Der verbotene Duft
Historischer Roman. Originalausgabe
Der Duft, aus dem die Träume sind
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der verbotene Duft “
Der Duft, aus dem die Träume sind
Klappentext zu „Der verbotene Duft “
Hamburg 1840: Die junge Parfümeurin Clara versetzt die Hansestadt in Aufregung. Sie hat einen Duft entwickelt, von dem es heißt, dass er jede Frau unwiderstehlich macht. Sofern es ihr gelingt, eine halbe Träne beizumischen. Schon bald stehen die feinen Bürgerinnen Schlange und erste Feinde treten auf den Plan, die ihren Erfolg mit allen Mitteln zunichte machen wollen. Clara indes träumt von der großen Liebe, aber ihre Jugendliebe Paul ist seit Jahren verschwunden. Wird sie ihn jemals wiedersehen?
Lese-Probe zu „Der verbotene Duft “
Der verbotene Duft von Brigitte Janson1
Der Schlag kam unerwartet. Clara duckte sich noch, aber es war zu spät. Seine flache Hand traf sie an der Schläfe. Mit einem leisen Schrei ging sie zu Boden. Der Duft nach frischem Bohnerwachs vermischte sich mit dem beißenden Geruch aus Vaters Nachttopf und ließ sie schwindeln.
»Elendes Gör!«, schrie Georg Vogt. »Wie kannst du es wagen, mir Widerworte zu geben!«
Mit einem einzigen schnellen Griff packte er sie am Arm und zog sie hoch. Sein saurer, nach Bier stinkender Atem waberte über ihr Gesicht hinweg, und Clara musste gegen eine plötzliche Übelkeit ankämpfen. Ihre Schläfe pochte, vor ihren Augen tanzten Sterne.
Durch das offene Fenster drangen die Geräusche der geschäftigen Hamburger Altstadt herein. Holzpantinen und Pferdehufe klapperten über das Kopfsteinpflaster der Deichstraße, das Rumpeln von eisenbeschlagenen Kutschenrädern gesellte sich dazu. Brotjungen riefen ihre Ware aus, zwei Weiber zankten sich lauthals, und aus der Wirtschaft an der Ecke erklangen schon zu dieser frühen Tagesstunde Gelächter und Gesang.
In Claras Kopf vereinigten sich die Töne zu einem Lied der Sehnsucht. Raus wollte sie, fort von hier. So viel Entfernung wie nur irgend möglich zwischen sich und den Mann legen, der sie nicht liebte, der sie verachtete, seit sie denken konnte.
Er schien etwas zu ahnen, denn sein Griff wurde fester. Clara unterdrückte einen neuerlichen Schmerzenslaut.
... mehr
»Ich gebe der Mamsell Bescheid, damit sie das Feuer schürt«, murmelte sie und hoffte inständig, dass ihre Stimme unterwürfig genug klang. Wenn der Vater in dieser Stimmung war, betrunken nach einigen Gläsern Bier und Schnaps, zornig, weil wieder einmal eines seiner Geschäfte geplatzt war, dann galt es, ihm aus dem Weg zu gehen, bis er seinen Rausch ausgeschlafen hatte.
Der Schmerz in ihrem Kopf ließ ein wenig nach, zugleich schien ihr Arm anzuschwellen, so fest drückte der Vater zu. Und ihr Magen drehte sich im Brustkorb.
»Die Mamsell bleibt in der Küche. Ich erwarte Gäste zum Mittagessen«, sagte er jetzt.
Verzweifelt suchte Clara einen Ausweg. Im Geiste sah sie helle Flammen hochschießen. Heiß und hungrig sprangen sie aus dem Kamin und leckten an ihrem Rocksaum.
»Gretchen kann ...«
Vogt stieß einen knurrenden Laut aus, der Clara Schlimmes erahnen ließ. »Ich habe Gretchen heute in der Früh entlassen. Sie taugt nichts.«
Herr im Himmel!, dachte sie. Nicht auch noch Gretchen. Die junge, kräftige Vierländerin war ihr eine so wichtige Hilfe gewesen. Einst hatte es im Vogtschen Haushalt eine ganze Schar Dienstboten und Angestellte gegeben. Die Mamsell herrschte über zwei Küchenmädchen, im Kontor arbeiteten bis zu fünf Schreiber, auf den Etagen gab es ein Stubenmädchen, und zweimal in der Woche kamen die Waschfrauen für die große Wäsche.
Damals war Georg Vogt noch ein angesehener Hamburger Kaufmann gewesen, der mit Kaffee, Tee und Gewürzen aus west- und ostindischen Ländern handelte. Das schmucke Bürgerhaus mit der Giebelseite zur Deichstraße und dem Speicher zum Nicolaifleet brummte nur so vor Geschäftigkeit. So lange war das her! Clara konnte sich kaum noch an diese Zeiten erinnern.
Und nun Gretchen. Noch mehr schwere Arbeit kam damit auf Clara zu, dabei stand sie schon jetzt lange vor dem Morgengrauen auf und kam selten zu Bett, bevor die Glocke von Sankt Nicolai Mitternacht geschlagen hatte. Und Mamsell Friederike, die seit mehr als zwanzig Jahren den Vogts die Treue hielt, in guten wie auch in schrecklichen Zeiten, sie würde in absehbarer Zeit gewiss auch fortgehen. Sofern sie nicht vorher schon vom Vater auf die Straße gesetzt wurde, da selbst für den letzten Dienstboten im Haus kein Pfennig mehr übrig war.
Und welche Gäste mochte der Vater schon erwarten?, fragte sich Clara. Vielleicht ein paar seiner Saufkumpane, die seit Wochen das Haus bevölkerten? Oder jene Geschäftsfreunde, mit denen er sich seit einiger Zeit abgab? Clara kannte ein paar von ihnen, und obwohl sie vom Güterhandel nichts verstand, spürte sie, dass es bei den Geschäften dieser Männer nicht immer mit rechten Dingen zuging.
Die Übelkeit nahm zu. In ihren Augenwinkeln sammelten sich Tränen. Rasch senkte sie die Lider. Vater sollte nicht sehen, wie seelenwund sie war.
»Los jetzt! Schür das Feuer!«
Ein Schauder jagte über ihre Haut, und Clara wollte zurückweichen. Zugleich wurde ihr heiß, denn wieder sah sie die Flammen auf sich zuschießen. Ihr Arm jedoch
war noch immer in seinem Klammergriff gefangen.
Es gab kein Entrinnen.
Georg Vogt stieß ein hässliches Lachen aus. »Erschrickt das Fräulein Tochter etwa vor einem klitzekleinen Streichholz? Anstatt froh zu sein, dass man nicht mehr wie zu meiner Zeit Stahl und Feuerstein über einem Zunderkästchen schlagen muss, bis ein Funken den Schwefelfaden entzündet! Ach, die Jugend von heute weiß gar nicht, wie gut sie es hat!«
Hohn troff aus seiner Stimme, und Clara wusste genau, wie diebisch er sich amüsierte. Es bereitete ihm sichtlich Vergnügen, sie mit ihrer Angst vor dem Feuer zu quälen.
Bis zu diesem Moment hatte sie ihren Vater gefürchtet. Vor vielen Jahren hatte sie ihn sogar verzweifelt geliebt, obgleich diese Liebe niemals erwidert wurde. Nun aber empfand sie Hass, und das bestürzte sie - mehr noch als sein Wunsch, sie zu demütigen. Hass war etwas für gemeine Menschen, für niedere Kreaturen, aber gewiss nicht für sie, Clara Vogt, Tochter aus gutem Hause und nach außen hin trotz all der Plackerei eine feine Erscheinung mit sorgfältig gelegten dunklen Locken, die keck unter der Haube hervorlugten, mit eng geschnürter Taille und weitem, in Volants fallendem Rock; mit einem wärmenden Umschlagtuch über dem züchtigen Ausschnitt - und ja, Handschuhen aus feinem Ziegenleder, die ihre rissigen und roten Finger verbargen.
Noch zu Weihnachten hatte sie sich so fein herausgeputzt, und beim Kirchgang war manch bewundernder Blick auf sie gefallen.
Es war das letzte Mal gewesen. An Neujahr hatte sich die Mutter mit einem Husten zu Bett gelegt und war nicht wieder aufgestanden. Clara hatte sie Tag und Nacht gepflegt und ahnte doch, es gab keine Hoffnung mehr für sie. Der Wille fehlte ihr.
Wiebke Vogt schwand dahin, wurde jeden Tag dünner und durchsichtiger, besaß kein Licht mehr in den Augen und starb nur drei Wochen später.
Clara war allein. Zweiundzwanzig Jahre lang hatte die Mutter ihre schützende Hand über sie gehalten.
Vorbei.
Nun putzte sie sich nie mehr heraus. Wozu auch? Jede noch so kleinste Freude hatte dieses Haus verlassen. Ihr stumpf gewordenes Haar trug Clara in einem schlichten Nackenknoten.
Es war die Mutter gewesen, die sie jeden Morgen frisiert hatte. Sie hatte einen strengen Mittelscheitel gezogen und die schweren Locken dann in Reih und Glied rechts und links an Claras Schläfen gezähmt. Dies war stets der einzige Moment des Tages, an dem Mutter und Tochter alle Sorgen vergaßen und zufrieden waren, gemeinsam so etwas wie Frieden empfanden.
Vorbei.
Georg Vogt fischte ein Schächtelchen der kostbaren Streichhölzer aus seiner Westentasche und hielt es Clara hin. »Wird's bald?«
Leichter Schwefelgeruch stieg ihr in die Nase. Im nächsten Moment stand eine Wand aus Hitze und Tod vor ihr, und durch das Tosen des Feuers schrie eine helle Kinderstimme um Hilfe.
Woher Clara die Kraft nahm, hätte sie später nicht mehr zu sagen vermocht. Mit einem einzigen Ruck befreite sie sich aus dem Griff des Vaters, wirbelte herum und stürzte aus dem Zimmer. Ihre Füße berührten kaum die Treppenstufen, so schnell flog sie nach unten. Als ahnte sie, dass sie ihr Zuhause zum letzten Mal sah, huschte ihr Blick durch die Kaufmannsdiele mit den reich geschnitzten Säulen, der bemalten Decke und der umlaufenden Galerie. Die große Standuhr hatte ihre gesamte Kindheit und Jugend hindurch zuverlässig die Stunde geschlagen, über die massiven Eichenbohlen waren Reeder, Kaufleute und die Honoratioren der Stadt geschritten.
Vorbei.
Seit langem vorbei.
Die alten Holzstufen der Treppe knarrten laut unter dem Gewicht Georg Vogts.
Clara fuhr zusammen. Der sonst so behäbige und langsame Vater kam ihr nachgelaufen! Schon konnte sie seine Stiefel sehen.
Fort hier. Nur fort.
Doch wohin?
In panischer Angst sah sie sich um. Durch die Vordertür hinaus und direkt auf die Deichstraße? Nein. Womöglich standen Vaters Kumpane vor der Tür.
Clara wirbelte einmal um ihre eigene Achse und stürmte durch eine schmale Tür, die zur Küche führte. Dampfschwaden mit dem süßlichen Duft gekochter Rüben schlugen ihr entgegen.
Friederike stieß einen hellen Schreckensschrei aus.
»Was in Gottes Namen ...«
Mehr hörte Clara nicht. Schon hatte sie die nächste Tür aufgestoßen und hetzte nun durch die Waschküche.
Hinter sich spürte sie die Nähe des Vaters. Wie konnte das sein? Waren ihm auf einmal Flügel gewachsen?
Da! Er griff nach ihr! Packte sie schon an der Schulter! Der Geruch nach Seifenlauge hüllte Clara ein. Blindlings griff sie neben sich, bekam den Bottich mit den eingeweichten Bettlaken zu fassen und zog ihn vom steinernen Waschtisch.
»Verflucht!«
Etwas zerriss. Seifenlauge spritzte hoch. Vogt rutschte aus und schlug lang hin. In der Hand hielt er einen Fetzen von Claras Bluse.
Sie schaute nicht zurück, öffnete mit einem Ruck die Tür, die seitlich am Haus auf eine schmale unbenannte Gasse führte, und lief los. Sieben, acht Schritte, schon war sie an der Ecke zur Deichstraße angelangt. Atemlos lugte Clara um den Fachwerkbalken herum zum Haupteingang. Dort standen sie, vier oder fünf Männer in abgetragenen Gehröcken und schmuddeligen Beinkleidern. Ihre Köpfe wurden von speckigen Mützen bedeckt. Nur einer, offenbar der Anführer, war besser gekleidet. Er trug einen Frack und einen schwarz schimmernden Zylinder. Dieser Mann hob gerade seinen Spazierstock, um gegen die massive Eichentür zu schlagen.
Clara wartete nicht ab, was weiter geschah. Flink schlüpfte sie in die andere Richtung davon. So schnell ihre Beine sie trugen, bahnte sie sich ihren Weg nach Norden, ohne zu wissen, wohin sie wollte.
Nur fort.
Aber sie kam furchtbar langsam voran. Zu Füßen der hohen Fachwerkgiebel schien sich die gesamte Hamburger Altstadt zu tummeln. Wasserträger drängten an Kohlenhändlern vorbei, ein Kutscher fluchte laut vom Bock herunter, weil seine Pferde vor einem bärtigen alten Juden scheuten, der ohne nach rechts oder links zu schauen die Fahrbahn überquerte, und die Hausfrauen, von denen Clara einige kannte, hoben ihre Röcke angesichts des Unrats auf der Straße.
Der Schnee, erst vor wenigen Tagen in weißen stillen Flocken gefallen, wurde unter den Tritten der Fußgänger zur schwärzlichen Suppe. Dieser Winter schien mild zu bleiben. Erst gestern hatte die Mamsell zu Clara gesagt, die Kohle ginge ihnen aus, und sie müssten neue bestellen. Nun, wenn kein Frost mehr kam, konnten sie damit vielleicht noch warten. Seit der Vater ihr vor zwei Wochen erneut das Wirtschaftsgeld gestrichen hatte, wusste Clara nicht mehr ein noch aus. Sie ...
Genug!, rief sie sich selbst zur Ordnung. Der Vogtsche Haushalt sollte ihre Sorge nicht mehr sein.
Vom Nicolaifleet brachte eine schwache Brise den Geruch von brackigem Wasser in die Straße, und wohl niemand außer Clara vermochte darin das ferne Rollen der Nordseewellen zu spüren. Doch sie nahm den Hauch von Salz und Frische wahr, den der mächtige Elbstrom bis ins Fleet spülte.
Während sie nun weiterhastete und dabei mehrmals über die Schulter zurückschaute, dachte Clara an den Mann, der über die sieben Weltmeere segelte, und ihr Herz schmerzte vor Sehnsucht.
»Paul«, flüsterte Clara. »Wo bist du nur?«
© Ullstein TB (Verlag)
»Ich gebe der Mamsell Bescheid, damit sie das Feuer schürt«, murmelte sie und hoffte inständig, dass ihre Stimme unterwürfig genug klang. Wenn der Vater in dieser Stimmung war, betrunken nach einigen Gläsern Bier und Schnaps, zornig, weil wieder einmal eines seiner Geschäfte geplatzt war, dann galt es, ihm aus dem Weg zu gehen, bis er seinen Rausch ausgeschlafen hatte.
Der Schmerz in ihrem Kopf ließ ein wenig nach, zugleich schien ihr Arm anzuschwellen, so fest drückte der Vater zu. Und ihr Magen drehte sich im Brustkorb.
»Die Mamsell bleibt in der Küche. Ich erwarte Gäste zum Mittagessen«, sagte er jetzt.
Verzweifelt suchte Clara einen Ausweg. Im Geiste sah sie helle Flammen hochschießen. Heiß und hungrig sprangen sie aus dem Kamin und leckten an ihrem Rocksaum.
»Gretchen kann ...«
Vogt stieß einen knurrenden Laut aus, der Clara Schlimmes erahnen ließ. »Ich habe Gretchen heute in der Früh entlassen. Sie taugt nichts.«
Herr im Himmel!, dachte sie. Nicht auch noch Gretchen. Die junge, kräftige Vierländerin war ihr eine so wichtige Hilfe gewesen. Einst hatte es im Vogtschen Haushalt eine ganze Schar Dienstboten und Angestellte gegeben. Die Mamsell herrschte über zwei Küchenmädchen, im Kontor arbeiteten bis zu fünf Schreiber, auf den Etagen gab es ein Stubenmädchen, und zweimal in der Woche kamen die Waschfrauen für die große Wäsche.
Damals war Georg Vogt noch ein angesehener Hamburger Kaufmann gewesen, der mit Kaffee, Tee und Gewürzen aus west- und ostindischen Ländern handelte. Das schmucke Bürgerhaus mit der Giebelseite zur Deichstraße und dem Speicher zum Nicolaifleet brummte nur so vor Geschäftigkeit. So lange war das her! Clara konnte sich kaum noch an diese Zeiten erinnern.
Und nun Gretchen. Noch mehr schwere Arbeit kam damit auf Clara zu, dabei stand sie schon jetzt lange vor dem Morgengrauen auf und kam selten zu Bett, bevor die Glocke von Sankt Nicolai Mitternacht geschlagen hatte. Und Mamsell Friederike, die seit mehr als zwanzig Jahren den Vogts die Treue hielt, in guten wie auch in schrecklichen Zeiten, sie würde in absehbarer Zeit gewiss auch fortgehen. Sofern sie nicht vorher schon vom Vater auf die Straße gesetzt wurde, da selbst für den letzten Dienstboten im Haus kein Pfennig mehr übrig war.
Und welche Gäste mochte der Vater schon erwarten?, fragte sich Clara. Vielleicht ein paar seiner Saufkumpane, die seit Wochen das Haus bevölkerten? Oder jene Geschäftsfreunde, mit denen er sich seit einiger Zeit abgab? Clara kannte ein paar von ihnen, und obwohl sie vom Güterhandel nichts verstand, spürte sie, dass es bei den Geschäften dieser Männer nicht immer mit rechten Dingen zuging.
Die Übelkeit nahm zu. In ihren Augenwinkeln sammelten sich Tränen. Rasch senkte sie die Lider. Vater sollte nicht sehen, wie seelenwund sie war.
»Los jetzt! Schür das Feuer!«
Ein Schauder jagte über ihre Haut, und Clara wollte zurückweichen. Zugleich wurde ihr heiß, denn wieder sah sie die Flammen auf sich zuschießen. Ihr Arm jedoch
war noch immer in seinem Klammergriff gefangen.
Es gab kein Entrinnen.
Georg Vogt stieß ein hässliches Lachen aus. »Erschrickt das Fräulein Tochter etwa vor einem klitzekleinen Streichholz? Anstatt froh zu sein, dass man nicht mehr wie zu meiner Zeit Stahl und Feuerstein über einem Zunderkästchen schlagen muss, bis ein Funken den Schwefelfaden entzündet! Ach, die Jugend von heute weiß gar nicht, wie gut sie es hat!«
Hohn troff aus seiner Stimme, und Clara wusste genau, wie diebisch er sich amüsierte. Es bereitete ihm sichtlich Vergnügen, sie mit ihrer Angst vor dem Feuer zu quälen.
Bis zu diesem Moment hatte sie ihren Vater gefürchtet. Vor vielen Jahren hatte sie ihn sogar verzweifelt geliebt, obgleich diese Liebe niemals erwidert wurde. Nun aber empfand sie Hass, und das bestürzte sie - mehr noch als sein Wunsch, sie zu demütigen. Hass war etwas für gemeine Menschen, für niedere Kreaturen, aber gewiss nicht für sie, Clara Vogt, Tochter aus gutem Hause und nach außen hin trotz all der Plackerei eine feine Erscheinung mit sorgfältig gelegten dunklen Locken, die keck unter der Haube hervorlugten, mit eng geschnürter Taille und weitem, in Volants fallendem Rock; mit einem wärmenden Umschlagtuch über dem züchtigen Ausschnitt - und ja, Handschuhen aus feinem Ziegenleder, die ihre rissigen und roten Finger verbargen.
Noch zu Weihnachten hatte sie sich so fein herausgeputzt, und beim Kirchgang war manch bewundernder Blick auf sie gefallen.
Es war das letzte Mal gewesen. An Neujahr hatte sich die Mutter mit einem Husten zu Bett gelegt und war nicht wieder aufgestanden. Clara hatte sie Tag und Nacht gepflegt und ahnte doch, es gab keine Hoffnung mehr für sie. Der Wille fehlte ihr.
Wiebke Vogt schwand dahin, wurde jeden Tag dünner und durchsichtiger, besaß kein Licht mehr in den Augen und starb nur drei Wochen später.
Clara war allein. Zweiundzwanzig Jahre lang hatte die Mutter ihre schützende Hand über sie gehalten.
Vorbei.
Nun putzte sie sich nie mehr heraus. Wozu auch? Jede noch so kleinste Freude hatte dieses Haus verlassen. Ihr stumpf gewordenes Haar trug Clara in einem schlichten Nackenknoten.
Es war die Mutter gewesen, die sie jeden Morgen frisiert hatte. Sie hatte einen strengen Mittelscheitel gezogen und die schweren Locken dann in Reih und Glied rechts und links an Claras Schläfen gezähmt. Dies war stets der einzige Moment des Tages, an dem Mutter und Tochter alle Sorgen vergaßen und zufrieden waren, gemeinsam so etwas wie Frieden empfanden.
Vorbei.
Georg Vogt fischte ein Schächtelchen der kostbaren Streichhölzer aus seiner Westentasche und hielt es Clara hin. »Wird's bald?«
Leichter Schwefelgeruch stieg ihr in die Nase. Im nächsten Moment stand eine Wand aus Hitze und Tod vor ihr, und durch das Tosen des Feuers schrie eine helle Kinderstimme um Hilfe.
Woher Clara die Kraft nahm, hätte sie später nicht mehr zu sagen vermocht. Mit einem einzigen Ruck befreite sie sich aus dem Griff des Vaters, wirbelte herum und stürzte aus dem Zimmer. Ihre Füße berührten kaum die Treppenstufen, so schnell flog sie nach unten. Als ahnte sie, dass sie ihr Zuhause zum letzten Mal sah, huschte ihr Blick durch die Kaufmannsdiele mit den reich geschnitzten Säulen, der bemalten Decke und der umlaufenden Galerie. Die große Standuhr hatte ihre gesamte Kindheit und Jugend hindurch zuverlässig die Stunde geschlagen, über die massiven Eichenbohlen waren Reeder, Kaufleute und die Honoratioren der Stadt geschritten.
Vorbei.
Seit langem vorbei.
Die alten Holzstufen der Treppe knarrten laut unter dem Gewicht Georg Vogts.
Clara fuhr zusammen. Der sonst so behäbige und langsame Vater kam ihr nachgelaufen! Schon konnte sie seine Stiefel sehen.
Fort hier. Nur fort.
Doch wohin?
In panischer Angst sah sie sich um. Durch die Vordertür hinaus und direkt auf die Deichstraße? Nein. Womöglich standen Vaters Kumpane vor der Tür.
Clara wirbelte einmal um ihre eigene Achse und stürmte durch eine schmale Tür, die zur Küche führte. Dampfschwaden mit dem süßlichen Duft gekochter Rüben schlugen ihr entgegen.
Friederike stieß einen hellen Schreckensschrei aus.
»Was in Gottes Namen ...«
Mehr hörte Clara nicht. Schon hatte sie die nächste Tür aufgestoßen und hetzte nun durch die Waschküche.
Hinter sich spürte sie die Nähe des Vaters. Wie konnte das sein? Waren ihm auf einmal Flügel gewachsen?
Da! Er griff nach ihr! Packte sie schon an der Schulter! Der Geruch nach Seifenlauge hüllte Clara ein. Blindlings griff sie neben sich, bekam den Bottich mit den eingeweichten Bettlaken zu fassen und zog ihn vom steinernen Waschtisch.
»Verflucht!«
Etwas zerriss. Seifenlauge spritzte hoch. Vogt rutschte aus und schlug lang hin. In der Hand hielt er einen Fetzen von Claras Bluse.
Sie schaute nicht zurück, öffnete mit einem Ruck die Tür, die seitlich am Haus auf eine schmale unbenannte Gasse führte, und lief los. Sieben, acht Schritte, schon war sie an der Ecke zur Deichstraße angelangt. Atemlos lugte Clara um den Fachwerkbalken herum zum Haupteingang. Dort standen sie, vier oder fünf Männer in abgetragenen Gehröcken und schmuddeligen Beinkleidern. Ihre Köpfe wurden von speckigen Mützen bedeckt. Nur einer, offenbar der Anführer, war besser gekleidet. Er trug einen Frack und einen schwarz schimmernden Zylinder. Dieser Mann hob gerade seinen Spazierstock, um gegen die massive Eichentür zu schlagen.
Clara wartete nicht ab, was weiter geschah. Flink schlüpfte sie in die andere Richtung davon. So schnell ihre Beine sie trugen, bahnte sie sich ihren Weg nach Norden, ohne zu wissen, wohin sie wollte.
Nur fort.
Aber sie kam furchtbar langsam voran. Zu Füßen der hohen Fachwerkgiebel schien sich die gesamte Hamburger Altstadt zu tummeln. Wasserträger drängten an Kohlenhändlern vorbei, ein Kutscher fluchte laut vom Bock herunter, weil seine Pferde vor einem bärtigen alten Juden scheuten, der ohne nach rechts oder links zu schauen die Fahrbahn überquerte, und die Hausfrauen, von denen Clara einige kannte, hoben ihre Röcke angesichts des Unrats auf der Straße.
Der Schnee, erst vor wenigen Tagen in weißen stillen Flocken gefallen, wurde unter den Tritten der Fußgänger zur schwärzlichen Suppe. Dieser Winter schien mild zu bleiben. Erst gestern hatte die Mamsell zu Clara gesagt, die Kohle ginge ihnen aus, und sie müssten neue bestellen. Nun, wenn kein Frost mehr kam, konnten sie damit vielleicht noch warten. Seit der Vater ihr vor zwei Wochen erneut das Wirtschaftsgeld gestrichen hatte, wusste Clara nicht mehr ein noch aus. Sie ...
Genug!, rief sie sich selbst zur Ordnung. Der Vogtsche Haushalt sollte ihre Sorge nicht mehr sein.
Vom Nicolaifleet brachte eine schwache Brise den Geruch von brackigem Wasser in die Straße, und wohl niemand außer Clara vermochte darin das ferne Rollen der Nordseewellen zu spüren. Doch sie nahm den Hauch von Salz und Frische wahr, den der mächtige Elbstrom bis ins Fleet spülte.
Während sie nun weiterhastete und dabei mehrmals über die Schulter zurückschaute, dachte Clara an den Mann, der über die sieben Weltmeere segelte, und ihr Herz schmerzte vor Sehnsucht.
»Paul«, flüsterte Clara. »Wo bist du nur?«
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Autoren-Porträt von Brigitte Janson
Janson, BrigitteBrigitte Janson heißt eigentlich Brigitte Kanitz und stammt ursprünglich aus Lübeck. Viele Jahre war Hamburg ihre Wahlheimat, wo sie als Journalistin arbeitete. Heute lebt sie als freie Autorin in den italienischen Marken.
Bibliographische Angaben
- Autor: Brigitte Janson
- 2012, 448 Seiten, Maße: 11,5 x 18 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548284310
- ISBN-13: 9783548284316
- Erscheinungsdatum: 16.04.2012
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