Der vierzehnte Stein / Kommissar Adamsberg Bd.6
Kommissar Adamsberg ist ein Schweiger, ein Träumer - der kühle Beobachter mit den frappierenden Lösungen. Doch nun gerät er selbst unter Mordverdacht: Bei dem Versuch, einen 30 Jahre zurückliegenden Fall zu klären, in den sein verschollener Bruder...
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Kommissar Adamsberg ist ein Schweiger, ein Träumer - der kühle Beobachter mit den frappierenden Lösungen. Doch nun gerät er selbst unter Mordverdacht: Bei dem Versuch, einen 30 Jahre zurückliegenden Fall zu klären, in den sein verschollener Bruder verwickelt war, wird er über Nacht vom Jäger zum Gejagten.
Der vierzehnte Stein von Fred Vargas
LESEPROBE
1
An dieschwarze Kellerwand gelehnt, betrachtete Jean-Baptiste Adamsberg den gewaltigenHeizkessel, der zwei Tage zuvor jede Tätigkeit eingestellt hatte. An einemSamstag, 4. Oktober, während die Außentemperatur auf ungefähr ein Grad gesunkenwar und ein steifer Wind von der Arktis her wehte. Laienhaft begutachtete derKommissar den Brenner und die nun stillen Rohrleitungen, in der Hoffnung, seinfreundlicher Blick könnte der Anlage neue Kraft einflößen oder aber den Fachmannauftauchen lassen, der kommen sollte und nicht kam.
Dabei warer weder besonders kälteempfindlich, noch war ihm die Situation unangenehm. ImGegenteil, die Vorstellung, der Nordwind käme ohne Aufenthalt oder Umweg vomPackeis geradewegs in die Straßen des Pariser 13. Arrondissements, gab ihm dasGefühl, er könnte mit einem einzigen Schritt in jene eisigen Weiten gelangen,dort umherstapfen und sich ein Loch für die Robbenjagd aufhacken. Er hatte sichnoch eine Strickweste unter seine schwarze Jacke gezogen, und wenn es nach ihmgegangen wäre, hätte er hier in aller Ruhe die Ankunft des Monteurs abgewartetund auf das Auftauchen der Robbenschnauze gelauert.
Aber diemächtige Maschine im Kellergeschoß trug nun einmal auf ihre Weise zurAufklärung der Fälle bei, die zu jeder Tageszeit auf die Brigade criminelle zukamen, indem sie die Körper der vierunddreißigRadiatoren und der achtundzwanzig Bullen im Gebäude wärmte. Kältestarre Körper,die derzeit in Anoraks verschwunden waren, sich um den Kaffeeautomaten drängtenund ihre behandschuhten Finger an die weißen Becher drückten. Oder sich gleichdavonmachten in die umliegenden Bars. Damit aber erstarrten auch die Akten.Hochwichtige Akten, blutige Verbrechen. Die den gewaltigen Heizkessel indesnicht interessierten. Wie ein fürstlicher Tyrann wartete er darauf, daß ein Mann der Zunft sich aufmachen und sich ihm zu Füßenlegen möge. Als Zeichen seines guten Willens war Adamsberg schließlichhinuntergegangen, um ihm seine kurze und überflüssige Aufwartung zu machen,aber vor allem auch, um dem Lamentieren seiner Männer zu entfliehen und einwenig Dunkel und Stille zu finden.
DiesesGejammer, während sich in den Räumen doch immerhin noch eine Temperatur vonzehn Grad hielt, war ein schlechtes Vorzeichen für den DNA-Lehrgang in Quebec,wo sich ein rauher Herbst ankündigte - minus vierGrad gestern in Ottawa und hier und da bereits Schnee. Zwei Wochen, in denen esum genetische Fingerabdrücke gehen würde, um Speichel, Blut, Schweiß, Tränen,Urin und andere Absonderungen, die heutzutage elektronisch erfaßt,geordnet und analysiert werden konnten, alle menschlichen Säfte, die zumregelrechten Kriegsgerät der Kriminalwissenschaft geworden waren. Eine Wochevor der Abreise hatten Adamsbergs Gedanken bereits abgehoben in Richtungkanadische Wälder, jene unermeßlich weiten, wie eshieß, die durchlöchert waren von Tausenden von Seen. Sein Stellvertreter Danglard hatte ihn grollend daran erinnert, daß sie wohl eher auf Bildschirme starren würden und in garkeinem Fall auf die Oberfläche von Seen. Seit einem Jahr grollte Capitaine Danglard nun schon.Adamsberg wußte, warum, und wartete geduldig darauf, daß dieses Knurren sich legte.
Danglarddachte nicht über Seen nach, sondern betete jeden Tag, daßein heißer Fall die gesamte Brigade hier festnageln möge. Seit einem Monatquälte ihn der Gedanke an sein baldiges Ableben bei einer Explosion derMaschine über dem Atlantik. Seitdem allerdings der Fachmann, der kommen sollte,nicht kam, wurde seine Stimmung merklich besser. Er setzte auf diesenunerwarteten Ausfall des Heizkessels und hoffte, der Kälteeinbruch würde dieabsurden Phantasien entkräften, die die eisigen Weiten Kanadas in den Köpfenseiner Kollegen erzeugten.
Adamsberglegte seine Hand auf die Brennerklappe der Anlage und lächelte. Wäre Danglard imstande, den Heizkessel zu manipulieren, weil erdie demobilisierende Wirkung einer solchen Aktion voraussah? Und die Ankunftdes Monteurs zu verzögern? Ja, zu so etwas war Danglardimstande. Seine bewegliche Intelligenz glitt in jedes noch so feine Räderwerkdes menschlichen Geistes: vorausgesetzt natürlich, daßes auf Vernunft und Logik beruhte. Und genau hier, auf dem schmalen Gratzwischen Vernunft und Instinkt, waren Adamsberg und sein Stellvertreter mit denJahren zu absoluten Gegensätzen geworden.
DerKommissar stieg die Wendeltreppe wieder hinauf und durchquerte den großen Saalim Erdgeschoß, wo sich seine Männer schwerfällig, weil angedickt mit der Lastihrer Schals und Pullover, wie in Zeitlupe hin und her bewegten. Ohne jedenerkennbaren Grund nannte man diesen Raum den Konzilsaal, sicherlich, dachteAdamsberg, weil hier die gemeinsamen Versammlungen stattfanden,Schlichtungsgespräche oder auch Verschwörungssitzungen, je nachdem. Ebensonannte man den angrenzenden Raum den Kapitelsaal, er war viel kleiner, und hierversammelte sich der engere Kreis der Mitarbeiter. Wer sich diese Namenausgedacht hatte, wußte Adamsberg nicht.Wahrscheinlich Danglard, dessen Bildung ihm mituntergrenzenlos, ja beinahe toxisch erschien. Der Capitainewurde von heftigen Wissensausbrüchen heimgesucht, die so häufig wieunkontrollierbar über ihn kamen, etwa wie ein Pferd, das sich in schnaubenderErregung schüttelt. Ein schwacher Anreiz genügte - ein selten verwendetes Wort,ein verschwommener Begriff -, und schon setzte sich bei ihm ein gelehrterMechanismus in Gang, der nicht unbedingt immer sehr angebracht war, sich jedochmit einer Handbewegung unterbrechen ließ.
Mit einerverneinenden Geste bedeutete Adamsberg den Gesichtern, die sich ihm auf seinemWeg zuwandten, daß der Heizkessel noch immer keinLebenszeichen von sich gab. Er erreichte das Büro von Danglard,der mit düsterer Miene die dringendsten Berichte zu Ende schrieb, für denverheerenden Fall, daß er mit nach Labrador mußte. Allerdings würde er dort ja ohnehin nie ankommenwegen dieser Explosion über dem Atlantik infolge eines Brandes im linkenTriebwerk, ausgelöst durch einen Schwarm Stare, der in die Turbine geraten war.Und das war eine Aussicht, die ihn seiner Meinung nach vollauf berechtigte,eine Flasche Weißwein schon vor sechs Uhr abends zu öffnen.
Adamsbergsetzte sich auf eine Ecke des Tisches.
»Wie weit, Danglard, sind wir mit dem Fall Hernoncourt?«
»So gut wieabgeschlossen. Der alte Baron hat ein Geständnis abgelegt. Vollständig undklar.«
»Zu klar«,sagte Adamsberg, indem er den Bericht zurückschob und sich die Zeitung griff,die sauber gefaltet auf dem Tisch lag. »Da haben wir ein Abendessen im Kreiseder Familie, das in einem Gemetzel endet, und wir haben einen zögerlichen altenMann, der sich in seinen Worten verstrickt. Plötzlich aber entschließt er sichzur Klarheit, ohne jeden Übergang, ohne Helldunkel. Nein, Danglard,das unterschreiben wir nicht.«
Adamsbergschlug geräuschvoll eine Seite der Zeitung um.
»Und dassoll heißen?« fragte Danglard.
»Daß wir noch mal von vorn beginnen. Der Baron führt unsdoch an der Nase herum. Er deckt jemanden, und sehr wahrscheinlich seineTochter.«
»Und dieTochter würde ihren Vater ans Messer liefern?«
Adamsbergblätterte eine nächste Seite der Zeitung um. Danglardmochte es nicht, wenn der Kommissar seine Zeitung las. Er gab sie ihm stetszerknittert und in Einzelteilen zurück, man brauchte dann gar nicht erst zuversuchen, das Papier wieder in seine gefaltete Form zu bringen
»Hat manschon erlebt«, antwortete Adamsberg. »Aristokratische Traditionen und vor allemein mildes Urteil für einen schwachen alten Mann. Ich sage Ihnen nochmals, dagibts nichts Zwielichtiges, und so was ist nicht vorstellbar. DieserSinneswandel kommt viel zu plötzlich, das Leben kennt keine so sauberen Brüche.Also ist irgend etwas faul daran.«
Danglardwar müde, er verspürte plötzlich eine heftige Lust, sich den Bericht zuschnappen und alles hinzuschmeißen. Auch die Zeitung an sich zu reißen, dieAdamsberg in seinen Händen achtlos auseinandernahm.Ob wahr oder falsch, er würde in jedem Fall gezwungen sein, das verdammteGeständnis des Barons noch einmal zu überprüfen, nur weil der Kommissarirgendeine schwammige Eingebung hatte. In den Augen Danglardsglichen diese Eingebungen einer primitiven Rasse wurmartiger Weichtiere ohneFüße noch Flossen, ohne Unter- noch Oberseite, deren durchsichtige Körper unterder Wasseroberfläche trieben, und sie reizten den präzisen, scharfen Verstanddes Capitaine, ja sie widerten ihn regelrecht an. Erwäre auch deshalb gezwungen, noch einmal alles zu überprüfen, weil dieseweichtierartigen Eingebungen sich nur allzu häufig als richtig erwiesen, dankwer weiß welchem Adamsbergschen Vorauswissen, das derraffiniertesten Logik trotzte. Ein Vorauswissen, dasden Kommissar von Erfolg zu Erfolg schließlich bis auf diese Tischkante geführthatte, auf diesen Posten als ungebührlicher, versonnenerChef der Mordbrigade des 13. Arrondissements. Ein Vorauswissen, das Adamsbergselbst indes leugnete und ganz einfach die Leute, das Leben nannte.
»Hätten Siedas nicht früher sagen können?« meinte Danglard. »Bevor ich den ganzen Bericht hier geschriebenhabe?«
»Ich binerst heute nacht darauf gekommen«, entgegneteAdamsberg und schlug plötzlich die Zeitung zu. »Beim Gedanken an Rembrandt.«
Er faltetedie Zeitung hastig zusammen, aus der Fassung gebracht von einem heftigenUnwohlsein, das ihn mit einer Wucht befiel, als würde ihm eine Katze mitausgefahrenen Krallen in den Rücken springen. Ein Schlag, ein Gefühl derBeklemmung, Schweiß im Nacken, trotz der Kälte im Büro. Sicher war es gleichvorbei, ganz bestimmt, es ging ja schon wieder.
»In demFall«, fuhr Danglard fort und sammelte seinen Berichtein, »werden wir wohl hierbleiben müssen, um unsdamit zu befassen. Oder sehen Sie eine andere Möglichkeit?«
»Mordent wird den Fall übernehmen, wenn wir weg sind, erwird das sehr gut machen. Wie weit sind wir denn mit Quebec?«
»DerPräfekt erwartet morgen um vierzehn Uhr unsere Antwort«, entgegnete Danglard und runzelte besorgt die Stirn.
»Sehr gut.Setzen sie eine Versammlung der acht Mitglieder des Lehrgangs an, um halb elfim Kapitelsaal. Danglard«, fuhr er nach einer Pausefort, »Sie müssen nicht unbedingt mitkommen.«
»Ach nein?Der Präfekt höchstpersönlich hat die Teilnehmerliste aufgestellt. Und ich stehganz obenauf.«
In diesemAugenblick wirkte Danglard nicht gerade wie eines derherausragendsten Mitglieder der Brigade. Angst undKälte hatten ihm seine gewohnte Würde genommen. Häßlichund von der Natur wenig begünstigt - wie er meinte -, setzte Danglard auf makellose Eleganz, die seine unbestimmten Zügeund die hängenden Schultern ausgleichen und seinem langen, weichen Körper einwenig englischen Charme verleihen sollte. Heute aber, mit seinem verdrossenenGesicht, der Felljacke, in die er sich gezwängt hatte, und einer Matrosenmützeauf dem Schädel, konnte er jegliches Bemühen um Stil als gescheitert ansehen.Um so mehr, als die Mütze, die wohl einem seiner fünf Kinder gehörte, auch nochvon einer Bommel gekrönt war, die Danglard zwar, sogut es ging, abgeschnitten hatte, deren roter Stummel aber lächerlicherweisesichtbar geblieben war.
»Wirkönnten immer noch eine Grippe vorschieben, wegen des defekten Heizkessels«,schlug Adamsberg vor.
Danglardhauchte in seine Handschuhe.
»Ich sollin weniger als zwei Monaten zum Commandantaufsteigen«, brummte er, »und ich kanns mir nicht leisten, diese Beförderungzu verpassen. Ich habe fünf Kinder zu ernähren.«
»Zeigen Siemir mal die Karte von Quebec. Zeigen Sie mir, wohin wir fahren.«
»Habe ichIhnen doch schon erzählt«, antwortete Danglard undfaltete eine Karte auseinander. »Hier«, sagte er, indem er auf einen Fleck zweiMeilen vor Ottawa tippte. »In ein Kaff am Arsch der Welt namens Hull-Gatineau, wo die GRC einen Teil der NationalenGen-Datenbank untergebracht hat.«
»Die GRC?«
»Habe ichIhnen doch schon erzählt«, wiederholte Danglard. »DieGendarmerie Royale du Canada. Polizei in rotenStiefeln und roter Uniform wie zu der guten alten Zeit, als die Irokesen noch die Gesetze machten an den Ufern des Sankt-Lorenz-Stroms.«
»In roterUniform? Laufen die immer noch so rum?«
»Nur fürdie Touristen. Wenn Sies nicht erwarten können, dahin zu reisen, wäre esvielleicht ganz gut zu wissen, wohin Sie Ihren Fuß setzen.«
Adamsberglächelte übers ganze Gesicht, und Danglard senkte denKopf. Er mochte es nicht, daß Adamsberg so lächelte,wenn er selbst sich entschieden hatte zu grollen. Weil, so sagte man imGerüchtezimmer, das heißt in dem Winkel, wo die Imbiß-und Getränkeautomaten standen, Adamsbergs Lächeln Widerstände weich werden undPolareis schmelzen ließ. Und auch Danglard reagiertedarauf wie ein junges Mädchen, was ihm mit seinen über fünfzig Jahren ziemlichgegen den Strich ging.
»Immerhinweiß ich, daß diese GRC am Ottawa-Strom liegt«,stellte Adamsberg fest. »Und daß es dort Wildgänsegibt.«
Danglardtrank einen Schluck Weißwein und lächelte dünn.
»Ringelgänse«,präzisierte er. »Und der Ottawa River ist kein Strom, sondern ein Fluß. Er ist zwar zwölfmal längerals die Seine, aber trotzdem ein Fluß. Der in den Sankt-Lorenz-Strom mündet.«
»Gut, ein Fluß also, wenn Sie darauf bestehen. Sie wissen zuvieldarüber, um noch auszusteigen, Danglard. Sie hängendoch längst mit drin und werden mitfahren. Nur zu meiner Beruhigung: Sagen Siemir, daß nicht Sie es waren, der in der Nacht denHeizkessel niedergemacht und den Monteur, der kommen sollte und nicht kommt,auf seinem Weg hierher umgebracht hat.«
Danglardsah beleidigt auf.
»Warumsollte ich?«
»Um unsereKräfte lahmzulegen und unsere Lust auf Abenteuereinzufrieren.«
»Sabotage?Wissen Sie, was Sie da sagen?«
»Einekleine, harmlose Sabotage. Besser ein defekter Heizkessel als eineexplodierende Boeing. Denn das ist doch der wahre Grund Ihrer Verweigerung?Nicht wahr, Capitaine?«
Da schlug Danglard plötzlich mit der Faust auf den Tisch, daß Wein auf die Berichte spritzte. Adamsberg schrecktehoch. Danglard konnte grollen, brummen oder still vorsich hin schmollen, alles maßvolle Formen, um, wenn nötig, sein Mißfallen auszudrücken, aber in erster Linie war er einkultivierter, höflicher Mensch mit einer ebenso unerschöpflichen wie taktvollenGüte. Außer, wenn es um ein bestimmtes Thema ging, und Adamsberg machte sichsteif.
»Meinwahrer Grund?« sagte Danglardkühl, die geballte Faust noch immer auf dem Tisch. »Was schert Sie mein wahrerGrund? Ich leite doch diese Brigade nicht, und ich schick uns auch nicht los,um die Blödmänner zu spielen im Schnee. Scheiße.«
Adamsbergschüttelte den Kopf. In den vielen Jahren war es das erste Mal, daß Danglard ihm direkt insGesicht Scheiße sagte. Na schön. So etwas traf ihn nicht, aufgrund seinereinzigartigen Fähigkeit zur Gelassenheit und Sanftmut, die von einigenGleichgültigkeit und Desinteresse genannt wurde und all jene zum Wahnsinntrieb, die versuchten, listig in diesen Nebel einzudringen.
»Icherinnere Sie daran, Danglard, daßes sich um ein ganz seltenes Angebot zur Zusammenarbeit handelt und um einesder leistungsfähigsten Systeme, die es zur Zeit gibt.Die Kanadier sind auf diesem Gebiet absolut spitze. Wenn wir absagen würden,stünden wir wie die Blödmänner da.«
»Quatsch!Erzählen Sie mir doch nicht, Ihr Berufsethos würde Ihnen vorschreiben, uns indieser Arschkälte anöden zu lassen.«
»Doch, ganzgenau.«
Danglard leertesein Glas in einem Zug und sah Adamsberg mit vorgestrecktem Kinn ins Gesicht.
»Was sonst,Danglard?« fragte Adamsbergruhig.
»IhrGrund«, knurrte er. »Ihr wahrer Grund. Wenn Sie mal davon reden würden, anstattmir Sabotage zu unterstellen. Wenn Sie mal von Ihrer eigenen Sabotage redenwürden?«
Na endlich,dachte Adamsberg. Da hätten wirs.
Danglardstand ruckartig auf, öffnete seine Schublade, holte die Flasche Weißwein herausund goß sein Glas voll. Dann lief er durchs Zimmer.Adamsberg verschränkte die Arme und wartete, daß dasGewitter losbrach. Wenn er in dieser Wut- und Weinphase war, war es nichtangebracht, irgend etwas zu entgegnen. Eine Wut, diesich mit einem Jahr Verspätung schließlich entlud.
»Nur zu, Danglard, wenn Sie darauf bestehen.«
»Camille.Camille ist in Montreal, und Sie wissen es. Darum und aus keinem anderen Grundstecken Sie uns in diese verdammte Höllenboeing.«
»Das alsoist es.«
»Ja,genau.«
»Und ebendas geht Sie nichts an, Capitaine.«
»Nein?« schrie Danglard. »Vor einemJahr hat Camille sich davongemacht, ist aus Ihrem Leben verschwunden durch einsdieser vertrackten Abtauchmanöver, deren Geheimnis nur Sie kennen. Und werwollte sie unbedingt wiedersehen? Wer? Sie? Oderich?«
»Ich.«
»Und werhat ihre Spur verfolgt? Sie wiedergefunden, ausfindiggemacht? Wer hat Ihnen ihre Adresse in Lissabon beschafft? Sie? Oder ich?«
Adamsbergstand auf und schloß die Tür des Büros. Danglard hatte Camille immer verehrt, ihr geholfen und siebehütet wie einen Kunstgegenstand. Daran war nicht zu rütteln. Und dieserBeschützereifer vertrug sich sehr schlecht mit Adamsbergs chaotischem Leben.
»Sie«,antwortete er gelassen.
»Richtig.Also geht es mich etwas an.«
»Leiser, Danglard. Ich höre Sie sehr gut, Sie müssen nicht schreien.«
Diesmalschien der besondere Klang von Adamsbergs Stimme seine Wirkung zu tun. Wie einHeilmittel wanden sich die Schwingungen der Kommissarsstimme um den Gegner undlösten eine Ruhe oder auch ein Gefühl des inneren Friedens, der Heiterkeit undFreude oder auch völlige Unempfindlichkeit in ihm aus. LieutenantVoisenet, von Beruf Chemiker, war im Gerüchtezimmeroft auf dieses Rätsel zu sprechen gekommen, aber niemand hatte jeherausgefunden, welches lindernde Mittel denn nun wirklich Adamsbergs Stimmebeigemischt worden war. Thymian? Gelée royale? Wachs? Eine Mischung von alledem? Danglard senkte den Ton.
»Und wer«,fuhr er leiser fort, »ist nach Lissabon gerannt, sie zu sehen, und hat dieganze Geschichte in weniger als drei Tagen wieder kaputtgekriegt?«
»Ich.«
»Sie. Eineeinzige Sinnlosigkeit, nicht mehr und nicht weniger.«
»Die Sienichts angeht.«
Adamsbergstand auf, spreizte die Finger und ließ den Becher senkrecht in den Papierkorbfallen, genau in die Mitte. So wie einer schießt, wie er zielt. Er verließ dasZimmer mit gleichmäßigen Schritten, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Danglard preßte die Lippen aufeinander. Er wußte,daß er die Grenze überschritten und auf verbotenemTerrain angegriffen hatte. Aber unter dem Druck des Unmuts, den er nun seitMonaten mit sich herumtrug, und gereizt durch die Sache mit Quebec, hatte ersich nicht mehr beherrschen können. Er rieb sich mit seinen rauhenWollhandschuhen über die Wangen und dachte unschlüssig nach über diese Monate lastenden Schweigens, der Lüge, vielleicht sogar des Verrats.Es war gut so, oder auch schlecht. Durch seine Finger hindurch fiel sein Blickauf die auf dem Tisch ausgebreitete Karte von Quebec. Wozu sich überhaupt dasLeben schwer machen? In einer Woche wäre er tot, und Adamsberg auch. Stare, vonder Turbine geschluckt, linkes Triebwerk in Brand, Explosion überm Atlantik. Erhob die Flasche und trank einen großen Schluck. Dann nahm er den Telefonhörerab und wählte die Nummer des Monteurs.
© AufbauVerlag
Übersetzung:Julia Schoch
Fred Vargas, geboren 1957 und von Haus aus Archäologin. Sie ist heute die bedeutendste französische Kriminalautorin und eine Schriftstellerin von Weltrang, übersetzt in 40 Sprachen. Sie erhielt für "Fliehe weit und schnell" den Deutschen Krimipreis, für ihr Gesamtwerk wurde sie mit dem Europäischen Krimipreis ausgezeichnet.
Bei Aufbau liegen in Übersetzung vor:
Die schöne Diva von Saint-Jacques, Der untröstliche Witwer von Montparnasse, Es geht noch ein Zug von der Gare du Nord, Bei Einbruch der Nacht, Das Orakel von Port-Nicolas, Im Schatten des Palazzo Farnese, Fliehe weit und schnell, Der vierzehnte Stein, Vom Sinn des Lebens, der Liebe und dem Aufräumen von Schränken, Die dritte Jungfrau, Die schwarzen Wasser der Seine, Das Zeichen des Widders, Der verbotene Ort, Die Tote im Pelzmantel, Von der Liebe, linken Händen und der Angst vor leeren Einkaufskörben Schoch, Julia
Julia Schoch, Jahrgang 1974, studierte Literatur und lebt als Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam. Sie übersetzte u. a. Fred Vargas und Georges Hyvernaud und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Preis der Jury beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2005 und den André-Gide-Preis 2010. Zuletzt erschien ihr Roman Schöne Seelen und Komplizen.
- Autor: Fred Vargas
- 2006, 9. Aufl., 479 Seiten, Maße: 11,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Julia Schoch
- Verlag: Aufbau TB
- ISBN-10: 3746622751
- ISBN-13: 9783746622750
- Erscheinungsdatum: 21.09.2006
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