Der Monddiamant
Roman
Der erste Kriminalroman der Literaturgeschichte!
Wilkie Collins (1824 - 1889) war ein langjähriger Freund von Charles Dickens und Autor zahlreicher Bestseller. Hier erzählt er die Geschichte eines mysteriösen Juwelen-Diebstahls: Zu ihrem 21....
Wilkie Collins (1824 - 1889) war ein langjähriger Freund von Charles Dickens und Autor zahlreicher Bestseller. Hier erzählt er die Geschichte eines mysteriösen Juwelen-Diebstahls: Zu ihrem 21....
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Produktinformationen zu „Der Monddiamant “
Der erste Kriminalroman der Literaturgeschichte!
Wilkie Collins (1824 - 1889) war ein langjähriger Freund von Charles Dickens und Autor zahlreicher Bestseller. Hier erzählt er die Geschichte eines mysteriösen Juwelen-Diebstahls: Zu ihrem 21. Geburtstag erhält Lady Rachel den Monddiamanten... Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon sowie Daten zu Leben und Werk.
Wilkie Collins (1824 - 1889) war ein langjähriger Freund von Charles Dickens und Autor zahlreicher Bestseller. Hier erzählt er die Geschichte eines mysteriösen Juwelen-Diebstahls: Zu ihrem 21. Geburtstag erhält Lady Rachel den Monddiamanten... Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon sowie Daten zu Leben und Werk.
Klappentext zu „Der Monddiamant “
Zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag erhält Lady Rachel Verinder den geheimnisumwitterten Monddiamanten zum Geschenk. Einst gelangte er durch ein Verbrechen aus einem indischen Tempel nach England. Schon am Morgen nach Rachels Geburtstag ist das Unmögliche geschehen: Der Stein ist spurlos verschwunden.Mit der spannenden Aufklärung dieses Rätsels begründete Wilkie Collins eine ganz neue Erzählgattung: den Kriminalroman.
Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon
Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT+KRITIK
Lese-Probe zu „Der Monddiamant “
Der Monddiamant von Wilkie CollinsErster Teil
Der Verlust des Diamanten (1848)
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Schilderung der Ereignisse von Gabriel Betteredge, Butler in Diensten der Julia, Lady Verinder
Erstes Kapitel
Im ersten Teil von Robinson Crusoe, auf Seite einhundertneunundzwanzig, steht folgender Satz: Jetzt begriff ich, wenn auch zu spät, wie töricht es ist, ein Werk zu beginnen, bevor man die Kosten berechnet und genau abgeschätzt hat, ob die eigene Kraft reichen werde, das Begonnene zu vollenden.
Erst gestern hatte ich diese Stelle in meinem ›Robinson Crusoe‹ aufgeschlagen, und heute morgen, am einundzwanzigsten Mai achtzehnhundertfünfzig, besuchte mich Myladys Neffe, Mr. Franklin Blake, und führte mit mir das folgende Gespräch: »Betteredge«, sagte er, »ich war heute in Familienangelegenheiten bei unserem Anwalt. Unter anderem erwähnte er auch den indischen Diamanten, der vor zwei Jahren im Hause meiner Tante in Yorkshire verlorenging. Mr. Bruff meinte nun, die ganze Angelegenheit solle im Interesse der Wahrheit schriftlich festgehalten werden; je eher, desto besser.«
Ich wußte nicht recht, worauf Mr. Franklin hinauswollte. Doch da ich es, um des lieben Friedens willen, stets für ratsam halte, den Standpunkt des Anwalts einzunehmen, stimmte ich dem Vorschlag zu. Und Mr. Franklin fuhr fort: »Im Zusammenhang mit diesem Diamanten sind, wie Sie wissen, etliche unschuldige Leute Verdächtigungen ausgesetzt worden. Das Andenken an diese Unschuldigen könnte später dadurch getrübt werden, daß man den Nachkommen einen ehrlichen Bericht über die Tatsachen vorenthält. Wir sind also geradezu verpflichtet, diese ungewöhnliche Episode aus dem Leben meiner Familie schriftlich niederzulegen. Und ich glaube, Betteredge, Mr. Bruff und ich haben auch schon die richtige Methode entdeckt, in der die Geschichte geschrieben werden müßte.«
Zweifellos eine angenehme Entdeckung für die beiden Herren, aber was meine Person damit zu tun haben konnte, begriff ich noch immer nicht.
»Bestimmte Vorfälle müßten also beschrieben werden«, fuhr Mr. Franklin fort, »und da es auch bestimmte Personen gibt, die jeweils in diese Vorfälle verwickelt waren, sind sie auch am ehesten in der Lage, darüber zu berichten. Gehen wir von diesen einfachen Tatsachen aus, so folgt, daß sie alle nacheinander die Geschichte des Monddiamanten schreiben sollten, natürlich immer nur so weit, wie sie persönlich davon betroffen waren. Wir müssen damit beginnen, wie der Diamant in die Hände meines Onkels Herncastle geriet, als er vor fünfzig Jahren in Indien Militärdienst tat. Diese einleitenden Zeilen habe ich übrigens schon im Stile einer alten Familienchronik verfaßt. Ich lasse einen Augenzeugen alle nötigen Einzelheiten berichten. Als nächstes müßte erzählt werden, wie der Diamant vor zwei Jahren nach Yorkshire in das Haus meiner Tante geriet und wie man kaum zwölf Stunden später entdeckte, daß er verschwunden war. Und da niemand über die damaligen Vorgänge im Hause so gut Bescheid weiß wie Sie, Betteredge, müssen Sie zur Feder greifen und das erste Kapitel der Geschichte schreiben.« Mit diesen Worten teilte man mir also mit, welchen Beitrag ich zu der Diamantengeschichte zu liefern hatte. Falls es Sie interessiert, wie ich mich unter den gegebenen Umständen verhielt: Ich tat, was Sie in meiner Lage wahrscheinlich auch getan hätten; ich erklärte in aller Bescheidenheit, der Aufgabe keineswegs gewachsen zu sein - und dachte doch insgeheim, daß ich gewiß dazu fähig wäre, wenn ich es nur richtig anpackte.
Das Gespräch mit Mr. Franklin liegt nun zwei Stunden zurück. Sowie der junge Herr fortgegangen war, hatte ich mich an den Schreibtisch gesetzt, um mit der Niederschrift der Geschichte anzufangen. Und da sitze ich immer noch - vollkommen hilflos (trotz meiner Fähigkeiten), und begreife allmählich das, was auch schon Robinson Crusoe begriffen hatte, vgl. das oben angeführte Zitat, nämlich, wie töricht es ist, ein Werk zu beginnen, ohne vorher genau abzuschätzen, ob die eigene Kraft reichen werde, es zu vollenden. Wenn Sie sich freundlicherweise erinnern wollen: Nur einen Tag, bevor ich meine nun schier unlösbare Aufgabe übernommen hatte, war ich, ganz zufällig, auf diese Stelle gestoßen; und da soll man nicht an eine Vorsehung glauben?
Ich bin sonst übrigens nicht abergläubisch. Als junger Mensch habe ich Unmengen von Büchern gelesen; ja, auf meine Art bin ich schon ein richtiger Gelehrter. Und obwohl ich die Siebzig überschritten habe, ist mein Gedächtnis noch so tüchtig wie meine Beine. Sie brauchen trotzdem nicht meine Meinung zu teilen, wenn ich, als unstudierter Mann, behaupte, daß der Robinson Crusoe einmalig ist und auch in Zukunft nicht übertroffen werden kann. Seit Jahren beschäftige ich mich mit diesem Buch, meist bei einem Pfeifchen Tabak, und immer wieder stelle ich fest, daß es mein bester Freund in allen Lebenslagen ist. Bin ich niedergeschlagen - Robinson Crusoe; brauche ich guten Rat - Robinson Crusoe; in früheren Jahren, wenn meine Frau mir zugesetzt hatte - Robinson Crusoe; heute, wenn ich ein bißchen zu tief ins Glas geschaut habe - Robinson Crusoe. Sechs dickleibige Robinson-Crusoe-Ausgaben habe ich in harter Lesearbeit verbraucht. Das siebente Exemplar schenkte mir Mylady bei ihrem letzten Geburtstag. Aus Anlaß dieses Feiertages hatte ich ein wenig über den Durst getrunken - Robinson Crusoe brachte mich wieder auf die Beine; zum Preis von viereinhalb Shilling, in blauem Einband und mit einem Bild als Zugabe.
Ehrlich gesagt, das ist kein guter Anfang für unsere Diamantengeschichte. Auf der Suche nach Gott weiß was scheinen meine Gedanken auch Gott weiß wohin abzuschweifen. Gestatten Sie mir also, einen frischen Bogen zu nehmen und noch einmal anzufangen.
Zweites Kapitel
Mylady habe ich vorhin schon einmal erwähnt. Tatsache ist, daß der Diamant nie in unser Haus gelangt wäre, wo er dann auch verlorenging, hätte Myladys Tochter das Juwel nicht geschenkt bekommen. Und Myladys Tochter wiederum hätte den Diamanten nicht als Geschenk empfangen können, wäre sie nicht von Mylady mit viel Ach und Weh in die Welt gesetzt worden. Wenn wir also mit Mylady anfangen, gehen wir auch gleich weit genug zu den Anfängen der Geschichte zurück. Und angesichts der schweren Aufgabe, die mir bevorsteht, ist das ein rechter Trost.
Sofern Sie sich überhaupt für das Leben der oberen Zehntausend interessieren, haben Sie auch schon von den drei schönen Herncastle-Schwestern gehört, von Miß Adelaide, Miß Caroline und Miß Julia, der jüngsten, die, meiner Meinung nach, die beste war. Weshalb ich mir dieses Urteil erlauben darf, sollen Sie gleich erfahren. Ich trat nämlich schon beim alten Lord, dem Vater der drei Schwestern, in Dienst. Der alte Herr war, unter uns gesagt, der geschwätzigste und zugleich reizbarste Mensch, der mir je begegnet ist.
Ich wurde also als Fünfzehnjähriger Kammerdiener der drei jungen Damen.
Auf diesem Posten blieb ich, bis Miß Julia den inzwischen verstorbenen Sir John Verinder heiratete. Ein tadelloser Mann, der nur der Führung durch eine feste Hand bedurfte, um prächtig zu gedeihen, glücklich und zufrieden zu leben und eines leichten Todes zu sterben. Und diese feste Hand verspürte er von dem Augenblick an, da ihn Mylady zum Traualtar führte, bis zu dem Augenblick, da sie ihm den letzten Atemzug erleichterte und die Augen schloß.
Ich sollte noch einfügen, daß ich mit der Braut hierher in das Haus und auf die Ländereien des Bräutigams übersiedelte. »Sir John«, sprach sie, »ohne Gabriel Betteredge komme ich nicht zurecht.« »Mylady«, sprach Sir John, »mir geht es geradeso.« Auf diese Weise pflegten sich die beiden immer zu einigen. Und so kam ich in Sir Johns Dienst. Mir war es ohnehin gleichgültig, wohin ich zog, Hauptsache, ich konnte bei Mylady sein.
Als ich merkte, daß Mylady Interesse für die Ländereien und unsere Bauernhöfe zeigte, tat ich es ihr nach, was um so naheliegender war, da ich als siebenter Sohn eines kleinen Bauern geboren bin. Mylady unterstellte mich dem Verwalter ihrer Güter, und da ich anstellig war und zur Zufriedenheit meiner Herrschaft arbeitete, wurde ich entsprechend befördert.
Ein paar Jahre darauf, es muß ein Montagmorgen gewesen sein, sagte Mylady: »Sir John, Euer Gutsverwalter ist ein törichter alter Mann. Gebt ihm eine gute Rente, und setzt Gabriel Betteredge an seine Stelle.« Und dann, das war demnach am Dienstagmorgen, sagte Sir John: »Mylady, der Gutsverwalter bekommt eine gute Rente, und Gabriel Betteredge ist sein Nachfolger.« Man hört nur allzuoft von Ehepaaren, die schlecht miteinander auskommen. Hier erleben Sie einmal das Gegenteil. Unser Beispiel möge also manchen Lesern als Ermutigung, anderen zur Warnung dienen.
Doch lassen Sie mich fortfahren. Ich war nun ein gemachter Mann, wie man so schön sagt. Ich hatte eine Vertrauensstellung, ein Häuschen, ein paar Inspektionsgänge am Morgen, die Rechnungsbücher am Nachmittag, mein Pfeifchen und ›Robinson Crusoe‹ am Abend; was konnte mir noch zu meinem Glück fehlen? Sie erinnern sich vielleicht, was Adam entbehrte, als er so allein im Paradies lebte. Und wenn Sie Adam darum nicht tadeln, sollten Sie auch mit mir Nachsicht üben.
Die Frau, auf die ich ein Auge geworfen hatte, führte mir den Haushalt. Ihr Name war Selina Goby. Nun halte ich es mit dem verstorbenen William Cobbett, der da meinte, ein Weib, das sein Essen ordentlich kaut und festen Schrittes einhergeht, könne man ruhig ehelichen. Selina Goby entsprach beiden Forderungen, und so hatte ich schon den ersten Grund, sie zu heiraten. Auf den zweiten kam ich ganz allein. Der unverheirateten Selina mußte ich jede Woche für das Essen und die Haushaltführung ein hübsches Sümmchen zahlen. War sie dagegen meine Frau, konnte sie unmöglich für das Essen und schon gar nicht für die Hausarbeit Geld verlangen. Ich fädelte die Sache also unter zwei Gesichtspunkten ein: Sparsamkeit - mit einem Schuß Liebe.
Pflichtgemäß unterbreitete ich die Angelegenheit meiner Herrin, und zwar mit denselben Argumenten, die ich für mich gebraucht hatte.
»Selina Goby geht mir schon längere Zeit im Kopf herum, Mylady«, sagte ich, »und ich meine, als Ehefrau kommt sie mich nicht so teuer zu stehen wie als Haushälterin.«
Mylady brach in Gelächter aus und sagte, sie wisse nicht, worüber sie mehr schockiert sein solle, über meine Prinzipien oder meine Ausdrucksweise. Irgend etwas an der Sache muß sie sehr belustigt haben - etwas, das nur Personen von Stand verstehen. Ich selbst verstand lediglich, daß ich die Erlaubnis hatte, mit Selina zu reden.
Das tat ich auch; und was sagte Selina? Du lieber Himmel, wie wenig wissen Sie doch von den Frauen, wenn Sie diese Frage überhaupt erst stellen! Natürlich sagte Selina ›ja‹.
Doch als meine Zeit näherkam und schon davon geschwatzt wurde, daß ich für die Feier einen neuen Rock brauchte, da wurde mir unheimlich zumute. Ich habe mal nachgelesen, was andere Männer zu diesem heiklen Zeitpunkt empfanden. Alle gaben zu, daß sie etwa eine Woche, bevor die Sache endgültig wurde, heimlich wünschten, sie könnten davonlaufen. Ich ging einen Schritt weiter; genauer gesagt, ich revoltierte offen, um meine Freiheit zu retten. Natürlich nicht, ohne eine Entschädigung anzubieten. Die Zahlung von Schmerzensgeld für die verlassene Braut ist in England gesetzlich. Und um dem Gesetz zu genügen, bot ich Selina Goby nach reiflicher Überlegung ein Federbett und fünfzig Shilling für meine Freiheit. Wenn es auch nicht zu fassen ist, so ist es doch wahr: Selina Goby war dumm genug, das Angebot auszuschlagen.
Danach hatte ich keine Hoffnung mehr. Ich erstand den neuen Rock so billig wie möglich und erledigte auch den Rest möglichst sang- und klanglos.
Wir wurden weder ein glückliches noch ein unglückliches Ehepaar, eher sowohl das eine wie das andere. Warum es so kam, weiß ich nicht, jedenfalls schienen wir trotz der besten Vorsätze immer einander im Wege zu sein. Wollte ich die Treppe hinaufgehen, kam meine Frau gerade herunter; wollte meine Frau herunterkommen, mußte ich gerade hinaufgehen. Damit wäre schon das ganze Eheleben beschrieben - wenigstens aus meiner Sicht.
Nach fünf Jahre dauernden Mißverständnissen auf der Treppe gefiel es dem allmächtigen Schicksal, uns durch das Hinscheiden meiner Frau voneinander zu erlösen. Ich blieb mit meinem einzigen Kind, der kleinen Penelope, allein zurück. Kurz darauf starb auch Sir John und ließ Mylady mit ihrem einzigen Kind, der kleinen Miß Rachel, allein zurück.
Mein Bemühen, Ihnen eine Vorstellung von Mylady zu vermitteln, wäre wohl jämmerlich gescheitert, müßte ich noch betonen, daß sie die Erziehung meiner kleinen Penelope in die Hand nahm. Meine Tochter besuchte die Schule und wurde ein kluges Mädchen, und sobald sie alt genug war, ernannte Mylady sie zu Miß Rachels Kammerjungfer.
Ich selbst war noch viele Jahre auf meinem Posten als Myladys Gutsverwalter. Erst Weihnachten achtzehnhundertsiebenundvierzig trat eine Veränderung ein. Am Weihnachtsmorgen lud sich Mylady zu einer Tasse Tee in meinem Häuschen ein. Sie bemerkte beiläufig, daß ich nun, die Kammerdienerzeit beim alten Lord eingerechnet, über fünfzig Jahre in ihren Diensten stünde, und sie beschenkte mich mit einer selbstgefertigten wunderbaren Strickweste, die mich in dem eisigen Winterwetter warmhalten sollte.
Mir fehlten die Worte, um auszudrücken, welche Ehre mir Mylady mit diesem überwältigenden Geschenk angetan hatte. Leider mußte ich bald feststellen, daß die Weste nicht als Ehrengabe, sondern als Bestechungsgeschenk gedacht war. Mylady hatte eher als ich selbst gemerkt, daß ich alt wurde, und sie war zu Besuch in mein Häuschen gekommen, um mich, wenn ich es so ausdrücken darf, aus meinem Gutsverwalterposten und der harten Arbeit im Freien herauszuschmeicheln. Statt dessen sollte ich bis zum Ende meiner Tage die ruhige Stellung eines Butlers bekommen.
Ich protestierte, so gut ich konnte, gegen diese schmachvolle Versetzung in den Ruhestand. Aber Mylady kannte meine schwache Stelle; sie drehte die Sache so, als täte ich ihr damit einen Gefallen.
Und unser Disput endete damit, daß ich mir wie ein alter Trottel mit der neuen Wollweste die Augen trocknete und die Sache zu überlegen versprach.
Da mich diese Überlegungen in helle Aufregung versetzten, griff ich nach Myladys Abschied zu der Medizin, die bei mir in Not- und Zweifelsfällen noch immer angeschlagen hat; ich rauchte ein Pfeifchen und vertiefte mich ein Weilchen in Robinson Crusoe. Noch keine fünf Minuten hatte ich in diesem hervorragenden Buch gelesen, als ich auf eine tröstliche Stelle stieß (Seite einhundertachtundfünfzig). Da stand: Heute lieben wir, was wir morgen hassen. Und ich wußte augenblicklich, was ich zu tun hatte. Heute wünschte ich mir noch zutiefst, Gutsverwalter zu bleiben. Morgen würde ich, laut Robinson Crusoe, das Gegenteil herbeisehnen. Ich brauchte mich nur noch auf das Morgen einzustellen, und das Problem war gelöst. Auf diese Weise fand ich Ruhe und ging als Lady Verinders Gutsverwalter schlafen, um am nächsten Morgen als Lady Verinders Butler zu erwachen. Und das alles ohne große Pein - durch Robinson Crusoe.
Meine Tochter Penelope schaut mir gerade über die Schulter, um nachzusehen, wie weit ich gekommen bin. Sie sagt, alles sei sehr gut beschrieben und wahr bis in das letzte Wort. Aber sie bemängelt, daß nichts von allem, was ich geschrieben habe, auch nur im geringsten mit dem zu tun hat, was man von mir hören will. Ich soll die Geschichte des Diamanten erzählen, und statt dessen habe ich meine eigene Geschichte erzählt. Seltsam - und auch unerklärlich. Ob wohl den Herren, die das Schreiben als Broterwerb betreiben, jemals die eigene Person in die Geschichte gerät? Wenn ja, könnte ich es verstehen. Wie dem auch sei, dies war mein zweiter Fehlstart, und wieder wurde gutes Schreibpapier für nichts verschwendet. Was machen wir nun? Mir fällt nichts Gescheiteres ein, als Sie weiter um Geduld zu bitten, wenn ich gleich zum dritten Mal mit der Geschichte beginne.
Drittes Kapitel
Inzwischen wissen Sie nun, wie schwer es mir fällt, den rechten Anfang für unsere Erzählung zu finden. Auf zwei Arten habe ich versucht, das Problem zu lösen. Zunächst kratzte ich mich am Kopf, aber das führte zu nichts. Dann bat ich meine Tochter Penelope um Rat, und sie brachte mich auf einen neuen Gedanken.
Penelope schlug vor, ich solle einfach hübsch nacheinander jeden einzelnen Tag der Diamantengeschichte beschreiben und mit dem Augenblick beginnen, als Mr. Franklin seinen Besuch im Hause Lady Verinders ankündigte. Konzentriert man sich erst auf so einen Punkt, ist es erstaunlich, wieviel das Gedächtnis zutage fördert. Blieb also nur noch die Schwierigkeit, die genauen Daten zu den Ereignissen festzustellen. Doch Penelope war bereit, mir diese Arbeit abzunehmen. Sie brauchte nur in ihrem Tagebuch nachzusehen, das sie seit ihrer Schulzeit führt. Als ich aber meinerseits einen Verbesserungsvorschlag machte, daß nämlich Penelope selbst anhand ihres Tagebuches den Bericht schreiben sollte, wurde sie feuerrot. Flammenden Blickes erklärte sie, das Tagebuch sei nur für ihre eigenen Augen bestimmt, und kein Fremder solle je von seinem Inhalt erfahren. Auf meine Frage, was sie damit sagen wolle, meinte sie: »Ach, Unsinn!« Ich dagegen meine: »Liebesgeschichten!«
Folge ich nun Penelopes Vorschlag, so beginne ich, wenn Sie gestatten, mit dem Augenblick, als mich Mylady an einem Mittwochmorgen in ihren Salon rief. Es war der vierundzwanzigste Mai achtzehnhundertachtundvierzig.
»Gabriel«, sagte Mylady, »ich habe eine überraschende Nachricht für Sie. Franklin Blake ist aus dem Ausland heimgekehrt. Augenblicklich hält er sich bei seinem Vater in London auf, aber morgen wird er hierher kommen und bis Juni bleiben, um mit uns Rachels Geburtstag zu feiern.«
Vor Freude hätte ich sicher meinen Hut an die Decke geworfen, wäre er gerade zur Hand gewesen und hätte die Ehrerbietung vor Mylady mich nicht sowieso daran gehindert. Ich hatte Mr. Franklin seit seiner Kindheit, die er in unserem Hause verbrachte, nicht mehr gesehen. Aber soweit ich mich seiner nach so langer Abwesenheit erinnerte, war er der netteste Junge, der je einen Kreisel geschlagen oder eine Fensterscheibe zerbrochen hatte. Miß Rachel, die ebenfalls im Salon war und an die ich diese Bemerkung gerichtet hatte, widersprach sofort. Für sie war Franklin Blake ein ganz abscheulicher Tyrann, der arme Puppen marterte und auf die rücksichtsloseste Weise ein erschöpftes kleines Mädchen im Pferdegeschirr vor sich herzutreiben pflegte. »Der Gedanke an Franklin Blake macht mich immer noch fuchsteufelswild. Ich habe nicht vergessen, wie er mich auf dem Hof herumjagte.« So weit Miß Rachels Kommentar zu Franklin Blake.
Natürlich werden Sie fragen, warum Mr. Franklin all die Jahre seit seiner Kindheit im Ausland verbracht hatte. Es lag daran, daß sein Vater der Erbe eines Herzogtitels war, doch leider den Anspruch darauf nicht beweisen konnte. Hören Sie rasch die Geschichte des Mr. Blake sen.
Die älteste Schwester von Mylady heiratete den berühmten Mr. Blake, den sein großer Reichtum und sein langwieriger Prozeß gleicherweise bekannt gemacht hatten. Meine Kraft reicht bei weitem nicht, zu erzählen, wie viele Jahre er die englischen Gerichte plagte, um den Herzogstitel rechtmäßig zu erhalten und den derzeitigen Herzog zu vertreiben, wie viele Anwaltsbörsen er bis zum Überlaufen füllte und wie viele vernünftige Leute er dazu brachte, sich seinetwegen in den Haaren zu liegen. Seine Frau und zwei seiner drei Kinder starben, noch ehe die Gerichte so weit waren, daß sie auf sein Geld verzichteten und ihm die Tür wiesen. Als alles vorüber und der derzeitige Herzog in seinem Titel bestätigt war, glaubte Mr. Blake, das Vaterland könne nicht härter gestraft werden, als wenn er ihm die Erziehung seines Sohnes entzöge. »Wie kann ich noch der einen Institution meines Landes vertrauen, wenn mich andere Institutionen derart schändlich behandelt haben«; so drückte er sich aus. Fügt man hinzu, daß Mr. Blake alle Knaben, seinen eigenen eingeschlossen, verabscheute, dann werden Sie verstehen, daß es nur einen Ausweg gab. Der junge Mr. Franklin mußte uns und England verlassen und wurde Institutionen übergeben, denen sein Vater vertraute - in Deutschland, diesem so überaus vorbildlichen Land. Mr. Blake blieb natürlich hübsch gemütlich daheim in England, um seine Landsleute im Parlament eines Bessern zu belehren und um eine Dokumentation über den regierenden Herzog anzufertigen, die bis heute unvollendet ist.
So, das wäre geschafft! Und in Zukunft brauchen wir uns auch nie wieder mit Mr. Blake sen. zu belasten. Wir überlassen ihn seinem Herzogtum und kehren zu unserer Diamantengeschichte zurück.
Damit wären wir auch wieder bei Mr. Franklin, der den Unglücksstein so arglos in unser Haus brachte. Der liebe Junge hatte uns nicht vergessen, während er im Ausland weilte. Er schrieb hin und wieder, mal an Mylady, mal an Miß Rachel oder auch an mich. Vor seiner Abreise hatte zwischen uns beiden eine geschäftliche Transaktion stattgefunden. Sie bestand darin, daß er von mir ein Knäuel Bindfaden, ein Messer mit vier Klingen und siebeneinhalb Shilling in bar lieh. Das Geld habe ich nie zurückbekommen, und ich rechne auch nicht mehr damit, denn seine Briefe an mich enthielten in der Hauptsache Bitten um noch mehr Geld. Dafür erfuhr ich von Mylady, wie er sich dort im Ausland im Laufe der Jahre fortbildete. Nachdem er alles gelernt hatte, was die deutschen Schulen zu bieten hatten, wechselte er zu den französischen und schließlich zu den italienischen über. Alle gemeinsam machten aus ihm, wenn ich es richtig verstanden hatte, eine Art Universalgenie. Ein wenig hatte er sich als Schriftsteller betätigt, auch ein wenig gemalt, musiziert und komponiert und, fürchte ich, dabei in jedem Falle geborgt - wie er seinerzeit bei mir geborgt hatte. Das mütterliche Vermögen, siebenhundert Pfund im Jahr, fiel an ihn, als er mündig wurde, und rann ihm durch die Finger wie durch ein Sieb. Je mehr Geld er bekam, desto mehr brauchte er. Mr. Franklins Tasche hatte ein Loch, das durch nichts zu stopfen war. Wo immer er auftauchte, war er in seiner lebhaften, liebenswürdigen Art gern gesehen. Er lebte überall und nirgendwo; wie er selbst scherzhaft sagte, war seine Adresse ›Postamt Europa - bis zur Abholung bitte aufbewahren‹. Zweimal hintereinander war er schon entschlossen gewesen, nach England zurückzukehren und uns zu besuchen, aber zweimal hintereinander war auch ein - verzeihen Sie den Ausdruck - unmögliches Frauenzimmer dazwischengekommen und hatte ihn zurückgehalten. Der dritte Anlauf glückte dann, wie Sie aus Myladys Ankündigung seines Besuches entnehmen konnten. Am Donnerstag, dem fünfundzwanzigsten Mai, sollten wir endlich mit eigenen Augen sehen können, wie unser lieber Junge zu einem Herrn herangewachsen wäre. Er stammte aus gutem Hause, war sehr mutig und mußte, nach unserer Schätzung, inzwischen fünfundzwanzig Jahre alt sein. Jetzt wissen Sie ebensoviel wie ich über Mr. Franklin - ehe er bei uns eintraf.
Am Donnerstag herrschte ungewöhnlich schönes Sommerwetter, und da Mylady und Miß Rachel den Besucher erst zum Abendessen erwarteten, machten sie mit Freunden eine Ausfahrt in die Umgebung.
Als sie abgefahren waren, schaute ich nach, ob das Schlafzimmer unseres Gastes auch ordentlich vorbereitet wäre. Und da ich nicht nur Myladys Butler, sondern auch ihr Kellermeister war (letzteres auf meinen ausdrücklichen Wunsch, da es mich störte, daß irgendein Fremder den Schlüssel zu Sir Johns Weinkeller haben sollte), als Kellermeister also holte ich ein paar Flaschen von unserem berühmten roten Latour, die ich bis zum Dinner in der lauen Sommerluft anwärmen wollte. Dann beschloß ich, mich selbst ein wenig draußen aufzuwärmen, denn was für alten Rotwein gut ist, ist auch gut für alte Leute.
Ich trug gerade meinen Korbstuhl in den Hof, als ein merkwürdiges Geräusch ertönte, das von der Terrasse an der Vorderfront des Hauses her kam. Es klang wie leises Trommeln.
Ich lief zur Terrasse und fand dort drei mahagonibraune Inder in weißen Leinenanzügen, die an der Hausfront hinaufstarrten. Bei näherem Hinschauen entdeckte ich, daß sie kleine Tamburins umgehängt hatten. Hinter ihnen stand ein blonder englischer Knabe. Das schmächtige Kerlchen trug eine Tasche. Ich hielt die drei Burschen für herumziehende Gaukler und den Knaben für ihren Gehilfen, der ihre Geräte in der Tasche tragen mußte. Einer der drei, ein Mann mit auffallend guten Manieren, sprach Englisch. Er bestätigte sogleich meine Vermutungen und bat um Erlaubnis, in Gegenwart der Hausherrin seine Künste zeigen zu dürfen.
Nun bin ich beileibe kein Griesgram; im Gegenteil, gute Unterhaltung macht mir Freude. Und ich gehöre auch nicht zu den Leuten, die anderen bloß darum mißtrauen, weil sie ein paar Schattierungen dunkler sind als wir selbst. Aber wer hat schon keine Schwächen! Meine Schwäche ist, daß ich angesichts eines Gauklers, noch dazu, wenn er so übertrieben höfliche Manieren an den Tag legt, sofort an unser Silberzeug denken muß, falls es gerade draußen auf der Anrichte liegt. Daher teilte ich dem Inder mit, daß die Herrin des Hauses ausgefahren sei und er samt seiner Truppe das Anwesen verlassen möchte. Statt einer Antwort verbeugte sich der Mann elegant und zog mit seinen Leuten ab. Ich kehrte zu meinem Korbstuhl zurück, suchte mir auf der Sonnenseite des Hofes ein Plätzchen und fiel, wenn ich schon die Wahrheit sagen muß, nicht gerade in Schlaf, aber in etwas, das nicht weit davon entfernt war.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Schilderung der Ereignisse von Gabriel Betteredge, Butler in Diensten der Julia, Lady Verinder
Erstes Kapitel
Im ersten Teil von Robinson Crusoe, auf Seite einhundertneunundzwanzig, steht folgender Satz: Jetzt begriff ich, wenn auch zu spät, wie töricht es ist, ein Werk zu beginnen, bevor man die Kosten berechnet und genau abgeschätzt hat, ob die eigene Kraft reichen werde, das Begonnene zu vollenden.
Erst gestern hatte ich diese Stelle in meinem ›Robinson Crusoe‹ aufgeschlagen, und heute morgen, am einundzwanzigsten Mai achtzehnhundertfünfzig, besuchte mich Myladys Neffe, Mr. Franklin Blake, und führte mit mir das folgende Gespräch: »Betteredge«, sagte er, »ich war heute in Familienangelegenheiten bei unserem Anwalt. Unter anderem erwähnte er auch den indischen Diamanten, der vor zwei Jahren im Hause meiner Tante in Yorkshire verlorenging. Mr. Bruff meinte nun, die ganze Angelegenheit solle im Interesse der Wahrheit schriftlich festgehalten werden; je eher, desto besser.«
Ich wußte nicht recht, worauf Mr. Franklin hinauswollte. Doch da ich es, um des lieben Friedens willen, stets für ratsam halte, den Standpunkt des Anwalts einzunehmen, stimmte ich dem Vorschlag zu. Und Mr. Franklin fuhr fort: »Im Zusammenhang mit diesem Diamanten sind, wie Sie wissen, etliche unschuldige Leute Verdächtigungen ausgesetzt worden. Das Andenken an diese Unschuldigen könnte später dadurch getrübt werden, daß man den Nachkommen einen ehrlichen Bericht über die Tatsachen vorenthält. Wir sind also geradezu verpflichtet, diese ungewöhnliche Episode aus dem Leben meiner Familie schriftlich niederzulegen. Und ich glaube, Betteredge, Mr. Bruff und ich haben auch schon die richtige Methode entdeckt, in der die Geschichte geschrieben werden müßte.«
Zweifellos eine angenehme Entdeckung für die beiden Herren, aber was meine Person damit zu tun haben konnte, begriff ich noch immer nicht.
»Bestimmte Vorfälle müßten also beschrieben werden«, fuhr Mr. Franklin fort, »und da es auch bestimmte Personen gibt, die jeweils in diese Vorfälle verwickelt waren, sind sie auch am ehesten in der Lage, darüber zu berichten. Gehen wir von diesen einfachen Tatsachen aus, so folgt, daß sie alle nacheinander die Geschichte des Monddiamanten schreiben sollten, natürlich immer nur so weit, wie sie persönlich davon betroffen waren. Wir müssen damit beginnen, wie der Diamant in die Hände meines Onkels Herncastle geriet, als er vor fünfzig Jahren in Indien Militärdienst tat. Diese einleitenden Zeilen habe ich übrigens schon im Stile einer alten Familienchronik verfaßt. Ich lasse einen Augenzeugen alle nötigen Einzelheiten berichten. Als nächstes müßte erzählt werden, wie der Diamant vor zwei Jahren nach Yorkshire in das Haus meiner Tante geriet und wie man kaum zwölf Stunden später entdeckte, daß er verschwunden war. Und da niemand über die damaligen Vorgänge im Hause so gut Bescheid weiß wie Sie, Betteredge, müssen Sie zur Feder greifen und das erste Kapitel der Geschichte schreiben.« Mit diesen Worten teilte man mir also mit, welchen Beitrag ich zu der Diamantengeschichte zu liefern hatte. Falls es Sie interessiert, wie ich mich unter den gegebenen Umständen verhielt: Ich tat, was Sie in meiner Lage wahrscheinlich auch getan hätten; ich erklärte in aller Bescheidenheit, der Aufgabe keineswegs gewachsen zu sein - und dachte doch insgeheim, daß ich gewiß dazu fähig wäre, wenn ich es nur richtig anpackte.
Das Gespräch mit Mr. Franklin liegt nun zwei Stunden zurück. Sowie der junge Herr fortgegangen war, hatte ich mich an den Schreibtisch gesetzt, um mit der Niederschrift der Geschichte anzufangen. Und da sitze ich immer noch - vollkommen hilflos (trotz meiner Fähigkeiten), und begreife allmählich das, was auch schon Robinson Crusoe begriffen hatte, vgl. das oben angeführte Zitat, nämlich, wie töricht es ist, ein Werk zu beginnen, ohne vorher genau abzuschätzen, ob die eigene Kraft reichen werde, es zu vollenden. Wenn Sie sich freundlicherweise erinnern wollen: Nur einen Tag, bevor ich meine nun schier unlösbare Aufgabe übernommen hatte, war ich, ganz zufällig, auf diese Stelle gestoßen; und da soll man nicht an eine Vorsehung glauben?
Ich bin sonst übrigens nicht abergläubisch. Als junger Mensch habe ich Unmengen von Büchern gelesen; ja, auf meine Art bin ich schon ein richtiger Gelehrter. Und obwohl ich die Siebzig überschritten habe, ist mein Gedächtnis noch so tüchtig wie meine Beine. Sie brauchen trotzdem nicht meine Meinung zu teilen, wenn ich, als unstudierter Mann, behaupte, daß der Robinson Crusoe einmalig ist und auch in Zukunft nicht übertroffen werden kann. Seit Jahren beschäftige ich mich mit diesem Buch, meist bei einem Pfeifchen Tabak, und immer wieder stelle ich fest, daß es mein bester Freund in allen Lebenslagen ist. Bin ich niedergeschlagen - Robinson Crusoe; brauche ich guten Rat - Robinson Crusoe; in früheren Jahren, wenn meine Frau mir zugesetzt hatte - Robinson Crusoe; heute, wenn ich ein bißchen zu tief ins Glas geschaut habe - Robinson Crusoe. Sechs dickleibige Robinson-Crusoe-Ausgaben habe ich in harter Lesearbeit verbraucht. Das siebente Exemplar schenkte mir Mylady bei ihrem letzten Geburtstag. Aus Anlaß dieses Feiertages hatte ich ein wenig über den Durst getrunken - Robinson Crusoe brachte mich wieder auf die Beine; zum Preis von viereinhalb Shilling, in blauem Einband und mit einem Bild als Zugabe.
Ehrlich gesagt, das ist kein guter Anfang für unsere Diamantengeschichte. Auf der Suche nach Gott weiß was scheinen meine Gedanken auch Gott weiß wohin abzuschweifen. Gestatten Sie mir also, einen frischen Bogen zu nehmen und noch einmal anzufangen.
Zweites Kapitel
Mylady habe ich vorhin schon einmal erwähnt. Tatsache ist, daß der Diamant nie in unser Haus gelangt wäre, wo er dann auch verlorenging, hätte Myladys Tochter das Juwel nicht geschenkt bekommen. Und Myladys Tochter wiederum hätte den Diamanten nicht als Geschenk empfangen können, wäre sie nicht von Mylady mit viel Ach und Weh in die Welt gesetzt worden. Wenn wir also mit Mylady anfangen, gehen wir auch gleich weit genug zu den Anfängen der Geschichte zurück. Und angesichts der schweren Aufgabe, die mir bevorsteht, ist das ein rechter Trost.
Sofern Sie sich überhaupt für das Leben der oberen Zehntausend interessieren, haben Sie auch schon von den drei schönen Herncastle-Schwestern gehört, von Miß Adelaide, Miß Caroline und Miß Julia, der jüngsten, die, meiner Meinung nach, die beste war. Weshalb ich mir dieses Urteil erlauben darf, sollen Sie gleich erfahren. Ich trat nämlich schon beim alten Lord, dem Vater der drei Schwestern, in Dienst. Der alte Herr war, unter uns gesagt, der geschwätzigste und zugleich reizbarste Mensch, der mir je begegnet ist.
Ich wurde also als Fünfzehnjähriger Kammerdiener der drei jungen Damen.
Auf diesem Posten blieb ich, bis Miß Julia den inzwischen verstorbenen Sir John Verinder heiratete. Ein tadelloser Mann, der nur der Führung durch eine feste Hand bedurfte, um prächtig zu gedeihen, glücklich und zufrieden zu leben und eines leichten Todes zu sterben. Und diese feste Hand verspürte er von dem Augenblick an, da ihn Mylady zum Traualtar führte, bis zu dem Augenblick, da sie ihm den letzten Atemzug erleichterte und die Augen schloß.
Ich sollte noch einfügen, daß ich mit der Braut hierher in das Haus und auf die Ländereien des Bräutigams übersiedelte. »Sir John«, sprach sie, »ohne Gabriel Betteredge komme ich nicht zurecht.« »Mylady«, sprach Sir John, »mir geht es geradeso.« Auf diese Weise pflegten sich die beiden immer zu einigen. Und so kam ich in Sir Johns Dienst. Mir war es ohnehin gleichgültig, wohin ich zog, Hauptsache, ich konnte bei Mylady sein.
Als ich merkte, daß Mylady Interesse für die Ländereien und unsere Bauernhöfe zeigte, tat ich es ihr nach, was um so naheliegender war, da ich als siebenter Sohn eines kleinen Bauern geboren bin. Mylady unterstellte mich dem Verwalter ihrer Güter, und da ich anstellig war und zur Zufriedenheit meiner Herrschaft arbeitete, wurde ich entsprechend befördert.
Ein paar Jahre darauf, es muß ein Montagmorgen gewesen sein, sagte Mylady: »Sir John, Euer Gutsverwalter ist ein törichter alter Mann. Gebt ihm eine gute Rente, und setzt Gabriel Betteredge an seine Stelle.« Und dann, das war demnach am Dienstagmorgen, sagte Sir John: »Mylady, der Gutsverwalter bekommt eine gute Rente, und Gabriel Betteredge ist sein Nachfolger.« Man hört nur allzuoft von Ehepaaren, die schlecht miteinander auskommen. Hier erleben Sie einmal das Gegenteil. Unser Beispiel möge also manchen Lesern als Ermutigung, anderen zur Warnung dienen.
Doch lassen Sie mich fortfahren. Ich war nun ein gemachter Mann, wie man so schön sagt. Ich hatte eine Vertrauensstellung, ein Häuschen, ein paar Inspektionsgänge am Morgen, die Rechnungsbücher am Nachmittag, mein Pfeifchen und ›Robinson Crusoe‹ am Abend; was konnte mir noch zu meinem Glück fehlen? Sie erinnern sich vielleicht, was Adam entbehrte, als er so allein im Paradies lebte. Und wenn Sie Adam darum nicht tadeln, sollten Sie auch mit mir Nachsicht üben.
Die Frau, auf die ich ein Auge geworfen hatte, führte mir den Haushalt. Ihr Name war Selina Goby. Nun halte ich es mit dem verstorbenen William Cobbett, der da meinte, ein Weib, das sein Essen ordentlich kaut und festen Schrittes einhergeht, könne man ruhig ehelichen. Selina Goby entsprach beiden Forderungen, und so hatte ich schon den ersten Grund, sie zu heiraten. Auf den zweiten kam ich ganz allein. Der unverheirateten Selina mußte ich jede Woche für das Essen und die Haushaltführung ein hübsches Sümmchen zahlen. War sie dagegen meine Frau, konnte sie unmöglich für das Essen und schon gar nicht für die Hausarbeit Geld verlangen. Ich fädelte die Sache also unter zwei Gesichtspunkten ein: Sparsamkeit - mit einem Schuß Liebe.
Pflichtgemäß unterbreitete ich die Angelegenheit meiner Herrin, und zwar mit denselben Argumenten, die ich für mich gebraucht hatte.
»Selina Goby geht mir schon längere Zeit im Kopf herum, Mylady«, sagte ich, »und ich meine, als Ehefrau kommt sie mich nicht so teuer zu stehen wie als Haushälterin.«
Mylady brach in Gelächter aus und sagte, sie wisse nicht, worüber sie mehr schockiert sein solle, über meine Prinzipien oder meine Ausdrucksweise. Irgend etwas an der Sache muß sie sehr belustigt haben - etwas, das nur Personen von Stand verstehen. Ich selbst verstand lediglich, daß ich die Erlaubnis hatte, mit Selina zu reden.
Das tat ich auch; und was sagte Selina? Du lieber Himmel, wie wenig wissen Sie doch von den Frauen, wenn Sie diese Frage überhaupt erst stellen! Natürlich sagte Selina ›ja‹.
Doch als meine Zeit näherkam und schon davon geschwatzt wurde, daß ich für die Feier einen neuen Rock brauchte, da wurde mir unheimlich zumute. Ich habe mal nachgelesen, was andere Männer zu diesem heiklen Zeitpunkt empfanden. Alle gaben zu, daß sie etwa eine Woche, bevor die Sache endgültig wurde, heimlich wünschten, sie könnten davonlaufen. Ich ging einen Schritt weiter; genauer gesagt, ich revoltierte offen, um meine Freiheit zu retten. Natürlich nicht, ohne eine Entschädigung anzubieten. Die Zahlung von Schmerzensgeld für die verlassene Braut ist in England gesetzlich. Und um dem Gesetz zu genügen, bot ich Selina Goby nach reiflicher Überlegung ein Federbett und fünfzig Shilling für meine Freiheit. Wenn es auch nicht zu fassen ist, so ist es doch wahr: Selina Goby war dumm genug, das Angebot auszuschlagen.
Danach hatte ich keine Hoffnung mehr. Ich erstand den neuen Rock so billig wie möglich und erledigte auch den Rest möglichst sang- und klanglos.
Wir wurden weder ein glückliches noch ein unglückliches Ehepaar, eher sowohl das eine wie das andere. Warum es so kam, weiß ich nicht, jedenfalls schienen wir trotz der besten Vorsätze immer einander im Wege zu sein. Wollte ich die Treppe hinaufgehen, kam meine Frau gerade herunter; wollte meine Frau herunterkommen, mußte ich gerade hinaufgehen. Damit wäre schon das ganze Eheleben beschrieben - wenigstens aus meiner Sicht.
Nach fünf Jahre dauernden Mißverständnissen auf der Treppe gefiel es dem allmächtigen Schicksal, uns durch das Hinscheiden meiner Frau voneinander zu erlösen. Ich blieb mit meinem einzigen Kind, der kleinen Penelope, allein zurück. Kurz darauf starb auch Sir John und ließ Mylady mit ihrem einzigen Kind, der kleinen Miß Rachel, allein zurück.
Mein Bemühen, Ihnen eine Vorstellung von Mylady zu vermitteln, wäre wohl jämmerlich gescheitert, müßte ich noch betonen, daß sie die Erziehung meiner kleinen Penelope in die Hand nahm. Meine Tochter besuchte die Schule und wurde ein kluges Mädchen, und sobald sie alt genug war, ernannte Mylady sie zu Miß Rachels Kammerjungfer.
Ich selbst war noch viele Jahre auf meinem Posten als Myladys Gutsverwalter. Erst Weihnachten achtzehnhundertsiebenundvierzig trat eine Veränderung ein. Am Weihnachtsmorgen lud sich Mylady zu einer Tasse Tee in meinem Häuschen ein. Sie bemerkte beiläufig, daß ich nun, die Kammerdienerzeit beim alten Lord eingerechnet, über fünfzig Jahre in ihren Diensten stünde, und sie beschenkte mich mit einer selbstgefertigten wunderbaren Strickweste, die mich in dem eisigen Winterwetter warmhalten sollte.
Mir fehlten die Worte, um auszudrücken, welche Ehre mir Mylady mit diesem überwältigenden Geschenk angetan hatte. Leider mußte ich bald feststellen, daß die Weste nicht als Ehrengabe, sondern als Bestechungsgeschenk gedacht war. Mylady hatte eher als ich selbst gemerkt, daß ich alt wurde, und sie war zu Besuch in mein Häuschen gekommen, um mich, wenn ich es so ausdrücken darf, aus meinem Gutsverwalterposten und der harten Arbeit im Freien herauszuschmeicheln. Statt dessen sollte ich bis zum Ende meiner Tage die ruhige Stellung eines Butlers bekommen.
Ich protestierte, so gut ich konnte, gegen diese schmachvolle Versetzung in den Ruhestand. Aber Mylady kannte meine schwache Stelle; sie drehte die Sache so, als täte ich ihr damit einen Gefallen.
Und unser Disput endete damit, daß ich mir wie ein alter Trottel mit der neuen Wollweste die Augen trocknete und die Sache zu überlegen versprach.
Da mich diese Überlegungen in helle Aufregung versetzten, griff ich nach Myladys Abschied zu der Medizin, die bei mir in Not- und Zweifelsfällen noch immer angeschlagen hat; ich rauchte ein Pfeifchen und vertiefte mich ein Weilchen in Robinson Crusoe. Noch keine fünf Minuten hatte ich in diesem hervorragenden Buch gelesen, als ich auf eine tröstliche Stelle stieß (Seite einhundertachtundfünfzig). Da stand: Heute lieben wir, was wir morgen hassen. Und ich wußte augenblicklich, was ich zu tun hatte. Heute wünschte ich mir noch zutiefst, Gutsverwalter zu bleiben. Morgen würde ich, laut Robinson Crusoe, das Gegenteil herbeisehnen. Ich brauchte mich nur noch auf das Morgen einzustellen, und das Problem war gelöst. Auf diese Weise fand ich Ruhe und ging als Lady Verinders Gutsverwalter schlafen, um am nächsten Morgen als Lady Verinders Butler zu erwachen. Und das alles ohne große Pein - durch Robinson Crusoe.
Meine Tochter Penelope schaut mir gerade über die Schulter, um nachzusehen, wie weit ich gekommen bin. Sie sagt, alles sei sehr gut beschrieben und wahr bis in das letzte Wort. Aber sie bemängelt, daß nichts von allem, was ich geschrieben habe, auch nur im geringsten mit dem zu tun hat, was man von mir hören will. Ich soll die Geschichte des Diamanten erzählen, und statt dessen habe ich meine eigene Geschichte erzählt. Seltsam - und auch unerklärlich. Ob wohl den Herren, die das Schreiben als Broterwerb betreiben, jemals die eigene Person in die Geschichte gerät? Wenn ja, könnte ich es verstehen. Wie dem auch sei, dies war mein zweiter Fehlstart, und wieder wurde gutes Schreibpapier für nichts verschwendet. Was machen wir nun? Mir fällt nichts Gescheiteres ein, als Sie weiter um Geduld zu bitten, wenn ich gleich zum dritten Mal mit der Geschichte beginne.
Drittes Kapitel
Inzwischen wissen Sie nun, wie schwer es mir fällt, den rechten Anfang für unsere Erzählung zu finden. Auf zwei Arten habe ich versucht, das Problem zu lösen. Zunächst kratzte ich mich am Kopf, aber das führte zu nichts. Dann bat ich meine Tochter Penelope um Rat, und sie brachte mich auf einen neuen Gedanken.
Penelope schlug vor, ich solle einfach hübsch nacheinander jeden einzelnen Tag der Diamantengeschichte beschreiben und mit dem Augenblick beginnen, als Mr. Franklin seinen Besuch im Hause Lady Verinders ankündigte. Konzentriert man sich erst auf so einen Punkt, ist es erstaunlich, wieviel das Gedächtnis zutage fördert. Blieb also nur noch die Schwierigkeit, die genauen Daten zu den Ereignissen festzustellen. Doch Penelope war bereit, mir diese Arbeit abzunehmen. Sie brauchte nur in ihrem Tagebuch nachzusehen, das sie seit ihrer Schulzeit führt. Als ich aber meinerseits einen Verbesserungsvorschlag machte, daß nämlich Penelope selbst anhand ihres Tagebuches den Bericht schreiben sollte, wurde sie feuerrot. Flammenden Blickes erklärte sie, das Tagebuch sei nur für ihre eigenen Augen bestimmt, und kein Fremder solle je von seinem Inhalt erfahren. Auf meine Frage, was sie damit sagen wolle, meinte sie: »Ach, Unsinn!« Ich dagegen meine: »Liebesgeschichten!«
Folge ich nun Penelopes Vorschlag, so beginne ich, wenn Sie gestatten, mit dem Augenblick, als mich Mylady an einem Mittwochmorgen in ihren Salon rief. Es war der vierundzwanzigste Mai achtzehnhundertachtundvierzig.
»Gabriel«, sagte Mylady, »ich habe eine überraschende Nachricht für Sie. Franklin Blake ist aus dem Ausland heimgekehrt. Augenblicklich hält er sich bei seinem Vater in London auf, aber morgen wird er hierher kommen und bis Juni bleiben, um mit uns Rachels Geburtstag zu feiern.«
Vor Freude hätte ich sicher meinen Hut an die Decke geworfen, wäre er gerade zur Hand gewesen und hätte die Ehrerbietung vor Mylady mich nicht sowieso daran gehindert. Ich hatte Mr. Franklin seit seiner Kindheit, die er in unserem Hause verbrachte, nicht mehr gesehen. Aber soweit ich mich seiner nach so langer Abwesenheit erinnerte, war er der netteste Junge, der je einen Kreisel geschlagen oder eine Fensterscheibe zerbrochen hatte. Miß Rachel, die ebenfalls im Salon war und an die ich diese Bemerkung gerichtet hatte, widersprach sofort. Für sie war Franklin Blake ein ganz abscheulicher Tyrann, der arme Puppen marterte und auf die rücksichtsloseste Weise ein erschöpftes kleines Mädchen im Pferdegeschirr vor sich herzutreiben pflegte. »Der Gedanke an Franklin Blake macht mich immer noch fuchsteufelswild. Ich habe nicht vergessen, wie er mich auf dem Hof herumjagte.« So weit Miß Rachels Kommentar zu Franklin Blake.
Natürlich werden Sie fragen, warum Mr. Franklin all die Jahre seit seiner Kindheit im Ausland verbracht hatte. Es lag daran, daß sein Vater der Erbe eines Herzogtitels war, doch leider den Anspruch darauf nicht beweisen konnte. Hören Sie rasch die Geschichte des Mr. Blake sen.
Die älteste Schwester von Mylady heiratete den berühmten Mr. Blake, den sein großer Reichtum und sein langwieriger Prozeß gleicherweise bekannt gemacht hatten. Meine Kraft reicht bei weitem nicht, zu erzählen, wie viele Jahre er die englischen Gerichte plagte, um den Herzogstitel rechtmäßig zu erhalten und den derzeitigen Herzog zu vertreiben, wie viele Anwaltsbörsen er bis zum Überlaufen füllte und wie viele vernünftige Leute er dazu brachte, sich seinetwegen in den Haaren zu liegen. Seine Frau und zwei seiner drei Kinder starben, noch ehe die Gerichte so weit waren, daß sie auf sein Geld verzichteten und ihm die Tür wiesen. Als alles vorüber und der derzeitige Herzog in seinem Titel bestätigt war, glaubte Mr. Blake, das Vaterland könne nicht härter gestraft werden, als wenn er ihm die Erziehung seines Sohnes entzöge. »Wie kann ich noch der einen Institution meines Landes vertrauen, wenn mich andere Institutionen derart schändlich behandelt haben«; so drückte er sich aus. Fügt man hinzu, daß Mr. Blake alle Knaben, seinen eigenen eingeschlossen, verabscheute, dann werden Sie verstehen, daß es nur einen Ausweg gab. Der junge Mr. Franklin mußte uns und England verlassen und wurde Institutionen übergeben, denen sein Vater vertraute - in Deutschland, diesem so überaus vorbildlichen Land. Mr. Blake blieb natürlich hübsch gemütlich daheim in England, um seine Landsleute im Parlament eines Bessern zu belehren und um eine Dokumentation über den regierenden Herzog anzufertigen, die bis heute unvollendet ist.
So, das wäre geschafft! Und in Zukunft brauchen wir uns auch nie wieder mit Mr. Blake sen. zu belasten. Wir überlassen ihn seinem Herzogtum und kehren zu unserer Diamantengeschichte zurück.
Damit wären wir auch wieder bei Mr. Franklin, der den Unglücksstein so arglos in unser Haus brachte. Der liebe Junge hatte uns nicht vergessen, während er im Ausland weilte. Er schrieb hin und wieder, mal an Mylady, mal an Miß Rachel oder auch an mich. Vor seiner Abreise hatte zwischen uns beiden eine geschäftliche Transaktion stattgefunden. Sie bestand darin, daß er von mir ein Knäuel Bindfaden, ein Messer mit vier Klingen und siebeneinhalb Shilling in bar lieh. Das Geld habe ich nie zurückbekommen, und ich rechne auch nicht mehr damit, denn seine Briefe an mich enthielten in der Hauptsache Bitten um noch mehr Geld. Dafür erfuhr ich von Mylady, wie er sich dort im Ausland im Laufe der Jahre fortbildete. Nachdem er alles gelernt hatte, was die deutschen Schulen zu bieten hatten, wechselte er zu den französischen und schließlich zu den italienischen über. Alle gemeinsam machten aus ihm, wenn ich es richtig verstanden hatte, eine Art Universalgenie. Ein wenig hatte er sich als Schriftsteller betätigt, auch ein wenig gemalt, musiziert und komponiert und, fürchte ich, dabei in jedem Falle geborgt - wie er seinerzeit bei mir geborgt hatte. Das mütterliche Vermögen, siebenhundert Pfund im Jahr, fiel an ihn, als er mündig wurde, und rann ihm durch die Finger wie durch ein Sieb. Je mehr Geld er bekam, desto mehr brauchte er. Mr. Franklins Tasche hatte ein Loch, das durch nichts zu stopfen war. Wo immer er auftauchte, war er in seiner lebhaften, liebenswürdigen Art gern gesehen. Er lebte überall und nirgendwo; wie er selbst scherzhaft sagte, war seine Adresse ›Postamt Europa - bis zur Abholung bitte aufbewahren‹. Zweimal hintereinander war er schon entschlossen gewesen, nach England zurückzukehren und uns zu besuchen, aber zweimal hintereinander war auch ein - verzeihen Sie den Ausdruck - unmögliches Frauenzimmer dazwischengekommen und hatte ihn zurückgehalten. Der dritte Anlauf glückte dann, wie Sie aus Myladys Ankündigung seines Besuches entnehmen konnten. Am Donnerstag, dem fünfundzwanzigsten Mai, sollten wir endlich mit eigenen Augen sehen können, wie unser lieber Junge zu einem Herrn herangewachsen wäre. Er stammte aus gutem Hause, war sehr mutig und mußte, nach unserer Schätzung, inzwischen fünfundzwanzig Jahre alt sein. Jetzt wissen Sie ebensoviel wie ich über Mr. Franklin - ehe er bei uns eintraf.
Am Donnerstag herrschte ungewöhnlich schönes Sommerwetter, und da Mylady und Miß Rachel den Besucher erst zum Abendessen erwarteten, machten sie mit Freunden eine Ausfahrt in die Umgebung.
Als sie abgefahren waren, schaute ich nach, ob das Schlafzimmer unseres Gastes auch ordentlich vorbereitet wäre. Und da ich nicht nur Myladys Butler, sondern auch ihr Kellermeister war (letzteres auf meinen ausdrücklichen Wunsch, da es mich störte, daß irgendein Fremder den Schlüssel zu Sir Johns Weinkeller haben sollte), als Kellermeister also holte ich ein paar Flaschen von unserem berühmten roten Latour, die ich bis zum Dinner in der lauen Sommerluft anwärmen wollte. Dann beschloß ich, mich selbst ein wenig draußen aufzuwärmen, denn was für alten Rotwein gut ist, ist auch gut für alte Leute.
Ich trug gerade meinen Korbstuhl in den Hof, als ein merkwürdiges Geräusch ertönte, das von der Terrasse an der Vorderfront des Hauses her kam. Es klang wie leises Trommeln.
Ich lief zur Terrasse und fand dort drei mahagonibraune Inder in weißen Leinenanzügen, die an der Hausfront hinaufstarrten. Bei näherem Hinschauen entdeckte ich, daß sie kleine Tamburins umgehängt hatten. Hinter ihnen stand ein blonder englischer Knabe. Das schmächtige Kerlchen trug eine Tasche. Ich hielt die drei Burschen für herumziehende Gaukler und den Knaben für ihren Gehilfen, der ihre Geräte in der Tasche tragen mußte. Einer der drei, ein Mann mit auffallend guten Manieren, sprach Englisch. Er bestätigte sogleich meine Vermutungen und bat um Erlaubnis, in Gegenwart der Hausherrin seine Künste zeigen zu dürfen.
Nun bin ich beileibe kein Griesgram; im Gegenteil, gute Unterhaltung macht mir Freude. Und ich gehöre auch nicht zu den Leuten, die anderen bloß darum mißtrauen, weil sie ein paar Schattierungen dunkler sind als wir selbst. Aber wer hat schon keine Schwächen! Meine Schwäche ist, daß ich angesichts eines Gauklers, noch dazu, wenn er so übertrieben höfliche Manieren an den Tag legt, sofort an unser Silberzeug denken muß, falls es gerade draußen auf der Anrichte liegt. Daher teilte ich dem Inder mit, daß die Herrin des Hauses ausgefahren sei und er samt seiner Truppe das Anwesen verlassen möchte. Statt einer Antwort verbeugte sich der Mann elegant und zog mit seinen Leuten ab. Ich kehrte zu meinem Korbstuhl zurück, suchte mir auf der Sonnenseite des Hofes ein Plätzchen und fiel, wenn ich schon die Wahrheit sagen muß, nicht gerade in Schlaf, aber in etwas, das nicht weit davon entfernt war.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Wilkie Collins
Wilkie Collins wurde als Begründer des englischen Kriminalromans berühmt. 1824 in London geboren, studierte er Rechtswissenschaften, arbeitete aber nie als Jurist. Als Journalist, Dramatiker und Romanautor schuf er ein umfangreiches Werk, das auch Sachbücher, Novellen und zahllose Zeitungsartikel umfaßt. Zu seinen bekanntesten Romanen zählen 'Die Frau in Weiß', 'Der rote Schal' und natürlich 'Der Monddiamant'. Wilkie Collins starb 1892 in London.
Bibliographische Angaben
- Autor: Wilkie Collins
- 2012, 1. Auflage, 608 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Gisela Geisler
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596904951
- ISBN-13: 9783596904952
- Erscheinungsdatum: 20.11.2012
Kommentar zu "Der Monddiamant"
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