Der Mitternachtspalast
Roman
Direkt nach ihrer Geburt in Kalkutta fallen die Zwillinge Ben und Sheree beinahe einem Auftragsmord zum Opfer. Um die Kinder vor dem unbekannten Verfolger zu verbergen, wachsen sie getrennt auf. Doch 1932, als die beiden 16 werden, beginnt der Schrecken von neuem.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der Mitternachtspalast “
Direkt nach ihrer Geburt in Kalkutta fallen die Zwillinge Ben und Sheree beinahe einem Auftragsmord zum Opfer. Um die Kinder vor dem unbekannten Verfolger zu verbergen, wachsen sie getrennt auf. Doch 1932, als die beiden 16 werden, beginnt der Schrecken von neuem.
Klappentext zu „Der Mitternachtspalast “
Ein weiterer Geniestreich und Weltbestseller aus der Feder Carlos Ruiz Zafóns - erstmals auf Deutsch.Direkt nach ihrer Geburt in Kalkutta wären die Zwillinge Ben und Sheere beinahe einem Auftragsmord zum Opfer gefallen. Um die Kinder vor dem unbekannten Verfolger zu verbergen, wachsen sie getrennt auf: Ben in einem Waisenhaus, Sheere bei ihrer Großmutter, mit der sie durch ganz Indien irrt. Doch 1932, als die beiden sechzehn werden, beginnen die Schrecken von neuem; es kommt zu mysteriösen Todesfällen in ihrem Umfeld. Ben vermutet eine Verbindung zu ihrem Vater, der bei einem tragischen Unglück ums Leben kam. Auf der Suche nach der Wahrheit geraten die Zwillinge immer tiefer in die düstere Unterwelt Kalkuttas. Es beginnt ein grausiges Spiel um Leben und Tod - mit einem Widersacher, dessen Wahn alles Vorstellbare übersteigt.
Lese-Probe zu „Der Mitternachtspalast “
Mitternachtspalast von Carlos Ruiz Zafon... mehr
Nie werde ich die Nacht vergessen, in der es schneite über Kalkutta. Der Kalender des Waisenhauses St. Patrick's zeigte die letzten Maitage des Jahres 1932 an, und die Monate zuvor waren die heißesten gewesen, an die sich die Stadt der Paläste erinnerte.
Mit jedem Tag sahen wir traurig und ängstlich dem Beginn jenes Sommers entgegen, in dem wir unser sechzehntes Lebensjahr vollenden würden, was gleichbedeutend war mit unserer Trennung und der Auflösung der Chowbar Society, jenes auf sieben Mitglieder beschränkten Geheimbundes, der uns während unserer Jahre im Waisenhaus Heimat gewesen war. Wir hatten keine andere Familie als uns selbst und keine anderen Erinnerungen als die Geschichten, die wir uns nachts am Feuer im Hof des alten verlassenen Hauses erzählten, das an der Ecke Cotton Street und Brabourne Road stand, ein verfallenes Anwesen, dem wir den Namen Mitternachtspalast gegeben hatten. Damals wusste ich nicht, dass ich den Ort nicht wiedersehen sollte, an dem ich aufgewachsen war und dessen Zauber mich bis heute verfolgt.
Seit jenem Jahr bin ich nie wieder nach Kalkutta zurückgekehrt, doch ich blieb stets dem Versprechen treu, das wir uns stillschweigend unter dem weißen Regen am Ufer des Hooghly Rivergaben: niemals zu vergessen, was wir erlebt hatten. Die Jahre haben mich gelehrt, alles, was in jenen Tagen geschah, in Erinnerung zu behalten. Ich habe die Briefe aufbewahrt, die ich aus der verfluchten Stadt erhielt und die das Feuer meiner Erinnerungen nährten. So erfuhr ich, dass unser alter Palast abgerissen wurde, um auf seinem Schutt ein Bürogebäude zu errichten, und dass Mr Thomas Carter, der Leiter von St. Patrick's, schließlich starb, nachdem er seit dem Brand, der seine Augen für immer verschloss, die letzten Jahre seines Lebens in Dunkelheit verbracht hatte.
Nach und nach erfuhr ich vom Verschwinden der Orte, an denen wir damals lebten. Der Furor einer Stadt, die sich selbst verschlang, und das Trugbild der Zeit verwischten die Spuren der Mitglieder der Chowbar Society. So musste ich zwangsläufig lernen, mit der Angst zu leben, diese Geschichte könne für immer verlorengehen, weil niemand mehr da ist, um sie zu erzählen.
Die Ironie des Schicksals hat es gewollt, dass nun ich, der ich am wenigsten dafür geeignet bin, die Aufgabe übernehme, das Geheimnis zu enthüllen, das uns vor so vielen Jahren vereinte und uns gleichzeitig in dem alten Bahnhof Jheeter's Gate für immer trennte. Ich hätte mir gewünscht, es wäre einem anderen zugefallen, diese Geschichte vor dem Vergessen zu bewahren, doch wieder einmal hat mir das Leben gezeigt, dass meine Rolle die eines Zeugen ist, nicht die des Protagonisten.
Über all die Jahre habe ich die wenigen Briefe von Ben und Roshan aufbewahrt, Dokumente aufgehoben, die Aufschluss über die Schicksale der Mitglieder unserer besonderen Gesellschaft gaben, und sie mir immer wieder in der Einsamkeit meiner Wohnung vorgelesen. Vielleicht, weil ich das Gefühl hatte, das Schicksal habe mich zum Bewahrer unserer gemeinsamen Erinnerung bestimmt. Vielleicht, weil mir klar wurde, dass ich von jenen sieben Jugendlichen immer derjenige gewesen bin, der am wenigsten riskierte, der nicht so brillant und wagemutig war und der deshalb die größten Chancen hatte zu überleben.
In diesem Geist und im Vertrauen darauf, dass mich die Erinnerung nicht trügt, will ich versuchen, die geheimnisvollen und schrecklichen Vorfälle zum Leben zu erwecken, die sich in jenen vier glutheißen Maitagen des Jahres 1932 ereigneten.
Es wird keine leichte Aufgabe werden, und so möchte ich an meine Leser appellieren, wohlwollend über meine ungeschickte Feder hinwegzusehen, wenn ich versuche, der Vergangenheit die Erinnerung an jenen finsteren Sommer in Kalkutta zu entreißen. Ich habe alles darangesetzt, die Realität zu rekonstruieren und mich in die düsteren Ereignisse zurückzuversetzen, die unauslöschliche Spuren in unserem Leben hinterlassen sollten. Bleibt mir nun, die Szene zu verlassen und die Geschichte für sich sprechen zu lassen.
Nie werde ich die verängstigten Gesichter dieser Jugendlichen vergessen, als es nachts schneite über Kalkutta. Aber fangen wir von vorne an, wie es mir mein Freund Ben einst beibrachte...
Die Rückkehr der Finsternis
Kalkutta, Mai 1916
Kurz nach Mitternacht tauchte ein kleines Boot aus dem nächtlichen Nebel auf, der von der Oberfläche des Hooghly River aufstieg wie ein Fluch. Im Vorschiff war im schwachen Schein einer verlöschenden Laterne, die am Mast baumelte, die Gestalt eines in einen Umhang gehüllten Mannes zu erkennen, der mühsam dem fernen Ufer entgegenruderte. Westlich des Maidan lag Fort William unter einer aschgrauen Wolkendecke, umgeben von den Lichtern eines schier endlosen Leichentuchs aus Laternen und Häusern, das sich so weit erstreckte, wie das Auge reichte. Kalkutta.
Der Mann hielt kurz inne, um Luft zu schöpfen und die schemenhaften Umrisse des Bahnhofs Jheeter's Gate zu betrachten, der nun endgültig in der Dunkelheit versank, die das andere Flussufer einhüllte. Mit jedem Meter, den der Mann weiter durch den Nebel glitt, verschwamm der Bahnhof aus Stahl und Glas mit all den anderen Gebäuden, die von vergangener Größe kündeten. Sein Blick glitt zurück über diesen Dschungel marmorner Mausoleen, die in Jahrzehnten der Verwahrlosung schwarz geworden waren, und nackten Mauern, an deren ockerfarbener, blauer oder gelber Haut der Monsun mit Macht gefressen hatte, bis sie verblasst waren wie Aquarellfarben in einem See.
Einzig die Gewissheit, dass ihm nur noch wenige Stunden, vielleicht Minuten, zu leben blieben, ließ ihn weiterrudern, während er tief in dieser verfluchten Stadt die Frau zurückließ, die mit seinem eigenen Leben zu schützen er geschworen hatte. In jener Nacht, als Leutnant Peake in einem alten Boot seine letzte Reise nach Kalkutta antrat, zerrannen die Sekunden seines Lebens im Regen, der im Schutz der Dunkelheit eingesetzt hatte.
Während er versuchte, das Boot ans Ufer zu bringen, konnte der Leutnant die beiden Kinder weinen hören, die im Kielraum versteckt waren. Peake blickte zurück und stellte fest, dass die Lichter der Barkasse knapp hundert Meter hinter ihm aufblitzten und immer näher kamen. Er konnte sich das Grinsen seines Verfolgers vorstellen, während er die unerbittliche Jagd genoss.
Er achtete nicht auf das Gebrüll der Kinder, die vor Hunger und Kälte weinten, sondern verwandte alle Kraft, die ihm geblieben war, darauf, das Boot ans Ufer des Flusses zu bringen, welcher an dem unergründlichen, gespenstischen Labyrinth der Straßen Kalkuttas leckte. Zweihundert Jahre hatten genügt, um aus dem dichten Dschungel, der rings um den Kalighat-Tempel wucherte, eine Stadt zu machen, in die Gott sich niemals hineingewagt hätte.
Binnen Minuten war das Unwetter mit der Wucht eines zerstörerischen Geistes über die Stadt hereingebrochen. Von Mitte April bis in den Juni hinein war die Stadt in der Gewalt des sogenannten indischen Sommers. In diesen Tagen ächzte Kalkutta unter Temperaturen von vierzig Grad und einer Luftfeuchtigkeit von nahezu hundert Prozent. Aber unter dem Einfluss heftiger Gewitter, die den Himmel in eine Wand aus Pulverdampf verwandelten, konnte das Thermometer innerhalb von Sekunden um dreißig Grad fallen.
Der wolkenbruchartige Regen verhinderte die Sicht auf die altersschwachen Stege aus modrigem Holz, die auf dem Fluss schwankten. Peake ruderte immer weiter, bis er spürte, wie der Bootsrumpf gegen die Fischermolen stieß. Erst jetzt bohrte er das Ruder in den morastigen Grund und holte rasch die Kinder, die in eine Decke gewickelt waren. Als er sie auf den Arm nahm, drang das Weinen der Babys durch die Nacht wie eine Blutspur, die das Raubtier zu seiner Beute führt.
Durch den dichten Wasserschleier hindurch war das andere Boot zu sehen, das langsam auf das Ufer zuglitt wie ein Totenschiff. Von Panik getrieben, rannte Peake durch die Straßen, die südlich am Maidan entlangführten, und verschwand in der Dunkelheit jenes Stadtbezirks, den seine privilegierten Bewohner, hauptsächlich Europäer und Briten, die Weiße Stadt nannten.
Es gab nur noch eine Hoffnung, das Leben der Kinder zu retten, aber er war noch weit vom Herzen jenes Viertels im Norden von Kalkutta entfernt, wo Aryami Bosé wohnte. Die alte Frau war die Einzige, die ihm jetzt noch helfen konnte. Peake hielt einen Augenblick inne und spähte in die gewaltige Finsternis des Maidan, auf der Suche nach den fernen Lichtpunkten der kleinen Laternen, die wie Sterne über dem Norden der Stadt blinkten. Die finsteren, unter dem Schleier des Sturms verborgenen Straßen waren sein bestes Versteck. Der Leutnant drückte die Kinder fest an sich und wandte sich wieder in Richtung Osten, um im Schatten der großen Paläste im Stadtzentrum zu verschwinden.
Kurz darauf legte die schwarze Barkasse, die ihn verfolgt hatte, an der Mole an. Drei Männer sprangen an Land und vertäuten das Boot. Die Kajütentür öffnete sich langsam, und ohne auf den Regen zu achten, trat eine dunkle, in einen schwarzen Umhang gehüllte Gestalt hervor und ging über die Planke, die die Männer von der Mole herangeschoben hatten. Auf festem Grund angekommen, streckte sie die in einen schwarzen Handschuh gehüllte Hand aus und deutete dorthin, wo Peake verschwunden war. Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, das die Männer in dem Wolkenbruch nicht sehen konnten.
Die dunkle, unheimliche Straße, die durch den Maidan Park und an der Festung entlangführte, hatte sich durch den prasselnden Regen in einen sumpfigen Morast verwandelt. Peake erinnerte sich vage daran, schon einmal in diesem Teil der Stadt gewesen zu sein, als er unter Oberst Llewelyn gegen die Aufständischen in den Straßen gekämpft hatte. Damals allerdings war es heller Tag gewesen und er zu Pferde, eine Armeeeinheit hinter sich, die nach Blut dürstete. Die Ironie des Schicksals wollte es nun, dass er dieses offene Feld überqueren musste, das Lord Clive 1758 hatte anlegen lassen, damit die Kanonen von Fort William frei in alle Richtungen schießen konnten. Nur dass diesmal er der Gejagte war.
Der Leutnant rannte verzweifelt auf die Bäume zu, während er die heimlichen Blicke stummer Beobachter spürte, nächtliche Bewohner des Maidan, die sich in der Dunkelheit verbargen.
Er wusste, dass niemand versuchen würde, ihn zu überfallen und ihm den Umhang oder die Kinder zu entreißen, die in seinen Armen weinten. Die unsichtbaren Bewohner dieses Ortes konnten die Spur des Todes riechen, die er hinter sich herzog, und keine Menschenseele würde es wagen, sich seinem Verfolger in den Weg zu stellen.
Peake sprang über das Eisengitter, das den Maidan von der Chowringhee Road trennte, und rannte die Hauptverkehrsader der Stadt entlang. Die breite Allee folgte dem Verlauf der alten Straße, die vor knapp dreihundert Jahren durch den bengalischen Dschungel in Richtung Süden zum Tempel der Kali geführt hatte, dem Kalighat, der der Stadt ihren Namen verlieh. Das nächtliche Treiben, das sonst in Kalkutta herrschte, war angesichts des Regens erstorben, und die Stadt machte den Eindruck eines verlassenen, schmutzigen Basars. Peake wusste, dass sich der undurchdringliche Wasservorhang, der ihm in der stockfinsteren Nacht Schutz bot, genauso schnell wieder auflösen konnte, wie er gekommen war. Die Stürme, die sich vom Meer her dem Gangesdelta näherten, zogen rasch nach Norden oder Westen weiter, nachdem sie ihre reinigenden Wasserfluten über der bengalischen Halbinsel abgeladen hatten. Zurück blieben Nebelschwaden und von giftigen Pfützen überschwemmte Straßen, in denen die Kinder hüfttief im Wasser planschten und Karren feststeckten wie auf Grund gelaufene Schiffe.
Der Leutnant lief zum nördlichen Ende der Chowringhee Road, bis er merkte, dass seine Beine zitterten und er kaum noch in der Lage war, die Kinder in den Armen zu halten. Ringsum flimmerten die Lichter von Nord-Kalkutta unter dem samtigen Regenvorhang. Peake wusste, dass er dieses Tempo nicht mehr lange durchhalten konnte und dass es noch weit war bis zu Aryami Bosés Haus. Er musste eine Pause machen. Er versteckte sich unter der Treppe eines ehemaligen Stoffgeschäfts, an dessen Mauern Zettel mit der offiziellen Mitteilung klebten, dass es demnächst abgerissen würde. Er erinnerte sich vage, das Gebäude vor Jahren durchsucht zu haben, weil ein reicher Händler behauptet hatte, dort befinde sich eine berüchtigte Opiumhöhle.
Jetzt sickerte schmutziges Wasser durch die ausgetretenen Stufen. Es sah aus wie schwarzes Blut, das aus einer tiefen Wunde quoll. Das Haus wirkte leer und verlassen. Der Leutnant hob die Kinder hoch und sah in ihre erstaunten Augen. Sie weinten nicht mehr, aber sie zitterten vor Kälte. Die Decke, in die sie gewickelt waren, war klatschnass. Peake nahm ihre winzigen Händchen, um sie zu wärmen, während er durch die Ritzen der Treppe in Richtung der Straßen spähte, die rings um den Maidan lagen. Er wusste nicht, wie viele Mörder sein Verfolger angeheuert hatte, aber er wusste, dass sich nur noch zwei Kugeln in seinem Revolver befanden. Zwei Kugeln, die er so klug wie möglich nutzen musste. Die übrigen hatte er in den Tunnels des Bahnhofs verfeuert. Er wickelte
die Kinder in den Teil der Decke, der am wenigsten durchnässt war, und legte sie für einen Moment in eine Mauernische des Geschäfts, wo der Boden trocken war.
Dann zog Peake seinen Revolver und schob langsam seinen Kopf unter der Treppe hervor. Nach Süden glich die verlassene Chowringhee Road einer gespenstischen Bühne, die auf den Beginn der Vorstellung wartete. Der Leutnant kniff angestrengt die Augen zusammen und erkannte die ferne Lichterkette am anderen Ufer des Hooghly River. Hastige Schritte auf dem regennassen Pflaster ließen ihn zusammenzucken, und er zog sich wieder in die Dunkelheit zurück.
Drei Gestalten tauchten aus der Finsternis des Maidan auf, einem blassen Abklatsch des Hyde Parks, den jemand mitten in den tropischen Dschungel verpflanzt hatte. Messer blitzten in der Dunkelheit auf wie Zungen aus glühendem Silber. Peake nahm rasch die Kinder auf den Arm und atmete tief durch. Er wusste, wenn er jetzt die Flucht ergriff, würden die Männer in Sekundenschnelle über ihn herfallen wie Bluthunde.
Der Leutnant presste sich reglos an die Wand des Ladens und beobachtete seine drei Verfolger, die kurz stehen geblieben waren, um seine Fährte wieder aufzunehmen. Die drei Mörder wechselten ein paar unverständliche Worte, dann wies einer von ihnen die anderen beiden an, sich zu trennen. Peake erschrak, als er sah, wie derjenige, der den Befehl gegeben hatte, genau auf die Treppe zukam, unter der er sich versteckte. Für einen kurzen Moment befürchtete der Leutnant, der Geruch der Angst könne ihn zu seinem Versteck führen.
Verzweifelt glitt sein Blick über die Mauer hinter der Treppe, auf der Suche nach einer Öffnung, durch die er fliehen konnte. Er kniete neben der Nische nieder, wo er kurz zuvor die Kinder abgelegt hatte, und versuchte die losen, von Feuchtigkeit zerfressenen Bretter zu lockern. Das morsche Holz gab ohne weiteres nach, und Peake spürte, wie ein ekelerregender Luftzug aus dem Keller des verfallenen Gebäudes drang. Er blickte sich um und sah, dass der Mörder keine zwanzig Meter mehr vom Fuß der Treppe entfernt war. Das Messer blitzte in seinen Händen.
Er wickelte die Kinder in seinen Umhang, um sie zu schützen, und kroch ins Innere des Ladens. Plötzlich durchfuhr ein stechender Schmerz sein rechtes Bein oberhalb des Knies. Peake tastete mit zitternden Händen danach, und seine Finger berührten den rostigen Nagel, der sich schmerzhaft in sein Fleisch bohrte. Einen verzweifelten Schrei unterdrückend, packte Peake das Ende des kalten Metallstifts, zog ihn mit einem Ruck heraus und spürte, wie die Haut aufriss und warmes Blut zwischen seinen Fingern hervorquoll. Vor Schmerz und Übelkeit wurde ihm für einige Sekunden schwarz vor Augen. Schwer atmend nahm er die Kinder und richtete sich mühsam auf. Vor ihm lag ein gespenstischer Raum mit Hunderten leerer, mehrstöckiger Regale, die ein seltsames Muster bildeten, das sich in der Dunkelheit verlor. Ohne einen Moment zu zögern, lief er ans andere Ende des Ladens, dessen tödlich verwundetes Gebälk im Sturm ächzte.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Nie werde ich die Nacht vergessen, in der es schneite über Kalkutta. Der Kalender des Waisenhauses St. Patrick's zeigte die letzten Maitage des Jahres 1932 an, und die Monate zuvor waren die heißesten gewesen, an die sich die Stadt der Paläste erinnerte.
Mit jedem Tag sahen wir traurig und ängstlich dem Beginn jenes Sommers entgegen, in dem wir unser sechzehntes Lebensjahr vollenden würden, was gleichbedeutend war mit unserer Trennung und der Auflösung der Chowbar Society, jenes auf sieben Mitglieder beschränkten Geheimbundes, der uns während unserer Jahre im Waisenhaus Heimat gewesen war. Wir hatten keine andere Familie als uns selbst und keine anderen Erinnerungen als die Geschichten, die wir uns nachts am Feuer im Hof des alten verlassenen Hauses erzählten, das an der Ecke Cotton Street und Brabourne Road stand, ein verfallenes Anwesen, dem wir den Namen Mitternachtspalast gegeben hatten. Damals wusste ich nicht, dass ich den Ort nicht wiedersehen sollte, an dem ich aufgewachsen war und dessen Zauber mich bis heute verfolgt.
Seit jenem Jahr bin ich nie wieder nach Kalkutta zurückgekehrt, doch ich blieb stets dem Versprechen treu, das wir uns stillschweigend unter dem weißen Regen am Ufer des Hooghly Rivergaben: niemals zu vergessen, was wir erlebt hatten. Die Jahre haben mich gelehrt, alles, was in jenen Tagen geschah, in Erinnerung zu behalten. Ich habe die Briefe aufbewahrt, die ich aus der verfluchten Stadt erhielt und die das Feuer meiner Erinnerungen nährten. So erfuhr ich, dass unser alter Palast abgerissen wurde, um auf seinem Schutt ein Bürogebäude zu errichten, und dass Mr Thomas Carter, der Leiter von St. Patrick's, schließlich starb, nachdem er seit dem Brand, der seine Augen für immer verschloss, die letzten Jahre seines Lebens in Dunkelheit verbracht hatte.
Nach und nach erfuhr ich vom Verschwinden der Orte, an denen wir damals lebten. Der Furor einer Stadt, die sich selbst verschlang, und das Trugbild der Zeit verwischten die Spuren der Mitglieder der Chowbar Society. So musste ich zwangsläufig lernen, mit der Angst zu leben, diese Geschichte könne für immer verlorengehen, weil niemand mehr da ist, um sie zu erzählen.
Die Ironie des Schicksals hat es gewollt, dass nun ich, der ich am wenigsten dafür geeignet bin, die Aufgabe übernehme, das Geheimnis zu enthüllen, das uns vor so vielen Jahren vereinte und uns gleichzeitig in dem alten Bahnhof Jheeter's Gate für immer trennte. Ich hätte mir gewünscht, es wäre einem anderen zugefallen, diese Geschichte vor dem Vergessen zu bewahren, doch wieder einmal hat mir das Leben gezeigt, dass meine Rolle die eines Zeugen ist, nicht die des Protagonisten.
Über all die Jahre habe ich die wenigen Briefe von Ben und Roshan aufbewahrt, Dokumente aufgehoben, die Aufschluss über die Schicksale der Mitglieder unserer besonderen Gesellschaft gaben, und sie mir immer wieder in der Einsamkeit meiner Wohnung vorgelesen. Vielleicht, weil ich das Gefühl hatte, das Schicksal habe mich zum Bewahrer unserer gemeinsamen Erinnerung bestimmt. Vielleicht, weil mir klar wurde, dass ich von jenen sieben Jugendlichen immer derjenige gewesen bin, der am wenigsten riskierte, der nicht so brillant und wagemutig war und der deshalb die größten Chancen hatte zu überleben.
In diesem Geist und im Vertrauen darauf, dass mich die Erinnerung nicht trügt, will ich versuchen, die geheimnisvollen und schrecklichen Vorfälle zum Leben zu erwecken, die sich in jenen vier glutheißen Maitagen des Jahres 1932 ereigneten.
Es wird keine leichte Aufgabe werden, und so möchte ich an meine Leser appellieren, wohlwollend über meine ungeschickte Feder hinwegzusehen, wenn ich versuche, der Vergangenheit die Erinnerung an jenen finsteren Sommer in Kalkutta zu entreißen. Ich habe alles darangesetzt, die Realität zu rekonstruieren und mich in die düsteren Ereignisse zurückzuversetzen, die unauslöschliche Spuren in unserem Leben hinterlassen sollten. Bleibt mir nun, die Szene zu verlassen und die Geschichte für sich sprechen zu lassen.
Nie werde ich die verängstigten Gesichter dieser Jugendlichen vergessen, als es nachts schneite über Kalkutta. Aber fangen wir von vorne an, wie es mir mein Freund Ben einst beibrachte...
Die Rückkehr der Finsternis
Kalkutta, Mai 1916
Kurz nach Mitternacht tauchte ein kleines Boot aus dem nächtlichen Nebel auf, der von der Oberfläche des Hooghly River aufstieg wie ein Fluch. Im Vorschiff war im schwachen Schein einer verlöschenden Laterne, die am Mast baumelte, die Gestalt eines in einen Umhang gehüllten Mannes zu erkennen, der mühsam dem fernen Ufer entgegenruderte. Westlich des Maidan lag Fort William unter einer aschgrauen Wolkendecke, umgeben von den Lichtern eines schier endlosen Leichentuchs aus Laternen und Häusern, das sich so weit erstreckte, wie das Auge reichte. Kalkutta.
Der Mann hielt kurz inne, um Luft zu schöpfen und die schemenhaften Umrisse des Bahnhofs Jheeter's Gate zu betrachten, der nun endgültig in der Dunkelheit versank, die das andere Flussufer einhüllte. Mit jedem Meter, den der Mann weiter durch den Nebel glitt, verschwamm der Bahnhof aus Stahl und Glas mit all den anderen Gebäuden, die von vergangener Größe kündeten. Sein Blick glitt zurück über diesen Dschungel marmorner Mausoleen, die in Jahrzehnten der Verwahrlosung schwarz geworden waren, und nackten Mauern, an deren ockerfarbener, blauer oder gelber Haut der Monsun mit Macht gefressen hatte, bis sie verblasst waren wie Aquarellfarben in einem See.
Einzig die Gewissheit, dass ihm nur noch wenige Stunden, vielleicht Minuten, zu leben blieben, ließ ihn weiterrudern, während er tief in dieser verfluchten Stadt die Frau zurückließ, die mit seinem eigenen Leben zu schützen er geschworen hatte. In jener Nacht, als Leutnant Peake in einem alten Boot seine letzte Reise nach Kalkutta antrat, zerrannen die Sekunden seines Lebens im Regen, der im Schutz der Dunkelheit eingesetzt hatte.
Während er versuchte, das Boot ans Ufer zu bringen, konnte der Leutnant die beiden Kinder weinen hören, die im Kielraum versteckt waren. Peake blickte zurück und stellte fest, dass die Lichter der Barkasse knapp hundert Meter hinter ihm aufblitzten und immer näher kamen. Er konnte sich das Grinsen seines Verfolgers vorstellen, während er die unerbittliche Jagd genoss.
Er achtete nicht auf das Gebrüll der Kinder, die vor Hunger und Kälte weinten, sondern verwandte alle Kraft, die ihm geblieben war, darauf, das Boot ans Ufer des Flusses zu bringen, welcher an dem unergründlichen, gespenstischen Labyrinth der Straßen Kalkuttas leckte. Zweihundert Jahre hatten genügt, um aus dem dichten Dschungel, der rings um den Kalighat-Tempel wucherte, eine Stadt zu machen, in die Gott sich niemals hineingewagt hätte.
Binnen Minuten war das Unwetter mit der Wucht eines zerstörerischen Geistes über die Stadt hereingebrochen. Von Mitte April bis in den Juni hinein war die Stadt in der Gewalt des sogenannten indischen Sommers. In diesen Tagen ächzte Kalkutta unter Temperaturen von vierzig Grad und einer Luftfeuchtigkeit von nahezu hundert Prozent. Aber unter dem Einfluss heftiger Gewitter, die den Himmel in eine Wand aus Pulverdampf verwandelten, konnte das Thermometer innerhalb von Sekunden um dreißig Grad fallen.
Der wolkenbruchartige Regen verhinderte die Sicht auf die altersschwachen Stege aus modrigem Holz, die auf dem Fluss schwankten. Peake ruderte immer weiter, bis er spürte, wie der Bootsrumpf gegen die Fischermolen stieß. Erst jetzt bohrte er das Ruder in den morastigen Grund und holte rasch die Kinder, die in eine Decke gewickelt waren. Als er sie auf den Arm nahm, drang das Weinen der Babys durch die Nacht wie eine Blutspur, die das Raubtier zu seiner Beute führt.
Durch den dichten Wasserschleier hindurch war das andere Boot zu sehen, das langsam auf das Ufer zuglitt wie ein Totenschiff. Von Panik getrieben, rannte Peake durch die Straßen, die südlich am Maidan entlangführten, und verschwand in der Dunkelheit jenes Stadtbezirks, den seine privilegierten Bewohner, hauptsächlich Europäer und Briten, die Weiße Stadt nannten.
Es gab nur noch eine Hoffnung, das Leben der Kinder zu retten, aber er war noch weit vom Herzen jenes Viertels im Norden von Kalkutta entfernt, wo Aryami Bosé wohnte. Die alte Frau war die Einzige, die ihm jetzt noch helfen konnte. Peake hielt einen Augenblick inne und spähte in die gewaltige Finsternis des Maidan, auf der Suche nach den fernen Lichtpunkten der kleinen Laternen, die wie Sterne über dem Norden der Stadt blinkten. Die finsteren, unter dem Schleier des Sturms verborgenen Straßen waren sein bestes Versteck. Der Leutnant drückte die Kinder fest an sich und wandte sich wieder in Richtung Osten, um im Schatten der großen Paläste im Stadtzentrum zu verschwinden.
Kurz darauf legte die schwarze Barkasse, die ihn verfolgt hatte, an der Mole an. Drei Männer sprangen an Land und vertäuten das Boot. Die Kajütentür öffnete sich langsam, und ohne auf den Regen zu achten, trat eine dunkle, in einen schwarzen Umhang gehüllte Gestalt hervor und ging über die Planke, die die Männer von der Mole herangeschoben hatten. Auf festem Grund angekommen, streckte sie die in einen schwarzen Handschuh gehüllte Hand aus und deutete dorthin, wo Peake verschwunden war. Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, das die Männer in dem Wolkenbruch nicht sehen konnten.
Die dunkle, unheimliche Straße, die durch den Maidan Park und an der Festung entlangführte, hatte sich durch den prasselnden Regen in einen sumpfigen Morast verwandelt. Peake erinnerte sich vage daran, schon einmal in diesem Teil der Stadt gewesen zu sein, als er unter Oberst Llewelyn gegen die Aufständischen in den Straßen gekämpft hatte. Damals allerdings war es heller Tag gewesen und er zu Pferde, eine Armeeeinheit hinter sich, die nach Blut dürstete. Die Ironie des Schicksals wollte es nun, dass er dieses offene Feld überqueren musste, das Lord Clive 1758 hatte anlegen lassen, damit die Kanonen von Fort William frei in alle Richtungen schießen konnten. Nur dass diesmal er der Gejagte war.
Der Leutnant rannte verzweifelt auf die Bäume zu, während er die heimlichen Blicke stummer Beobachter spürte, nächtliche Bewohner des Maidan, die sich in der Dunkelheit verbargen.
Er wusste, dass niemand versuchen würde, ihn zu überfallen und ihm den Umhang oder die Kinder zu entreißen, die in seinen Armen weinten. Die unsichtbaren Bewohner dieses Ortes konnten die Spur des Todes riechen, die er hinter sich herzog, und keine Menschenseele würde es wagen, sich seinem Verfolger in den Weg zu stellen.
Peake sprang über das Eisengitter, das den Maidan von der Chowringhee Road trennte, und rannte die Hauptverkehrsader der Stadt entlang. Die breite Allee folgte dem Verlauf der alten Straße, die vor knapp dreihundert Jahren durch den bengalischen Dschungel in Richtung Süden zum Tempel der Kali geführt hatte, dem Kalighat, der der Stadt ihren Namen verlieh. Das nächtliche Treiben, das sonst in Kalkutta herrschte, war angesichts des Regens erstorben, und die Stadt machte den Eindruck eines verlassenen, schmutzigen Basars. Peake wusste, dass sich der undurchdringliche Wasservorhang, der ihm in der stockfinsteren Nacht Schutz bot, genauso schnell wieder auflösen konnte, wie er gekommen war. Die Stürme, die sich vom Meer her dem Gangesdelta näherten, zogen rasch nach Norden oder Westen weiter, nachdem sie ihre reinigenden Wasserfluten über der bengalischen Halbinsel abgeladen hatten. Zurück blieben Nebelschwaden und von giftigen Pfützen überschwemmte Straßen, in denen die Kinder hüfttief im Wasser planschten und Karren feststeckten wie auf Grund gelaufene Schiffe.
Der Leutnant lief zum nördlichen Ende der Chowringhee Road, bis er merkte, dass seine Beine zitterten und er kaum noch in der Lage war, die Kinder in den Armen zu halten. Ringsum flimmerten die Lichter von Nord-Kalkutta unter dem samtigen Regenvorhang. Peake wusste, dass er dieses Tempo nicht mehr lange durchhalten konnte und dass es noch weit war bis zu Aryami Bosés Haus. Er musste eine Pause machen. Er versteckte sich unter der Treppe eines ehemaligen Stoffgeschäfts, an dessen Mauern Zettel mit der offiziellen Mitteilung klebten, dass es demnächst abgerissen würde. Er erinnerte sich vage, das Gebäude vor Jahren durchsucht zu haben, weil ein reicher Händler behauptet hatte, dort befinde sich eine berüchtigte Opiumhöhle.
Jetzt sickerte schmutziges Wasser durch die ausgetretenen Stufen. Es sah aus wie schwarzes Blut, das aus einer tiefen Wunde quoll. Das Haus wirkte leer und verlassen. Der Leutnant hob die Kinder hoch und sah in ihre erstaunten Augen. Sie weinten nicht mehr, aber sie zitterten vor Kälte. Die Decke, in die sie gewickelt waren, war klatschnass. Peake nahm ihre winzigen Händchen, um sie zu wärmen, während er durch die Ritzen der Treppe in Richtung der Straßen spähte, die rings um den Maidan lagen. Er wusste nicht, wie viele Mörder sein Verfolger angeheuert hatte, aber er wusste, dass sich nur noch zwei Kugeln in seinem Revolver befanden. Zwei Kugeln, die er so klug wie möglich nutzen musste. Die übrigen hatte er in den Tunnels des Bahnhofs verfeuert. Er wickelte
die Kinder in den Teil der Decke, der am wenigsten durchnässt war, und legte sie für einen Moment in eine Mauernische des Geschäfts, wo der Boden trocken war.
Dann zog Peake seinen Revolver und schob langsam seinen Kopf unter der Treppe hervor. Nach Süden glich die verlassene Chowringhee Road einer gespenstischen Bühne, die auf den Beginn der Vorstellung wartete. Der Leutnant kniff angestrengt die Augen zusammen und erkannte die ferne Lichterkette am anderen Ufer des Hooghly River. Hastige Schritte auf dem regennassen Pflaster ließen ihn zusammenzucken, und er zog sich wieder in die Dunkelheit zurück.
Drei Gestalten tauchten aus der Finsternis des Maidan auf, einem blassen Abklatsch des Hyde Parks, den jemand mitten in den tropischen Dschungel verpflanzt hatte. Messer blitzten in der Dunkelheit auf wie Zungen aus glühendem Silber. Peake nahm rasch die Kinder auf den Arm und atmete tief durch. Er wusste, wenn er jetzt die Flucht ergriff, würden die Männer in Sekundenschnelle über ihn herfallen wie Bluthunde.
Der Leutnant presste sich reglos an die Wand des Ladens und beobachtete seine drei Verfolger, die kurz stehen geblieben waren, um seine Fährte wieder aufzunehmen. Die drei Mörder wechselten ein paar unverständliche Worte, dann wies einer von ihnen die anderen beiden an, sich zu trennen. Peake erschrak, als er sah, wie derjenige, der den Befehl gegeben hatte, genau auf die Treppe zukam, unter der er sich versteckte. Für einen kurzen Moment befürchtete der Leutnant, der Geruch der Angst könne ihn zu seinem Versteck führen.
Verzweifelt glitt sein Blick über die Mauer hinter der Treppe, auf der Suche nach einer Öffnung, durch die er fliehen konnte. Er kniete neben der Nische nieder, wo er kurz zuvor die Kinder abgelegt hatte, und versuchte die losen, von Feuchtigkeit zerfressenen Bretter zu lockern. Das morsche Holz gab ohne weiteres nach, und Peake spürte, wie ein ekelerregender Luftzug aus dem Keller des verfallenen Gebäudes drang. Er blickte sich um und sah, dass der Mörder keine zwanzig Meter mehr vom Fuß der Treppe entfernt war. Das Messer blitzte in seinen Händen.
Er wickelte die Kinder in seinen Umhang, um sie zu schützen, und kroch ins Innere des Ladens. Plötzlich durchfuhr ein stechender Schmerz sein rechtes Bein oberhalb des Knies. Peake tastete mit zitternden Händen danach, und seine Finger berührten den rostigen Nagel, der sich schmerzhaft in sein Fleisch bohrte. Einen verzweifelten Schrei unterdrückend, packte Peake das Ende des kalten Metallstifts, zog ihn mit einem Ruck heraus und spürte, wie die Haut aufriss und warmes Blut zwischen seinen Fingern hervorquoll. Vor Schmerz und Übelkeit wurde ihm für einige Sekunden schwarz vor Augen. Schwer atmend nahm er die Kinder und richtete sich mühsam auf. Vor ihm lag ein gespenstischer Raum mit Hunderten leerer, mehrstöckiger Regale, die ein seltsames Muster bildeten, das sich in der Dunkelheit verlor. Ohne einen Moment zu zögern, lief er ans andere Ende des Ladens, dessen tödlich verwundetes Gebälk im Sturm ächzte.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Carlos Ruiz Zafón
Carlos Ruiz Zafón, geb. 1964 in Barcelona, lebt heute in Los Angeles. Mit den großen Barcelona-Romanen 'Der Schatten des Windes' und 'Das Spiel des Engels' begeisterte er ein Millionenpublikum auf der ganzen Welt; seine Bücher wurden in über 40 Sprachen übersetzt. Das Spiel des Engels stand wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.Lisa Grüneisen, 1967 geboren, arbeitet seit ihrem Studium der Romanistik, Germanistik und Geschichte als Übersetzerin. Sie übersetzte u.a. Carlos Fuentes, Miguel Delibes, Alberto Manguel und Frida Kahlo.
Bibliographische Angaben
- Autor: Carlos Ruiz Zafón
- Altersempfehlung: 12 - 15 Jahre
- 2010, 2. Aufl., 400 Seiten, Maße: 13,5 x 20,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Grüneisen, Lisa
- Verlag: Fischer FJB
- ISBN-10: 3841440029
- ISBN-13: 9783841440020
Kommentare zu "Der Mitternachtspalast"
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