ihn am Ärmel, um ihn aufzuhalten. »Man sagt ja, es gäbe zwei Sorten von Menschen: bei den einen meldet er sich lange vorher an, der Tod. Und bei den anderen kommt er als Überraschungsgast. Ich bevorzuge Letzteres!«
»Es hat sicher beides seine Vorteile«, knurrte Marcus. Er wünschte sich, dass die Unterhaltung damit beendet wäre.
»Am Ende muss man es eh nehmen, wie es kommt!«, plapperte sie ungerührt weiter. Marcus nickte gottergeben. »Weißt du denn schon, wo du liegen wirst?« Er sah die Nervensäge verständnislos an. »Nein?«, fragte sie verwundert. »Also ich habe mir mein Grab schon vor Jahren gekauft! Aber sieh nur: da kommt mein Bus! Der ist ja heute viel zu früh!«, rief sie und eilte auf ihren kurzen Beinen zur Haltestelle.
Ausgerechnet jetzt, dachte Marcus, wo es interessant wird, kommt ein Bus überpünktlich. Weißt du schon, wo du liegen wirst, hatte sie wissen wollen. Nein, das wusste er nicht. Daran hatte er noch nicht einmal gedacht. Marcus kratzte sich am Kopf und schaute unschlüssig auf seine Armbanduhr. »Es könnte ja nicht schaden, sich einmal zu erkundigen«, sagte er laut zu sich selbst. In diesem Moment erschien eine Schulklasse, dem Alter der Jugendlichen nach zu urteilen eine neunte oder zehnte Klasse, in Begleitung eines Rabbiners und einer Lehrerin im Eingang des Verwaltungsgebäudes - eine Führung, das hieß, die Friedhofsverwaltung arbeitete. Es ist gut, dass die jungen Leute erfahren, was geschehen ist, dachte Marcus. Und erschrak: In höchstens 50 Metern Entfernung war plötzlich ein Mädchen aufgetaucht und starrte ihn an. Wie aus dem Nichts war es zwischen den Grabsteinen erschienen, und es gehörte bestimmt nicht zu der Schulklasse. Marcus schätzte das Mädchen auf dreizehn, vielleicht vierzehn Jahre. Sie war blass, mager und sehr altmodisch gekleidet; mit einem artigen, grauen Faltenrock, einer hellen Bluse und darüber einer dünnen, beigen Strickjacke. Ihre Beine warennackt, und ihre Füße steckten in Riemchensandalen. Marcus blinzelte, schaute ganz genau hin, kein Zweifel, das Mädchen lächelte ihn an, ihn, und plötzlich wusste er sogar, wer sie war. Er erinnerte sich an ihren Namen - doch das war eigentlich nicht möglich. Er musste sich geirrt haben. Bestimmt handelte es sich um ein Trugbild, denn Perla Markowitsch war mit Sicherheit tot. Bestimmt hatte ihm bloß eine Synapse einen Streich spielen wollen. Doch im nächsten Moment drehte Perla sich um und spazierte zwischen den Gräbern davon. Marcus stieg hastig von seinem Rad ab und schob es in den Ständer zurück. Er vergaß, es abzuschließen, und eilte ihr hinterher. Nach wenigen Schritten verfiel er in sein gewohntes Lauftempo. Ihm selbst fiel nicht auf, dass er immer schneller rannte. Aber er schaffte es nicht, sie einzuholen. Perla, das Mädchen, war wie vom Erdboden verschluckt.
Als Marcus schließlich atemlos innehielt, wusste er weder, wie lange er gerannt war, noch, wo genau er sich befand. Erst als er in einiger Entfernung die Silhouette der großen Haftanstalt von Preungesheim ausmachte, wo er früher ein und aus gegangen war, um für die Kriminalpolizei bei Vernehmungen zu übersetzen, wusste er, dass er im nördlichen Teil des Friedhofs war. Er wischte sich mit dem Jackenärmel den Schweiß von der Stirn. Dabei merkte er, dass er beobachtet wurde.
In der benachbarten Gräberreihe setzte ein Steinmetz mit einem Gehilfen einen neuen Stein. Ihre Arbeit wurde von einem jüngeren Mann beaufsichtigt, der in seinem dunkelgrauen Anzug und den staubigen Halbschuhen wie ein Angestellter der Friedhofsverwaltung aussah und nicht wie ein Angehöriger. Er hielt seine Arme vor der Brust verschränkt und strafte Marcus mit stummer Verachtung, weil es sich nun einmal nicht gehörte, auf einem Friedhof zu joggen. Für einen kurzen Moment war Marcus peinlich berührt, doch dann strich er seinen Anzug glatt und schlenderte zu den Männern hinüber, so als ob nichts geschehen wäre. »Entschuldigen Sie«, sagte er in beiläufigem Ton, »dürfte ich Sie etwas fragen?« Die beiden Steinmetze stellten ihre Arbeit ein, richteten sich auf und warteten sichtlich gespannt darauf, was nun passierte. »Sie gehören zur Verwaltung, nehme ich an?«
»Natürlich«, erwiderte der jüngere Mann und wich einen Schritt zurück.
»Das ist ja hervorragend! Ich würde nämlich gerne wissen: Wie viel kostet eine Grabstelle?« Marcus setzte das charmanteste Lächeln auf, zu dem er sich in der Lage sah. »Und zwar so eine, wie diese hier!«
»Sie meinen sicherlich eine Beerdigung. Wir sind Pietät und Bestatter in einem. Aber sind Sie denn Mitglied unserer Gemeinde? Ich meine, sind Sie überhaupt ...?«
»Nein. Jude? Ja. Wieso?«, wunderte sich Marcus. »Macht das denn einen Unterschied?«
Der Friedhofsangestellte nickte heftig. »Sehen Sie, es geht bei ungefähr tausend Euro los, aber das wäre nur ein sehr kleiner Stein. Sie können jedoch je nach der Qualität des Steins, der Lage und Größe der Grabstätte auch zehntausend oder zwanzigtausend Euro für eine Ruhestätte ausgeben.« Das Lächeln in Marcus' Gesicht gefror. »Genauer kann ich Ihnen das allerdings nicht sagen«, fuhr der Friedhofsangestellte fort. »Da fragen Sie am besten mal im Rabbinat nach. Sie wissen, wo es sich befindet?« Marcus nickte. »Soweit ich weiß, wird für Nichtmitglieder ein Aufschlag fällig, aber der ist, glaube ich, Verhandlungssache. Das besprechen Sie alles mit dem Rabbiner.«
»Zwanzigtausend«, murmelte Marcus, »doch so viel!«
»Es geht natürlich, wie gesagt, auch günstiger«, erinnerte ihn der Friedhofsangestellte, der sichtlich erleichtert wirkte, dass von diesem alten Mann keine Gefahr auszugehen schien.
»Dann danke ich Ihnen«, erwiderte Marcus und atmete hörbar aus.
»Keine Ursache!«
Marcus wandte sich um und spazierte gemessenen Schrittes in Richtung Ausgang. Er spürte, dass ihn die Männer mit ihren Blicken verfolgten. Kein Wunder, hatte er sich doch wie ein Trottel benommen. Aber das war ihm egal. Er musste jetzt eine Entscheidung treffen, die seinen geplanten Tagesablauf durcheinanderbringen würde: Denn das Rabbinat lag im Westend, also einmal quer durch die ganze Stadt. Andererseits schien dies der perfekte Tag für eine längere Radtour zu sein, es war weder zu heiß noch zu kalt.
Copyright © Insel Verlag Berlin 2013
Der alte Mann hieß Marcus Schwartz. Dieser Name stand auf seinem Personalausweis, in seinem Reisepass und auf allen anderen Dokumenten und Plastikkarten, die der Mensch benötigt. Einen Führerschein besaß er nicht. Doch Marcus Schwartz war nicht sein richtiger Name. Seine Eltern, Zissel und Samson Teitelbaum, hatten ihrem Erstgeborenen den Namen Menachem gegeben, als er am 21. April 1929 im ungarischen Satu Mare geboren wurde; eine Stadt, die heute längst wieder zu Rumänien gehört.
Menachem war nach einem gut einjährigen Martyrium kurz nach seinem sechzehnten Geburtstag gestorben, und zwar genau am 29. April 1945, im Konzentrationslager Dachau bei München. Allerdings war er noch am selben Tage wieder auferstanden, indem er den amerikanischen Befreiern einfach diesen Namen genannt hatte, den erstbesten, der ihm eingefallen war - und der jemand anderem gehört hatte. Einem, den Menachem noch wenige Wochen zuvor neben sich hatte sterben sehen, auf einer gefrorenen Schneewehe am Straßenrand, in der Nähe von Weimar.
Die Amerikaner hatten keinen Moment an Menachems Angaben gezweifelt, die sie sowieso kaum überprüfen konnten. Zu jener Zeit nahm man an, dass die Deutschen die meisten Unterlagen in Auschwitz verbrannt hatten oder dass diese im heillosen Durcheinander ihrer überstürzten Flucht vor den Russen verloren gegangen waren, was sich später - zum Teil jedenfalls - als richtige Vermutung erweisen sollte.
Außerdem gab es praktisch niemanden, den man hätte fragen können, ob dieser Marcus Schwartz tatsächlich derjenige war, der er vorgab zu sein.
So war der sechzehn Jahre alte Menachem Teitelbaum fortan als Marcus Schwartz durch die Welt gewandelt. Als jungen Mann mit neuer Identität hatten ihn die Amerikaner in das Kloster von Indersdorf gebracht, wo man eine Sammelstelle für jüdische Waisenkinder aus Konzentrationslagern eingerichtet hatte. Die meisten von ihnen waren in Flossenbürg befreit worden. Marcus war der einzige ehemalige Auschwitz-Häftling und darüber hinaus auch der Älteste gewesen, eigentlich schon viel zu erwachsen fürs Waisenhaus. Doch dank seiner umfangreichen Sprachkenntnisse hatte er sich rasch als Dolmetscher nützlich machen können. Denn in seiner Geburtsstadt Satu Mare, wo schon immer viele Volksdeutsche - vor allem Banater Schwaben und ein paar Siebenbürger - gelebt hatten, wurde in der Schule ungarisch und deutsch und auf der Straße rumänisch gesprochen.
Satu Mare war ein bedeutendes Zentrum der jüdischen Religion in Osteuropa gewesen. Hier war die Satmar gegründet worden, die Organisation der Chassiden, die ihren Hauptsitz mittlerweile nach New York verlegt hat. Mit seinen Großeltern und seinen Eltern hatte Marcus meist Jiddisch geredet.
Die Barmherzigen Schwestern des Klosters Indersdorf hatten ihn erst einmal aufgepäppelt, denn bei seiner Ankunft hatte Marcus nur noch 50 Kilogramm gewogen, und das bei einer Größe von ein Meter achtzig. Danach hatten die Nonnen nicht nur sein Sprachtalent nach Kräften gefördert, sondern ihn auch aufs Gymnasium geschickt. Sie hatten dafür gesorgt, dass er diesen Ort der inneren Einkehr drei Jahre später mit einer Hochschulberechtigung verlassen konnte.
Damals, mit neunzehn Jahren, hatte ihm die ganze Welt offen gestanden. Er hätte nach Israel gehen können, doch im neu gegründeten Staat herrschte Krieg, und davon wollte er nichts mehr wissen. Dies war auch der Grund, warum er nicht nach Amerika ausgewandert war: Marcus hatte befürchtet, dass man ihn dort irgendwann zum Militärdienst verpflichten könnte.
Nur in Deutschland gab es keine Armee mehr, sah man einmal von den alliierten Besatzungstruppen ab. Vielleicht deshalb hatte er sich entschieden, in Deutschland zu bleiben; ausgerechnet in dem Land, das ihm seine Familie genommen hatte, seine Jugend. Er wollte seine Sprachkenntnisse vervollkommnen, weitere Sprachen dazulernen und Deutscher werden, um unauffällig, ordentlich und diszipliniert zu leben - und natürlich auch friedlich. So hatte er gehofft, vergessen und verdrängen zu können.
Doch bis zum heutigen Tag fragte er sich immer wieder, warum er noch lebte. Warum Gott ausgerechnet ihn auserwählt hatte, im Gegensatz zu den vielen Millionen anderer Juden. Und weil er dies nicht für gerecht hielt, hatte er sich von Gott abgewandt.
Das Einzige, was Marcus heilig war, war seine tägliche Morgengymnastik. Mit dieser Schinderei hatte er angefangen, als er sich Mitte der sechziger Jahre endgültig in Frankfurt niederließ. Nur wenn er an Schnupfen litt, was äußerst selten vorkam, rannte er nicht auf seine Übungswiese an den Main hinunter. Wenn es wie aus Kübeln schüttete oder heftig schneite, trainierte er daheim, machte am offenen Fenster Dehnübungen, Rumpfbeugen, Liegestütze, Kopf-und Schulterkreisen, Schattenboxen und Kniebeugen: Marcus absolvierte stets das gleiche Programm in derselben Abfolge, präzise wie ein Uhrwerk, in exakt dreißig Minuten. Dies war der Grund, warum für gewöhnlich alle Menschen staunten, wenn sie, zumeist zufällig, erfuhren, dass Marcus bereits vierundachtzig Jahre alt war. Denn mit seinem Alter ging er nicht hausieren, schließlich hätte er ja niemals so alt werden dürfen.
Auch Doktor Weinheim, sein neuer Hausarzt, war über seine physische und psychische Konstitution verblüfft, ja geradezu entzückt gewesen. Marcus hatte ihn erst eine Woche zuvor konsultiert, als ihm ausgerechnet nach den elenden fünfzig Kniebeugen zum ersten Mal übel geworden war. Außerdem war da so ein merkwürdiges Sausen in seinem Kopf gewesen.
Der junge Arzt hatte sich viel Zeit genommen, viel mehr Zeit als sein verstorbener Vorgänger, dieser stets lustige Quacksalber Kramer, und Marcus hatte ebenso geduldig wie interessiert und klaglos alle Untersuchungen und Tests über sich ergehen lassen. Am Ende dieses anstrengenden Vormittags, an dem er mehrere der modernsten Diagnoseverfahren kennengelernt hatte, wurde ihm mitgeteilt, dass »kein Befund« vorliege. »Ihre Werte sind alle normal. Alles im grünen Bereich. Also für Ihr Alter, Herr Schwartz, sieht das alles sehr, sehr gut aus!«
»Was soll denn das heißen: für mein Alter?«, hatte Marcus in harschem Ton erwidert, worauf der junge Arzt erschrocken zusammenzuckte. Die rätselhafte Übelkeit hatte sich wirklich nicht gut angefühlt. So besorgt war Marcus noch nie gewesen.
Sein Hausarzt hatte sich rasch wieder gefangen und ihm zum Abschied geraten, einfach mal einen Gang herunterzuschalten. »Beobachten Sie bitte in der nächsten Zeit, wie es Ihnen während Ihrer Übungen geht. Sie sind nun mal nicht mehr der Jüngste!«
Nicht mehr der Jüngste zu sein: Das war für Marcus die Umschreibung dafür, dass er mit Sicherheit der Nächste sein würde.
Der Nächste.
Er schlug die Augen auf. Am Himmel verflüchtigten sich die letzten Dunstfetzen. Es versprach ein schöner Tag zu werden. Die Regenwahrscheinlichkeit tendierte gegen null, so wie im Radio vorhergesagt. Und das war gut so, da er heute einen wichtigen aushäusigen Termin hatte, der sich nicht verschieben ließ, höchstens vermeiden, was Marcus auch am liebsten getan hätte. Doch das hätte sich weder geschickt, noch hätte er es sich jemals verziehen. Für Menachem wäre in diesem Fall sogar eine Mizwa in Frage gekommen, aber Marcus würde sich heute von Jakob Grüneisen persönlich verabschieden. Das war er ihm nach den langen Jahren ihrer Freundschaft schuldig, nur als Schomer hätte er nicht zur Verfügung gestanden. Doch niemand hatte ihn um die Totenwache gebeten, auch der ihm unbekannte Mann nicht, der ihn vor zwei Tagen angerufen hatte. »Sind Sie der Herr Schwartz, Marcus Schwartz?« Im ersten Moment hatte Marcus einen dieser aufdringlichen Telefonverkäufer vermutet und wollte schon wieder auflegen, doch dann hatte sich der unbekannte Anrufer rasch als Mitglied der Chewra Kadischa vorgestellt, der ihn vom Ableben seines Freundes im Universitätsklinikum unterrichten wollte. Hätte er nach einem »Menachem Teitelbaum« gefragt, wäre Marcus gezwungen gewesen, sich eine gute Ausrede einfallen zu lassen.
Jakob Grüneisen und Janosz Tomaszcewsky waren die einzigen Menschen, die sein Geheimnis kannten, und sie hatten es bewahrt. Jetzt war Marcus schon wieder derjenige, der übrig geblieben war.
Als er sich aufrappelte, entdeckte er neben sich einen handtellergroßen, braunen Stein, der mit seiner flachen Unterseite auf der Wiese lag. Sein Puls war zwar noch immer etwas beschleunigt, aber er fühlte sich gut. So wie es ihm der Arzt geraten hatte, horchte er noch einmal in sich hinein. Nein, da war weder der leiseste Anflug von Übelkeit zu spüren, noch ein Sausen im Kopf. Erleichtert bückte er sich nach dem Stein, steckte ihn in die Tasche seiner Trainingshose und trabte die zweieinhalb Kilometer zurück nach Hause.
Eine gute Viertelstunde später legte Marcus den Stein in seinem Esszimmer auf eine schmale Anrichte, auf der ein schlichter Kerzenleuchter mit einem Fotorahmen aus Silber ein harmonisches Ensemble bildete. Die rechte und die linke obere Ecke des Fotorahmens wurden seit dem Anruf in der vorvergangenen Nacht von zwei schwarzen Trauerbändern geziert, die er für diesen Fall der Fälle in seiner Abstellkammer verwahrte. Die Aufnahme war vor etwa fünfzehn Jahren entstanden, in einem Schachcafe, drüben in Sachsenhausen. Es war das einzige Foto, das Marcus besaß. Es zeigte drei Männer in reifem Alter, die in die Kamera lächelten. Bei dem Mann in der Mitte handelte es sich um Marcus selbst, zu seiner Linken saß Janosz Tomaszcewsky - den sie bereits vor fünf Jahren begraben hatten - und zu seiner Rechten Jakob Grüneisen oder, von links nach rechts, Buchenwald, Auschwitz, Mauthausen.
Marcus lebte in Niederrad in der Bruchfeldsiedlung, die diesem kleineren Frankfurter Stadtviertel den Spitznamen »Zick-Zack-Hausen« beschert hatte. Auf Besucher hätte seine Wohnung seltsam unpersönlich gewirkt. Sie lag in der zweiten Etage eines rau verputzten Mietshauses aus den späten zwanziger Jahren mit insgesamt sechs Parteien und bestand aus drei Zimmern, Küche und Bad sowie einem Dielenboden, der hie und da ein bisschen knarrte, jedoch perfekt versiegelt war. Die Möblierung war sparsam und aufs Wesentliche beschränkt, die Möbelstücke waren antik und sehr gepflegt, und überhaupt war nirgendwo ein Stäubchen zu entdecken. Der einzige Raum, in dem so etwas wie tägliches Leben zu herrschen schien, war sein kleines Arbeitszimmer, dessen Wände vollgestopfte Bücherregale zierten. Auch auf dem Boden und auf dem Schreibtisch lagen mehrere Dutzend Bücherstapel, die nach Themengebieten und Sprachen geordnet waren. Marcus bezeichnete dieses Durcheinander als »wohlgeordnetes Chaos«, da er sich darin hervorragend zurechtfand. Anfangs hatte er Olga Gorski, die seit gut acht Jahren einmal wöchentlich bei ihm putzte, mehrfach ermahnen müssen, seine Unordnung ja nicht durcheinanderzubringen. Inzwischen gelang es ihr, sein Arbeitszimmer sauber zu halten, ohne die Lage der Bücher und Papiere zu verändern.
Marcus, der neben seinen Muttersprachen fließend Russisch, Ukrainisch, Polnisch sowie ein recht passables Griechisch sprach und außerdem Aramäisch sowie mehrere Zigeunerdialekte verstand, arbeitete noch immer als Übersetzer. Früher war er als Dolmetscher tätig gewesen, auch simultan, zumeist für Banken und die Justiz. Besonders gern hatte er für die Frankfurter Polizei gearbeitet. Es war sehr spannend gewesen, Telefongespräche heimlich abzuhören, doch das lag mittlerweile schon viele Jahre zurück, und er vermisste das Gefühl, gebraucht zu werden. Spätestens seit der Öffnung nach Westen, seit immer mehr jüngere Migranten aus Osteuropa nach Deutschland strömten, nahmen seine ehemaligen Auftraggeber offenbar Rücksicht auf sein Alter und beschäftigten die Jugend. Marcus hielt viele dieser zumeist selbsternannten Übersetzer für »Scharlatane«, die häufig eine miserable Arbeit ablieferten. Außerdem war es für ihn immer gutes Geld gewesen. Er litt zwar keine materielle Not, aber finanziell war er auch nicht gerade auf Rosen gebettet, und bei den Übersetzungsaufträgen, die er jetzt noch sporadisch erhielt, handelte es sich fast ausschließlich um private Angelegenheiten von Einwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion, die ihre Verwandten nachholen wollten, vorzugsweise aus Kasachstan, der Ukraine und Weißrussland. Es handelte sich um behördliche Anträge, Zeugnisse, Arbeitsnachweise oder Urkunden, die Marcus zum Teil auch beglaubigen musste. Das waren in der Regel zeitraubende, langweilige und mitunter recht komplizierte Übersetzungen, deren Honorierung in keinem Verhältnis zum Aufwand stand. Aber Marcus setzte sich trotzdem täglich an seinen Schreibtisch, weil er die Hoffnung nicht aufgab, dass sein Gehirn durch die Arbeit langsamer einrosten würde.
Er zog seinen verschwitzten Trainingsanzug aus und hängte ihn in der Abstellkammer zum Trocknen auf. Danach begab er sich ins Bad, stutzte sorgfältig seinen Bart, putzte sich die Zähne und stieg unter die Dusche, was er stets als den Höhepunkt des Tages empfand. Häufig duschte Marcus sogar mehrmals täglich, immer lange und ausgiebig, abwechselnd heiß und kalt. Nur ließen sich leider nicht alle Dinge mit Wasser und Seife abwaschen, aber wider besseres Wissen versuchte er es trotzdem immer wieder. Dazu gehörte vor allem die sechsstellige Zahl auf der Innenseite seines linken Unterarms, die er nun schon seit siebzig Jahren ertrug. 115770. Die dunkelblaue Farbe war verblasst, die Konturen der Ziffern waren verschwommen, und schon ein paar Mal hatte er daran gedacht, sich seine Häftlingsnummer herausoperieren zu lassen. Doch aus irgendeinem Grund hatte er dieses Vorhaben immer wieder verschoben.
Sein alter Hausarzt hatte ihm eine Laserbehandlung vorgeschlagen. »Die Operation verläuft praktisch narbenfrei, Herr Schwartz, und die neuen Techniken machen das Procedere nicht einmal besonders schmerzhaft. Das trauen sich sogar die jungen Dinger, die ihre Tattoos loswerden möchten!« Insgesamt dreimal hatte Marcus sich einen Termin in einer dermatologischen Klinik geben lassen, doch im letzten Moment immer wieder abgesagt, aber nicht aus Feigheit. Er wusste nicht genau, warum.
Als Marcus seine, wie er es selbstironisch nannte, »rituelle Waschung« beendet hatte, zog er ein ordentlich gebügeltes, weißes Hemd an, band sich eine schmale, dunkle Seidenkrawatte um den Hals und schlüpfte in einen schwarzen Anzug, der zwar schon etwas älter war, aber noch gut erhalten. »Ach nein, Marcus, ich bitte Ihnen: Schnitt wieder modern!«, hatte Olga Gorski entsetzt gerufen, und das gute Stück aus dem Altkleidersack herausgefischt. Sie konnte geschickt mit Nadel, Faden und Bügeleisen umgehen, da sie bis vor zehn Jahren, als sie noch in Kiew gelebt hatte, angeblich als Direktrice gearbeitet hatte. Marcus glaubte ihr das inzwischen sogar.
Er trat vor den Garderobenspiegel, kämmte sein weißes, volles Haar und heftete sich schließlich mit einer kleinen Sicherheitsnadel ein Stückchen Trauer- band ans Revers. Dabei dachte er an den Stein von heute Morgen, der jetzt auf der Anrichte lag. Er war sich unschlüssig, ob er ihn mitnehmen wollte.
Sein Freund Jakob hatte im Gegensatz zu Janosz, der von einer Sekunde auf die andere in einem Lotto- laden tot umgefallen war, in den vergangenen zwei Jahren häufig gekränkelt, und so hatten sie sich nur noch selten und stets nur kurz gesehen. Die vergangenen sechs Wochen hatten sie nicht einmal mehr miteinander telefoniert. Da hatte Marcus bereits geahnt, dass Jakob, so wie es Sitte war, sich auf sein Ende vorbereitete. Denn für den Freund, der trotz allem seinen Glauben hartnäckig praktizierte, hatte der Tod stets zu seinem Leben gehört, so wie die Nacht zum Tag, und wenn einer, der wie Jakob regelmäßig in die Synagoge ging, sein Ende nahen sah, begann er im Angesicht des Todes öfter als gewöhnlich am Tag zu beten, bekannte sich zu den eigenen Sünden und segnete seine Kinder. Allerdings hatte keiner der drei Freunde eine Familie.
Eine gute Stunde später traf Marcus mit dem Fahrrad pünktlich auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in Eckenheim ein. Er war nicht sonderlich überrascht, in der Leichenhalle auf Mitglieder der Chewra Kadischa zu treffen. Es waren nicht viele Trauergäste zu Jakobs Beisetzung erschienen, aber immerhin ein paar mehr, als Marcus erwartet hatte. Ungefähr 30 Menschen, von denen er jedoch niemanden persönlich kannte, lauschten der Ansprache des Rabbiners. Dann trat einer aus der Heiligen Bruderschaft vor und sprach das Kaddisch. Marcus wohnte der Zeremonie in der letzten Sitzreihe bei. Die geliehene Kippa lastete wie ein Zementsack auf seinem Scheitel.
Danach rollte man Jakobs schmucklosen Sarg zur offenen Grabstätte. Der Sarg war aus weichem Kiefernholz. So würde er in der Erde schneller verrotten, der Bestatter hatte sogar Löcher ins Holz gebohrt, um den Verwesungsprozess zu beschleunigen. In Israel hätte man Jakob nur mit einem Leichentuch begraben, aber das erlaubte die deutsche Friedhofsverordnung nicht.
Schließlich ließ man den Sarg hinunter. Die Trauergäste traten einer nach dem anderen vor, warfen Erde in die Grube oder legten einen Stein an den Rand des Grabes. Marcus war als Letzter an der Reihe. Zum Zeichen seiner Trauer riss er das schwarze Bändchen vom Revers - seine Seidenkrawatte wäre ihm dafür zu schade gewesen - und verharrte ein paar Momente am offenen Grab. Jakobs Tod ging ihm näher, als es äußerlich den Anschein hatte.
Den Stein hatte Marcus auf der Anrichte liegen gelassen.
Nach dem Begräbnis zerstreute sich die kleine Trauergemeinde rasch, und während Marcus am Ausgang des Friedhofs sein Fahrradschloss öffnete, sprach ihn eine alte Frau an. Sie war Marcus bereits in der Leichenhalle aufgefallen, weil sie einige Male neugierig zu ihm herübergeschaut hatte. »Hast du Jakob gut gekannt?«, fragte sie.
»Wir haben früher ab und zu Karten gespielt«, antwortete Marcus schmallippig und wickelte das Schloss um die Sattelstange.
»Das muss aber lange her sein«, entgegnete sie misstrauisch. Marcus zuckte die Schultern. »Wie alt bist du?«, wollte sie wissen. Er wuchtete sein Rad aus dem Ständer heraus. »70?«, insistierte sie.
»Ich laufe jeden Tag fünf Kilometer ... Und ich fahre sehr viel mit dem Rad ...«, antwortete er ausweichend.
»75?«
Marcus schob sein Fahrrad zum Ausgang. Die alte Frau lief neben ihm her. Doch weil er wusste, dass sie wahrscheinlich nicht lockerlassen würde, gab er zu, dass er 84 sei.
»Das ist ja unglaublich«, sagte sie lachend. »Das Leben ist wirklich ungerecht. Sieh nur: Ich bin zehn Jahre jünger als du und sehe zwanzig Jahre älter aus!«
»Das ändert trotzdem nichts daran, dass ich der Nächste bin«, erwiderte er sachlich und schwang sich in den Sattel.
»Das weiß man nie!« Sie zupfte ihn am Ärmel, um ihn aufzuhalten. »Man sagt ja, es gäbe zwei Sorten von Menschen: bei den einen meldet er sich lange vorher an, der Tod. Und bei den anderen kommt er als Überraschungsgast. Ich bevorzuge Letzteres!«
»Es hat sicher beides seine Vorteile«, knurrte Marcus. Er wünschte sich, dass die Unterhaltung damit beendet wäre.
»Am Ende muss man es eh nehmen, wie es kommt!«, plapperte sie ungerührt weiter. Marcus nickte gottergeben. »Weißt du denn schon, wo du liegen wirst?« Er sah die Nervensäge verständnislos an. »Nein?«, fragte sie verwundert. »Also ich habe mir mein Grab schon vor Jahren gekauft! Aber sieh nur: da kommt mein Bus! Der ist ja heute viel zu früh!«, rief sie und eilte auf ihren kurzen Beinen zur Haltestelle.
Ausgerechnet jetzt, dachte Marcus, wo es interessant wird, kommt ein Bus überpünktlich. Weißt du schon, wo du liegen wirst, hatte sie wissen wollen. Nein, das wusste er nicht. Daran hatte er noch nicht einmal gedacht. Marcus kratzte sich am Kopf und schaute unschlüssig auf seine Armbanduhr. »Es könnte ja nicht schaden, sich einmal zu erkundigen«, sagte er laut zu sich selbst. In diesem Moment erschien eine Schulklasse, dem Alter der Jugendlichen nach zu urteilen eine neunte oder zehnte Klasse, in Begleitung eines Rabbiners und einer Lehrerin im Eingang des Verwaltungsgebäudes - eine Führung, das hieß, die Friedhofsverwaltung arbeitete. Es ist gut, dass die jungen Leute erfahren, was geschehen ist, dachte Marcus. Und erschrak: In höchstens 50 Metern Entfernung war plötzlich ein Mädchen aufgetaucht und starrte ihn an. Wie aus dem Nichts war es zwischen den Grabsteinen erschienen, und es gehörte bestimmt nicht zu der Schulklasse. Marcus schätzte das Mädchen auf dreizehn, vielleicht vierzehn Jahre. Sie war blass, mager und sehr altmodisch gekleidet; mit einem artigen, grauen Faltenrock, einer hellen Bluse und darüber einer dünnen, beigen Strickjacke. Ihre Beine warennackt, und ihre Füße steckten in Riemchensandalen. Marcus blinzelte, schaute ganz genau hin, kein Zweifel, das Mädchen lächelte ihn an, ihn, und plötzlich wusste er sogar, wer sie war. Er erinnerte sich an ihren Namen - doch das war eigentlich nicht möglich. Er musste sich geirrt haben. Bestimmt handelte es sich um ein Trugbild, denn Perla Markowitsch war mit Sicherheit tot. Bestimmt hatte ihm bloß eine Synapse einen Streich spielen wollen. Doch im nächsten Moment drehte Perla sich um und spazierte zwischen den Gräbern davon. Marcus stieg hastig von seinem Rad ab und schob es in den Ständer zurück. Er vergaß, es abzuschließen, und eilte ihr hinterher. Nach wenigen Schritten verfiel er in sein gewohntes Lauftempo. Ihm selbst fiel nicht auf, dass er immer schneller rannte. Aber er schaffte es nicht, sie einzuholen. Perla, das Mädchen, war wie vom Erdboden verschluckt.
Als Marcus schließlich atemlos innehielt, wusste er weder, wie lange er gerannt war, noch, wo genau er sich befand. Erst als er in einiger Entfernung die Silhouette der großen Haftanstalt von Preungesheim ausmachte, wo er früher ein und aus gegangen war, um für die Kriminalpolizei bei Vernehmungen zu übersetzen, wusste er, dass er im nördlichen Teil des Friedhofs war. Er wischte sich mit dem Jackenärmel den Schweiß von der Stirn. Dabei merkte er, dass er beobachtet wurde.
In der benachbarten Gräberreihe setzte ein Steinmetz mit einem Gehilfen einen neuen Stein. Ihre Arbeit wurde von einem jüngeren Mann beaufsichtigt, der in seinem dunkelgrauen Anzug und den staubigen Halbschuhen wie ein Angestellter der Friedhofsverwaltung aussah und nicht wie ein Angehöriger. Er hielt seine Arme vor der Brust verschränkt und strafte Marcus mit stummer Verachtung, weil es sich nun einmal nicht gehörte, auf einem Friedhof zu joggen. Für einen kurzen Moment war Marcus peinlich berührt, doch dann strich er seinen Anzug glatt und schlenderte zu den Männern hinüber, so als ob nichts geschehen wäre. »Entschuldigen Sie«, sagte er in beiläufigem Ton, »dürfte ich Sie etwas fragen?« Die beiden Steinmetze stellten ihre Arbeit ein, richteten sich auf und warteten sichtlich gespannt darauf, was nun passierte. »Sie gehören zur Verwaltung, nehme ich an?«
»Natürlich«, erwiderte der jüngere Mann und wich einen Schritt zurück.
»Das ist ja hervorragend! Ich würde nämlich gerne wissen: Wie viel kostet eine Grabstelle?« Marcus setzte das charmanteste Lächeln auf, zu dem er sich in der Lage sah. »Und zwar so eine, wie diese hier!«
»Sie meinen sicherlich eine Beerdigung. Wir sind Pietät und Bestatter in einem. Aber sind Sie denn Mitglied unserer Gemeinde? Ich meine, sind Sie überhaupt ...?«
»Nein. Jude? Ja. Wieso?«, wunderte sich Marcus. »Macht das denn einen Unterschied?«
Der Friedhofsangestellte nickte heftig. »Sehen Sie, es geht bei ungefähr tausend Euro los, aber das wäre nur ein sehr kleiner Stein. Sie können jedoch je nach der Qualität des Steins, der Lage und Größe der Grabstätte auch zehntausend oder zwanzigtausend Euro für eine Ruhestätte ausgeben.« Das Lächeln in Marcus' Gesicht gefror. »Genauer kann ich Ihnen das allerdings nicht sagen«, fuhr der Friedhofsangestellte fort. »Da fragen Sie am besten mal im Rabbinat nach. Sie wissen, wo es sich befindet?« Marcus nickte. »Soweit ich weiß, wird für Nichtmitglieder ein Aufschlag fällig, aber der ist, glaube ich, Verhandlungssache. Das besprechen Sie alles mit dem Rabbiner.«
»Zwanzigtausend«, murmelte Marcus, »doch so viel!«
»Es geht natürlich, wie gesagt, auch günstiger«, erinnerte ihn der Friedhofsangestellte, der sichtlich erleichtert wirkte, dass von diesem alten Mann keine Gefahr auszugehen schien.
»Dann danke ich Ihnen«, erwiderte Marcus und atmete hörbar aus.
»Keine Ursache!«
Marcus wandte sich um und spazierte gemessenen Schrittes in Richtung Ausgang. Er spürte, dass ihn die Männer mit ihren Blicken verfolgten. Kein Wunder, hatte er sich doch wie ein Trottel benommen. Aber das war ihm egal. Er musste jetzt eine Entscheidung treffen, die seinen geplanten Tagesablauf durcheinanderbringen würde: Denn das Rabbinat lag im Westend, also einmal quer durch die ganze Stadt. Andererseits schien dies der perfekte Tag für eine längere Radtour zu sein, es war weder zu heiß noch zu kalt.
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Autoren-Porträt von Pierre-henry Salfati, Alexander Schuller
Pierre Henry Salfati, 1953 geboren, ist ein französischer Regisseur, Drehbuchautor und Schauspieler. Sein Spielfilm Tolérance (1989) wurde für den französischen Filmpreis César nominiert. Seit den späten 1990er Jahren dreht Salfati vorwiegend Dokumentarfilme über jüdische Themen und Persönlichkeiten, u. a. den Dokumentarfilm Talmud und die Serge Gainsbourg-Dokumentation Je Suis Venu Vous Dire. Schuller, AlexanderAlexander Schuller, geboren 1961, absolvierte seine Journalistenausbildung an der Henri-Nannen-Schule und arbeitete bei den Fernsehsendern RTL und SAT1. Er ist Autor zahlreicher Sachbücher und Biografien und schreibt seit 2010 für das Hamburger Abendblatt. Alexander Schuller lebt in Hamburg.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Pierre-henry Salfati , Alexander Schuller
- 2014, 2. Aufl., 254 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: INSEL VERLAG
- ISBN-10: 3458359923
- ISBN-13: 9783458359920
- Erscheinungsdatum: 14.02.2014
Rezension zu „Der letzte Mentsch “
»Pierre-Henry Salfati und Alexander Schuller haben mit Der letzte Mentsch einen erzählerisch ergreifenden wie humorvollen Roman geschaffen.« Börsenblatt 20140103
Pressezitat
»Pierre-Henry Salfati und Alexander Schuller haben mit Der letzte Mentsch einen erzählerisch ergreifenden wie humorvollen Roman geschaffen.« Börsenblatt 20140103
Kommentar zu "Der letzte Mentsch"
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