Der Weihnachtsverdacht
Roman
Lucien ist in der Dunkelheit der Londoner Unterwelt verschwunden und seit Monaten nicht mehr gesehen worden. Man munkelt, dass er seiner verruchten Geliebten, der schönen Sadie, ins Verderben gefolgt sei.
Auf Bitten seines Vaters macht sich der Arzt...
Auf Bitten seines Vaters macht sich der Arzt...
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Produktinformationen zu „Der Weihnachtsverdacht “
Lucien ist in der Dunkelheit der Londoner Unterwelt verschwunden und seit Monaten nicht mehr gesehen worden. Man munkelt, dass er seiner verruchten Geliebten, der schönen Sadie, ins Verderben gefolgt sei.
Auf Bitten seines Vaters macht sich der Arzt Henry Rathbone auf, den verlorenen Sohn zurückzuholen. Doch als Henry in die Londoner Abgründe eindringt, findet er sich schon bald inmitten einer gefährlichen Verschwörung wieder.
Auf Bitten seines Vaters macht sich der Arzt Henry Rathbone auf, den verlorenen Sohn zurückzuholen. Doch als Henry in die Londoner Abgründe eindringt, findet er sich schon bald inmitten einer gefährlichen Verschwörung wieder.
Klappentext zu „Der Weihnachtsverdacht “
Lucien ist in der Dunkelheit der Londoner Unterwelt verschwunden und seit Monaten nicht mehr gesehen worden. Man munkelt, dass er seiner verruchten Geliebten, der schönen Sadie, ins Verderben gefolgt sei. Auf Bitten seines Vaters macht sich der Arzt Henry Rathbone auf, den verlorenen Sohn zurückzuholen. Doch als Henry in die Londoner Abgründe eindringt, findet er sich schon bald inmitten einer gefährlichen Verschwörung wieder.
Lese-Probe zu „Der Weihnachtsverdacht “
Der Weihnachtsverdacht von Anne Perry... mehr
Henry Rathbone beugte sich ein wenig weiter in seinem Sessel vor und blickte seinen Besucher ernst an. James Wentworth sah müde und erschöpft aus, und er wirkte älter als seine sechzig Jahre. So wie er die Hände auf seinen Knien zur Faust ballte und wieder öffnete, schien er sehr unruhig, ja fast verzweifelt zu sein.
»Wie kann ich dir helfen?«, fragte Henry ihn sanft.
»Vielleicht gar nicht«, antwortete Wentworth. Die Holzscheite im Kamin brachen ein, und Funken sprühten hoch, während er das sagte. Der Abend war bitterkalt. Noch dreizehn Tage bis Weihnachten. Draußen heulte der eisige Wind im Gebälk seines schönen Hauses in Primrose Hill. Die Riesenstadt London bereitete sich mit Weihnachtsliedern, Feierlichkeiten und dem Klang der Kirchenglocken auf die Festtage vor. Lange war es nicht mehr hin.
»Du sagst selbst >vielleicht<«, entgegnete Henry prompt. »Vielleicht gibt es also doch etwas, was ich tun könnte. Lass es uns wenigstens versuchen.« Er lächelte ihn an. »Jetzt ist die Zeit der Hoffnung - manche glauben sogar, es sei die der Wunder.«
»Glaubst du etwa daran?«, fragte ihn Wentworth. »Könntest du ein Wunder für mich vollbringen?«
Henry bemerkte die tiefe Trauer im Gesicht des Freundes. Sie hatten sich über ein Jahr lang nicht gesehen und es kam Henry vor, als sei Wentworth in dieser Zeit um Jahre gealtert. Er war kaum noch wiederzuerkennen.
»Natürlich will ich es versuchen. Allerdings, Wunder kann ich nicht versprechen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich an so etwas glaube.«
»Immer geradeheraus und ehrlich«, sagte Wentworth leicht spöttisch. »Das liegt wohl daran, dass ich Mathematiker bin«, antwortete Henry. »So bin ich nun mal. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass es noch mehr zu entdecken und zu verstehen gibt, als all die vielen Dinge, die wir bereits erkannt haben. Wir sind bisher kaum in das Reich des Wissens vorgedrungen, das noch unerforscht ist.«
Wentworth nickte. »Ich glaube, dein Versprechen genügt mir. Erinnerst du dich an meinen Sohn Lucien?«
»Natürlich.« Henry erinnerte sich lebhaft an ihn: ein gut aussehender junger Mann mit ungewöhnlichem Charme. Ja mehr noch, er steckte voller Energie, voller Lebenslust und hatte diesen unstillbaren Lebenshunger, der andere Menschen mitriss und längst vergessene Träume wiederbelebte.
Aus seinen Augen sprach erneut tiefer Schmerz, und er blickte zu Boden, als wollte er etwas verbergen und sich nicht völlig offenbaren.
»Ungefähr vor einem Jahr fing er an, gewisse Plätze im West End zu besuchen, wo die Vergnügungen noch ... wilder, noch maßloser sind als man es sonst kennt. Dort traf er eine junge Dame, von der er sogleich besessen war. Er spielte, er trank exzessiv, er gab sich verschiedener Laster hin, an die er zuvor nicht einmal gedacht hatte. In dem, was er tat, steckte mehr Gewalt und Grausamkeit, als der normale Hang zu Dummheiten bei einem jungen Mann oder mehr als der Leichtsinn derer, die nicht an die Folgen ihrer Handlungen denken.«
Er hielt inne, aber Henry schwieg. Das Feuer brannte nur noch schwach. Henry nahm zwei Holzscheite aus dem Korb, legte sie auf die Glut und stocherte mit dem Schürharken darin herum, bis die Flammen wieder loderten.
»Und jetzt ist er verschwunden. Ich habe selbst versucht, ihn zu finden«, fuhr Wentworth fort. »Aber er hat sich entzogen, taucht immer tiefer in diese dunkle Welt ein. Ich ... ich war zunächst wütend. Es ist eine solche Verschwendung seines Talents und seiner Möglichkeiten. Anfangs, als es nur um zügellosen Alkoholgenuss und Spielen ging, habe ich ihm vergeben. Ich bezahlte seine Schulden und rettete ihn sogar vor der Justiz. Aber dann wurde es immer schlimmer. Er wurde gewalttätig. Hätte ich ihm weiter beigestanden, hätte er womöglich geglaubt, dass sein Lebenswandel keine Konsequenzen hat, oder dass seine Selbstzerstörung mit nur einem Wort oder einem Wunsch wieder rückgängig gemacht werden könne.« Er drückte die Hände so fest zusammen, dass die Knöchel ganz weiß hervortraten. »Wann wird Vergebung zu einer Lüge? Wann kann sie nicht mehr heilen? Wann ist sie nur noch Ausdruck meiner Weigerung, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Henry ehrlich. »Vielleicht können wir es nur dann wissen, wenn wir einen bestimmten Punkt hinter uns gelassen haben. Was kann ich für dich tun?«
»Finde Lucien. Wenn ich nach ihm suche, treibe ich ihn nur noch tiefer in diese schreckliche Welt. Ich befürchte, er geht so weit, dass es kein Zurück mehr gibt, vielleicht sogar in den Tod.« Er sah auf und traf Henrys Blick. »Ich bin mir darüber bewusst, was ich von dir verlange, und dass die Erfolgsaussichten wahrscheinlich gering sind. Aber er ist mein Sohn. Daran wird nichts etwas ändern. Ich verurteile sein Tun, aber ich werde nicht aufhören, ihn zu lieben. Manchmal wünschte ich mir, ich könnte es; dann wäre alles viel leichter.«
Henry schüttelte den Kopf. »Diejenigen unter uns, die geliebt haben, brauchen keine Erklärung, und die anderen, die Liebe nicht kennen, verstehen das ohnehin nicht.« Sein Lächeln war verzagt, fast ein wenig selbstironisch. »Ich studiere die Naturwissenschaften und die Logik, das Wunderbare in der Mathematik. Aber ohne das Unerklärliche wie den Mut, die Hoffnung und vor allem die Liebe kann es keine Freude geben. Ich weiß nicht einmal, ob es dann so etwas wie Humor gäbe. Wenn wir nicht mehr lachen können, verlieren wir das richtige Verhältnis zu den Dingen, letztendlich vielleicht sogar die Menschlichkeit.«
Er wurde wieder ganz ernst. »Aber wenn ich Lucien finden soll, muss ich mehr über ihn wissen, als das, was ich von ihm in Erinnerung habe: Den charmanten jungen Mann, der offensichtlich seine dunklen Seiten vor seinen oberflächlichen Bekanntschaften verbergen konnte, womöglich sogar vor den Menschen, die ihn gut zu kennen glaubten.«
Wentworth seufzte. »Natürlich. Aber das heißt nicht, dass es mir leicht fällt, dir mehr von ihm zu erzählen.« Er seufzte erneut. »Wie die meisten jungen Männer, entdeckte er sein physisches Verlangen, und anfänglich fand ich seine Exzesse auch nicht beunruhigend.« Der Hauch eines Lächelns flog über sein Gesicht. »Ich erinnere mich gut an meine eigenen Dummheiten mit Anfang zwanzig. Aber Lucien ist vierunddreißig und hat sie immer noch nicht überwunden. Vielmehr hat er noch gefährlicheren Lastern gefrönt: Verschiedenen Arten von Rauschgift, die jegliche Hemmungen nehmen und die sehr schnell abhängig machen. Er genießt die üblichen Lüste des Fleisches, aber mit jungen Frauen von verdorbenem Wesen. Es besteht immer die Gefahr, eine Krankheit aufzuschnappen, aber die Frau, die er sich ausgesucht hat, ist fähig, ihm noch viel mehr zu schaden.«
Ein paar Augenblickte starrte Wentworth in die züngelnden Flammen, die anfingen, die neuen Holzscheite zu verschlingen. »Sie bietet ihm die Dinge, nach denen er am meisten giert: das Gefühl der Macht - vielleicht die gefährlichste Droge - und die Empfindung, bewundert zu werden, Kontrolle über andere ausüben zu können, und als jemand betrachtet zu werden, der schon von Geburt an überlegen ist.«
Henry wurde langsam das Ausmaß dessen klar, was sein Freund von ihm erbat. Selbst wenn er Lucien Wentworth fände, könnte er etwas zu ihm sagen, das ihn dazu bewegen würde, zu dem Vater zurückzukehren, den er in jeder Hinsicht ablehnte?
»Ich werde versuchen, dir zu helfen«, sagte er leise. »Aber ich habe noch nicht einmal eine klare Vorstellung, wo ich überhaupt anfangen soll, geschweige denn, wie ich eine solche Aufgabe bewältigen könnte.«
»Danke«, sagte Wentworth mit rauer Stimme. Vielleicht sah er endlich ein, dass Henrys Versuch, ihm zu helfen, kaum mehr als eine Gefälligkeit sein konnte, die eher von Mitleid als von Hoffnung genährt war. Er erhob sich und wirkte, als ob ihn die Erschöpfung übermannte. »Danke, Henry. Sag mir Bescheid, wenn es etwas zu berichten gibt. Vorher werde ich dich nicht mit Fragen belästigen.« Er griff in die Hosentasche und zog ein Blatt Papier heraus. »Hier ist eine Liste aller Örtlichkeiten, die Lucien meines Wissens nach aufgesucht hat. Sie könnte wohl von Nutzen sein.«
Am nächsten Morgen, als Henry Rathbone erwachte, wünschte er sich, er hätte Wentworth seine Hilfe nicht versprochen. Als er beim Frühstück saß und lustlos seinen Toast mit Orangenmarmelade aß, gestand er sich ein, dass ihm der Mut gefehlt hatte, Wentworth Anliegen abzulehnen. Selbst wenn er ihn fände, würde Lucien Wentworth nicht nach Hause zurückkehren. Er wollte es nicht. Seinem Vater würde wahrscheinlich großes Leid erspart bleiben, wenn er nicht alles erführe, was genau mit Lucien geschehen war.
Aber Henry hatte nun einmal sein Wort gegeben und jetzt musste er sein Bestes tun, was auch immer dabei herauskam. Wo sollte er anfangen? Zu seiner Zeit an der Universität, die jetzt schon gut fünfunddreißig Jahre zurücklag, hatte er sich hemmungslos amüsiert. Er hatte Nächte durchgemacht, sicher mehr Bier getrunken, als ihm gutgetan hatte, ein paar Damen gekannt, von denen seine Mutter sich nicht einmal vorstellen konnte, dass es solche überhaupt gab, und er hatte einige sehr obszöne Lieder auswendig gekannt, an die er sich zum Großteil heute noch erinnerte.
Aber noch bevor er dreißig wurde, hatte er diese Phase hinter sich gelassen. Jetzt erinnerte er sich nur noch dunkel daran. Es lohnte sich kaum, sie wieder ins Gedächtnis zu holen. Was Lucien umtrieb, war etwas ganz anderes. Es war ein Verlangen, das sich selbst nährte und das letztendlich alles verschlingen würde.
Henry breitete das Blatt Papier, das Wentworth ihm gegeben hatte, vor sich aus. Es war die Liste der Örtlichkeiten, an denen er Lucien bis jetzt aufgespürt und wo er ihm aus seinen Schwierigkeiten herausgeholfen hatte. Aber nach Wentworths eigener Einschätzung war Lucien nicht mehr dort. Er war bestimmt bereits tiefer gesunken, als lediglich durch betrunkenes Gegröle und Prügeleien aufzufallen. Er war wahrscheinlich auch nicht mehr der junge Frauenliebhaber, der sich in bekannten Bordellen amüsierte.
Viele von Henrys Freunden hatten Söhne, von denen sie auf die eine oder andere Weise enttäuscht wurden, aber ein guter Freund stellte dazu keine Fragen, und wenn ihm doch zufällig etwas davon zu Ohren kam, tat er so, als hätte er nichts gehört. Auf keinen Fall würde er anderen gegenüber erwähnen, was er erfahren hatte.
...
Übersetzung: Regina Schirp
Copyright © 2011 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Henry Rathbone beugte sich ein wenig weiter in seinem Sessel vor und blickte seinen Besucher ernst an. James Wentworth sah müde und erschöpft aus, und er wirkte älter als seine sechzig Jahre. So wie er die Hände auf seinen Knien zur Faust ballte und wieder öffnete, schien er sehr unruhig, ja fast verzweifelt zu sein.
»Wie kann ich dir helfen?«, fragte Henry ihn sanft.
»Vielleicht gar nicht«, antwortete Wentworth. Die Holzscheite im Kamin brachen ein, und Funken sprühten hoch, während er das sagte. Der Abend war bitterkalt. Noch dreizehn Tage bis Weihnachten. Draußen heulte der eisige Wind im Gebälk seines schönen Hauses in Primrose Hill. Die Riesenstadt London bereitete sich mit Weihnachtsliedern, Feierlichkeiten und dem Klang der Kirchenglocken auf die Festtage vor. Lange war es nicht mehr hin.
»Du sagst selbst >vielleicht<«, entgegnete Henry prompt. »Vielleicht gibt es also doch etwas, was ich tun könnte. Lass es uns wenigstens versuchen.« Er lächelte ihn an. »Jetzt ist die Zeit der Hoffnung - manche glauben sogar, es sei die der Wunder.«
»Glaubst du etwa daran?«, fragte ihn Wentworth. »Könntest du ein Wunder für mich vollbringen?«
Henry bemerkte die tiefe Trauer im Gesicht des Freundes. Sie hatten sich über ein Jahr lang nicht gesehen und es kam Henry vor, als sei Wentworth in dieser Zeit um Jahre gealtert. Er war kaum noch wiederzuerkennen.
»Natürlich will ich es versuchen. Allerdings, Wunder kann ich nicht versprechen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich an so etwas glaube.«
»Immer geradeheraus und ehrlich«, sagte Wentworth leicht spöttisch. »Das liegt wohl daran, dass ich Mathematiker bin«, antwortete Henry. »So bin ich nun mal. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass es noch mehr zu entdecken und zu verstehen gibt, als all die vielen Dinge, die wir bereits erkannt haben. Wir sind bisher kaum in das Reich des Wissens vorgedrungen, das noch unerforscht ist.«
Wentworth nickte. »Ich glaube, dein Versprechen genügt mir. Erinnerst du dich an meinen Sohn Lucien?«
»Natürlich.« Henry erinnerte sich lebhaft an ihn: ein gut aussehender junger Mann mit ungewöhnlichem Charme. Ja mehr noch, er steckte voller Energie, voller Lebenslust und hatte diesen unstillbaren Lebenshunger, der andere Menschen mitriss und längst vergessene Träume wiederbelebte.
Aus seinen Augen sprach erneut tiefer Schmerz, und er blickte zu Boden, als wollte er etwas verbergen und sich nicht völlig offenbaren.
»Ungefähr vor einem Jahr fing er an, gewisse Plätze im West End zu besuchen, wo die Vergnügungen noch ... wilder, noch maßloser sind als man es sonst kennt. Dort traf er eine junge Dame, von der er sogleich besessen war. Er spielte, er trank exzessiv, er gab sich verschiedener Laster hin, an die er zuvor nicht einmal gedacht hatte. In dem, was er tat, steckte mehr Gewalt und Grausamkeit, als der normale Hang zu Dummheiten bei einem jungen Mann oder mehr als der Leichtsinn derer, die nicht an die Folgen ihrer Handlungen denken.«
Er hielt inne, aber Henry schwieg. Das Feuer brannte nur noch schwach. Henry nahm zwei Holzscheite aus dem Korb, legte sie auf die Glut und stocherte mit dem Schürharken darin herum, bis die Flammen wieder loderten.
»Und jetzt ist er verschwunden. Ich habe selbst versucht, ihn zu finden«, fuhr Wentworth fort. »Aber er hat sich entzogen, taucht immer tiefer in diese dunkle Welt ein. Ich ... ich war zunächst wütend. Es ist eine solche Verschwendung seines Talents und seiner Möglichkeiten. Anfangs, als es nur um zügellosen Alkoholgenuss und Spielen ging, habe ich ihm vergeben. Ich bezahlte seine Schulden und rettete ihn sogar vor der Justiz. Aber dann wurde es immer schlimmer. Er wurde gewalttätig. Hätte ich ihm weiter beigestanden, hätte er womöglich geglaubt, dass sein Lebenswandel keine Konsequenzen hat, oder dass seine Selbstzerstörung mit nur einem Wort oder einem Wunsch wieder rückgängig gemacht werden könne.« Er drückte die Hände so fest zusammen, dass die Knöchel ganz weiß hervortraten. »Wann wird Vergebung zu einer Lüge? Wann kann sie nicht mehr heilen? Wann ist sie nur noch Ausdruck meiner Weigerung, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Henry ehrlich. »Vielleicht können wir es nur dann wissen, wenn wir einen bestimmten Punkt hinter uns gelassen haben. Was kann ich für dich tun?«
»Finde Lucien. Wenn ich nach ihm suche, treibe ich ihn nur noch tiefer in diese schreckliche Welt. Ich befürchte, er geht so weit, dass es kein Zurück mehr gibt, vielleicht sogar in den Tod.« Er sah auf und traf Henrys Blick. »Ich bin mir darüber bewusst, was ich von dir verlange, und dass die Erfolgsaussichten wahrscheinlich gering sind. Aber er ist mein Sohn. Daran wird nichts etwas ändern. Ich verurteile sein Tun, aber ich werde nicht aufhören, ihn zu lieben. Manchmal wünschte ich mir, ich könnte es; dann wäre alles viel leichter.«
Henry schüttelte den Kopf. »Diejenigen unter uns, die geliebt haben, brauchen keine Erklärung, und die anderen, die Liebe nicht kennen, verstehen das ohnehin nicht.« Sein Lächeln war verzagt, fast ein wenig selbstironisch. »Ich studiere die Naturwissenschaften und die Logik, das Wunderbare in der Mathematik. Aber ohne das Unerklärliche wie den Mut, die Hoffnung und vor allem die Liebe kann es keine Freude geben. Ich weiß nicht einmal, ob es dann so etwas wie Humor gäbe. Wenn wir nicht mehr lachen können, verlieren wir das richtige Verhältnis zu den Dingen, letztendlich vielleicht sogar die Menschlichkeit.«
Er wurde wieder ganz ernst. »Aber wenn ich Lucien finden soll, muss ich mehr über ihn wissen, als das, was ich von ihm in Erinnerung habe: Den charmanten jungen Mann, der offensichtlich seine dunklen Seiten vor seinen oberflächlichen Bekanntschaften verbergen konnte, womöglich sogar vor den Menschen, die ihn gut zu kennen glaubten.«
Wentworth seufzte. »Natürlich. Aber das heißt nicht, dass es mir leicht fällt, dir mehr von ihm zu erzählen.« Er seufzte erneut. »Wie die meisten jungen Männer, entdeckte er sein physisches Verlangen, und anfänglich fand ich seine Exzesse auch nicht beunruhigend.« Der Hauch eines Lächelns flog über sein Gesicht. »Ich erinnere mich gut an meine eigenen Dummheiten mit Anfang zwanzig. Aber Lucien ist vierunddreißig und hat sie immer noch nicht überwunden. Vielmehr hat er noch gefährlicheren Lastern gefrönt: Verschiedenen Arten von Rauschgift, die jegliche Hemmungen nehmen und die sehr schnell abhängig machen. Er genießt die üblichen Lüste des Fleisches, aber mit jungen Frauen von verdorbenem Wesen. Es besteht immer die Gefahr, eine Krankheit aufzuschnappen, aber die Frau, die er sich ausgesucht hat, ist fähig, ihm noch viel mehr zu schaden.«
Ein paar Augenblickte starrte Wentworth in die züngelnden Flammen, die anfingen, die neuen Holzscheite zu verschlingen. »Sie bietet ihm die Dinge, nach denen er am meisten giert: das Gefühl der Macht - vielleicht die gefährlichste Droge - und die Empfindung, bewundert zu werden, Kontrolle über andere ausüben zu können, und als jemand betrachtet zu werden, der schon von Geburt an überlegen ist.«
Henry wurde langsam das Ausmaß dessen klar, was sein Freund von ihm erbat. Selbst wenn er Lucien Wentworth fände, könnte er etwas zu ihm sagen, das ihn dazu bewegen würde, zu dem Vater zurückzukehren, den er in jeder Hinsicht ablehnte?
»Ich werde versuchen, dir zu helfen«, sagte er leise. »Aber ich habe noch nicht einmal eine klare Vorstellung, wo ich überhaupt anfangen soll, geschweige denn, wie ich eine solche Aufgabe bewältigen könnte.«
»Danke«, sagte Wentworth mit rauer Stimme. Vielleicht sah er endlich ein, dass Henrys Versuch, ihm zu helfen, kaum mehr als eine Gefälligkeit sein konnte, die eher von Mitleid als von Hoffnung genährt war. Er erhob sich und wirkte, als ob ihn die Erschöpfung übermannte. »Danke, Henry. Sag mir Bescheid, wenn es etwas zu berichten gibt. Vorher werde ich dich nicht mit Fragen belästigen.« Er griff in die Hosentasche und zog ein Blatt Papier heraus. »Hier ist eine Liste aller Örtlichkeiten, die Lucien meines Wissens nach aufgesucht hat. Sie könnte wohl von Nutzen sein.«
Am nächsten Morgen, als Henry Rathbone erwachte, wünschte er sich, er hätte Wentworth seine Hilfe nicht versprochen. Als er beim Frühstück saß und lustlos seinen Toast mit Orangenmarmelade aß, gestand er sich ein, dass ihm der Mut gefehlt hatte, Wentworth Anliegen abzulehnen. Selbst wenn er ihn fände, würde Lucien Wentworth nicht nach Hause zurückkehren. Er wollte es nicht. Seinem Vater würde wahrscheinlich großes Leid erspart bleiben, wenn er nicht alles erführe, was genau mit Lucien geschehen war.
Aber Henry hatte nun einmal sein Wort gegeben und jetzt musste er sein Bestes tun, was auch immer dabei herauskam. Wo sollte er anfangen? Zu seiner Zeit an der Universität, die jetzt schon gut fünfunddreißig Jahre zurücklag, hatte er sich hemmungslos amüsiert. Er hatte Nächte durchgemacht, sicher mehr Bier getrunken, als ihm gutgetan hatte, ein paar Damen gekannt, von denen seine Mutter sich nicht einmal vorstellen konnte, dass es solche überhaupt gab, und er hatte einige sehr obszöne Lieder auswendig gekannt, an die er sich zum Großteil heute noch erinnerte.
Aber noch bevor er dreißig wurde, hatte er diese Phase hinter sich gelassen. Jetzt erinnerte er sich nur noch dunkel daran. Es lohnte sich kaum, sie wieder ins Gedächtnis zu holen. Was Lucien umtrieb, war etwas ganz anderes. Es war ein Verlangen, das sich selbst nährte und das letztendlich alles verschlingen würde.
Henry breitete das Blatt Papier, das Wentworth ihm gegeben hatte, vor sich aus. Es war die Liste der Örtlichkeiten, an denen er Lucien bis jetzt aufgespürt und wo er ihm aus seinen Schwierigkeiten herausgeholfen hatte. Aber nach Wentworths eigener Einschätzung war Lucien nicht mehr dort. Er war bestimmt bereits tiefer gesunken, als lediglich durch betrunkenes Gegröle und Prügeleien aufzufallen. Er war wahrscheinlich auch nicht mehr der junge Frauenliebhaber, der sich in bekannten Bordellen amüsierte.
Viele von Henrys Freunden hatten Söhne, von denen sie auf die eine oder andere Weise enttäuscht wurden, aber ein guter Freund stellte dazu keine Fragen, und wenn ihm doch zufällig etwas davon zu Ohren kam, tat er so, als hätte er nichts gehört. Auf keinen Fall würde er anderen gegenüber erwähnen, was er erfahren hatte.
...
Übersetzung: Regina Schirp
Copyright © 2011 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Anne Perry
Perry, AnneDie Engländerin Anne Perry, 1938 in London geboren, verbrachte einen Teil ihrer Jugend in Neuseeland und auf den Bahamas. Schon früh begann sie zu schreiben. Ihre historischen Kriminalromane zeichnen ein lebendiges Bild des spätviktorianischen Englands und begeistern ein Millionenpublikum. Anne Perry lebt und schreibt in Schottland.
Bibliographische Angaben
- Autor: Anne Perry
- 2011, 191 Seiten, Maße: 12,4 x 19,2 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Schirp, Regina
- Übersetzer: Regina Schirp
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453408926
- ISBN-13: 9783453408920
- Erscheinungsdatum: 24.10.2011
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