Der Zweiklassenstaat
Sozialexperte Lauterbach kritisiert den deutschen Sozialstaat. Seiner Meinung nach profitieren besonders die Gutverdiener vom deutschen Sozialsystem. So kommt er zu der Ansicht: ob bei Bildung, Medizin oder Rente - Deutschland ist zu einem...
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Sozialexperte Lauterbach kritisiert den deutschen Sozialstaat. Seiner Meinung nach profitieren besonders die Gutverdiener vom deutschen Sozialsystem. So kommt er zu der Ansicht: ob bei Bildung, Medizin oder Rente - Deutschland ist zu einem Zweiklassenstaat verkommen.
Professor Karl Lauterbach ist Bundestagsabgeordneter der SPD und Direktor des Instituts für Gesundheitsökonomie der Universität Köln.
Der Zweiklassenstaat von KarlLauterbach
LESEPROBE
Vorwort
In der Zeit von 1987 bis 1995 habeich fast ohne Unterbrechung in den USA gelebt. Als Stipendiat war ich imRahmen meiner medizinischen Doktorarbeit zunächst nach Tucson, Arizona,gereist, um ein Forschungsprojekt mit Herzkranken durchzuführen. Danachverschlug es mich nach San Antonio in Texas und dann für sieben Jahre nachBoston.
Ich lernte das amerikanischeGesundheitssystem kennen: Perfektion und krasse Stümperei, höchste ethischeStandards und niedrigste Geldschneiderei gehen hier Hand in Hand. Einerseitswird das Menschenmögliche erforscht, andererseits das menschlich Gebotene oftunterlassen. So beeindruckte mich ein Herzchirurg der University of Texasdamit, dass er als einer der Ersten Herz und Lunge gleichzeitig transplantierte.Die sechsstündige Operation glich einem genial geplanten Feldzug gegen jede nurdenkbare Komplikation, und das Überleben des Patienten wurde vom Operationsteamwie eine kleine Landung auf dem Mond gefeiert. Diese Begeisterungsfähigkeit,diese Leistung und den unbedingten Willen, Krankheiten zu besiegen, kannte ichaus der deutschen Medizin nicht.
Derselbe Chirurg löschte meineHochachtung jedoch mit einem einzigen Satz wieder aus. Das Krankenhaus lag ineinem der ärmsten Stadtteile von San Antonio, und Messerstechereien oderSchießereien mit schweren Verletzungen kamen fast täglich vor. Als ich bei derVersorgung eines spanischamerikanischen Patienten mit einer Stichverletzunghalf, meinte der von mir bewunderte Spezialist lapidar, dass der einzigeBeitrag der Armen zu dieser Gesellschaft darin zu sehen sei, dass wir jungenStudenten und Ärzte an ihnen lernen dürften.
Diese Einstellung war leider nichtdie Ausnahme, und unsere Arbeit in der Klinik funktionierte entsprechend. Sowurde bei Patienten mit Magenblutung, die weder Geld noch eine Versicherungbesaßen, die Blutung im Notfall zwar gestoppt, der die Blutung auslösende Krebsaber nicht behandelt. Für mich war das ein krasser Verstoß gegen fundamentaleethische Standards. Dass ein unversicherter Krebskranker in Deutschland nichtbehandelt würde, war völlig undenkbar. Ich begriff, dass es einen riesigenkulturellen Unterschied zwischen Deutschland und den USA gab. Die Amerikanerschienen zu glauben, dass jeder für sich selbst verantwortlich sei und nur aufdas Anspruch habe, was er sich selbst verdient hat: die beste Behandlung für Wohlhabende,eine Basisversorgung oder weniger für Arme. In Deutschland hatte ich noch nieeinen intelligenten Menschen getroffen, der eine solche Position ernsthaftvertrat; in den Vereinigten Staaten lernte ich später Philosophieprofessorender Harvard University kennen, die ganze Bücher zur Verteidigung dieser Haltunggeschrieben hatten.
Dass jeder Bürger Anspruch auf diegleiche medizinische Versorgung hat, ist eine europäische Idee. Besser undkürzer lässt sich der Unterschied der Werte Europas und Amerikas nicht ausdrücken:Die meisten Europäer sind der Überzeugung, dass Bildung undGesundheitsversorgung nicht vom Einkommen abhängen sollten. Die meistenAmerikaner hingegen würden dieses zentrale Gebot der Chancengleichheit derMenschen ablehnen. Dennoch hat ausgerechnet ein amerikanischer Philosoph, JohnRawls, die mit Abstand bedeutendste Begründung deseuropäischen Ideals der Chancengleichheit geliefert.
In den USA habe ich von den bestenwissenschaftlichen Einrichtungen profitiert, aber immer ein Unbehagen darüberempfunden, dass hier die Elitekader eines ungerechten Systems forschen. Alsich nach Deutschland zurückging, wusste ich zwar, dass es nicht dieSpitzenforschung der Vereinigten Staaten bieten konnte, hielt dafür aber dieChancengleichheit für gegeben. Ich wurde bitter enttäuscht. Denn ich musstefeststellen: Das deutsche Bildungs- und Gesundheitssystem sind nicht nurMittelmaß, was die Leistung angeht, sondern zudem höchst ungerecht. Auch inDeutschland entscheidet das Einkommen des Patienten über seine medizinischeVersorgung, und die Unterschiede in der daraus resultierenden Lebenserwartungvon Reich und Arm sind hier so groß wie in den USA. In keinem Land in ganzEuropa hängen die Bildungsergebnisse sogar so sehr vom Einkommen der Eltern ab wiein Deutschland.
In der Tat sind alle Bereicheunserer sozialen Sicherung ungerecht, also neben dem Gesundheitswesen auch dasRentensystem und die Pflegeversicherung. Selbst der deutsche Arbeitsmarkt istnicht neutral, sondern schreibt systematisch die durch das ungerechteSchulsystem bedingten Nachteile fort. Von der Wiege bis zur Bahre wird inDeutschland die Chancengleichheit verwehrt. Stattdessen herrscht derZweiklassenstaat. Der Hauptunterschied zu den Vereinigten Staaten bestehtdarin, dass wir dies bestreiten, weil wir es eigentlich falsch finden, währenddie Amerikaner solche Unterschiede in großen Teilen für richtig halten. Wirwähnen uns in einer Gesellschaft, die die Ideale der Chancengleichheit und dersozialen Gerechtigkeit verwirklicht hat, und der Staat hilft, diese Fiktion zuerhalten.
Es ist eine Schande: Statt für einengerechten Ausgleich zu sorgen, vergrößert der deutsche Staat die Kluft zwischenArm und Reich. Intelligente Kinder aus armen und bildungsfernen Familien haben -bei gleicher Leistung - eine vielfach geringere Chance, aufs Gymnasium zukommen und zu studieren. Als Niedrigqualifizierte und Geringverdiener erledigensie Jobs, die die Gesundheit stärker gefährden als akademische Berufe. Sie habendeshalb ein höheres Krankheitsrisiko und eine kürzere Lebenserwartung. AlsKassenpatienten leiden sie dann unter der Zweiklassenmedizin, die privatVersicherten den Vorzug gibt. Aufgrund der großen internationalen Konkurrenz imNiedriglohnsektor sind sie auch in höherem Maß von Arbeitslosigkeit bedroht.Ihre Rente fällt deshalb später nicht nur sehr viel geringer aus als die derGutverdienenden, sie können sie auch nur viel kürzere Zeit genießen. Sie zahlenalso mehr in die Rentenkassen ein, als sie ausbezahlt bekommen, und sichern sozusätzlich die Renten der Einkommensstarken. Werden sie zum Pflegefall, leidensie erneut unter der Zweiklassenversorgung der Patienten.
Das vorliegende Buch versucht sokonkret wie möglich, die tatsächlichen Probleme Deutschlands und unseresArbeitsmarktes aufzuzeigen. und schlägt Strategien zu ihrer Überwindung vor.Es stützt sich dabei auf internationale Vergleiche und aktuelle wissenschaftlicheStudien sowie Berechnungen des Instituts für Gesundheitsökonomie und KlinischeEpidemiologie der Universität zu Köln.
Deutschland ist nicht nurungerechter, als wir wahrhaben wollen, sondern auch schutzlos denHerausforderungen des demographischen Wandels und der Globalisierungausgesetzt. Es ist ein kinderarmes Land, das bei der Integration versagt, seineTalente zu einem großen Teil verschwendet und seine Sozialsysteme bald nichtmehr bezahlen kann. Es ist ein Land, in dem Reformen scheitern, wenn diese anden zentralen Privilegien einer Klasse rütteln, die stärker als Teile derPolitik zu sein scheint. Wenn wir aber für die Herausforderungen der Zukunftgewappnet sein wollen, dürfen wir mit diesen Reformen nicht länger warten. DerAufschwung allein wird keines der in diesem Buch geschilderten Probleme lösen.Und in der Großen Koalition können die notwendigen Veränderungen kaumdurchgesetzt werden. Bald jedoch wird allen offenbar werden, woran unsereGesellschaft krankt. Spätestens dann schlägt die Stunde der Politik.
© Rowohlt Verlag
- Autor: Karl Lauterbach
- 2007, 4. Neuausg., 224 Seiten, 22 Abbildungen, Maße: 14,2 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Rowohlt, Berlin
- ISBN-10: 3871345792
- ISBN-13: 9783871345791
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