Die Assassine
Roman
In den Palästen und Hallen Amenkors herrscht trügerischer Friede. Doch in den Gassen der Unterstadt leben die Menschen in bitterer Armut. Als obdachlose Waise hat Varis gelernt zu kämpfen. Dabei hilft ihr ihre besondere Gabe: Sie kann die...
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Produktinformationen zu „Die Assassine “
In den Palästen und Hallen Amenkors herrscht trügerischer Friede. Doch in den Gassen der Unterstadt leben die Menschen in bitterer Armut. Als obdachlose Waise hat Varis gelernt zu kämpfen. Dabei hilft ihr ihre besondere Gabe: Sie kann die wahre Natur der Menschen sehen.Eines Tages tritt ein Meister-Assassine an sie heran und bietet ihr Arbeit an. Varis soll für das Gute töten. Doch was soll sie tun, wenn sie erkennt, dass selbst in den Guten das Böse wohnt?
Klappentext zu „Die Assassine “
In den Palästen und Hallen Amenkors herrscht trügerischer Friede. Doch in den Gassen der Unterstadt leben die Menschen in bitterer Armut. Als obdachlose Waise hat Varis gelernt zu kämpfen. Dabei hilft ihr ihre besondere Gabe: Sie kann die wahre Natur der Menschen sehen. Eines Tages tritt ein Meister-Assassine an sie heran und bietet ihr Arbeit an. Varis soll für das Gute töten. Doch was soll sie tun, wenn sie erkennt, dass selbst in den Guten das Böse wohnt?
Lese-Probe zu „Die Assassine “
Die Assassine von Joshua PalmatierDER PALAST
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Vor über tausend Jahren fegte ein gewaltiges Feuer durch ie Stadt Amenkor. Es war kein Feuer wie jene roten und
orangefarbenen Flammen, die in den ölgefüllten Standschalen entlang der Promenade zum Palast flackerten, vom Wind angefacht, der vom Meer heraufzog. Nein, dieses Feuer war weiß und rein und kalt. Den Legenden zufolge brannte es von Horizont zu Horizont und loderte bis zu den Wolken empor. Wie ein Sturmwind jagte es aus dem Westen heran, und als es über die Stadt hereinbrach, raste es durch die Mauern und Gebäude hindurch, ließ sie aber ebenso unversehrt wie die Menschen, durch deren Körper es toste, ohne sie zu verbrennen. Das Feuer überzog die ganze Stadt. Es gab kein Entrinnen; jeder wurde von den Flammen berührt. Und weiter jagte das Feuer, hinein ins Landes innere, bis es nur noch ein weißer Schimmer am fernen Horizont war und schließlich ganz verblich. Es heißt, das Weiße Feuer habe die Stadt in den Wahnsinn gestürzt. Es heißt, das Feuer sei ein Omen gewesen, ein Vorbote der elfjährigen Dürre und Hungersnot und Krankheit, die darauf folgten.
Es heißt, das Feuer habe die damals herrschende Regentin getötet, obwohl man ihren Leib unversehrt auf den breiten Steinstufen fand, die am Ende der Promenade hinauf zum Palast führten. Um den Hals der Regentin prangten Blutergüsse, welche die Form von Händen besaßen, während sich auf ihrem nackten Rücken und den entblößten Brüsten Wundmale zeigten, die die Form von Stiefelsohlen aufwiesen. Am ganzen Körper hatte sie Blutergüsse, sogar unter den weißen Gewändern, die in Fetzen um ihren unnatürlich verdrehten Körper hingen und nur noch von ihrer goldenen Schärpe gehalten wurden. Auch Blut war zu sehen, wenn auch nur Spritzer.
Den Legenden zufolge hatte das Feuer die Regentin getötet. Das Feuer, pah!
Verborgen in einer hoch gelegenen Nische in einem schmalen Gang im Palastinnern schnaubte ich verächtlich, ehe ich mein Gewicht verlagerte, um einen verkrampften Muskel zu entlasten, wobei mein Körper im Dunkel verborgen blieb. Die Nische befand sich am Ende eines langen Schachts, der für eine ständige Zufuhr frischer Luft ins Innere des Palasts sorgte.
Jeder Blinde hätte erkennen können, was der Regentin tatsächlich widerfahren war. Und der Mistkerl, der sie umgebracht hatte, sollte im tiefsten Höllenloch Amenkors verrotten! Man kann einen Menschen schneller und weniger qualvoll töten als durch Erdrosseln. In diesen Dingen kannte ich mich aus.
Langsam holte ich Luft und lauschte. Alles war still außer dem leisen Zischen der Ölfl ammen, die den verwaisten Gang erhellten. Der Luftzug im Palast wehte in Böen durch die Öffnung in meinem Rücken. Ein Sturm braute sich zusammen. Aber der Wind hatte auch sein Gutes, denn er trieb den Rauch des brennenden Öls und andere Gerüche fort.
Nach einem langen Augenblick des Abwägens glitt ich zum Rand der Nische vor und spähte den Gang in beide Richtungen entlang. Nichts.
Mit einer fließenden Bewegung ließ ich mich über die Kante der Öffnung gleiten, baumelte einen Lidschlag lang über dem Boden, bis ich mich eingependelt hatte. Dann ließ ich mich fallen.
»Du da, Junge! Komm her und hilf mir.«
Ich wirbelte herum. Meine Hand zuckte zum Dolch, der unter meiner Kleidung verborgen war - Pagenkleider, die man mir in der Nacht zuvor zur Verfügung gestellt hatte und die ein wenig zu groß und zu weit für mich waren. Dennoch erfüllten sie anscheinend ihren Zweck. Ich war klein für mein Alter und besaß keinen nennenswerten Busen; trotzdem würde mich niemand bei näherer Betrachtung für einen Jungen halten.
Die Frau, die mich angesprochen hatte, trug das weiße Gewand einer Leibdienerin der Regentin, dazu zwei Flechtkörbe, einen in jedem Arm. Einer der Körbe drohte ihrem Griff zu entgleiten. Es war der Frau gelungen, den einen Korb mit dem anderen aufzufangen, ehe er fallen konnte, doch nun lehnten beide Körbe wackelig an ihrer Brust und würden bei der geringsten Bewegung kippen.
»Worauf wartest du?« Gereizt und wütend verzog die Frau das Gesicht, doch ihr Blick verharrte auf den Körben.
Ich richtete mich aus der geduckten Haltung auf, die ich unwillkürlich eingenommen hatte, und setzte mich in Bewegung, um den Korb zu ergreifen, bevor er kippte. Er war schwerer, als er aussah.
Als ich den Korb an mich nahm, strich meine Hand über die Haut der Frau, worauf ein scharfer, brennender Schmerz meinen Arm entlangraste, als hätte jemand vom Handgelenk bis zum Ellbogen eine Dolchklinge darüber gezogen. Jäh schaute ich die Frau an und erstarrte.
Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und wischte sich mit zittriger Hand über die Stirn. »Danke«, sagte sie, atmete durch und deutete auf den Korb. »Und jetzt gib ihn mir zurück. Aber vorsichtig!«
Erleichterung erfasste mich. Die Frau hatte die Berührung nicht gespürt, hatte weder den sengenden Schmerz noch sonst etwas Ungewöhnliches bemerkt.
Ich drückte ihr den Korb in den Arm, wobei ich darauf achtete, nicht noch einmal mit ihrer Haut in Berührung zu kommen. Die Frau ächzte unter dem Gewicht. Ich trat beiseite und ließ sie vorbei. Keuchend mühte sie sich den Gang hinunter und verschwand um eine Biegung.
Ich sah ihr nach und kniff die Augen zusammen. Eigentlich hätte ich keinem Menschen über den Weg laufen sollen, erst recht niemandem von der Dienerschaft. Niemand durfte wissen, dass ich hier war.
Ich musste vorsichtiger sein.
Abermals tastete ich nach meinem Dolch, wandte mich ab, setzte mich in Bewegung und schüttelte die Gedanken an die Frau ab, während ich in der entgegengesetzten Richtung durch den Gang schritt. Die Frau hatte kaum von ihren Körben aufgeschaut; sie war viel zu sehr darauf bedacht gewesen, ja nichts fallen zu lassen. Bestimmt würde sie sich nicht daran erinnern, einem Pagen begegnet zu sein. Nicht innerhalb des Palasts. Außerdem hatte ich keine Zeit zu verlieren, wollte ich vor dem Morgengrauen in die Gemächer der Regentin gelangen. Ich befand mich im äußersten Bereich der Palastanlage und musste noch zu dem Wäscheschrank mit der Bogenaussparung, vorbei an den Wachen im inneren Bereich.
Ich schüttelte den Kopf und lief ein wenig schneller den schmalen Gang entlang, während ich in Gedanken den Grundriss des Palasts und die zeitliche Abfolge meines Vorhabens durchging. Der aufziehende Sturm ließ meine Haut prickeln und trieb mich zusätzlich an. Ich griff in eine Innentasche und betastete den darin verborgenen Schlüssel.
Ich musste noch in dieser Nacht in die Gemächer der Regentin gelangen. Wir hatten bereits zu lange gewartet - sechs Jahre in der vergeblichen Hoffnung, dass die Dinge sich besserten. Sechs Jahre auf der ständigen Suche nach neuen Lösungen. Sechs Jahre seit der Wiederkehr des Weißen Feuers. Sechs Jahre seit dem Tag, nach dem die Dinge sich immer mehr verschlechtert hatten. Den Legenden zufolge hatte bereits das erste Feuer der Stadt den Verstand geraubt. Das zweite Feuer hatte einen schleichenden, unterschwelligen Wahnsinn verbreitet. Und nun stand der Winter vor der Tür. Die Meere wurden rauer und für Handelsschiffe unbefahrbar. Auch der Landweg würde bald versperrt sein, denn die Gebirgspässe wurden im Winter unpassierbar. Und die Vorräte schwanden.
Meine Miene war hart und entschlossen, als ich in einen zweiten Gang einbog. Wir hatten alles versucht, es zu beenden.
Wir hatten alles getan, was den Legenden zufolge damals, nach dem ersten Feuer, geholfen hatte. Doch alles war vergeblich gewesen. Nun gab es keine Wahl mehr.
Die Regentin musste sterben.
ERSTES KAPITEL
Ich richtete den Blick auf die Frau mit den dunklen Augen, dem breiten Gesicht und dem langen, glatten schwarzen Haar, dann
auf den Korb an ihrer Hüfte, dessen Inhalt von einem Tuch bedeckt wurde. Die Frau trug ein sandfarbenes Kleid. Ein Dreieckstuch, das unter ihrem Kinn verknotet war, verhüllte den größten Teil ihres Kopfes. Die Frau war in der Menschenmenge auf der Straße einfach auszumachen. Sie bewegte sich ohne Eile und mit gesenktem Kopf.
Ein leichtes Opfer.
Wieder schaute ich auf den Korb, und meine Hand glitt zum Dolch, den ich in meinem zerschlissenen Hemd verbarg. Mein Magen knurrte.
Ich biss mir auf die Oberlippe und richtete den Blick wieder auf die Frau, die noch immer den Kopf gesenkt hielt. Über die Straße hinweg versuchte ich, ihre Augen zu erkennen, denn die Augen offenbarten das meiste. Doch die Frau entfernte sich weiter, bis sie an einer Gassenmündung stehen blieb.
Einen Augenblick später verschwand sie in der Gasse.
Ich zögerte am Rand der Straße, die als der »Siel« bezeichnet wurde. Meine Finger kneteten den Dolchgriff. Menschen strömten an mir vorüber. Ich ließ den Blick über die Straße und die Leute schweifen und bemerkte dabei einen Gardisten, einen Fuhrmann mit kräftigen Schultern und einen verwahrlosten Strolch. Niemanden, der offenkundig gefährlich war. Niemanden, der eine Bedrohung für ein vierzehnjähriges Mädchen darstellen könnte, das sich an eine Wand drückte, dreckverschmiert, mit zerlumpten Kleidern und dermaßen schmutzigem Haar, dass man die Farbe kaum erkennen konnte. Ein kleines Mädchen - viel zu klein für seine vierzehn Jahre und viel zu dürr, um Aufmerksamkeit zu erregen.
Mit unbeteiligtem Blick wandte ich mich wieder der Mündung der schmalen Gasse zu, in der die Frau verschwunden war, doch es gab nichts zu sehen. Da waren nur Stille und Dunkelheit.
Ich überquerte den Siel und bahnte mir dabei so geschickt einen Weg durch die Menge, dass ich niemanden berührte. Ich huschte in die schmale Gasse, drückte mich an die Mauer und duckte mich tief, bis meine Augen sich an die Düsternis gewöhnt hatten. Ich lauschte. Der Lärm von der Straße verblasste zu einem Hintergrundgeräusch, die Welt wurde grau ...
Dann, in der Stille, hörte ich den Klang von Schritten auf nassem Stein, rasch und regelmäßig. Ich vernahm das Rascheln von Kleidern, das Knarren von Bastgefl echt, als das Gewicht eines Korbes verlagert wurde. Die Schritte entfernten sich.
In der schützenden Dunkelheit der Gasse schaute ich zurück zur Straße, beobachtete die Bewegungen dort, blinzelte ins Sonnenlicht. Niemand hatte gesehen, wie ich der Frau gefolgt war, nicht einmal der Gardist.
Ich wandte mich von der Straße weg und glitt tiefer hinein in die Dunkelheit, in den Gestank von Unrat, Schimmel und menschlichen Ausscheidungen. Ich bewegte mich geräuschlos und mit kalter, hungriger Zielstrebigkeit. Mein leerer Magen verkrampfte sich; ich konnte nur an den Korb und an die Lebensmittel denken, die er enthalten mochte. Die Schritte der Frau schlurften nun über den schmutzigen Steinboden und platschten durch unsichtbare Pfützen. Ich atmete den Gestank der Gasse ein, konnte beinahe den Schweiß der Frau riechen. Meine Hand schloss sich um den Griff des Dolchs ...
Und die Schritte vor mir verlangsamten sich. Es schien, als würde die Frau sich mit einem Mal wachsam und vorsichtig bewegen.
Ich hielt inne. Dann bewegte ich mich dicht an der Wand, eine Hand gegen die feuchten Lehmziegel gepresst.
Vor mir traten Füße auf der Stelle. Die Kälte der Gasse nahm zu. Es war eine Kälte tief in der Brust, die sich wie das trockene Brennen von Raureif anfühlte.
Mit einem Mal vernahm ich andere, schwerere Schritte und ein scharfes Einatmen. Dann schrie die Frau auf - ein Laut, der jäh abgewürgt wurde.
Etwas Schweres fiel auf das Kopfsteinpfl aster, gefolgt von einem rollenden Poltern und den Geräuschen eines Kampfes: raschelnde Kleider, schweres Atmen, ein grässliches Keuchen, erstickt und verzweifelt. Es hörte sich an wie das Keuchen des Mannes, den ich vor drei Jahren getötet hatte. Nur klangen diese Laute nicht nass und zäh, erstickt von Blut, sondern trocken und rasselnd.
Ein Übelkeit erregender, fiebriger Schauder des Grauens lief mir über die Haut. Ich presste mich mit dem Rücken gegen die Lehmziegel und versuchte, nicht zu atmen. Die sengende Kälte, die in meiner Brust brannte, nahm zu und begann weiß zu lodern wie die Berührung des Feuers, das vor drei Jahren durch die Stadt gefegt war. Schweiß nässte meine Achselhöhlen und meine Brust und ließ mich abermals schaudern. Meine Hand umklammerte den Dolchgriff.
Das Keuchen wurde leiser, träger. Dann drang ein angestrengtes Grunzen durch die Düsternis. Es schwoll kurz und jäh an, ehe es sich in einem zittrigen Seufzen aufl öste. Fast wie ein Schluchzen. Der Laut ging in leises Atmen über. Dann war ein dumpfer Aufschlag zu vernehmen, schwerer noch als der erste, und völlige Stille breitete sich aus.
Ich bemühte mich verzweifelt, so flach wie möglich zu atmen, während meine Hand den verschwitzten Dolchgriff umklammerte. Ohne darüber nachzudenken, hatte ich die Klinge ganz hervorgeholt, bereit zum Zustoßen.
Doch niemand kam aus der Dunkelheit hervor. Nicht nach zwanzig flachen Atemzügen, nicht nach fünfzig.
Mittlerweile war das frostige Feuer in meiner Brust erloschen. Ich entspannte mich, holte tief Luft und ging weiter. Ein Streifen schwarzen Wassers tauchte auf, der in der Gassenmitte verlief. Ich hielt mich an der linken Mauerwand. Mit der einen Hand strich ich über die feuchten Ziegel, mit der anderen hielt ich den Dolch.
Elf Schritte weiter fand ich den zur Seite gekippten Korb. Kartoffeln lagen auf dem Kopfsteinpfl aster verstreut. Das Tuch, das sie verdeckt hatte, war fleckig vor Schmutz.
Noch drei Schritte weiter stieß ich auf die Frau.
Sie lag in verrenkter Haltung auf dem Rücken, die Beine abgewinkelt. Einen Arm hatte sie von sich gestreckt, der andere ruhte dicht an ihrer Seite. Ihr Kopftuch war verrutscht, und Strähnen ihres Haares ergossen sich über den Steinboden. Ihr Kopf, leicht seitwärts geneigt, lag im Rinnsal des verdreckten Wassers.
Ich kauerte mich an die Wand, starrte prüfend in die Dunkelheit vor mir und lauschte, doch da war nur das Geräusch tropfenden Wassers und der Geruch feuchten Schimmels.
Ich wandte mich wieder der Frau zu, schlich an ihrem ausgestreckten Arm vorbei und kniete mich hin.
Ein dunkles Band aus Blut umgab ihren Hals. Ihre offenen Augen starrten blicklos an mir vorbei in die Düsternis der Gasse. Ihre Lippen waren zu einem stummen Schrei verzogen.
Abermals betrachtete ich die Linie aus Blut, das aus der feucht schimmernden, tief eingeschnittenen Wunde quoll, welche sich quer über ihren Hals hinzog. Ich beugte mich vor ...
Und sah, wie sich eine dünne Schnur vor mein Gesicht herabsenkte.
Sofort riss ich den Dolch hoch, doch es war zu spät. Ich hörte ein kehliges, angestrengtes Grunzen, als ein Mann die Schnur in meinem Nacken überkreuzte und festzog. Die Schnur erfasste die Dolchklinge und presste sie mit der flachen Seite gegen meinen Hals.
Dann beugte der Mann sich nach hinten, stieß mir das Knie ins Rückgrat und drückte zu.
Mein Körper bäumte sich vor; die Schlinge spannte sich noch straffer um meinen Hals. Mein Kopf kippte nach hinten und gegen die Schulter des Mannes, sodass seine bärtige Wange an der meinen zu liegen kam. Ich spürte seinen Atem heiß auf der Brust. Er stank nach Bier, Fisch und Öl.
»Ein bisschen jung und dürr für meinen Geschmack«, keuchte er und zog die Schnur mit einem Ruck fester, »aber wir nehmen, was die Regentin uns an Gaben beschert, nicht wahr?«
Der beißende Frost kehrte wieder, von der Kehle bis tief in meine Brust. Ich schmeckte die Luft aus der Nacht des Feuers vor drei Jahren und fühlte die Flammen kalt und tief in mir. Gequält und schmerzvoll rang ich nach Atem.
Ich bekam keine Luft mehr.
Ich warf mich nach vorn, spürte, wie die Schnur sich tiefer grub, spürte mein warmes Blut, als sie in meine Haut schnitt. Das Keuchen des Mannes rasselte in meinem Ohr. Ich ruckte zur Seite, doch die Schnur fraß sich nur umso tiefer ins Fleisch. Dann bündelte das Grau der Welt sich mehr und mehr, bis ich nur noch die Schnur spürte. Während meine Lungen verzweifelt nach Luft schrien, wütete das erstickende Feuer immer heftiger in meiner Brust. Das kalte Metall des Dolchs drückte schmerzhaft gegen meinen Hals. Mit der rechten Hand hielt ich immer noch das Heft umklammert wie in einem Todesgriff.
Als das Feuer in meiner Brust sich sengend ausbreitete und kribbelnde Hitze in meine Arme und bis tief in meine Eingeweide entsandte, drehte ich mit letzter Kraft den Dolch. Die Schneide grub sich in meine Haut, zog vom Ansatz meines Kiefers bis zum Schlüsselbein einen lotrechten Schnitt, der schmerzte wie tausend Nadelstiche. Ich wand mich hin und her und drückte den Dolch nach außen, während der Mann mir ins Ohr ächzte. Sein stinkender Atem zischte, Speichel sprühte von seinen Lippen auf meinen Hals, und seine Zähne mahlten und knirschten. Ich drohte, den letzten Halt in der Welt zu verlieren. Das Grau geriet in Bewegung, schrumpfte zu einem hohlen Kreis, dann zu einem Punkt. Sengendes Feuer füllte meine Eingeweide, sickerte in meine Oberschenkel und meine Beine hinunter. Tausend Nadelstiche bewegten sich auf meine Knie zu und breiteten sich durch meine Schultern in die Arme aus. Und die Schlinge zog sich immer noch fester. Meine Brust hob und senkte sich krampfhaft ...
Dann durchtrennte der Dolch die Schnur.
Der Mann stieß einen überraschten Laut aus, als seine Hände auseinanderfl ogen. Das in mein Rückgrat gepresste Knie trieb mich nach vorn, sodass ich lang ausgestreckt auf der toten Frau landete. Der Mann taumelte rücklings gegen die Gassenmauer.
Ich schnappte so gierig nach Luft, dass es sich wie ein zittriger Schrei anhörte.
Ich rappelte mich auf, trat dabei auf den Arm der Frau und spürte, wie er unter meinem Fuß wegrollte - eine scheußliche, weiche, träge Bewegung. Ich taumelte nach vorn und prallte mit dem Gesicht gegen die Brust des Mannes.
Er hatte sich bereits von der Wand abgestoßen und ragte über mir auf, die Züge eine Grimasse blanken Hasses. Seine Hände griffen nach mir. Die Schnur war noch um seine Finger gewickelt, und die durchtrennten Enden baumelten daran herab, als er nach meinem Hals griff.
Unwillkürlich riss ich den Dolch hoch. Die Welt war noch zu grau und nebelhaft für klare Gedanken.
Die Klinge traf ihn in die Brust. Ich spürte, wie sie durch Haut und Fleisch drang und über Knochen schabte, als sie tiefer und tiefer vorstieß, bis das Heft die Vorwärtsbewegung aufhielt. Der Mann kippte nach vorn, und sein Gewicht drückte mir den Dolchgriff gegen die Brust.
Einen Lidschlag lang sah ich nacktes Entsetzen in den Augen des Mannes und spürte für einen winzigen Moment, wie seine Hände sich lose um meinen Hals legten, dann pressten mir die vom Dolchgriff verursachten Schmerzen den Atem aus den Lungen. Ich stemmte mich nach vorn, drückte den Mann zur Seite, ließ mich auf Hände und Knie fallen und hechelte wie ein Hund. Schmerz strahlte von der Mitte meiner Brust aus. Es war nicht die feurige Pein der Atemnot, auch nicht der kalte Schmerz des warnenden Feuers, sondern das dumpfe Pochen eines zu jähen Herzschlags.
Ein paar Augenblicke keuchte ich noch, dann übergab ich mich.
Ich kauerte gekrümmt auf Händen und Knien und spürte die Galle wie ätzende Säure in meiner geschundenen Kehle, als jemand sagte: »Beeindruckend.«
Ruckartig wich ich vor der Stimme zurück. Ein Speichelfaden, der von den Lippen baumelte, klatschte mir gegen das Kinn, als ich mich bewegte. Mit einem dumpfen Laut prallte ich gegen die Gassenmauer und duckte mich, um ein möglichst kleines Ziel zu bieten. Meine gemarterten Rippen sandten grelle Schmerzen durch meinen Körper. Meine Hand tastete unwillkürlich nach dem Dolch, doch der steckte noch in der Brust meines Angreifers.
Mein Herz schlug rasend schnell, und ich duckte mich tiefer, den Kopf gesenkt, und schlang die Arme um die Knie. Ich zitterte heftig, viel zu geschwächt vom Kampf gegen den unbekannten Mann, als dass ich hätte flüchten können. So kauerte ich mit geschlossenen Augen da und hoffte, die Stimme würde verschwinden.
Ich hörte nichts, weder die Stimme des Mannes noch sich entfernende Schritte. Ich schlug die Augen auf, spürte die Nässe meiner Tränen im Gesicht, neigte den Kopf und starrte durch das verfi lzte Gewirr meiner Haare in die Gasse.
Ein Gardist lehnte zwanzig Schritte entfernt an der Mauer. Die Leichen des Mannes und der Frau lagen zwischen uns. Es war derselbe Gardist, den ich zuvor auf der Straße gesehen hatte. Die Arme hatte er vor der Brust verschränkt; seine Haltung wirkte ungezwungen. Er trug die übliche Uniform - Hose, Lederstiefel, braunes Hemd, Lederrüstung darunter -, aber kein Schwert um die Hüfte. Stattdessen steckte ein Dolch an seinem Gürtel. Das Symbol des Geisterthrons war mit rotem Faden auf die linke Seite des Hemds gestickt.
Rot. Ein Sucher. Ein Gardist also, der entsandt wurde, um die Bestrafungen zu vollziehen, die von der Regentin angeordnet wurden, und Urteile zu vollstrecken. Keiner der gewöhnlichen Gardisten; andernfalls wäre die Stickerei golden gewesen.
Wieder kroch mir Furcht in den Magen.
Der Gardist hatte gesehen, wie ich einen Mann getötet hatte.
Mit einem seltsamen, verwirrten Ausdruck beobachtete er mich. Eine steile Falte stand zwischen seinen Augenbrauen, und er hatte die Lippen zusammengepresst.
Nach einer Weile verlagerte sein Blick sich von mir auf den Leichnam des Mannes.
»Sehr beeindruckend«, meinte er abermals; dann stieß er sich von der Wand ab.
Ich zuckte zurück. Meine Schultern schabten über die schimmelige Nässe der Lehmziegel, der Atem stockte mir in der Brust. Wieder schmeckte ich Galle, und ich spürte, wie sich frische Tränen durch meine vor Schmerzen zugekniffenen Augen pressten.
Ich hörte, wie der Gardist stehen blieb.
»Ich bin nicht deinetwegen hier«, sagte er mit strenger, zugleich jedoch besänftigender Stimme.
Ich öffnete die Augen zu Schlitzen, gerade weit genug, dass ich ihn beobachten konnte.
Er schritt auf den toten Mann zu und kauerte sich neben dessen Kopf.
Einen langen Augenblick starrte er in das Gesicht des Mannes und das dünne Blutrinnsal, das dem Toten aus dem Mundwinkel rann. Dann spuckte er zur Seite aus und verzog verächtlich das Gesicht. »Mieser Dreckskerl! Du hättest Schlimmeres verdient gehabt als das hier!«
Übersetzung: Michael Krug
Copyright © 2009 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach
Vor über tausend Jahren fegte ein gewaltiges Feuer durch ie Stadt Amenkor. Es war kein Feuer wie jene roten und
orangefarbenen Flammen, die in den ölgefüllten Standschalen entlang der Promenade zum Palast flackerten, vom Wind angefacht, der vom Meer heraufzog. Nein, dieses Feuer war weiß und rein und kalt. Den Legenden zufolge brannte es von Horizont zu Horizont und loderte bis zu den Wolken empor. Wie ein Sturmwind jagte es aus dem Westen heran, und als es über die Stadt hereinbrach, raste es durch die Mauern und Gebäude hindurch, ließ sie aber ebenso unversehrt wie die Menschen, durch deren Körper es toste, ohne sie zu verbrennen. Das Feuer überzog die ganze Stadt. Es gab kein Entrinnen; jeder wurde von den Flammen berührt. Und weiter jagte das Feuer, hinein ins Landes innere, bis es nur noch ein weißer Schimmer am fernen Horizont war und schließlich ganz verblich. Es heißt, das Weiße Feuer habe die Stadt in den Wahnsinn gestürzt. Es heißt, das Feuer sei ein Omen gewesen, ein Vorbote der elfjährigen Dürre und Hungersnot und Krankheit, die darauf folgten.
Es heißt, das Feuer habe die damals herrschende Regentin getötet, obwohl man ihren Leib unversehrt auf den breiten Steinstufen fand, die am Ende der Promenade hinauf zum Palast führten. Um den Hals der Regentin prangten Blutergüsse, welche die Form von Händen besaßen, während sich auf ihrem nackten Rücken und den entblößten Brüsten Wundmale zeigten, die die Form von Stiefelsohlen aufwiesen. Am ganzen Körper hatte sie Blutergüsse, sogar unter den weißen Gewändern, die in Fetzen um ihren unnatürlich verdrehten Körper hingen und nur noch von ihrer goldenen Schärpe gehalten wurden. Auch Blut war zu sehen, wenn auch nur Spritzer.
Den Legenden zufolge hatte das Feuer die Regentin getötet. Das Feuer, pah!
Verborgen in einer hoch gelegenen Nische in einem schmalen Gang im Palastinnern schnaubte ich verächtlich, ehe ich mein Gewicht verlagerte, um einen verkrampften Muskel zu entlasten, wobei mein Körper im Dunkel verborgen blieb. Die Nische befand sich am Ende eines langen Schachts, der für eine ständige Zufuhr frischer Luft ins Innere des Palasts sorgte.
Jeder Blinde hätte erkennen können, was der Regentin tatsächlich widerfahren war. Und der Mistkerl, der sie umgebracht hatte, sollte im tiefsten Höllenloch Amenkors verrotten! Man kann einen Menschen schneller und weniger qualvoll töten als durch Erdrosseln. In diesen Dingen kannte ich mich aus.
Langsam holte ich Luft und lauschte. Alles war still außer dem leisen Zischen der Ölfl ammen, die den verwaisten Gang erhellten. Der Luftzug im Palast wehte in Böen durch die Öffnung in meinem Rücken. Ein Sturm braute sich zusammen. Aber der Wind hatte auch sein Gutes, denn er trieb den Rauch des brennenden Öls und andere Gerüche fort.
Nach einem langen Augenblick des Abwägens glitt ich zum Rand der Nische vor und spähte den Gang in beide Richtungen entlang. Nichts.
Mit einer fließenden Bewegung ließ ich mich über die Kante der Öffnung gleiten, baumelte einen Lidschlag lang über dem Boden, bis ich mich eingependelt hatte. Dann ließ ich mich fallen.
»Du da, Junge! Komm her und hilf mir.«
Ich wirbelte herum. Meine Hand zuckte zum Dolch, der unter meiner Kleidung verborgen war - Pagenkleider, die man mir in der Nacht zuvor zur Verfügung gestellt hatte und die ein wenig zu groß und zu weit für mich waren. Dennoch erfüllten sie anscheinend ihren Zweck. Ich war klein für mein Alter und besaß keinen nennenswerten Busen; trotzdem würde mich niemand bei näherer Betrachtung für einen Jungen halten.
Die Frau, die mich angesprochen hatte, trug das weiße Gewand einer Leibdienerin der Regentin, dazu zwei Flechtkörbe, einen in jedem Arm. Einer der Körbe drohte ihrem Griff zu entgleiten. Es war der Frau gelungen, den einen Korb mit dem anderen aufzufangen, ehe er fallen konnte, doch nun lehnten beide Körbe wackelig an ihrer Brust und würden bei der geringsten Bewegung kippen.
»Worauf wartest du?« Gereizt und wütend verzog die Frau das Gesicht, doch ihr Blick verharrte auf den Körben.
Ich richtete mich aus der geduckten Haltung auf, die ich unwillkürlich eingenommen hatte, und setzte mich in Bewegung, um den Korb zu ergreifen, bevor er kippte. Er war schwerer, als er aussah.
Als ich den Korb an mich nahm, strich meine Hand über die Haut der Frau, worauf ein scharfer, brennender Schmerz meinen Arm entlangraste, als hätte jemand vom Handgelenk bis zum Ellbogen eine Dolchklinge darüber gezogen. Jäh schaute ich die Frau an und erstarrte.
Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und wischte sich mit zittriger Hand über die Stirn. »Danke«, sagte sie, atmete durch und deutete auf den Korb. »Und jetzt gib ihn mir zurück. Aber vorsichtig!«
Erleichterung erfasste mich. Die Frau hatte die Berührung nicht gespürt, hatte weder den sengenden Schmerz noch sonst etwas Ungewöhnliches bemerkt.
Ich drückte ihr den Korb in den Arm, wobei ich darauf achtete, nicht noch einmal mit ihrer Haut in Berührung zu kommen. Die Frau ächzte unter dem Gewicht. Ich trat beiseite und ließ sie vorbei. Keuchend mühte sie sich den Gang hinunter und verschwand um eine Biegung.
Ich sah ihr nach und kniff die Augen zusammen. Eigentlich hätte ich keinem Menschen über den Weg laufen sollen, erst recht niemandem von der Dienerschaft. Niemand durfte wissen, dass ich hier war.
Ich musste vorsichtiger sein.
Abermals tastete ich nach meinem Dolch, wandte mich ab, setzte mich in Bewegung und schüttelte die Gedanken an die Frau ab, während ich in der entgegengesetzten Richtung durch den Gang schritt. Die Frau hatte kaum von ihren Körben aufgeschaut; sie war viel zu sehr darauf bedacht gewesen, ja nichts fallen zu lassen. Bestimmt würde sie sich nicht daran erinnern, einem Pagen begegnet zu sein. Nicht innerhalb des Palasts. Außerdem hatte ich keine Zeit zu verlieren, wollte ich vor dem Morgengrauen in die Gemächer der Regentin gelangen. Ich befand mich im äußersten Bereich der Palastanlage und musste noch zu dem Wäscheschrank mit der Bogenaussparung, vorbei an den Wachen im inneren Bereich.
Ich schüttelte den Kopf und lief ein wenig schneller den schmalen Gang entlang, während ich in Gedanken den Grundriss des Palasts und die zeitliche Abfolge meines Vorhabens durchging. Der aufziehende Sturm ließ meine Haut prickeln und trieb mich zusätzlich an. Ich griff in eine Innentasche und betastete den darin verborgenen Schlüssel.
Ich musste noch in dieser Nacht in die Gemächer der Regentin gelangen. Wir hatten bereits zu lange gewartet - sechs Jahre in der vergeblichen Hoffnung, dass die Dinge sich besserten. Sechs Jahre auf der ständigen Suche nach neuen Lösungen. Sechs Jahre seit der Wiederkehr des Weißen Feuers. Sechs Jahre seit dem Tag, nach dem die Dinge sich immer mehr verschlechtert hatten. Den Legenden zufolge hatte bereits das erste Feuer der Stadt den Verstand geraubt. Das zweite Feuer hatte einen schleichenden, unterschwelligen Wahnsinn verbreitet. Und nun stand der Winter vor der Tür. Die Meere wurden rauer und für Handelsschiffe unbefahrbar. Auch der Landweg würde bald versperrt sein, denn die Gebirgspässe wurden im Winter unpassierbar. Und die Vorräte schwanden.
Meine Miene war hart und entschlossen, als ich in einen zweiten Gang einbog. Wir hatten alles versucht, es zu beenden.
Wir hatten alles getan, was den Legenden zufolge damals, nach dem ersten Feuer, geholfen hatte. Doch alles war vergeblich gewesen. Nun gab es keine Wahl mehr.
Die Regentin musste sterben.
ERSTES KAPITEL
Ich richtete den Blick auf die Frau mit den dunklen Augen, dem breiten Gesicht und dem langen, glatten schwarzen Haar, dann
auf den Korb an ihrer Hüfte, dessen Inhalt von einem Tuch bedeckt wurde. Die Frau trug ein sandfarbenes Kleid. Ein Dreieckstuch, das unter ihrem Kinn verknotet war, verhüllte den größten Teil ihres Kopfes. Die Frau war in der Menschenmenge auf der Straße einfach auszumachen. Sie bewegte sich ohne Eile und mit gesenktem Kopf.
Ein leichtes Opfer.
Wieder schaute ich auf den Korb, und meine Hand glitt zum Dolch, den ich in meinem zerschlissenen Hemd verbarg. Mein Magen knurrte.
Ich biss mir auf die Oberlippe und richtete den Blick wieder auf die Frau, die noch immer den Kopf gesenkt hielt. Über die Straße hinweg versuchte ich, ihre Augen zu erkennen, denn die Augen offenbarten das meiste. Doch die Frau entfernte sich weiter, bis sie an einer Gassenmündung stehen blieb.
Einen Augenblick später verschwand sie in der Gasse.
Ich zögerte am Rand der Straße, die als der »Siel« bezeichnet wurde. Meine Finger kneteten den Dolchgriff. Menschen strömten an mir vorüber. Ich ließ den Blick über die Straße und die Leute schweifen und bemerkte dabei einen Gardisten, einen Fuhrmann mit kräftigen Schultern und einen verwahrlosten Strolch. Niemanden, der offenkundig gefährlich war. Niemanden, der eine Bedrohung für ein vierzehnjähriges Mädchen darstellen könnte, das sich an eine Wand drückte, dreckverschmiert, mit zerlumpten Kleidern und dermaßen schmutzigem Haar, dass man die Farbe kaum erkennen konnte. Ein kleines Mädchen - viel zu klein für seine vierzehn Jahre und viel zu dürr, um Aufmerksamkeit zu erregen.
Mit unbeteiligtem Blick wandte ich mich wieder der Mündung der schmalen Gasse zu, in der die Frau verschwunden war, doch es gab nichts zu sehen. Da waren nur Stille und Dunkelheit.
Ich überquerte den Siel und bahnte mir dabei so geschickt einen Weg durch die Menge, dass ich niemanden berührte. Ich huschte in die schmale Gasse, drückte mich an die Mauer und duckte mich tief, bis meine Augen sich an die Düsternis gewöhnt hatten. Ich lauschte. Der Lärm von der Straße verblasste zu einem Hintergrundgeräusch, die Welt wurde grau ...
Dann, in der Stille, hörte ich den Klang von Schritten auf nassem Stein, rasch und regelmäßig. Ich vernahm das Rascheln von Kleidern, das Knarren von Bastgefl echt, als das Gewicht eines Korbes verlagert wurde. Die Schritte entfernten sich.
In der schützenden Dunkelheit der Gasse schaute ich zurück zur Straße, beobachtete die Bewegungen dort, blinzelte ins Sonnenlicht. Niemand hatte gesehen, wie ich der Frau gefolgt war, nicht einmal der Gardist.
Ich wandte mich von der Straße weg und glitt tiefer hinein in die Dunkelheit, in den Gestank von Unrat, Schimmel und menschlichen Ausscheidungen. Ich bewegte mich geräuschlos und mit kalter, hungriger Zielstrebigkeit. Mein leerer Magen verkrampfte sich; ich konnte nur an den Korb und an die Lebensmittel denken, die er enthalten mochte. Die Schritte der Frau schlurften nun über den schmutzigen Steinboden und platschten durch unsichtbare Pfützen. Ich atmete den Gestank der Gasse ein, konnte beinahe den Schweiß der Frau riechen. Meine Hand schloss sich um den Griff des Dolchs ...
Und die Schritte vor mir verlangsamten sich. Es schien, als würde die Frau sich mit einem Mal wachsam und vorsichtig bewegen.
Ich hielt inne. Dann bewegte ich mich dicht an der Wand, eine Hand gegen die feuchten Lehmziegel gepresst.
Vor mir traten Füße auf der Stelle. Die Kälte der Gasse nahm zu. Es war eine Kälte tief in der Brust, die sich wie das trockene Brennen von Raureif anfühlte.
Mit einem Mal vernahm ich andere, schwerere Schritte und ein scharfes Einatmen. Dann schrie die Frau auf - ein Laut, der jäh abgewürgt wurde.
Etwas Schweres fiel auf das Kopfsteinpfl aster, gefolgt von einem rollenden Poltern und den Geräuschen eines Kampfes: raschelnde Kleider, schweres Atmen, ein grässliches Keuchen, erstickt und verzweifelt. Es hörte sich an wie das Keuchen des Mannes, den ich vor drei Jahren getötet hatte. Nur klangen diese Laute nicht nass und zäh, erstickt von Blut, sondern trocken und rasselnd.
Ein Übelkeit erregender, fiebriger Schauder des Grauens lief mir über die Haut. Ich presste mich mit dem Rücken gegen die Lehmziegel und versuchte, nicht zu atmen. Die sengende Kälte, die in meiner Brust brannte, nahm zu und begann weiß zu lodern wie die Berührung des Feuers, das vor drei Jahren durch die Stadt gefegt war. Schweiß nässte meine Achselhöhlen und meine Brust und ließ mich abermals schaudern. Meine Hand umklammerte den Dolchgriff.
Das Keuchen wurde leiser, träger. Dann drang ein angestrengtes Grunzen durch die Düsternis. Es schwoll kurz und jäh an, ehe es sich in einem zittrigen Seufzen aufl öste. Fast wie ein Schluchzen. Der Laut ging in leises Atmen über. Dann war ein dumpfer Aufschlag zu vernehmen, schwerer noch als der erste, und völlige Stille breitete sich aus.
Ich bemühte mich verzweifelt, so flach wie möglich zu atmen, während meine Hand den verschwitzten Dolchgriff umklammerte. Ohne darüber nachzudenken, hatte ich die Klinge ganz hervorgeholt, bereit zum Zustoßen.
Doch niemand kam aus der Dunkelheit hervor. Nicht nach zwanzig flachen Atemzügen, nicht nach fünfzig.
Mittlerweile war das frostige Feuer in meiner Brust erloschen. Ich entspannte mich, holte tief Luft und ging weiter. Ein Streifen schwarzen Wassers tauchte auf, der in der Gassenmitte verlief. Ich hielt mich an der linken Mauerwand. Mit der einen Hand strich ich über die feuchten Ziegel, mit der anderen hielt ich den Dolch.
Elf Schritte weiter fand ich den zur Seite gekippten Korb. Kartoffeln lagen auf dem Kopfsteinpfl aster verstreut. Das Tuch, das sie verdeckt hatte, war fleckig vor Schmutz.
Noch drei Schritte weiter stieß ich auf die Frau.
Sie lag in verrenkter Haltung auf dem Rücken, die Beine abgewinkelt. Einen Arm hatte sie von sich gestreckt, der andere ruhte dicht an ihrer Seite. Ihr Kopftuch war verrutscht, und Strähnen ihres Haares ergossen sich über den Steinboden. Ihr Kopf, leicht seitwärts geneigt, lag im Rinnsal des verdreckten Wassers.
Ich kauerte mich an die Wand, starrte prüfend in die Dunkelheit vor mir und lauschte, doch da war nur das Geräusch tropfenden Wassers und der Geruch feuchten Schimmels.
Ich wandte mich wieder der Frau zu, schlich an ihrem ausgestreckten Arm vorbei und kniete mich hin.
Ein dunkles Band aus Blut umgab ihren Hals. Ihre offenen Augen starrten blicklos an mir vorbei in die Düsternis der Gasse. Ihre Lippen waren zu einem stummen Schrei verzogen.
Abermals betrachtete ich die Linie aus Blut, das aus der feucht schimmernden, tief eingeschnittenen Wunde quoll, welche sich quer über ihren Hals hinzog. Ich beugte mich vor ...
Und sah, wie sich eine dünne Schnur vor mein Gesicht herabsenkte.
Sofort riss ich den Dolch hoch, doch es war zu spät. Ich hörte ein kehliges, angestrengtes Grunzen, als ein Mann die Schnur in meinem Nacken überkreuzte und festzog. Die Schnur erfasste die Dolchklinge und presste sie mit der flachen Seite gegen meinen Hals.
Dann beugte der Mann sich nach hinten, stieß mir das Knie ins Rückgrat und drückte zu.
Mein Körper bäumte sich vor; die Schlinge spannte sich noch straffer um meinen Hals. Mein Kopf kippte nach hinten und gegen die Schulter des Mannes, sodass seine bärtige Wange an der meinen zu liegen kam. Ich spürte seinen Atem heiß auf der Brust. Er stank nach Bier, Fisch und Öl.
»Ein bisschen jung und dürr für meinen Geschmack«, keuchte er und zog die Schnur mit einem Ruck fester, »aber wir nehmen, was die Regentin uns an Gaben beschert, nicht wahr?«
Der beißende Frost kehrte wieder, von der Kehle bis tief in meine Brust. Ich schmeckte die Luft aus der Nacht des Feuers vor drei Jahren und fühlte die Flammen kalt und tief in mir. Gequält und schmerzvoll rang ich nach Atem.
Ich bekam keine Luft mehr.
Ich warf mich nach vorn, spürte, wie die Schnur sich tiefer grub, spürte mein warmes Blut, als sie in meine Haut schnitt. Das Keuchen des Mannes rasselte in meinem Ohr. Ich ruckte zur Seite, doch die Schnur fraß sich nur umso tiefer ins Fleisch. Dann bündelte das Grau der Welt sich mehr und mehr, bis ich nur noch die Schnur spürte. Während meine Lungen verzweifelt nach Luft schrien, wütete das erstickende Feuer immer heftiger in meiner Brust. Das kalte Metall des Dolchs drückte schmerzhaft gegen meinen Hals. Mit der rechten Hand hielt ich immer noch das Heft umklammert wie in einem Todesgriff.
Als das Feuer in meiner Brust sich sengend ausbreitete und kribbelnde Hitze in meine Arme und bis tief in meine Eingeweide entsandte, drehte ich mit letzter Kraft den Dolch. Die Schneide grub sich in meine Haut, zog vom Ansatz meines Kiefers bis zum Schlüsselbein einen lotrechten Schnitt, der schmerzte wie tausend Nadelstiche. Ich wand mich hin und her und drückte den Dolch nach außen, während der Mann mir ins Ohr ächzte. Sein stinkender Atem zischte, Speichel sprühte von seinen Lippen auf meinen Hals, und seine Zähne mahlten und knirschten. Ich drohte, den letzten Halt in der Welt zu verlieren. Das Grau geriet in Bewegung, schrumpfte zu einem hohlen Kreis, dann zu einem Punkt. Sengendes Feuer füllte meine Eingeweide, sickerte in meine Oberschenkel und meine Beine hinunter. Tausend Nadelstiche bewegten sich auf meine Knie zu und breiteten sich durch meine Schultern in die Arme aus. Und die Schlinge zog sich immer noch fester. Meine Brust hob und senkte sich krampfhaft ...
Dann durchtrennte der Dolch die Schnur.
Der Mann stieß einen überraschten Laut aus, als seine Hände auseinanderfl ogen. Das in mein Rückgrat gepresste Knie trieb mich nach vorn, sodass ich lang ausgestreckt auf der toten Frau landete. Der Mann taumelte rücklings gegen die Gassenmauer.
Ich schnappte so gierig nach Luft, dass es sich wie ein zittriger Schrei anhörte.
Ich rappelte mich auf, trat dabei auf den Arm der Frau und spürte, wie er unter meinem Fuß wegrollte - eine scheußliche, weiche, träge Bewegung. Ich taumelte nach vorn und prallte mit dem Gesicht gegen die Brust des Mannes.
Er hatte sich bereits von der Wand abgestoßen und ragte über mir auf, die Züge eine Grimasse blanken Hasses. Seine Hände griffen nach mir. Die Schnur war noch um seine Finger gewickelt, und die durchtrennten Enden baumelten daran herab, als er nach meinem Hals griff.
Unwillkürlich riss ich den Dolch hoch. Die Welt war noch zu grau und nebelhaft für klare Gedanken.
Die Klinge traf ihn in die Brust. Ich spürte, wie sie durch Haut und Fleisch drang und über Knochen schabte, als sie tiefer und tiefer vorstieß, bis das Heft die Vorwärtsbewegung aufhielt. Der Mann kippte nach vorn, und sein Gewicht drückte mir den Dolchgriff gegen die Brust.
Einen Lidschlag lang sah ich nacktes Entsetzen in den Augen des Mannes und spürte für einen winzigen Moment, wie seine Hände sich lose um meinen Hals legten, dann pressten mir die vom Dolchgriff verursachten Schmerzen den Atem aus den Lungen. Ich stemmte mich nach vorn, drückte den Mann zur Seite, ließ mich auf Hände und Knie fallen und hechelte wie ein Hund. Schmerz strahlte von der Mitte meiner Brust aus. Es war nicht die feurige Pein der Atemnot, auch nicht der kalte Schmerz des warnenden Feuers, sondern das dumpfe Pochen eines zu jähen Herzschlags.
Ein paar Augenblicke keuchte ich noch, dann übergab ich mich.
Ich kauerte gekrümmt auf Händen und Knien und spürte die Galle wie ätzende Säure in meiner geschundenen Kehle, als jemand sagte: »Beeindruckend.«
Ruckartig wich ich vor der Stimme zurück. Ein Speichelfaden, der von den Lippen baumelte, klatschte mir gegen das Kinn, als ich mich bewegte. Mit einem dumpfen Laut prallte ich gegen die Gassenmauer und duckte mich, um ein möglichst kleines Ziel zu bieten. Meine gemarterten Rippen sandten grelle Schmerzen durch meinen Körper. Meine Hand tastete unwillkürlich nach dem Dolch, doch der steckte noch in der Brust meines Angreifers.
Mein Herz schlug rasend schnell, und ich duckte mich tiefer, den Kopf gesenkt, und schlang die Arme um die Knie. Ich zitterte heftig, viel zu geschwächt vom Kampf gegen den unbekannten Mann, als dass ich hätte flüchten können. So kauerte ich mit geschlossenen Augen da und hoffte, die Stimme würde verschwinden.
Ich hörte nichts, weder die Stimme des Mannes noch sich entfernende Schritte. Ich schlug die Augen auf, spürte die Nässe meiner Tränen im Gesicht, neigte den Kopf und starrte durch das verfi lzte Gewirr meiner Haare in die Gasse.
Ein Gardist lehnte zwanzig Schritte entfernt an der Mauer. Die Leichen des Mannes und der Frau lagen zwischen uns. Es war derselbe Gardist, den ich zuvor auf der Straße gesehen hatte. Die Arme hatte er vor der Brust verschränkt; seine Haltung wirkte ungezwungen. Er trug die übliche Uniform - Hose, Lederstiefel, braunes Hemd, Lederrüstung darunter -, aber kein Schwert um die Hüfte. Stattdessen steckte ein Dolch an seinem Gürtel. Das Symbol des Geisterthrons war mit rotem Faden auf die linke Seite des Hemds gestickt.
Rot. Ein Sucher. Ein Gardist also, der entsandt wurde, um die Bestrafungen zu vollziehen, die von der Regentin angeordnet wurden, und Urteile zu vollstrecken. Keiner der gewöhnlichen Gardisten; andernfalls wäre die Stickerei golden gewesen.
Wieder kroch mir Furcht in den Magen.
Der Gardist hatte gesehen, wie ich einen Mann getötet hatte.
Mit einem seltsamen, verwirrten Ausdruck beobachtete er mich. Eine steile Falte stand zwischen seinen Augenbrauen, und er hatte die Lippen zusammengepresst.
Nach einer Weile verlagerte sein Blick sich von mir auf den Leichnam des Mannes.
»Sehr beeindruckend«, meinte er abermals; dann stieß er sich von der Wand ab.
Ich zuckte zurück. Meine Schultern schabten über die schimmelige Nässe der Lehmziegel, der Atem stockte mir in der Brust. Wieder schmeckte ich Galle, und ich spürte, wie sich frische Tränen durch meine vor Schmerzen zugekniffenen Augen pressten.
Ich hörte, wie der Gardist stehen blieb.
»Ich bin nicht deinetwegen hier«, sagte er mit strenger, zugleich jedoch besänftigender Stimme.
Ich öffnete die Augen zu Schlitzen, gerade weit genug, dass ich ihn beobachten konnte.
Er schritt auf den toten Mann zu und kauerte sich neben dessen Kopf.
Einen langen Augenblick starrte er in das Gesicht des Mannes und das dünne Blutrinnsal, das dem Toten aus dem Mundwinkel rann. Dann spuckte er zur Seite aus und verzog verächtlich das Gesicht. »Mieser Dreckskerl! Du hättest Schlimmeres verdient gehabt als das hier!«
Übersetzung: Michael Krug
Copyright © 2009 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach
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Bibliographische Angaben
- Autor: Joshua Palmatier
- 2010, 380 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Krug, Michael
- Übersetzer: Michael Krug
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404206304
- ISBN-13: 9783404206308
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