Der Spezialist / Geiger Bd.1
Roman
... denn er ist nicht zimperlich in der Wahl seiner Mittel. Der "Spezialist" ist ein Folterer, der jede gewünschte Information beschaffen kann. Doch bei all seinem blutigen Handwerk befolgt er doch einen Kodex. Und als er eines Tages dagegen verstoßen...
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Produktinformationen zu „Der Spezialist / Geiger Bd.1 “
... denn er ist nicht zimperlich in der Wahl seiner Mittel. Der "Spezialist" ist ein Folterer, der jede gewünschte Information beschaffen kann. Doch bei all seinem blutigen Handwerk befolgt er doch einen Kodex. Und als er eines Tages dagegen verstoßen soll, sind die Folgen schrecklich. Auch für seine Auftraggeber.
Klappentext zu „Der Spezialist / Geiger Bd.1 “
Sie brauchen eine Information? Sie kennen die Person, die diese Information hat, aber sie hüllt sich in Schweigen? Lassen Sie das meine Sorge sein. Ich hole immer die Wahrheit aus meiner Zielperson heraus. Denn ich bin ein Spezialist. Dabei befolge ich stets meinen Kodex. Eines Tages bekam ich den Auftrag, gegen meinen Kodex zu verstoßen. Die Folgen waren schrecklich. Für meinen Auftraggeber. Mein Name ist Geiger. Ich spiele Violine. Und foltere Menschen.
Lese-Probe zu „Der Spezialist / Geiger Bd.1 “
Der Spezialist von Mark Allen SmithPROLOG
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Der Klient saß in einem quadratischen Raum von zweieinhalb Metern Kantenlänge und blickte durch einen großen Einwegspiegel in gleichförmige Dunkelheit. Aus den Lautsprechern in der Wand drang fortgesetztes nervöses Lachen, immer wieder unterbrochen von einem trockenen Husten, doch der Klient hörte nichts davon, weil er die Ohrstöpsel trug, die für ihn bereitgelegen hatten.
Er blickte auf die Armbanduhr. Sie zeigte 23.20 Uhr. Seit drei Stunden war er hier. Er nippte an seinem zweiten Scotch, als er nun den Blick schweifen ließ. Der fensterlose Raum hatte Wände aus altem, in gedämpftem Grau gestrichenem Holz und war teuer eingerichtet: Der Sessel stammte von Arne Jacobsen, der Perserteppich war antik. Die Chrombar war mit teuren Spirituosen gefüllt; dazu gab es einen Spätburgunder und einen Sancerre, der in einem von Tau beperlten Sektkühler ruhte. Von der Decke hingen vier kegelförmige Pendellampen aus gebürstetem Nickel. Ihr Licht brach sich in den Gravuren des kristallenen Scotchglases zu sternförmigen Mustern. Im unteren Fach der Bar blinkte das winzige rote Auge eines DVD-Rekorders.
Der Klient war Sicherheitschef eines großen US-amerikanischen Elektronikherstellers. In seiner Gehaltsklasse war er mit übermäßigem Luxus zwar nicht vertraut, doch bei den Personen, für die er arbeitete, sah es anders aus. Nun erwarteten sie seinen Anruf. Eine Woche lang hatte er Nachforschungen anstellen und Verbindungen spielen lassen, bis es in einem Restaurant in Little Italy zu einem Treffen mit einem elegant gekleideten, makellos gepflegten Mafiaboss namens Carmine Delanotte gekommen war. Bei einer Flasche Barolo und zwei doppelten Espressi hatte Delanotte den Klienten lange und gründlich ausgefragt, ehe er ihm einen Code fürs Internet sowie den Namen Geiger genannt hatte. Auch wenn es sich dabei offenkundig nicht um den richtigen Namen der Person handelte, war der Klient mit dem Code auf Geigers Website gelangt, DoYouMisterJones.com. Nachdem er dort »Delanotte« als Referenz angegeben hatte, waren die Dinge rasch in Gang gekommen. Heute hatte der Klient am frühen Abend die Zielperson - Matthew Gant von der Forschungs- und Entwicklungsabteilung seiner Firma - im Parkhaus entführt und, genau wie angewiesen, in das unauffällige zweistöckige Gebäude auf der Ludlow Street gebracht.
An dem Mann, den der Klient in diesem Raum als »Geiger« kennenlernte, war ihm als Erstes aufgefallen, dass er so gut wie nie blinzelte. Der Klient war stolz auf seine Nervenstärke, doch Geiger machte ihn unruhig, was vor allem an der seidigen Stimme, der monotonen Sprechweise und der starren Körperhaltung dieses Mannes lag. Geiger hatte ellipsenförmige Augen in einem scharf geschnittenen, kantigen Gesicht. Er wirkte mager und hart wie ein Langläufer oder Kampfsportler. Und er hielt sich leicht geneigt, als würde sein Skelett den Gesetzen der Schwerkraft auf ganz eigene, skurrile Weise gehorchen.
Geiger umgab eine Aura des Seltsamen - aber was sollte man von jemandem in seinem Gewerbe anderes erwarten? Der Klient hatte alle möglichen Geschichten über diesen Mann gehört: Geiger sei ein Irrer, der lange Zeit hinter Gittern gesessen habe; ein abtrünniger Agent der NSA; der verkorkste Sprössling einer stinkreichen Familie, der das Geld nicht nötig hatte und den Nervenkitzel suchte. Gemeinsam war diesen Gerüchten nur die Feststellung, dass niemand Geiger das Wasser reichen konnte.
Als sie einander die Hand reichten, hatte der Klient gesagt: »Es heißt, Sie sind der Beste. Hoffen wir, dass es stimmt. Die Pläne, die Matthew Gant vermutlich gestohlen hat, sind Millionen wert.«
Geiger hatte ihn ausdruckslos gemustert.
»Ich verkaufe hier keine Hoffnung«, hatte er gesagt und das Zimmer verlassen.
Während der ersten Stunde war es in dem Raum auf der anderen Seite des Einwegspiegels schwarz geblieben. Die einzigen Geräusche stammten von Matthew Gant, der abwechselnd schimpfte und fluchte. Dann drangen aus den Lautsprechern Geigers leise Worte an die Ohren des Klienten -- wie ein Gespenst, das in den Raum trieb.
»Ab jetzt schweigst du, Matthew. Dir ist das Sprechen nicht mehr gestattet.«
Es war eine Flüsterstimme, doch ein so lautes Flüstern hatte der Klient noch nie gehört. Dann flammten die Lichter auf, und durch den Einwegspiegel sah er Geiger: In einen schwarzen Pullover und eine weite schwarze Hose gekleidet, lehnte er in einem kahlen Raum an der Wand. Alles in diesem Raum war vollständig mit weißem Linoleum beschichtet, und Dutzende versenkter Strahler in Decken und Wänden tauchten sämtliche Flächen in grelles Licht. An zwei gegenüberliegenden Wänden waren etwa einen halben Meter unterhalb der Decke mehrere kleine Videokameras installiert.
Nach einiger Zeit spielte dieser Anblick den Augen des Klienten einen Streich, und die Winkel des Raumes lösten sich allmählich auf, bis Geiger in der Luft zu schweben schien - eine schwarze erstarrte Gestalt in einer Szenerie aus strahlendem Alabaster.
Mitten im Raum saß Matthew Gant auf einem alten Friseursessel aus rotem Leder und blitzendem Chrom. Über seine Hüften, seine Brust, seine Fußknöchel und seine Handgelenke liefen metallverstärkte Gurte, auf denen helle Sterne tanzten, wenn er sich bewegte. Sein Gesicht war aschfahl; nur auf den Wangen sah man rote Flecken. Seine Brust war frei, seine Füße nackt.
Eine halbe Stunde lang hatte Geiger ihn schweigend angestarrt. Alle zehn Minuten hatte er sich aufgerichtet und war einmal den Raum abgegangen. Er hinkte leicht, hatte das Hinken jedoch in seine Körpermechanik integriert, sodass es nicht als Gebrechlichkeit erschien; bei ihm wirkte es ganz natürlich. Matthews Blick folgte argwöhnisch jeder seiner Bewegungen.
Geiger stieß den Sessel an und drehte ihn langsam immer wieder nach links um seine Achse. Dann verließ er den Raum. Das Licht erlosch wieder. Tonaufnahmen wurden abgespielt, eine Reihe von Akustik-Vignetten, jede ein paar Minuten lang. Der Klient hörte einen Verkehrsstau mit Hupkonzert und Reifenkreischen; eine Frau, die unmelodisch summte; das Klimpern einer einzelnen Saite auf einer verstimmten Gitarre; ein Telefon, das ununterbrochen klingelte, plötzlich verstummte und dann wieder zu klingeln begann, und schließlich nervöses, von Hüsteln unterbrochenes Lachen.
Zu Anfang hatte Matthew immer wieder gebrüllt: »Was soll die Scheiße?«, doch irgendwann war er verstummt. Der Klient wusste jetzt, warum: Als die Aufzeichnung der Geräusche zur Hälfte vorüber war, hatte er sich die Stöpsel in die Ohren gedrückt, sonst hätte er den Verstand verloren.
Das Licht ging wieder an, und Geiger kehrte in den Raum zurück. Er hielt die Hände hinter dem Rücken und stellte sich neben Matthew, der ihn mit unverhohlener Wut anstarrte.
Der Klient nahm die Ohrenstöpsel heraus, um mithören zu können.
»Matthew . «, sagte Geiger. »Schließ die Augen.«
Matthews Gesicht wurde noch wütender, aber er gehorchte.
»Stell dir vor, du bist in einen leeren Brunnenschacht gefallen. Dort unten ist es stockdunkel. Du kannst die Hand vor Augen nicht sehen. Dein eigenes Atmen ist das einzige Geräusch, was du hörst. Du hast Schmerzen am ganzen Leib. Vielleicht hast du dir ein Bein gebrochen, oder einen Arm.«
Geiger blieb ein paar Sekunden still, als wollte er sicherstellen, dass Matthew in der Schwärze seines Gefängnisses seinen eigenen Atem hörte.
»Die Schmerzen sind so schlimm, dass hinter deinen Augen ein Feuerwerk abbrennt. Du schmeckst Blut im Mund. Du streckst die Hände aus und tastest um dich. Die Wände sind kalt und feucht und glatt. Kein Spalt, keine Vertiefung, wo du Halt finden könntest. Kannst du dich dort unten sehen, Matthew? Am Grunde dieses Brunnens?«
Dem Klienten im Nebenraum lief ein Schauder über den Rücken. Selbst er sah Matthew dort unten.
»Du versuchst, Ruhe zu bewahren. Du fängst an, um Hilfe zu rufen. Du sagst dir: >Jemand muss mich doch hören.< Aber nach einer Weile begreifst du, dass du wahrscheinlich dort unten sterben musst. Und als dir dieser Gedanke kommt, beginnt etwas in dir zu sterben. Nicht im Fleisch, sondern in der Seele. Weißt du, was ich meine, Matthew?«
»Wie oft soll ich es denn noch sagen, Manne Ich weiß nicht, was Sie von mir wollene«
»Matthew ... ich habe gesagt, dass dir das Reden nicht gestattet ist. Nicke nur, oder schüttle den Kopf. Erinnerst du dich, dass ich es dir gesagt habe?«
Matthew starrte ihm in die kalten, reglosen Augen und nickte. Geiger griff hinter sich und nahm ein kabelloses Mikrofon und einen Kopfhörer, den er Matthew über die Ohren stülpte.
»Ein Sennheiser 650«, sagte er. »Mir ist Sennheiser lieber als AKG. Die Wiedergabe ist strukturierter. Mach die Augen zu, Matthew. «
Matthew gehorchte. Mit einem rasselnden Seufzer hielt er den Atem an. Die Augäpfel zuckten nervös unter den Lidern hin und her.
Geiger hob das Mikrofon und schlenderte durch den Raum, während er leise hineinsprach. Er erinnerte den Klienten an einen dieser Selbsthilfegurus im Fernsehen, nur dass hier das Publikum aus einer einzigen Person bestand.
»Kannst du mich klar und deutlich hören?«, fragte Geiger. Matthew nickte.
»Gut. Dann ... zurück in den Brunnen, Matthew. Bist du dort?« Matthew schluckte. Sein Adamsapfel zuckte auf und ab. Wieder nickte er.
»Gut.« Für den Klienten klang das Wort wie ein leises Gebet. »Es ist wichtig, dass du wirklich glaubst, unten im Brunnen zu sein, Matthew, denn es ist kein Gedankenspiel. Du bist wirklich da unten, und ich bin deine einzige Rettung. Ich bin das Seil, das dir zugeworfen werden kann, und ich bin der Arm, der dich hochziehen könnte.« Er legte Matthew sanft eine Hand auf die Schulter. Matthew erstarrte. »Und das Einzige, was dafür sorgen kann, dass dieses Seil nach unten geworfen wird, ist die Wahrheit.«
Der Klient lehnte sich näher an die Scheibe.
»Wahrheit ist etwas Wunderschönes. Die einzige perfekte Schöpfung des Menschen. Und ich erkenne die Wahrheit, wenn ich sie höre. Das liegt nicht daran, dass ich ein besonderes Einfühlungsvermögen besäße oder ungewöhnlich aufmerksam wäre, aber ich habe schon so viele Lügen gehört, dass ich es jedes Mal merke, wann die Wahrheit ans Licht kommt.«
Geiger beugte sich zu Matthews Gesicht hinunter. Der Klient sah, wie Matthews Kiefergelenke sich vor Angst spannten.
»Arturo Toscanini sagte einmal, er könne hören, ob eine Saite einer Violine im Streicherapparat des Orchesters falsch gestimmt sei. Er besaß nicht das absolute Gehör, aber er hatte so viele Millionen Töne gehört, dass er immer sofort sagen konnte, welcher richtig war und welcher nicht.« Geiger atmete ein. »Darum lüg mich nicht an, Matthew.«
Matthews Nasenflügel blähten sich wie bei einem Fohlen, das Rauch wittert. Geiger beugte sich noch näher, bis nur noch das Mikrofon seine Lippen von Matthews Mund trennte.
»Hast du verstanden? Lüg mich nicht an!«
Bei dem plötzlichen Gebrüll riss Matthew den Kopf mit solcher Gewalt zurück, dass der Klient befürchtete, er könnte sich das Genick brechen. Matthew riss die Augen auf und dehnte den Mund zu einem klaffenden Oval. Sein Aufheulen hielt gute fünf Sekunden an, dann verebbte es zu einem gurgelnden Stöhnen. Geiger drehte den Kopf auf die eine Seite, und der Klient hörte das leise Knacken der Halswirbel. Dann drehte Geiger den Kopf in die andere Richtung, und wieder erklang das Geräusch. Der Klient versuchte in Geigers Gesicht zu lesen, doch er konnte ihm keine erkennbare Regung entnehmen.
»Matthew«, sagte Geiger, »du musst die Augen geschlossen halten, mit dem Stöhnen aufhören und aufmerksam sein. Nicke, wenn du kannst.«
Matthew blieb das Stöhnen in der Kehle stecken. In einer marionettenhaften Reaktion hob er den Kopf, ließ ihn zurücksinken und schloss die Augen.
»Also ... Für die einzelnen Szenarien gibt es zahlreiche Anwendungen des Schmerzes - in erster Linie körperlichen, psychischen und emotionalen Schmerz. Diese Kategorien zerfallen in zahlreiche Unterklassen. Im Bereich des Körperlichen gibt es Schall ... «
Er klopfte mit den Fingerknöcheln gegen das Mikrofon, und Matthew zuckte mit dem Kopf und riss die Augen auf.
»Augen zu!«
Matthew heulte auf, und Geiger legte sanft je eine Fingerspitze auf seine zitternden Lider und drückte sie hinunter. Dann setzte er den Daumen an eine Stelle fünf Zentimeter links von Matthews Brustbein an.
»Es gibt Druck ... «
Er versteifte seinen Daumen, und fast ohne eine Spur von Anstrengung presste er ihn nach innen. Matthew bellte heiser auf und verzog das Gesicht zu einer zähnefletschenden Fratze. Der Klient beobachtete gebannt und betastete die eigenen Rippen.
»Dann gibt es rohe Gewalt ... «
Geiger hob den Arm, den Ellbogen im rechten Winkel abgebogen. Der Unterarm zuckte wie ein Hebel mit Rückstellfeder hinunter und knallte auf Matthews Brust, trieb ihm die Luft aus der Lunge und ließ ihn gierig und verzweifelt um Atem ringen.
»Schließlich das Durchbohren und Zertrennen des Fleisches ... «
Geiger unterbrach sich kurz.
»Aber das ist mir zu mittelalterlich. Allerdings ... «
Er hob die Hand hinter das Ohr und zog etwas silbrig Glänzendes, sehr Dünnes von etwa zehn Zentimetern Länge hervor. »Mach die Augen auf.«
Matthew hob die Lider. Seine braunen Augen waren blutunterlaufen und von roten Fäden durchzogen.
»Weißt du, was das ist?«
Blinzelnd blickte Matthew auf den Gegenstand, den Geiger zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, und schüttelte den Kopf.
Der Klient ertappte sich dabei, wie er nickte. Er hatte einmal einen Bandscheibenvorfall erlitten und damals alles versucht, um die Schmerzen zu lindern. Er wusste, was er da sah.
»Das ist eine Akupunkturnadel. Ihre eigentliche Funktion besteht darin, Impulse, die das Gehirn als Schmerz identifiziert, daran zu hindern, die Nervenbahnen zu durchlaufen. Die Nadel kann aber auch Schmerz erzeugen.« Zwischen seinen Fingerspitzen glitzerte die Nadel wie das winzige Schwert eines Spielzeugsoldaten. »Du siehst, mein Beruf hat eine unübersehbare ironische Seite.«
Die Bemerkung kam ohne eine Spur von Humor oder Bedrohlichkeit, und gerade das ließ dem Klienten eine Gänsehaut über den Rücken laufen. Mit der freien Hand griff Geiger Matthew ins Haar. Ein unterdrückter Aufschrei entfuhr dem Verhörten. Es war keine Reaktion auf Schmerz, sondern ein Schreckenslaut angesichts der Erkenntnis, was ihm bevorstand. Geiger führte die Nadel geschickt zwischen Matthews Halswirbel ein. Matthew zuckte nicht einmal zusammen, und sein Blick blieb starr auf Geigers unversöhnliches Gesicht gerichtet.
»Tatsache bleibt: Der Mensch ist ein bemerkenswert verletzliches Wesen. Diese Nadel wiegt weniger als eine Sperlingsfeder, Matthew. Die Träne eines Kindes, die darauf fällt, könnte sie verbiegen.«
Geiger wackelte leicht an der Nadel und löste damit eine Abfolge schriller Schreie aus. Dann zog er die Nadel heraus, und das Kreischen verstummte. Tränen liefen Matthew über die Wangen, und sein Atem ging in kurzen, gepressten Stößen.
»Hinzu kommt die Anwendung von Kraft auf Knochen und Gelenke, die Benutzung intensiver Hitze und Kälte, das erzwungene Schlucken von Flüssigkeit ... Tatsache ist, Matthew, dass ich tagelang an dir arbeiten könnte, ohne auch nur einen einzigen Vorgang wiederholen zu müssen.«
Geiger nahm Matthew den Kopfhörer ab und legte ihn und das Mikrofon auf den Boden. »Was körperlichen Schmerz angeht, so glaube ich, dass deine Empfindlichkeit gegenüber physischen Stimuli es überflüssig macht, sich mit diesem Gebiet zu befassen. Was emotionalen Schmerz betrifft - deiner Akte zufolge bist du alleinstehend und ohne Beziehung; ein Einzelkind, dessen Eltern nicht mehr leben. Deshalb wüsste ich nicht, wo ich dort ansetzen sollte. Du glaubst es vielleicht nicht, Matthew, aber du hast wirklich großes Glück mit deinem Leben.«
Der Klient beobachtete gebannt das Geschehen. Eigentlich wollte er nur, dass Geiger auf Matthew einprügelte, damit der Kerl ein Geständnis ablegte und die Sache ein Ende fand. Anschließend konnte der Klient seine Anrufe tätigen und nach Hause gehen. Doch schon als er Geiger kennenlernte, hatte er gespürt, dass es so nicht ablaufen würde.
»Ich werde dich vorerst nicht befragen, Matthew«, sagte Geiger, »denn ich merke, dass du noch nicht bereit bist, die Wahrheit zu sagen, und ich möchte dich nicht zu einer Lüge verleiten.«
»Fragen Sie, was Sie wollen. Ich ... ich kann nicht sagen, was ich nicht weiß.«
»Das ist richtig«, entgegnete Geiger. »Irrelevant, aber richtig.«
Dem Klienten kam ein Gedanke, bei dem sich ihm der Ma-
gen zusammenschnürte. Sagte Matthew vielleicht die Wahrheit?
Wusste er wirklich nichts? War es möglich, dass ein anderer die
Pläne gestohlen hatte? Alles hatte auf Matthew hingedeutet,
aber ...
»Der Brunnen, Matthew«, sagte Geiger. »Du bist unten im Brunnen, also mach die Augen zu.«
Geiger ließ die Hände an den Seiten hinunterhängen. Die Finger zuckten fortwährend. Der Klient fragte sich, ob ein Muster dahintersteckte; beinahe schien es, als spiele Geiger Luftklavier.
»Also gut. Du bist schon eine Weile dort unten, und wenn der Körper sich lange Zeit nicht bewegen kann, beeinträchtigt es den Geist. Dunkelheit, Klaustrophobie ... sie verändern die Wahrnehmung, das Zeitgefühl, das Ichbewusstsein. Sie erschaffen eine Umgebung, in der emotionale Grenzen verschwimmen. Auf dem Rücksitz der Angst fährt der Schmerz mit. Hoffnung schwindet, Verzweiflung wird zum ständigen Begleiter. Sobald das geschieht, siehst du immer deutlicher, wer du wirklich bist. Du erkennst die Tiefen und Grenzen deiner Kräfte.«
Geiger kniete sich vor Matthew. »Und dann wirst du verändert, Matthew - geradezu auf molekularer Ebene umgeformt. Einen stärkeren Weckruf gibt es nicht.«
Geiger schloss die Augen und massierte sie in gemessenen, präzisen Bewegungen mit Daumen und Mittelfinger.
»Wir machen jetzt eine kurze Pause. Du bleibst im Brunnen.« Aus einer Tasche zog er eine schwarze Seidenbinde und legte sie Matthew über die Augen. »Noch eins: Ich habe gelernt, dass von dem Punkt an, an dem man bestimmte Arten von Schmerz erlebt hat, die Erwartung weiterer Schmerzen fast so stark wirkt wie ihr tatsächliches Empfinden. Ich glaube, mit der Zeit wirst du mir zustimmen.«
Geiger verschwand außer Sicht, und das Licht erlosch wieder. Ein paar Sekunden verstrichen; dann öffnete sich die Tür des Beobachtungsraumes, und Geiger kam herein. Ohne dem Klienten einen Blick zu gönnen, ging er zur Bar, schenkte sich ein Glas Wasser ein und trank.
»Ich mache mir Gedanken«, sagte der Klient. »Habe ich den Richtigen?«
Geiger nickte.
»Sind Sie sicher?«
Geiger nickte wieder.
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe es Matthew gerade erklärt.« Er setzte das leere Glas ab. »Sie haben doch zugehört, oder?«
»Sicher. Toscanini. Nur . warum hat er noch nicht gestanden?«
»Er ist noch nicht am Auslösepunkt. Aber es dauert nicht mehr lange.«
»Auslösepunkt?«
Geiger nickte erneut. »Noch immer hat Matthew mehr Angst vor dem, was geschehen kann, falls er gesteht, als vor dem, was geschehen wird, wenn er es nicht tut. Im Augenblick zieht er die Realität der Folter der Möglichkeit seines Todes vor. Aber das wird sich ändern.«
Der Klient fragte sich, wie Geiger wohl aussah, wenn er lächelte, falls er es überhaupt je tat.
»Wir müssen nur wissen, wem er die Daten verkauft hat«, sagte der Klient. »Wir möchten nicht, dass er getötet wird.«
Geiger blickte ihn mit seinen starren Augen an, die niemals blinzelten. »Aber Matthew weiß das nicht.«
Er ging hinaus. Der Klient seufzte und blickte wieder durch den Spiegel in den schwarzen Abgrund. Auf den zitternden Schwingen von Engeln übertrugen die Lautsprecher ihm Geigers sanfte Stimme.
»Matthew, bist du im Brunnen? Du darfst mir antworten.«
Matthews Stimme klang wie Sandpapier auf rauem Holz. »Ja, bin ich.«
»Gut.«
In diesem Augenblick begann Matthew zu schreien, so laut, dass es verzerrt aus den Lautsprechern drang. Die Engel stoben in sämtliche Richtungen davon. Der Klient wandte sich ab und griff nach den Ohrenstöpseln.
...
Übersetzung: Dietmar Schmidt
Copyright © 2012 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Der Klient saß in einem quadratischen Raum von zweieinhalb Metern Kantenlänge und blickte durch einen großen Einwegspiegel in gleichförmige Dunkelheit. Aus den Lautsprechern in der Wand drang fortgesetztes nervöses Lachen, immer wieder unterbrochen von einem trockenen Husten, doch der Klient hörte nichts davon, weil er die Ohrstöpsel trug, die für ihn bereitgelegen hatten.
Er blickte auf die Armbanduhr. Sie zeigte 23.20 Uhr. Seit drei Stunden war er hier. Er nippte an seinem zweiten Scotch, als er nun den Blick schweifen ließ. Der fensterlose Raum hatte Wände aus altem, in gedämpftem Grau gestrichenem Holz und war teuer eingerichtet: Der Sessel stammte von Arne Jacobsen, der Perserteppich war antik. Die Chrombar war mit teuren Spirituosen gefüllt; dazu gab es einen Spätburgunder und einen Sancerre, der in einem von Tau beperlten Sektkühler ruhte. Von der Decke hingen vier kegelförmige Pendellampen aus gebürstetem Nickel. Ihr Licht brach sich in den Gravuren des kristallenen Scotchglases zu sternförmigen Mustern. Im unteren Fach der Bar blinkte das winzige rote Auge eines DVD-Rekorders.
Der Klient war Sicherheitschef eines großen US-amerikanischen Elektronikherstellers. In seiner Gehaltsklasse war er mit übermäßigem Luxus zwar nicht vertraut, doch bei den Personen, für die er arbeitete, sah es anders aus. Nun erwarteten sie seinen Anruf. Eine Woche lang hatte er Nachforschungen anstellen und Verbindungen spielen lassen, bis es in einem Restaurant in Little Italy zu einem Treffen mit einem elegant gekleideten, makellos gepflegten Mafiaboss namens Carmine Delanotte gekommen war. Bei einer Flasche Barolo und zwei doppelten Espressi hatte Delanotte den Klienten lange und gründlich ausgefragt, ehe er ihm einen Code fürs Internet sowie den Namen Geiger genannt hatte. Auch wenn es sich dabei offenkundig nicht um den richtigen Namen der Person handelte, war der Klient mit dem Code auf Geigers Website gelangt, DoYouMisterJones.com. Nachdem er dort »Delanotte« als Referenz angegeben hatte, waren die Dinge rasch in Gang gekommen. Heute hatte der Klient am frühen Abend die Zielperson - Matthew Gant von der Forschungs- und Entwicklungsabteilung seiner Firma - im Parkhaus entführt und, genau wie angewiesen, in das unauffällige zweistöckige Gebäude auf der Ludlow Street gebracht.
An dem Mann, den der Klient in diesem Raum als »Geiger« kennenlernte, war ihm als Erstes aufgefallen, dass er so gut wie nie blinzelte. Der Klient war stolz auf seine Nervenstärke, doch Geiger machte ihn unruhig, was vor allem an der seidigen Stimme, der monotonen Sprechweise und der starren Körperhaltung dieses Mannes lag. Geiger hatte ellipsenförmige Augen in einem scharf geschnittenen, kantigen Gesicht. Er wirkte mager und hart wie ein Langläufer oder Kampfsportler. Und er hielt sich leicht geneigt, als würde sein Skelett den Gesetzen der Schwerkraft auf ganz eigene, skurrile Weise gehorchen.
Geiger umgab eine Aura des Seltsamen - aber was sollte man von jemandem in seinem Gewerbe anderes erwarten? Der Klient hatte alle möglichen Geschichten über diesen Mann gehört: Geiger sei ein Irrer, der lange Zeit hinter Gittern gesessen habe; ein abtrünniger Agent der NSA; der verkorkste Sprössling einer stinkreichen Familie, der das Geld nicht nötig hatte und den Nervenkitzel suchte. Gemeinsam war diesen Gerüchten nur die Feststellung, dass niemand Geiger das Wasser reichen konnte.
Als sie einander die Hand reichten, hatte der Klient gesagt: »Es heißt, Sie sind der Beste. Hoffen wir, dass es stimmt. Die Pläne, die Matthew Gant vermutlich gestohlen hat, sind Millionen wert.«
Geiger hatte ihn ausdruckslos gemustert.
»Ich verkaufe hier keine Hoffnung«, hatte er gesagt und das Zimmer verlassen.
Während der ersten Stunde war es in dem Raum auf der anderen Seite des Einwegspiegels schwarz geblieben. Die einzigen Geräusche stammten von Matthew Gant, der abwechselnd schimpfte und fluchte. Dann drangen aus den Lautsprechern Geigers leise Worte an die Ohren des Klienten -- wie ein Gespenst, das in den Raum trieb.
»Ab jetzt schweigst du, Matthew. Dir ist das Sprechen nicht mehr gestattet.«
Es war eine Flüsterstimme, doch ein so lautes Flüstern hatte der Klient noch nie gehört. Dann flammten die Lichter auf, und durch den Einwegspiegel sah er Geiger: In einen schwarzen Pullover und eine weite schwarze Hose gekleidet, lehnte er in einem kahlen Raum an der Wand. Alles in diesem Raum war vollständig mit weißem Linoleum beschichtet, und Dutzende versenkter Strahler in Decken und Wänden tauchten sämtliche Flächen in grelles Licht. An zwei gegenüberliegenden Wänden waren etwa einen halben Meter unterhalb der Decke mehrere kleine Videokameras installiert.
Nach einiger Zeit spielte dieser Anblick den Augen des Klienten einen Streich, und die Winkel des Raumes lösten sich allmählich auf, bis Geiger in der Luft zu schweben schien - eine schwarze erstarrte Gestalt in einer Szenerie aus strahlendem Alabaster.
Mitten im Raum saß Matthew Gant auf einem alten Friseursessel aus rotem Leder und blitzendem Chrom. Über seine Hüften, seine Brust, seine Fußknöchel und seine Handgelenke liefen metallverstärkte Gurte, auf denen helle Sterne tanzten, wenn er sich bewegte. Sein Gesicht war aschfahl; nur auf den Wangen sah man rote Flecken. Seine Brust war frei, seine Füße nackt.
Eine halbe Stunde lang hatte Geiger ihn schweigend angestarrt. Alle zehn Minuten hatte er sich aufgerichtet und war einmal den Raum abgegangen. Er hinkte leicht, hatte das Hinken jedoch in seine Körpermechanik integriert, sodass es nicht als Gebrechlichkeit erschien; bei ihm wirkte es ganz natürlich. Matthews Blick folgte argwöhnisch jeder seiner Bewegungen.
Geiger stieß den Sessel an und drehte ihn langsam immer wieder nach links um seine Achse. Dann verließ er den Raum. Das Licht erlosch wieder. Tonaufnahmen wurden abgespielt, eine Reihe von Akustik-Vignetten, jede ein paar Minuten lang. Der Klient hörte einen Verkehrsstau mit Hupkonzert und Reifenkreischen; eine Frau, die unmelodisch summte; das Klimpern einer einzelnen Saite auf einer verstimmten Gitarre; ein Telefon, das ununterbrochen klingelte, plötzlich verstummte und dann wieder zu klingeln begann, und schließlich nervöses, von Hüsteln unterbrochenes Lachen.
Zu Anfang hatte Matthew immer wieder gebrüllt: »Was soll die Scheiße?«, doch irgendwann war er verstummt. Der Klient wusste jetzt, warum: Als die Aufzeichnung der Geräusche zur Hälfte vorüber war, hatte er sich die Stöpsel in die Ohren gedrückt, sonst hätte er den Verstand verloren.
Das Licht ging wieder an, und Geiger kehrte in den Raum zurück. Er hielt die Hände hinter dem Rücken und stellte sich neben Matthew, der ihn mit unverhohlener Wut anstarrte.
Der Klient nahm die Ohrenstöpsel heraus, um mithören zu können.
»Matthew . «, sagte Geiger. »Schließ die Augen.«
Matthews Gesicht wurde noch wütender, aber er gehorchte.
»Stell dir vor, du bist in einen leeren Brunnenschacht gefallen. Dort unten ist es stockdunkel. Du kannst die Hand vor Augen nicht sehen. Dein eigenes Atmen ist das einzige Geräusch, was du hörst. Du hast Schmerzen am ganzen Leib. Vielleicht hast du dir ein Bein gebrochen, oder einen Arm.«
Geiger blieb ein paar Sekunden still, als wollte er sicherstellen, dass Matthew in der Schwärze seines Gefängnisses seinen eigenen Atem hörte.
»Die Schmerzen sind so schlimm, dass hinter deinen Augen ein Feuerwerk abbrennt. Du schmeckst Blut im Mund. Du streckst die Hände aus und tastest um dich. Die Wände sind kalt und feucht und glatt. Kein Spalt, keine Vertiefung, wo du Halt finden könntest. Kannst du dich dort unten sehen, Matthew? Am Grunde dieses Brunnens?«
Dem Klienten im Nebenraum lief ein Schauder über den Rücken. Selbst er sah Matthew dort unten.
»Du versuchst, Ruhe zu bewahren. Du fängst an, um Hilfe zu rufen. Du sagst dir: >Jemand muss mich doch hören.< Aber nach einer Weile begreifst du, dass du wahrscheinlich dort unten sterben musst. Und als dir dieser Gedanke kommt, beginnt etwas in dir zu sterben. Nicht im Fleisch, sondern in der Seele. Weißt du, was ich meine, Matthew?«
»Wie oft soll ich es denn noch sagen, Manne Ich weiß nicht, was Sie von mir wollene«
»Matthew ... ich habe gesagt, dass dir das Reden nicht gestattet ist. Nicke nur, oder schüttle den Kopf. Erinnerst du dich, dass ich es dir gesagt habe?«
Matthew starrte ihm in die kalten, reglosen Augen und nickte. Geiger griff hinter sich und nahm ein kabelloses Mikrofon und einen Kopfhörer, den er Matthew über die Ohren stülpte.
»Ein Sennheiser 650«, sagte er. »Mir ist Sennheiser lieber als AKG. Die Wiedergabe ist strukturierter. Mach die Augen zu, Matthew. «
Matthew gehorchte. Mit einem rasselnden Seufzer hielt er den Atem an. Die Augäpfel zuckten nervös unter den Lidern hin und her.
Geiger hob das Mikrofon und schlenderte durch den Raum, während er leise hineinsprach. Er erinnerte den Klienten an einen dieser Selbsthilfegurus im Fernsehen, nur dass hier das Publikum aus einer einzigen Person bestand.
»Kannst du mich klar und deutlich hören?«, fragte Geiger. Matthew nickte.
»Gut. Dann ... zurück in den Brunnen, Matthew. Bist du dort?« Matthew schluckte. Sein Adamsapfel zuckte auf und ab. Wieder nickte er.
»Gut.« Für den Klienten klang das Wort wie ein leises Gebet. »Es ist wichtig, dass du wirklich glaubst, unten im Brunnen zu sein, Matthew, denn es ist kein Gedankenspiel. Du bist wirklich da unten, und ich bin deine einzige Rettung. Ich bin das Seil, das dir zugeworfen werden kann, und ich bin der Arm, der dich hochziehen könnte.« Er legte Matthew sanft eine Hand auf die Schulter. Matthew erstarrte. »Und das Einzige, was dafür sorgen kann, dass dieses Seil nach unten geworfen wird, ist die Wahrheit.«
Der Klient lehnte sich näher an die Scheibe.
»Wahrheit ist etwas Wunderschönes. Die einzige perfekte Schöpfung des Menschen. Und ich erkenne die Wahrheit, wenn ich sie höre. Das liegt nicht daran, dass ich ein besonderes Einfühlungsvermögen besäße oder ungewöhnlich aufmerksam wäre, aber ich habe schon so viele Lügen gehört, dass ich es jedes Mal merke, wann die Wahrheit ans Licht kommt.«
Geiger beugte sich zu Matthews Gesicht hinunter. Der Klient sah, wie Matthews Kiefergelenke sich vor Angst spannten.
»Arturo Toscanini sagte einmal, er könne hören, ob eine Saite einer Violine im Streicherapparat des Orchesters falsch gestimmt sei. Er besaß nicht das absolute Gehör, aber er hatte so viele Millionen Töne gehört, dass er immer sofort sagen konnte, welcher richtig war und welcher nicht.« Geiger atmete ein. »Darum lüg mich nicht an, Matthew.«
Matthews Nasenflügel blähten sich wie bei einem Fohlen, das Rauch wittert. Geiger beugte sich noch näher, bis nur noch das Mikrofon seine Lippen von Matthews Mund trennte.
»Hast du verstanden? Lüg mich nicht an!«
Bei dem plötzlichen Gebrüll riss Matthew den Kopf mit solcher Gewalt zurück, dass der Klient befürchtete, er könnte sich das Genick brechen. Matthew riss die Augen auf und dehnte den Mund zu einem klaffenden Oval. Sein Aufheulen hielt gute fünf Sekunden an, dann verebbte es zu einem gurgelnden Stöhnen. Geiger drehte den Kopf auf die eine Seite, und der Klient hörte das leise Knacken der Halswirbel. Dann drehte Geiger den Kopf in die andere Richtung, und wieder erklang das Geräusch. Der Klient versuchte in Geigers Gesicht zu lesen, doch er konnte ihm keine erkennbare Regung entnehmen.
»Matthew«, sagte Geiger, »du musst die Augen geschlossen halten, mit dem Stöhnen aufhören und aufmerksam sein. Nicke, wenn du kannst.«
Matthew blieb das Stöhnen in der Kehle stecken. In einer marionettenhaften Reaktion hob er den Kopf, ließ ihn zurücksinken und schloss die Augen.
»Also ... Für die einzelnen Szenarien gibt es zahlreiche Anwendungen des Schmerzes - in erster Linie körperlichen, psychischen und emotionalen Schmerz. Diese Kategorien zerfallen in zahlreiche Unterklassen. Im Bereich des Körperlichen gibt es Schall ... «
Er klopfte mit den Fingerknöcheln gegen das Mikrofon, und Matthew zuckte mit dem Kopf und riss die Augen auf.
»Augen zu!«
Matthew heulte auf, und Geiger legte sanft je eine Fingerspitze auf seine zitternden Lider und drückte sie hinunter. Dann setzte er den Daumen an eine Stelle fünf Zentimeter links von Matthews Brustbein an.
»Es gibt Druck ... «
Er versteifte seinen Daumen, und fast ohne eine Spur von Anstrengung presste er ihn nach innen. Matthew bellte heiser auf und verzog das Gesicht zu einer zähnefletschenden Fratze. Der Klient beobachtete gebannt und betastete die eigenen Rippen.
»Dann gibt es rohe Gewalt ... «
Geiger hob den Arm, den Ellbogen im rechten Winkel abgebogen. Der Unterarm zuckte wie ein Hebel mit Rückstellfeder hinunter und knallte auf Matthews Brust, trieb ihm die Luft aus der Lunge und ließ ihn gierig und verzweifelt um Atem ringen.
»Schließlich das Durchbohren und Zertrennen des Fleisches ... «
Geiger unterbrach sich kurz.
»Aber das ist mir zu mittelalterlich. Allerdings ... «
Er hob die Hand hinter das Ohr und zog etwas silbrig Glänzendes, sehr Dünnes von etwa zehn Zentimetern Länge hervor. »Mach die Augen auf.«
Matthew hob die Lider. Seine braunen Augen waren blutunterlaufen und von roten Fäden durchzogen.
»Weißt du, was das ist?«
Blinzelnd blickte Matthew auf den Gegenstand, den Geiger zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, und schüttelte den Kopf.
Der Klient ertappte sich dabei, wie er nickte. Er hatte einmal einen Bandscheibenvorfall erlitten und damals alles versucht, um die Schmerzen zu lindern. Er wusste, was er da sah.
»Das ist eine Akupunkturnadel. Ihre eigentliche Funktion besteht darin, Impulse, die das Gehirn als Schmerz identifiziert, daran zu hindern, die Nervenbahnen zu durchlaufen. Die Nadel kann aber auch Schmerz erzeugen.« Zwischen seinen Fingerspitzen glitzerte die Nadel wie das winzige Schwert eines Spielzeugsoldaten. »Du siehst, mein Beruf hat eine unübersehbare ironische Seite.«
Die Bemerkung kam ohne eine Spur von Humor oder Bedrohlichkeit, und gerade das ließ dem Klienten eine Gänsehaut über den Rücken laufen. Mit der freien Hand griff Geiger Matthew ins Haar. Ein unterdrückter Aufschrei entfuhr dem Verhörten. Es war keine Reaktion auf Schmerz, sondern ein Schreckenslaut angesichts der Erkenntnis, was ihm bevorstand. Geiger führte die Nadel geschickt zwischen Matthews Halswirbel ein. Matthew zuckte nicht einmal zusammen, und sein Blick blieb starr auf Geigers unversöhnliches Gesicht gerichtet.
»Tatsache bleibt: Der Mensch ist ein bemerkenswert verletzliches Wesen. Diese Nadel wiegt weniger als eine Sperlingsfeder, Matthew. Die Träne eines Kindes, die darauf fällt, könnte sie verbiegen.«
Geiger wackelte leicht an der Nadel und löste damit eine Abfolge schriller Schreie aus. Dann zog er die Nadel heraus, und das Kreischen verstummte. Tränen liefen Matthew über die Wangen, und sein Atem ging in kurzen, gepressten Stößen.
»Hinzu kommt die Anwendung von Kraft auf Knochen und Gelenke, die Benutzung intensiver Hitze und Kälte, das erzwungene Schlucken von Flüssigkeit ... Tatsache ist, Matthew, dass ich tagelang an dir arbeiten könnte, ohne auch nur einen einzigen Vorgang wiederholen zu müssen.«
Geiger nahm Matthew den Kopfhörer ab und legte ihn und das Mikrofon auf den Boden. »Was körperlichen Schmerz angeht, so glaube ich, dass deine Empfindlichkeit gegenüber physischen Stimuli es überflüssig macht, sich mit diesem Gebiet zu befassen. Was emotionalen Schmerz betrifft - deiner Akte zufolge bist du alleinstehend und ohne Beziehung; ein Einzelkind, dessen Eltern nicht mehr leben. Deshalb wüsste ich nicht, wo ich dort ansetzen sollte. Du glaubst es vielleicht nicht, Matthew, aber du hast wirklich großes Glück mit deinem Leben.«
Der Klient beobachtete gebannt das Geschehen. Eigentlich wollte er nur, dass Geiger auf Matthew einprügelte, damit der Kerl ein Geständnis ablegte und die Sache ein Ende fand. Anschließend konnte der Klient seine Anrufe tätigen und nach Hause gehen. Doch schon als er Geiger kennenlernte, hatte er gespürt, dass es so nicht ablaufen würde.
»Ich werde dich vorerst nicht befragen, Matthew«, sagte Geiger, »denn ich merke, dass du noch nicht bereit bist, die Wahrheit zu sagen, und ich möchte dich nicht zu einer Lüge verleiten.«
»Fragen Sie, was Sie wollen. Ich ... ich kann nicht sagen, was ich nicht weiß.«
»Das ist richtig«, entgegnete Geiger. »Irrelevant, aber richtig.«
Dem Klienten kam ein Gedanke, bei dem sich ihm der Ma-
gen zusammenschnürte. Sagte Matthew vielleicht die Wahrheit?
Wusste er wirklich nichts? War es möglich, dass ein anderer die
Pläne gestohlen hatte? Alles hatte auf Matthew hingedeutet,
aber ...
»Der Brunnen, Matthew«, sagte Geiger. »Du bist unten im Brunnen, also mach die Augen zu.«
Geiger ließ die Hände an den Seiten hinunterhängen. Die Finger zuckten fortwährend. Der Klient fragte sich, ob ein Muster dahintersteckte; beinahe schien es, als spiele Geiger Luftklavier.
»Also gut. Du bist schon eine Weile dort unten, und wenn der Körper sich lange Zeit nicht bewegen kann, beeinträchtigt es den Geist. Dunkelheit, Klaustrophobie ... sie verändern die Wahrnehmung, das Zeitgefühl, das Ichbewusstsein. Sie erschaffen eine Umgebung, in der emotionale Grenzen verschwimmen. Auf dem Rücksitz der Angst fährt der Schmerz mit. Hoffnung schwindet, Verzweiflung wird zum ständigen Begleiter. Sobald das geschieht, siehst du immer deutlicher, wer du wirklich bist. Du erkennst die Tiefen und Grenzen deiner Kräfte.«
Geiger kniete sich vor Matthew. »Und dann wirst du verändert, Matthew - geradezu auf molekularer Ebene umgeformt. Einen stärkeren Weckruf gibt es nicht.«
Geiger schloss die Augen und massierte sie in gemessenen, präzisen Bewegungen mit Daumen und Mittelfinger.
»Wir machen jetzt eine kurze Pause. Du bleibst im Brunnen.« Aus einer Tasche zog er eine schwarze Seidenbinde und legte sie Matthew über die Augen. »Noch eins: Ich habe gelernt, dass von dem Punkt an, an dem man bestimmte Arten von Schmerz erlebt hat, die Erwartung weiterer Schmerzen fast so stark wirkt wie ihr tatsächliches Empfinden. Ich glaube, mit der Zeit wirst du mir zustimmen.«
Geiger verschwand außer Sicht, und das Licht erlosch wieder. Ein paar Sekunden verstrichen; dann öffnete sich die Tür des Beobachtungsraumes, und Geiger kam herein. Ohne dem Klienten einen Blick zu gönnen, ging er zur Bar, schenkte sich ein Glas Wasser ein und trank.
»Ich mache mir Gedanken«, sagte der Klient. »Habe ich den Richtigen?«
Geiger nickte.
»Sind Sie sicher?«
Geiger nickte wieder.
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe es Matthew gerade erklärt.« Er setzte das leere Glas ab. »Sie haben doch zugehört, oder?«
»Sicher. Toscanini. Nur . warum hat er noch nicht gestanden?«
»Er ist noch nicht am Auslösepunkt. Aber es dauert nicht mehr lange.«
»Auslösepunkt?«
Geiger nickte erneut. »Noch immer hat Matthew mehr Angst vor dem, was geschehen kann, falls er gesteht, als vor dem, was geschehen wird, wenn er es nicht tut. Im Augenblick zieht er die Realität der Folter der Möglichkeit seines Todes vor. Aber das wird sich ändern.«
Der Klient fragte sich, wie Geiger wohl aussah, wenn er lächelte, falls er es überhaupt je tat.
»Wir müssen nur wissen, wem er die Daten verkauft hat«, sagte der Klient. »Wir möchten nicht, dass er getötet wird.«
Geiger blickte ihn mit seinen starren Augen an, die niemals blinzelten. »Aber Matthew weiß das nicht.«
Er ging hinaus. Der Klient seufzte und blickte wieder durch den Spiegel in den schwarzen Abgrund. Auf den zitternden Schwingen von Engeln übertrugen die Lautsprecher ihm Geigers sanfte Stimme.
»Matthew, bist du im Brunnen? Du darfst mir antworten.«
Matthews Stimme klang wie Sandpapier auf rauem Holz. »Ja, bin ich.«
»Gut.«
In diesem Augenblick begann Matthew zu schreien, so laut, dass es verzerrt aus den Lautsprechern drang. Die Engel stoben in sämtliche Richtungen davon. Der Klient wandte sich ab und griff nach den Ohrenstöpseln.
...
Übersetzung: Dietmar Schmidt
Copyright © 2012 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
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Autoren-Porträt von Mark A. Smith
Mark Allen Smith hat zehn Jahre lang Nachrichten und Dokumentationen fürs Fernsehen produziert.Dabei war er auch als Regisseur tätig. Seit über zwanzig Jahren schreibt er Drehbücher. Er lebt in New York mit seiner Partnerin Cathy und seinen drei Kindern Zachary, Lexie und Rachel. Zu jeder sich bietenden Gelegenheit mach Smith Musik oder spielt Softball.
Bibliographische Angaben
- Autor: Mark A. Smith
- 2012, 349 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Schmidt, Dietmar
- Übersetzer: Dietmar Schmidt
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3785760604
- ISBN-13: 9783785760604
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