Der Richter und sein Opfer
Wenn die Justiz sich irrt
Einseitige Ermittlungen, überschätzte Gutachter und selbstgewisse Richter sind schuld daran, dass immer wieder Unschuldige in die Mühlen der Justiz geraten. So wie Harry Wörz, der beschuldigt wurde, seine Frau halbtot gewürgt zu...
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Produktinformationen zu „Der Richter und sein Opfer “
Einseitige Ermittlungen, überschätzte Gutachter und selbstgewisse Richter sind schuld daran, dass immer wieder Unschuldige in die Mühlen der Justiz geraten. So wie Harry Wörz, der beschuldigt wurde, seine Frau halbtot gewürgt zu haben. Nur einer von zahlreichen Justizirrtümern, die sich Jahr für Jahr in Deutschland ereignen.
Klappentext zu „Der Richter und sein Opfer “
Eine Frau wird halbtot gewürgt in ihrer Wohnung gefunden.Die Indizien weisen auf den Ehemann Harry Wörz. Er wird noch in derselben Nacht verhaftet. Dass der seine Unschuld beteuert, hilft ihm nichts: Über 13 Jahre ist er gefan gen im Netz der Justiz, viereinhalb Jahre wird er inhaftiert für eine Tat, die er nie begangen hat. Oder die 14-jährige Jennifer, die behauptet, von ihrem Vater und dessen Freund missbraucht worden zu sein. Bald sitzen die Männer in Haft. Es dauert Jahre, bis herauskommt, dass das Mädchen die Geschichte erfunden hat. Dies sind nur zwei von zahllosen Justizirrtümern, die sich Jahr für Jahr vor deutschen Strafgerichten ereignen. Schuld sind einseitige Ermittlungen, überschätzte Gutachter und selbstgewisse Richter. Doch selten bekennt sich die Justiz zu ihren Fehlern. Jeder kann ihr Opfer werden.
Lese-Probe zu „Der Richter und sein Opfer “
Der Richter und seine Opfer - Wenn die Justiz sich irrt von Thomas Darnstädt»Ich war's nicht!«
Nichts spricht dafür, dass Manfred Genditzki ein Mörder ist. In der Wohnanlage in Rottach-Egern am Tegernsee, wo er als Hausmeister arbeitete, galt der stille schmächtige Mann als »Kümmerer«. Das ist einer, dem es Spaß macht, unentbehrlich zu sein und mit seinem Talent für Praktisches jedermann im Haus zur Hand zu gehen. Zu der alten Frau K. im ersten Stock war er sogar richtig fürsorglich.
Die ehemalige Geschäftsfrau Lieselotte K., 87, war gehbehindert, schwer krank und einsam. Hausmeister Genditzki kümmerte sich um die alte Dame wie ein Sohn. Er fuhr sie zum Friseur und zum Arzt. Er wusch ihre Wäsche. Er kaufte für sie ein. Er frühstückte mit ihr und hörte es sich geduldig an, wenn die verbitterte Alte über ihre Verwandtschaft schimpfte. Und nachmittags kam er noch mal zum Kaffeetrinken, brachte sogar seine Frau und seine Kinder mit.
100 Euro extra gab Frau K. dem Hausmeister im Monat dafür, dass er Tag und Nacht für sie in Rufbereitschaft war, dazu ein Trinkgeld, wenn er wieder einmal die Tüten für sie geschleppt hatte. Der geduldige Manfred hatte Zugang zu ihren Konten und ihrem Bankschließfach - er musste ihr ja das Bargeld von der Bank holen. aber regelmäßig ließ sie ihn antreten zum Abrechnen. Jeden Cent. Frau K. vertraute niemandem. Ihr Menschenhass und ihre diktatorische Art hatten sie immer einsamer werden lassen. Der Hausmeister, ihr »Manfred«, war der Letzte, den sie hatte. Er war es, der ihr Zwieback und Tee ans Bett brachte, wenn es ihr mit ihrem chronischen Durchfall schlecht ging. Genditzki, Jahrgang 1960, war der Letzte, den die Geduld mit der alten, streitsüchtigen Dame nie verlassen hatte.
... mehr
Am 28. Oktober 2008 gegen 18 Uhr 30 finden Mitarbeiter des Pflegedienstes Frau K. ertrunken in ihrer Badewanne. Das Wasser läuft noch aus dem Hahn. Die Tote ist bekleidet. Der Unterschenkel ihres linken Beins hängt aus der Wanne.
Monatelang versuchen Ermittler vergeblich herauszubekommen, was an diesem 28. Oktober in der Wohnung mit Frau K. passiert ist. Es bleibt rätselhaft. Es gibt keine klaren Beweise für eine Gewalttat, aber auch keine Anhaltspunkte für einen Unfall. Gerichtsmediziner finden Hämatome unter der Kopfhaut, die könnten von einem Schlag herrühren - oder von einem Sturz. Es gibt keinen Hinweis, warum jemand die alte Dame geschlagen oder gar getötet haben sollte, nichts fehlt in der Wohnung. Es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, dass jemand Fremdes bei Frau K. gewesen ist. Außer ihrem Manfred natürlich, wie immer. Der hatte nachmittags mit ihr Kaffee getrunken. als er ging, hatte er den reserve-Wohnungsschlüssel in der Tür von außen stecken lassen, damit, so sagt er, der Pflegedienst hineinkonnte, auch wenn Frau K. eingeschlafen sein sollte.
Nach monatelanger, vergeblicher spurensuche lässt die Staatsanwaltschaft Manfred Genditzki wegen Verdachts des Mordes an Lieselotte K. verhaften. alles, was die Ermittler gegen ihn in der Hand haben: dass niemand bekannt ist, der nach ihm die Tote lebend gesehen haben könnte. Und dass es keine andere Erklärung für ihren Tod gibt als einen Mord durch seine Hand.
»Ich war's nicht«, sagt Genditzki. Doch sie stellen ihn vor Gericht, und das Landgericht München II verurteilt ihn wegen Mordes zu lebenslanger Haft.
»Ich war's nicht«, insistiert Genditzki, und bald wird sein Fall immer prominenter. Die Gerichtsreporter großer Zeitungen und Magazine machen den stillen Hausmeister im ganzen Land bekannt. Ein klarer Fall von Fehlurteil? Kann es sein, dass ein Mensch als Mörder verurteilt wird, für dessen Tat es keinen einzigen Beweis gibt, ja nicht einmal einen Beweis dafür, dass überhaupt eine Straftat geschehen ist? Kann man jemanden als Täter verurteilen, einfach weil man keinen anderen hat?
Der Fall Genditzki ist offen. Wenn dieses Buch seine Leser erreicht, kämpft der Mann aus seiner Gefängniszelle heraus noch immer - mit schwindender Erfolgsaussicht - gegen den Schuldspruch. Und natürlich kann niemand außer ihm selbst sagen, ob der Hausmeister nicht vielleicht doch ein Mörder ist. aber nicht nur für viele Zeitungsleser, sondern ebenso für eine steigende Zahl von Juristen ist der Fall zum Prüfstein für die Glaubwürdigkeit der deutschen Strafjustiz geworden. Die Verunsicherung ist groß. haben sich Polizisten, Ermittler, Staatsanwälte, Richter vergaloppiert?
Was sind die Standards der Wahrheitsfindung vor Gericht? Verfügt die Justiz über hinreichende Kontrollmechanismen, um grobe Fehler zu erkennen und zu reparieren? Wie können wir sicher sein, dass nicht Unschuldige zwischen die Mahlsteine der Justizmühlen geraten und darin zerrieben werden? Was passiert, wenn es morgen den Nachbarn trifft, dem wir immer vertraut haben wie die Leute am Tegernsee dem Manfred Genditzki?
Was passiert - wenn es uns selbst trifft?
Dass einer schreit: »Ich war's nicht!« - und keiner glaubt ihm, das kommt häufig vor. Gut 3000 strafurteile werden jeden Werktag vor deutschen Gerichten verkündet, und viele Täter beteuern auch danach noch ihre Unschuld.
Doch wie häufig kommt es vor, dass einer schreit »Ich war's nicht!« - und er hat recht?
Es gebe keinen Grund zur Beunruhigung, versichern Strafrichter, Staatsanwälte, sogar die meisten Strafverteidiger. Die Justiz irre sich nie, jedenfalls fast nie. Und wenn doch, dann merke es die nächste Instanz. Die Zahl der bekannt gewordenen Justizirrtümer wird in keiner amtlichen Statistik ausgewiesen. Wie verschwindend gering sie sei, wird häufig damit belegt, dass es nur wenige Wiederaufnahmeverfahren gibt. so verzeichnet die Statistik für das Jahr 2010 nur 1176 Fälle, in denen Strafgerichte sich nach der rechtskräftigen Verurteilung eines Täters mit neu aufgetauchten Zweifeln an der Wahrheit des Schuldspruchs auseinandersetzen mussten. 1176 von mehr als 800 000 im Jahr: Das ist eine verschwindend geringe Zahl. Ist sie zu vernachlässigen?
Die Arbeit eines Richters ist ähnlich verantwortungsvoll und gefährlich wie die eines Arztes. nun stelle man sich ein Krankenhaus vor, in dem von 1000 Patienten im Jahr nur einem einzigen der falsche Lungenflügel amputiert oder das falsche Organ transplantiert wird. Wer würde sich freiwillig in so ein Krankenhaus begeben? Doch die Zahl der Menschen, deren Leben irrtümlich oder leichtfertig durch die Justiz ruiniert wurde, ist sehr viel größer.
Wie groß sie ist, hat erst kürzlich ein Richter enthüllt. Ralf Eschelbach, als Richter am Bundesgerichtshof einer der mächtigsten und erfahrensten Juristen Deutschlands, fällt über die Justiz ein vernichtendes Urteil. Es sei die »Lebenslüge« der Justiz, schreibt der Mann, der seit 1988 als Richter arbeitet, dass es »kaum falsche strafurteile gebe«. nach Eschelbachs Schätzung ist jedes vierte Strafurteil ein Fehlurteil.
Seinen Alarmruf verbreitete der hohe Richter 2011 in einem Kommentar zur Strafprozessordnung: Das Justizsystem »deckt Entscheidungen, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit falsch sind«. Kontrollen und Rechtsmittel würden in einem Maße versagen, das »in einem Rechtsstaat inakzeptabel« sei. In Wiederaufnahmeverfahren würden alle Zweifel »systematisch abgeblockt«, die Kollegen erzeugten zu Unrecht den Eindruck der Unfehlbarkeit: »Die tatrichterliche Überzeugung von der Richtigkeit eigener Urteile ist eine gefährliche Selbsttäuschung. «
Doch niemand, empört sich Eschelbach, gebe diesen Justizskandal zu: »Die Furcht des Gesetzgebers und der Rechtsprechung vor den Konsequenzen, die sich daraus ergeben könnten, verhindert die Verbesserung der Lage.«
Es spricht für die Justiz, dass sie einen Kritiker dieses Kalibers in eines der höchsten Richterämter befördert. Es spricht gegen sie, dass sie seinen Alarmruf sorgfältig überhört. so offene Kritik an prominenter Stelle ist unter Juristen ungewöhnlich. Doch niemand in der Branche hat den Vorstoß offen zur Kenntnis genommen. Eschelbachs Texte werden wie Kassiber zu den Akten genommen - dann mahlt das große Mühlwerk der Justizmaschine ungerührt weiter, als wäre nichts passiert. Jedes vierte Urteil ein Irrtum - ach, der Eschelbach!
Wenn der Mann recht hat, werden jeden Werktag in Deutschland 650 Menschen zu Unrecht wegen einer straf- tat verurteilt. Wenn er recht hat, müssen 10 000 Menschen pro Jahr unschuldig hinter deutsche Gitter. Aber hat er recht?
Tatsächlich ist die Öffentlichkeit gerade in den letzten Jahren verunsichert durch eine ganze Reihe spektakulärer Justizirrtümer in Deutschland. Dieses Buch berichtet nicht nur über die Opfer und ihre Richter - es analysiert auch, wie es zu den groben Fehlleistungen gekommen ist, die oft genug harmlose Menschen für den Rest ihres Lebens ruiniert haben. Viele der Opfer erzählen die gleiche Geschichte: Wie sie völlig überraschend und völlig wehrlos mit ungeheuerlichen Vorwürfen konfrontiert den einzigen tröstenden Gedanken hatten: »Das ist ein Irrtum, das klärt sich alles auf.«
Nichts klärt sich von selbst auf. Es waren meist Zufälle, die in den hier berichteten Fällen oft erst nach Jahren Irrtum und Wahrheit ans Licht brachten. Doch selbst dann mussten viele erleben, wie die Justiz all ihre Macht einsetzte, um die eigenen Fehler zu vertuschen und den Opfern ihre Rehabilitation vorzuenthalten. In einigen Fällen drängt sich der Verdacht auf, der Irrtum sei gar kein Irrtum gewesen, sondern Ergebnis einer vorsätzlichen Intrige. »Es wird die Gefahr übersehen, wie einfach und gebräuchlich es ist, unerwünschte Personen im Wege des Strafverfahrens aus dem Verkehr zu ziehen«, warnt Richter Eschelbach.
Viel spricht dafür, so zeigt die Analyse, dass Eschelbachs Befürchtungen stimmen. Muss man Angst haben vor der Justiz? Es ist das bange Gefühl, das jeden Leser des meisterhaften albtraumschilderers Franz Kafka überkommt, wenn er den ersten Satz seines weltberühmten Romans Der Prozess gelesen hat: »Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines morgens verhaftet.«
Josef K. wird im Roman nie wieder glücklich nach diesem ersten Satz. Und mit Kafka verbindet sich die Urangst, die viele Menschen verfolgt: dass es ihnen genau so gehen könnte, dass sie Opfer eines Irrtums, einer Intrige gar werden könnten, und niemand, niemand sie schreien hört: »Ich war's nicht!« Es ist der mit Justizopfern erfahrene Kölner Anwalt Ralf Höcker, der bestätigt: »Letztendlich kann es jeden treffen.«
Dieses Buch berichtet über die Mechanismen, nach denen Justizirrtümer entstehen: vom ersten Verdacht über die Verhaftung, den Prozess, die erfolglose Revision, die Rechtskraft des Schuldurteils, die Versuche, im Verfahren der Wiederaufnahme doch noch die Unschuld beweisen zu können. Es lohnt sich, genau hinzusehen, wie die Polizei- und Justizmaschine ihre Schlinge um die Opfer immer weiter zuzieht, wie Polizisten, Staatsanwälte und Richter mit oft leichtfertigen Beschuldigungen und halsbrecherischer Beweisführung Menschen erwürgen - und niemand ihnen in den Arm fällt. Es ist dem dringenden Verdacht nachzugehen, dass Justizirrtümer keine Fehler im Einzelfall sind, sondern dass in der Maschinerie der Gerechtigkeitsbranche etwas nicht stimmt. Ist die Strafjustiz eine Fehlkonstruktion? Einige Indizien, so wird sich zeigen, sprechen dafür.
Das Mahlwerk der Justizmaschine steht nie still. Gründliche Inspektionen sind nur bei laufendem Betrieb möglich. Täglich liefert der Apparat neue Resultate seiner Arbeit, wir kommen mit der Analyse kaum hinterher. Während dieses Buch entstand, ging auch der Fall des Hausmeisters Genditzki seinen Weg durch die Justiz, mit immer neuen Wendungen und immer neuen Enttäuschungen. Wir werden ihn im Auge und den Leser zum Aktenzeichen 1Ks 31 Js 40341/08 auf dem Laufenden halten.
Das wird Ärger geben. Richterschelte gilt als gemein. Ist es nicht ungerecht, den Arbeitern im Weinberg der Gerechtigkeit, die Tag für Tag unter Zeitdruck und Ungewissheit weitreichende Entscheidungen treffen müssen, so hartnäckig hinterherzurecherchieren? sind Ermittlungen gegen die Wahrer der Gerechtigkeit nicht sogar ein Eingriff in deren verfassungsrechtlich verbürgte Unabhängigkeit? Ist es nicht eine Anmaßung, sich ein Urteil über ein Urteil zu erlauben, das die Richter nach oft monatelanger Auseinandersetzung mit komplizierten Lebenssachverhalten und den psychologischen Hintergründen der Beteiligten nach gründlicher Beratung mit den Kollegen der Kammer gefällt haben?
Ihre Unabhängigkeit enthebt die Richter nicht der Verpflichtung zu ordentlicher Arbeit. Und der einzig legitime Beleg für die Qualität der Arbeit eines Richters ist sein Urteil. Es ist in der Hand des Richters, überzeugende Begründungen für seine Urteile abzugeben. nur begründete Urteile sind rechtsstaatliche Urteile. Und nur Begründungen, die ein Urteil wirklich tragen, sind rechtsstaatliche Begründungen.
Dass jeder diese Begründungen lesen kann, ist Voraussetzung dafür, dass Urteile »im Namen des Volkes« ergehen. Das Volk - nicht nur das im Gerichtssaal - darf die Richter an ihren Begründungen messen. Und nur Begründungen, die jeder - und nicht nur ein Eingeweihter - verstehen kann, wenn er sich ein bisschen bemüht, können wir gelten lassen.
Der erste Griff im Zweifel über die Justiz muss also der Griff nach den Urteilen sein. Die Analyse der Texte, die Rekonstruktion ihrer Entstehung ist die Grundlage jeder kritischen Untersuchung. Oft genug reicht das schon, um zu entdecken, dass es mit der Gerechtigkeit ist wie mit des Kaisers neuen Kleidern: Der Kaiser ist nackt, es darf nur keiner sagen.
Doch Akten sind nicht alles: Viele Richter und Betroffene haben in großer Offenheit über ihre Erfahrungen und Bedenken Auskunft gegeben. Nur in einem Fall hat die Justiz geblockt und dem Autor den Zugang zu einem inhaftierten Verurteilten gegen dessen Wunsch verboten. Das war, man muss es sagen, die Justiz mit den meisten spektakulären Fehlleistungen: die bayerische.
Die großen Mengen an Akten, Material und Informationen und die vielen Einsichten, die in diesem Buch verarbeitet sind, wären nie zusammengekommen, hätte der Autor nicht kollegiale und oft genug freundschaftliche Unterstützung für das Projekt von vielen gehabt, die manches besser wussten als er. Dazu gehören neben namenlosen Richtern und Staatsanwälten die Kollegen von Spiegel, Spiegel Online und Spiegel TV, insbesondere Gisela Friedrichsen, Thomas Heise, Dietmar hipp, Bertolt Hunger, Beate Lakotta und Utta Seidenspinner. Zu chemischen Spezialitäten hat mich Dr. Hans-Willhelm Meyer, Hamburg, beraten, zu wissenschaftstheoretischen Feinheiten Professor Dr. Helmut Rüßmann, Saarbrücken. Die Interviewtexte hat Margareta Hüttenberger betreut. nur was die Fehler betrifft, die sich vielleicht auch in diesem Buch finden, gilt ganz klar: Ich war's.
© Verlag Piper
Am 28. Oktober 2008 gegen 18 Uhr 30 finden Mitarbeiter des Pflegedienstes Frau K. ertrunken in ihrer Badewanne. Das Wasser läuft noch aus dem Hahn. Die Tote ist bekleidet. Der Unterschenkel ihres linken Beins hängt aus der Wanne.
Monatelang versuchen Ermittler vergeblich herauszubekommen, was an diesem 28. Oktober in der Wohnung mit Frau K. passiert ist. Es bleibt rätselhaft. Es gibt keine klaren Beweise für eine Gewalttat, aber auch keine Anhaltspunkte für einen Unfall. Gerichtsmediziner finden Hämatome unter der Kopfhaut, die könnten von einem Schlag herrühren - oder von einem Sturz. Es gibt keinen Hinweis, warum jemand die alte Dame geschlagen oder gar getötet haben sollte, nichts fehlt in der Wohnung. Es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, dass jemand Fremdes bei Frau K. gewesen ist. Außer ihrem Manfred natürlich, wie immer. Der hatte nachmittags mit ihr Kaffee getrunken. als er ging, hatte er den reserve-Wohnungsschlüssel in der Tür von außen stecken lassen, damit, so sagt er, der Pflegedienst hineinkonnte, auch wenn Frau K. eingeschlafen sein sollte.
Nach monatelanger, vergeblicher spurensuche lässt die Staatsanwaltschaft Manfred Genditzki wegen Verdachts des Mordes an Lieselotte K. verhaften. alles, was die Ermittler gegen ihn in der Hand haben: dass niemand bekannt ist, der nach ihm die Tote lebend gesehen haben könnte. Und dass es keine andere Erklärung für ihren Tod gibt als einen Mord durch seine Hand.
»Ich war's nicht«, sagt Genditzki. Doch sie stellen ihn vor Gericht, und das Landgericht München II verurteilt ihn wegen Mordes zu lebenslanger Haft.
»Ich war's nicht«, insistiert Genditzki, und bald wird sein Fall immer prominenter. Die Gerichtsreporter großer Zeitungen und Magazine machen den stillen Hausmeister im ganzen Land bekannt. Ein klarer Fall von Fehlurteil? Kann es sein, dass ein Mensch als Mörder verurteilt wird, für dessen Tat es keinen einzigen Beweis gibt, ja nicht einmal einen Beweis dafür, dass überhaupt eine Straftat geschehen ist? Kann man jemanden als Täter verurteilen, einfach weil man keinen anderen hat?
Der Fall Genditzki ist offen. Wenn dieses Buch seine Leser erreicht, kämpft der Mann aus seiner Gefängniszelle heraus noch immer - mit schwindender Erfolgsaussicht - gegen den Schuldspruch. Und natürlich kann niemand außer ihm selbst sagen, ob der Hausmeister nicht vielleicht doch ein Mörder ist. aber nicht nur für viele Zeitungsleser, sondern ebenso für eine steigende Zahl von Juristen ist der Fall zum Prüfstein für die Glaubwürdigkeit der deutschen Strafjustiz geworden. Die Verunsicherung ist groß. haben sich Polizisten, Ermittler, Staatsanwälte, Richter vergaloppiert?
Was sind die Standards der Wahrheitsfindung vor Gericht? Verfügt die Justiz über hinreichende Kontrollmechanismen, um grobe Fehler zu erkennen und zu reparieren? Wie können wir sicher sein, dass nicht Unschuldige zwischen die Mahlsteine der Justizmühlen geraten und darin zerrieben werden? Was passiert, wenn es morgen den Nachbarn trifft, dem wir immer vertraut haben wie die Leute am Tegernsee dem Manfred Genditzki?
Was passiert - wenn es uns selbst trifft?
Dass einer schreit: »Ich war's nicht!« - und keiner glaubt ihm, das kommt häufig vor. Gut 3000 strafurteile werden jeden Werktag vor deutschen Gerichten verkündet, und viele Täter beteuern auch danach noch ihre Unschuld.
Doch wie häufig kommt es vor, dass einer schreit »Ich war's nicht!« - und er hat recht?
Es gebe keinen Grund zur Beunruhigung, versichern Strafrichter, Staatsanwälte, sogar die meisten Strafverteidiger. Die Justiz irre sich nie, jedenfalls fast nie. Und wenn doch, dann merke es die nächste Instanz. Die Zahl der bekannt gewordenen Justizirrtümer wird in keiner amtlichen Statistik ausgewiesen. Wie verschwindend gering sie sei, wird häufig damit belegt, dass es nur wenige Wiederaufnahmeverfahren gibt. so verzeichnet die Statistik für das Jahr 2010 nur 1176 Fälle, in denen Strafgerichte sich nach der rechtskräftigen Verurteilung eines Täters mit neu aufgetauchten Zweifeln an der Wahrheit des Schuldspruchs auseinandersetzen mussten. 1176 von mehr als 800 000 im Jahr: Das ist eine verschwindend geringe Zahl. Ist sie zu vernachlässigen?
Die Arbeit eines Richters ist ähnlich verantwortungsvoll und gefährlich wie die eines Arztes. nun stelle man sich ein Krankenhaus vor, in dem von 1000 Patienten im Jahr nur einem einzigen der falsche Lungenflügel amputiert oder das falsche Organ transplantiert wird. Wer würde sich freiwillig in so ein Krankenhaus begeben? Doch die Zahl der Menschen, deren Leben irrtümlich oder leichtfertig durch die Justiz ruiniert wurde, ist sehr viel größer.
Wie groß sie ist, hat erst kürzlich ein Richter enthüllt. Ralf Eschelbach, als Richter am Bundesgerichtshof einer der mächtigsten und erfahrensten Juristen Deutschlands, fällt über die Justiz ein vernichtendes Urteil. Es sei die »Lebenslüge« der Justiz, schreibt der Mann, der seit 1988 als Richter arbeitet, dass es »kaum falsche strafurteile gebe«. nach Eschelbachs Schätzung ist jedes vierte Strafurteil ein Fehlurteil.
Seinen Alarmruf verbreitete der hohe Richter 2011 in einem Kommentar zur Strafprozessordnung: Das Justizsystem »deckt Entscheidungen, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit falsch sind«. Kontrollen und Rechtsmittel würden in einem Maße versagen, das »in einem Rechtsstaat inakzeptabel« sei. In Wiederaufnahmeverfahren würden alle Zweifel »systematisch abgeblockt«, die Kollegen erzeugten zu Unrecht den Eindruck der Unfehlbarkeit: »Die tatrichterliche Überzeugung von der Richtigkeit eigener Urteile ist eine gefährliche Selbsttäuschung. «
Doch niemand, empört sich Eschelbach, gebe diesen Justizskandal zu: »Die Furcht des Gesetzgebers und der Rechtsprechung vor den Konsequenzen, die sich daraus ergeben könnten, verhindert die Verbesserung der Lage.«
Es spricht für die Justiz, dass sie einen Kritiker dieses Kalibers in eines der höchsten Richterämter befördert. Es spricht gegen sie, dass sie seinen Alarmruf sorgfältig überhört. so offene Kritik an prominenter Stelle ist unter Juristen ungewöhnlich. Doch niemand in der Branche hat den Vorstoß offen zur Kenntnis genommen. Eschelbachs Texte werden wie Kassiber zu den Akten genommen - dann mahlt das große Mühlwerk der Justizmaschine ungerührt weiter, als wäre nichts passiert. Jedes vierte Urteil ein Irrtum - ach, der Eschelbach!
Wenn der Mann recht hat, werden jeden Werktag in Deutschland 650 Menschen zu Unrecht wegen einer straf- tat verurteilt. Wenn er recht hat, müssen 10 000 Menschen pro Jahr unschuldig hinter deutsche Gitter. Aber hat er recht?
Tatsächlich ist die Öffentlichkeit gerade in den letzten Jahren verunsichert durch eine ganze Reihe spektakulärer Justizirrtümer in Deutschland. Dieses Buch berichtet nicht nur über die Opfer und ihre Richter - es analysiert auch, wie es zu den groben Fehlleistungen gekommen ist, die oft genug harmlose Menschen für den Rest ihres Lebens ruiniert haben. Viele der Opfer erzählen die gleiche Geschichte: Wie sie völlig überraschend und völlig wehrlos mit ungeheuerlichen Vorwürfen konfrontiert den einzigen tröstenden Gedanken hatten: »Das ist ein Irrtum, das klärt sich alles auf.«
Nichts klärt sich von selbst auf. Es waren meist Zufälle, die in den hier berichteten Fällen oft erst nach Jahren Irrtum und Wahrheit ans Licht brachten. Doch selbst dann mussten viele erleben, wie die Justiz all ihre Macht einsetzte, um die eigenen Fehler zu vertuschen und den Opfern ihre Rehabilitation vorzuenthalten. In einigen Fällen drängt sich der Verdacht auf, der Irrtum sei gar kein Irrtum gewesen, sondern Ergebnis einer vorsätzlichen Intrige. »Es wird die Gefahr übersehen, wie einfach und gebräuchlich es ist, unerwünschte Personen im Wege des Strafverfahrens aus dem Verkehr zu ziehen«, warnt Richter Eschelbach.
Viel spricht dafür, so zeigt die Analyse, dass Eschelbachs Befürchtungen stimmen. Muss man Angst haben vor der Justiz? Es ist das bange Gefühl, das jeden Leser des meisterhaften albtraumschilderers Franz Kafka überkommt, wenn er den ersten Satz seines weltberühmten Romans Der Prozess gelesen hat: »Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines morgens verhaftet.«
Josef K. wird im Roman nie wieder glücklich nach diesem ersten Satz. Und mit Kafka verbindet sich die Urangst, die viele Menschen verfolgt: dass es ihnen genau so gehen könnte, dass sie Opfer eines Irrtums, einer Intrige gar werden könnten, und niemand, niemand sie schreien hört: »Ich war's nicht!« Es ist der mit Justizopfern erfahrene Kölner Anwalt Ralf Höcker, der bestätigt: »Letztendlich kann es jeden treffen.«
Dieses Buch berichtet über die Mechanismen, nach denen Justizirrtümer entstehen: vom ersten Verdacht über die Verhaftung, den Prozess, die erfolglose Revision, die Rechtskraft des Schuldurteils, die Versuche, im Verfahren der Wiederaufnahme doch noch die Unschuld beweisen zu können. Es lohnt sich, genau hinzusehen, wie die Polizei- und Justizmaschine ihre Schlinge um die Opfer immer weiter zuzieht, wie Polizisten, Staatsanwälte und Richter mit oft leichtfertigen Beschuldigungen und halsbrecherischer Beweisführung Menschen erwürgen - und niemand ihnen in den Arm fällt. Es ist dem dringenden Verdacht nachzugehen, dass Justizirrtümer keine Fehler im Einzelfall sind, sondern dass in der Maschinerie der Gerechtigkeitsbranche etwas nicht stimmt. Ist die Strafjustiz eine Fehlkonstruktion? Einige Indizien, so wird sich zeigen, sprechen dafür.
Das Mahlwerk der Justizmaschine steht nie still. Gründliche Inspektionen sind nur bei laufendem Betrieb möglich. Täglich liefert der Apparat neue Resultate seiner Arbeit, wir kommen mit der Analyse kaum hinterher. Während dieses Buch entstand, ging auch der Fall des Hausmeisters Genditzki seinen Weg durch die Justiz, mit immer neuen Wendungen und immer neuen Enttäuschungen. Wir werden ihn im Auge und den Leser zum Aktenzeichen 1Ks 31 Js 40341/08 auf dem Laufenden halten.
Das wird Ärger geben. Richterschelte gilt als gemein. Ist es nicht ungerecht, den Arbeitern im Weinberg der Gerechtigkeit, die Tag für Tag unter Zeitdruck und Ungewissheit weitreichende Entscheidungen treffen müssen, so hartnäckig hinterherzurecherchieren? sind Ermittlungen gegen die Wahrer der Gerechtigkeit nicht sogar ein Eingriff in deren verfassungsrechtlich verbürgte Unabhängigkeit? Ist es nicht eine Anmaßung, sich ein Urteil über ein Urteil zu erlauben, das die Richter nach oft monatelanger Auseinandersetzung mit komplizierten Lebenssachverhalten und den psychologischen Hintergründen der Beteiligten nach gründlicher Beratung mit den Kollegen der Kammer gefällt haben?
Ihre Unabhängigkeit enthebt die Richter nicht der Verpflichtung zu ordentlicher Arbeit. Und der einzig legitime Beleg für die Qualität der Arbeit eines Richters ist sein Urteil. Es ist in der Hand des Richters, überzeugende Begründungen für seine Urteile abzugeben. nur begründete Urteile sind rechtsstaatliche Urteile. Und nur Begründungen, die ein Urteil wirklich tragen, sind rechtsstaatliche Begründungen.
Dass jeder diese Begründungen lesen kann, ist Voraussetzung dafür, dass Urteile »im Namen des Volkes« ergehen. Das Volk - nicht nur das im Gerichtssaal - darf die Richter an ihren Begründungen messen. Und nur Begründungen, die jeder - und nicht nur ein Eingeweihter - verstehen kann, wenn er sich ein bisschen bemüht, können wir gelten lassen.
Der erste Griff im Zweifel über die Justiz muss also der Griff nach den Urteilen sein. Die Analyse der Texte, die Rekonstruktion ihrer Entstehung ist die Grundlage jeder kritischen Untersuchung. Oft genug reicht das schon, um zu entdecken, dass es mit der Gerechtigkeit ist wie mit des Kaisers neuen Kleidern: Der Kaiser ist nackt, es darf nur keiner sagen.
Doch Akten sind nicht alles: Viele Richter und Betroffene haben in großer Offenheit über ihre Erfahrungen und Bedenken Auskunft gegeben. Nur in einem Fall hat die Justiz geblockt und dem Autor den Zugang zu einem inhaftierten Verurteilten gegen dessen Wunsch verboten. Das war, man muss es sagen, die Justiz mit den meisten spektakulären Fehlleistungen: die bayerische.
Die großen Mengen an Akten, Material und Informationen und die vielen Einsichten, die in diesem Buch verarbeitet sind, wären nie zusammengekommen, hätte der Autor nicht kollegiale und oft genug freundschaftliche Unterstützung für das Projekt von vielen gehabt, die manches besser wussten als er. Dazu gehören neben namenlosen Richtern und Staatsanwälten die Kollegen von Spiegel, Spiegel Online und Spiegel TV, insbesondere Gisela Friedrichsen, Thomas Heise, Dietmar hipp, Bertolt Hunger, Beate Lakotta und Utta Seidenspinner. Zu chemischen Spezialitäten hat mich Dr. Hans-Willhelm Meyer, Hamburg, beraten, zu wissenschaftstheoretischen Feinheiten Professor Dr. Helmut Rüßmann, Saarbrücken. Die Interviewtexte hat Margareta Hüttenberger betreut. nur was die Fehler betrifft, die sich vielleicht auch in diesem Buch finden, gilt ganz klar: Ich war's.
© Verlag Piper
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Autoren-Porträt von Thomas Darnstädt
Thomas Darnstädt, Dr. jur., geboren 1949, ist Jurist und Journalist mit den Schwerpunkten Polizeirecht, Bürgerrechte und internationales Recht. Seit Jahrzehnten schreibt er für den Spiegel und leitete einige Jahre das Ressort Deutsche Politik. Er ist Autor vielbeachteter Bücher, zuletzt erschien bei Piper »Der Richter und sein Opfer. Wenn die Justiz sich irrt«.Er lebt mit seiner Familie in Hamburg.
Bibliographische Angaben
- Autor: Thomas Darnstädt
- 2013, 352 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492055583
- ISBN-13: 9783492055581
- Erscheinungsdatum: 16.04.2013
Rezension zu „Der Richter und sein Opfer “
"Mit Fehlurteilen, die Freisprüche beinhalten, vermag vor allem die Polizei schwer zu leben, solche, die einen Unschuldigen ins Gefängnis bringen, sind hingegen nicht nur für das Opfer, sondern auch für eine rechtsstaatliche Justiz eine Katastrophe. Daher verdient Darnstädt Anerkennung, dass er die Öffentlichkeit auf die Fehlerquellen aufmerksam macht.", Der Tagesspiegel, 29.04.2013
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